14.

Auch weil du nach meinem Tod ganz allein in der Welt stehen wirst. Immerhin wird dich dieser Brief in die Lage versetzen, selbst nachzuforschen und dir eine eigene Meinung zu bilden. Glücklicherweise bist du nicht dumm.

Nachdem ich die Zwillinge ins Bett gebracht, das Badezimmer und die Küche wieder aufgeräumt habe, nehme ich das Babyfon und gehe auf das Holzdeck vor dem Wohnzimmer und setze mich in einen der Liegestühle. Es ist immer noch sehr warm.

Anja hatte nicht ausgehen wollen, Stefan musste lange mit ihr diskutieren, bis es ihm gelang, sie zu überzeugen.

Mein Blick fällt auf das Dorf, das im Abendlicht aussieht wie aus einem anderen Jahrhundert. Was hat Grannie wohl dazu getrieben von hier wegzugehen? Sie hat kaum von ihrer Zeit in Deutschland erzählt und ich musste ihr immer alles aus der Nase ziehen.

Die Luft ist durchsetzt mit dem Duft von süßem Obst und Gras und jetzt, nachdem die Sonne verschwunden ist, wird das Licht immer silberner. Ich drehe mich zum Wald um. Der ist schon schwarz, doch auch er schimmert leicht silbern,wie Grillkohle.

Da blitzt etwas auf.

Ich schaue genauer hin. Nichts.

Ich gehe zur anderen Seite des Decks, von wo aus man den Wald besser betrachten kann. Da sehe ich es wieder. Es könnte eine Taschenlampe sein. Vielleicht ein Jäger. Als ich neulich mit Mia im Wald war, habe ich zwar viele Hochsitze gesehen, aber haben Jäger wirklich Taschenlampen? Daddy hat mir in einer nüchternen Minute mal gesagt, dass die Rehe und Hirsche am liebsten in der Dämmerung herauskommen, insofern würde es also passen.

Ich gehe wieder zum Tisch zurück und lasse mich träge in den Liegestuhl fallen. Den ganzen Abend habe ich darüber nachgedacht, wer die Mappe in meinen Koffer gelegt haben könnte. Es ist einfach zum Haareraufen – da erfahre ich endlich, was in den Artikeln steht, und trotzdem habe ich jetzt mehr Fragen als Antworten.

Da die ganze Grübelei sowieso zu nichts führt, habe ich beschlossen, mich lieber um Grannie und Georg zu kümmern – auch wenn ich noch nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich habe heute zwar erfahren, dass Georg Leonard-Cohen-Fan war und er dieses Land wahrscheinlich niemals verlassen hat, aber trotzdem habe ich keine Ahnung, wo er jetzt ist. Oder ob er überhaupt noch am Leben ist. Und was meinte Felix’ Großmutter damit, dass an dem Armband Blut klebt – und was hat das mit Georg und Grannie zu tun?

Ich schüttle mein Handgelenk ein bisschen, sodass die Anhänger leise klimpern. Die leichte Brise, die bisher geweht hat, legt sich mehr und mehr und die Vögel hören auf zu zwitschern. Es wird unglaublich still. So still ist es in Vegas nie.

Ich klimpere noch mal ein bisschen mit dem Armband. Als ich klein war, hat mir Grannie zu jedem einzelnen Anhänger eine Geschichte erzählt. Am liebsten hatte ich die, die zum Schlüssel gepasst hat. Da ging es um das Mädchen Columba, das so neugierig war, dass es wider alle Regeln eine verschlossene Tür aufgesperrt hat und dann mit einem blutrünstigen Monster kämpfen musste.

Das Babyfon gibt krachende Laute von sich. Ich will gerade aufstehen, um nach oben zu gehen und nachzuschauen, aber da ist es schon wieder still, also bleibe ich einfach draußen sitzen.

Mittlerweile ist es vollkommen dunkel, ich sollte lieber hineingehen, die Mücken werden mich sonst aussaugen. Da bemerke ich ein leichtes Vibrieren. Mir stellen sich alle Nackenhaare auf. Jemand schleicht die Stahltreppe zum Deck hoch. Unwillkürlich halte ich den Atem an.

Ob das Ju ist, der noch einmal zurückkommen wollte? Aber anstatt nachzuschauen, gehe ich rückwärts zur Hauswand, weil ich die Wendeltreppe nicht aus den Augen lassen möchte. Ich will so schnell wie möglich ins Haus und die Türe hinter mir zuziehen.

Ein Kopf erscheint. »Blue!«

»Felix«, rufe ich erleichtert und trotzdem leicht verärgert aus. »Was soll denn das, wieso schleichst du dich an wie ein Dieb?«

»Oh, sorry, ich wollte nur niemanden wecken.«

Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu. »Was machst du hier, wolltest du nicht ins Sunset?«

Er kommt näher und lächelt mich an. »Ja, aber nur mit dir. Heute Morgen … da ist dann mit Oma irgendwie alles schief­ge­gang­en, dabei fand ich’s so cool, dass du mich besucht hast.«

Ich fühle mich unwohl, schließlich habe ich ihn hauptsächlich deshalb besucht, weil ich sein Internet benutzen und ihn wegen Georg ausfragen wollte.

