16.
Schon kurz nach deiner Geburt warst du Dauergast auf unserer Station. Zunächst haben wir alle geglaubt, dass du eine sehr seltene Krankheit haben müsstest, und die Ärzte haben alles getan, um herauszufinden, was dir fehlt.
Mir ist so unendlich schlecht, als ich wieder zu mir komme. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich jemals wieder vom Boden hochkommen soll. Kalter Schweiß überzieht meinen Körper wie ein klebriger Film, meine Hände zittern. Und gerade als ich beschließe, für immer auf dem Boden liegen zu bleiben, höre ich Kinder weinen, ein beruhigendes »Schschsch« dringt an meine Ohren, dann klappt die Haustür zu.
Verdammt, dieser Mistkerl hat die Zwillinge doch mitgenommen! Warum habe ich auch nur eine Sekunde gezögert, die Polizei anzurufen? Eine Adrenalinwelle schießt durch meinen Körper und plötzlich bin ich hellwach. Ich muss sofort hinter ihm her!
Ich richte mich auf, kämpfe gegen den Schwindel, halte mich am Stuhl fest und ziehe mich hoch. Erneut bricht mir der Schweiß aus allen Poren, macht meine Hände glitschig.
Ich höre nichts. Nichts? Keinen Automotor. Es bleibt ruhig. Aber wie bringt er die Kinder dann weg?
Ja wohl kaum zu Fuß, auf Dauer sind die beiden viel zu schwer zum Tragen, und selbst wenn er sie in den Kinderwagen gesteckt hat und rennt, ist er nicht schnell genug. Es muss ihm doch klar sein, dass ich die Polizei rufen werde.
Aber bis die hier sind, ist er mit den Zwillingen sogar zu Fuß über alle Berge! Ich muss was tun, muss ihm hinterher.
Vorsichtig bewege ich mich in Richtung Haustür, stütze mich dabei am Tisch entlang ab und komme mir quälend langsam vor. Mein Knöchel tut verdammt weh, aber der Gedanke daran, was den Kindern alles passieren könnte, gibt mir so viel Kraft, dass ich es zur Haustür schaffe. Ich reiße sie auf und sehe gerade noch etwas am Wald aufblitzen. Pedalrücklichter! Ju ist mit dem Fahrrad unterwegs.
Super!
Endlich mal eine gute Nachricht.
Ich schnappe mir die Schlüssel von Anjas Auto vom Schlüsselbrett und hoffe, dass es auch eine Automatikgangschaltung hat. So schnell ich kann, humple ich zur Garage und werfe den Motor an. Erleichtert stelle ich fest, dass das Auto tatsächlich Automatik hat.
Ich steuere auf den Wald zu, den sandigen Weg hoch, der voller Schlaglöcher ist. Die Scheinwerferlichter hüpfen auf und ab, das Auto wird ziemlich durchgerüttelt und stechende Schmerzen schießen von meinem Fuß durch den ganzen Körper. Ich beiße die Zähne zusammen. Egal, ich muss Mia und Bennie zurückholen. Nur noch ein paar Meter, dann bin ich endlich auf dem Waldweg. Der Motor kommt mir schrecklich laut vor, überdröhnt sogar das Hämmern meines Pulses.
Endlich habe ich den Weg erreicht, der zwar ebenmäßiger, dafür aber auch nicht sonderlich breit ist. Ich bin noch nie auf einem schmalen Pfad durch einen dunklen Wald gefahren. Es ist gespenstisch, wie anders die Bäume aussehen, wenn sie von unten mit den Autoscheinwerfern beleuchtet werden. Sie wirken wie Riesen. Ich schalte das Fernlicht an und konzentriere mich auf den Weg, der vor mir liegt. Und ein paar Sekunden später kann ich tatsächlich Ju am Ende des Weges sehen und gebe ordentlich Gas.
Ich rase auf den Anhänger zu. »Gleich, ihr zwei Süßen, gleich bin ich bei euch und dann werde ich euch nie mehr aus den Augen lassen!«, flüstere ich, während ich versuche, mich auf den schmalen Waldweg zu konzentrieren.
Da, das Rücklicht des Anhängers leuchtet auf. Mit klopfendem Herzen fahre ich weiter, doch plötzlich ist Ju verschwunden. Er ist abgebogen, aber gleich hab ich ihn!
Oh verdammt, das gibt’s doch nicht! Bullshit!
Ich schaffe es gerade noch, vor der rot-weißen Schranke abzubremsen, die auf einmal mitten auf dem Weg steht, nachdem ich um die Ecke gebogen bin. Wütend schaue ich Ju dabei zu, wie er einfach mit dem Rad drum herumfährt. Damned!