Er steht jetzt direkt vor mir, sodass ich trotz der Dunkelheit sein Gesicht sehen kann. Er streicht die langen Haare, die er gerade offen trägt, hinter seine Ohren und schaut mich eindringlich an. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

»Das mit Oma tut mir leid. Das war nichts Persönliches gegen dich.«

»Hat sich für mich aber anders angehört.«

»Oma bildet sich eben ein, dass sie mich beschützen muss. Und was Georg angeht …«

Das Babyfon kracht und knistert so plötzlich, dass wir beide zusammenfahren.

»Ich muss jetzt nach den Zwillingen schauen.«

»Geh nur, ich warte hier.«

»Das brauchst du nicht, ich werde nicht mehr rauskommen.«

»Oh.« Er zieht den Kopf zwischen den Schultern ein, wie um sich vor einem Schlag zu schützen.

»Ich bin total müde«, schiebe ich deshalb nach.

»Das, was ich dir gleich sagen werde, wird dich garantiert wach machen!« Er funkelt mich triumphierend an. »Ich hab noch mehr Zeug von Georg gefunden, die Schallplatten waren wohl so etwas wie sein Safe. Aber ich kapier nicht, was er schreibt. Wir müssen uns das zusammen anschauen.«

Jetzt hat er mich doch an der Angel. Noch mehr von Georg!

»Verstehst du, Georg redet auch von diesem Schatz. Mann, stell dir nur mal vor, wir würden echt herausfinden, was es damit auf sich hat.«

»Und was genau hast du gefunden?«

»Einen Brief an deine Großmutter.«

Plötzlich schreien beide Kinder laut auf, verstummen aber sofort wieder, als hätten sie nur etwas Böses geträumt. Ich sollte trotzdem hochgehen und nach ihnen schauen, aber meine Neugierde siegt. »Hast du ihn dabei? Kann ich ihn lesen?«

»Klar, aber das kostet dich was.« Er grinst mich an und spitzt seinen Mund zu einem Kuss.

»Vergiss es, das geht nicht.« Ich mag ihn, aber irgendwie ist mir Felix auch ein bisschen unheimlich. Hat er heute nicht irgendwas davon erzählt, dass er in Frankfurt ›Probleme‹ hatte? Außerdem ist er mein Großcousin! Aber kann ich ihm das einfach so an den Kopf knallen?

»Sind alle Amerikanerinnen so wählerisch? Echt, Blue, ich bin deine einzige Chance auf einen Kuss in diesem Kaff.« Er sieht mich verschmitzt an, nestelt dann an seiner hinteren Hosentasche rum und zieht einen zusammengefalteten Zettel heraus. Wie kann er mit Georgs Briefen nur so achtlos umgehen!, denke ich empört.

Das Babyfon rumort. Eines der beiden Kinder weint. Mia, glaube ich.

»Tut mir leid, aber ich muss rein.« Ich nehme das Babyfon in die Hand.

»Ja, dann geh schon! Weißt du was, Blue, ich hab die Schnauze voll von deinem komischen Getue! Ich verbrenn das Ding einfach.« Er wedelt mit dem Brief vor meinem Gesicht herum.

Verbrennen? Er lügt, das würde er nicht tun, er ist genauso neugierig wie ich, allein schon wegen dieses ominösen Schatzes. »Tut mir leid, Felix. Ich muss jetzt wirklich rein, aber ich erklär dir morgen alles, okay?«

»Vergiss es!« Er holt ein Feuerzeug aus der Jeans, klappt es auf und dreht an dem Rädchen, bis die Flamme hoch aufscheint.

Jetzt schreien beide Kinder. Verdammt!

Felix rührt sich nicht vom Fleck, in der einen Hand hält er den Brief, in der anderen flackert die Flamme.

Es gibt nur eins, was ich tun kann. Für Grannie!

Ich stecke das Babyfon in die Tasche meiner Baumwollshorts, und ohne noch länger darüber nachzudenken, springe ich vor, reiße ihm den Brief aus der Hand und stoße ihn mit der anderen Hand weg, sodass er ein paar Schritte zurücktaumelt, dann renne ich ins Wohnzimmer und verrammle die Tür. Ich bin schon auf dem Weg nach oben, als mir einfällt, dass ich mir nicht sicher bin, ob meine Tür unten wirklich zu ist. Nicht dass Felix auf dumme Ideen kommt, er ist sicher stinkwütend. So schnell ich kann, laufe ich nach unten. Beeil dich, Blue!

Verdammt!

Ich habe eine Stufe übersehen, mein rechter Fuß knickt in der Luft merkwürdig ab und ich stürze die Treppe bis zu meinem Zimmer runter. Jede Stufenkante rammt sich schmerzhaft in meinen Hintern, ich reiße mir die Haut am Handgelenk auf, doch unten rapple ich mich auf und humple trotz stechender Knöchelschmerzen in mein Zimmer, weiß nicht, wohin mit dem Brief, und lege ihn schließlich unter mein Kopfkissen. Tatsächlich steht die Tür zum Garten sperrangelweit offen.

Mein Herz klopft wie wild, und während ich die Tür schließe, kracht schon wieder das Babyfon und ich bilde mir ein, diesmal eine männliche Stimme zu hören.

Deshalb hetze ich die Stufen so schnell ich kann wieder nach oben, bei jedem Schritt sticht das Gelenk meines rechten Fußes, aber ich ignoriere den Schmerz, denn plötzlich habe ich schreckliche Panik, jemand könnte ins Haus gelangt sein.

Ich reiße die Kinderzimmertür auf und kann nicht glauben, was ich da sehe.