Dann werde ich eben zwischen den Bäumen einen Weg suchen! Ich versuche es rechts von der Schranke, wo die Kiefern nicht sehr dicht stehen. Aber keine Chance, der Waldboden ist übersät von Sträuchern, die jedes Weiterkommen verhindern. Genervt lege ich den Rückwärtsgang ein, setze zurück und versuche es auf der linken Seite. Der Motor jault ganz schön auf, als ich zu viel Gas gebe, es ratscht und kracht, Büsche haben sich zwischen den Rädern verfangen, und als ich erneut Gas gebe, schlagen Ranken und tief hängende Äste an die Fenster und gegen die Seiten. Der Lack ist bestimmt schon total verkratzt, aber das ist mir egal, ich muss Mia und Bennie retten.
Ich fahre ein Stück weiter nach rechts, um einer kleinen Baumgruppe auszuweichen, und schreie erschrocken auf, als die Vorderräder plötzlich keine Bodenhaftung mehr haben. Sie hängen im Leeren, der Weg stürzt an dieser Stelle steil nach unten. Verdammt, verdammt, verdammt!
Ich setze zurück, bis alle Räder wieder Bodenhaftung haben und ich erneut vor der Scheißschranke auf dem Hauptweg stehe. Mein Herz rast, mein Knöchel fühlt sich an, als würde ein Feuer darin wüten, aber ich weiß, dass ich nicht aufgeben darf!
Dann eben zu Fuß. Ich steige aus und falle sofort lang hin, weil mein rechtes Fußgelenk sich weigert, mein Gewicht zu tragen. Ich krieche über den schmutzigen Waldboden und schaffe es, mich an der Schranke hochzuziehen. Sie wackelt, als ich mich daran festhalte.
Sie wackelt? Ich dachte, die wäre festbetoniert?
Ich humple zum linken Ende der Schranke und kann nicht fassen, was ich da entdecke. Diese Schranke liegt einfach nur lose auf dem Gestell! Und ich dumme Kuh habe kostbare Zeit damit vergeudet, drum herumzufahren, dabei muss ich sie nur irgendwie hochstemmen. Aber wie? Ich hebe sie nach oben, so hoch ich kann, bis über meinen Kopf. Aber wenn ich loslasse, fällt sie sofort wieder runter.
Na toll, was jetzt? Ich brauche Hilfe, verdammt noch mal! Und während ich mich hier mit dieser Schranke abmühe, ist Ju in der Zwischenzeit über alle Berge. Ich muss es irgendwie schaffen, dass dieses Ding oben bleibt. Wenn ein Förster hier im Wald unterwegs ist, versuche ich logisch zu denken, ist der ja auch allein … Es muss also einen Trick geben mit diesen Dingern – aber welchen?
Keine Zeit mehr zum Denken, Blue! Los, nimm beide Hände und wirf die Schranke, so hoch du kannst! Ich tu’s, aber natürlich siegt auch dieses Mal die Schwerkraft.
Jetzt kommt mir noch eine Idee. Ich muss etwas zwischen Gestell und Schranke klemmen, sodass ich mit dem Auto durchfahren kann. Aber dazu brauche ich einen Stock – und als ich mich nach einem Stück Holz umsehe, gebe ich einen wütenden Schrei von mir. Auf der rechten Seite der Schranke hängt ein Gewicht!
Ich bin ja so was von blöd – ich muss natürlich die Schranke von dort aus hochdrücken! Also humple ich auf die andere Seite und keine halbe Minute später steht die Schranke senkrecht.
Ich habe es geschafft!
Ich würde gern stehen bleiben und mich ausruhen, der Schmerz in meinem Knöchel bringt mich fast um, aber ich muss jetzt endlich hinter Ju her. Hoffentlich geht es den Kindern gut!
Ich hüpfe auf einem Bein zum Auto und fahre mit angehaltenem Atem durch die offene Schranke, dann gebe ich Gas und hoffe, dass der Weg keine Abzweigung hat. Äste knallen gegen die Windschutzscheibe und erschrecken mich zu Tode, trotzdem drücke ich das Gas noch weiter durch. Es kommt mir so vor, als hätte ich Stunden an der Schranke vertrödelt, aber der Blick auf die Autouhr bestätigt mir, dass ich nur sieben Minuten gebraucht habe – sieben Minuten Vorsprung mit Fahrrad und Anhänger, die werde ich bestimmt einholen können!
Wo will Ju überhaupt hin mit den Kindern? Hat er im Wald eine Hütte, oder was? Hänsel und Gretel fällt mir ein und dann natürlich Grannie, die mich gewarnt hat, die gesagt hat, ich soll gut auf die Kinder aufpassen.
Plötzlich sehe ich Augen aufblitzen, direkt vor mir. Um Gottes willen, ich schnappe nach Luft, trete auf die Bremse, gerate ins Schlingern, bremse trotzdem weiter. Bitte nicht, flehe ich, bitte lass mich nicht in dieses wunderschöne Tier knallen …
Ich bleibe stehen. Sehe, wie das Reh zur Seite wegspringt. Dieses zarte Hüpfen, so leicht und elegant, macht etwas mit mir, legt einen Schalter um. Tränen schießen mir in die Augen, es schüttelt mich, ich kriege keine Luft mehr, und obwohl ich am liebsten einfach nur sitzen bleiben und heulen möchte, weiß ich, dass ich weiterfahren muss, wenn ich die Kinder retten will, und zwar schnell.
Ich gebe mit zitternden Händen wieder Gas, umklammere das Lenkrad und starre mit tränenblinden Augen in die Dunkelheit.
Nachdem ich ein paar Minuten gefahren bin, bilde ich mir ein, etwas aufblinken zu sehen, und ich fahre noch ein bisschen schneller. Ja, das ist ein Rücklicht.
Jetzt bist du dran, Ju!
Ich ziehe die Nase hoch, keine Zeit zum Schnäuzen jetzt, und gebe noch einmal Gas. Dann blende ich auf und ab, fahre hinter ihm her, hupe, es ist mir egal, dass der Wald schläft, ob die Kinder schlafen, ich will einfach nur, dass er stehen bleibt.
Aber er fährt weiter, immer weiter, als ob ich nicht da wäre, und ich kriege Angst, dass er vielleicht noch mal irgendwohin abbiegt, wohin ich ihm nicht folgen kann. Es bleibt mir also nichts anderes übrig, als ihn zu überholen und mich vor ihn zu stellen, aber der Weg ist so schmal, dass ich keine Chance habe. Außerdem will ich die Kinder nicht gefährden. Ha! Nicht gefährden …! Wessen Schuld ist es denn, dass die Kleinen mitten in der Nacht aus ihren Betten entführt werden konnten?
Nein, ich darf jetzt nichts Unüberlegtes tun. Der Weg ist zu schmal. Und wenn ich anhalte und aussteige, dann kriege ich ihn nie, weil ich nur humpeln kann. Ich mache das Fenster auf und rufe Mias und Bennies Namen in die Nacht hinaus. Ich rufe, ich schreie, ich brülle, bis ich keine Luft mehr habe, und hoffe, dass die Kinder weinen, damit Ju sich schlecht fühlt und endlich aufgibt.
»Ju, verdammt, bleib stehen«, brülle ich irgendwann. »Wenn du jetzt stehen bleibst, hole ich nicht die Polizei und wir vergessen alles, was passiert ist.«
Nichts. Ju tritt unbeirrt in die Pedale. Ich muss es anders versuchen.
»Ju, ich weiß, dass du den Kindern nichts tun wirst.«
Keine Ahnung, ob es Einbildung ist, aber es kommt mir so vor, als ob er langsamer in die Pedale treten würde – oder ist er vielleicht sogar erschöpft? Ein kleiner Hoffnungsschimmer macht sich in mir breit.
»Ju, du bist kein Perverser, das ist mir klar«, versuche ich es weiter. »Ich vertraue dir, Ju, aber du kannst nicht einfach mit den Zwillingen abhauen. Ich bitte dich, bleib stehen! Und sag mir endlich, warum du das alles tust.«
Er fährt weiter, dreht aber seinen Kopf zu mir und ruft.
»Du würdest mir sowieso nicht glauben«, schreit er und kommt ins Schlingern, als er durch ein Schlagloch fährt. Ich halte den Atem an, doch Ju dreht sich erneut zu mir um. »Ich konnte es ja selbst kaum glauben.«
»Versuch es wenigstens, Ju, bitte! Bitte, bleib stehen und lass uns reden!«
Bennie und Mia brüllen – endlich. Sie klingen zornig, ängstlich, verletzt. Kein Wunder, seit fast zwanzig Minuten ist Ju nun schon auf diesem holprigen Waldweg unterwegs. Als er um eine Kurve fährt, kann ich erkennen, dass er den Kinderanhänger mit Decken ausgepolstert und die Kleinen darin eingewickelt hat. Trotzdem haben Bennie und Mia nur ihre Schlafanzüge an. Gott, hoffentlich bleibt Ju endlich stehen!
»Hör doch mal, wie die Kleinen weinen, sie spüren, dass etwas nicht stimmt! Bitte, um der Kinder willen.«
»Und wenn du mich reinlegst?«
»Das wird nicht passieren.« Schnell überkreuze ich zwei Finger, weil ich nicht weiß, ob ich ihn nicht doch anlüge. Ich würde ihm alles versprechen, nur damit er die Zwillinge hergibt.
»Hör mal, ich kann die ganze Nacht hinter dir herfahren, der Tank ist voll!«
Er zuckt mit den Schultern, als ob er sagen wollte, dass ihm das egal sei.
»Warum glaubst du mir nicht? Ich bitte dich, halte an und lass uns reden. Wir müssen die Kleinen beruhigen, hör doch nur, wie sie schreien. Sie haben Angst!«
Und endlich, endlich wird Ju langsamer, bremst. Auch ich steige auf die Bremse und bleibe stehen, als Ju absteigt. Ich schalte den Motor aus, lasse das Licht aber an.
Mit klopfendem Herzen öffne ich die Autotür.