2.

Du weißt, dass ich dich immer mehr geliebt habe als mein Leben, du warst für mich das Wasser, das Licht und die Luft zum Atmen. Bitte vergiss das nie, niemals und versuche, mir zu verzeihen.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Ganz und gar nicht. Meine ersten Stunden in Deutschland und schon habe ich Angst. Grannie hatte mich gewarnt.

Vor einer Stunde bin ich aus dem Flieger gestiegen und nun sitze ich in diesem Auto und frage mich, warum der Mann, den ich erst seit dreißig Minuten kenne, kommentarlos von der Autobahn auf diesen dunklen Parkplatz fährt. Hier gibt es nicht mal beleuchtete Toiletten, keine einzige Lampe, nichts. Vollkommene Dunkelheit umgibt uns.

»Herr Zeltner?«, frage ich ihn und muss mich räuspern, weil mir ein Riesenkloß im Hals steckt. »Äh, ich meine Stefan, was machst du denn da?«

Ich umklammere das silberne Bettelarmband mit den vielen Anhängern, das Grannie mir als Glücksbringer mitgegeben hat, und versuche, locker zu bleiben. Das ist verdammt schwer, weil ich noch nie vorher in so einer Situation war. Zu Hause wäre mir so etwas auch gar nicht erst passiert, denn in Las Vegas wäre ich nur zu wirklich guten Bekannten ins Auto gestiegen.

Was ist, wenn dieser Typ gar nicht der Mann ist, der mich vom Flughafen in Frankfurt abholen sollte?, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe ihn natürlich nicht nach seinem Ausweis gefragt, als er in der Ankunftshalle ein mit Blümchen und Herzchen bemaltes Schild hochgehalten hat, auf dem Willkommen Venus Blue Bennett stand. Ich habe mich gefreut und bin zu ihm hingegangen, denn ich war sicher, dass er der Vater der Kinder ist, die ich ein Jahr lang betreuen werde. Und als er behauptet hat, seine Frau wäre zu Hause bei den kranken Zwillingen, da habe ich ihm natürlich geglaubt. Aber nun regen sich Zweifel in mir, als er die dunkle Auffahrt zu dem Parkplatz entlangfährt.

Meine Hände sind schweißnass, und obwohl ich eigentlich unheimlich müde bin, werde ich plötzlich hellwach. Was mache ich, wenn dieser Stefan auf dem Parkplatz zudringlich wird? Ich atme tief durch und versuche, ruhig zu bleiben. Eigentlich sieht er ja ganz seriös aus in dem grauen Anzug mit dem weißen Hemd und der blaugrauen Krawatte, die er trotz der Hitze nicht gelockert hat. Sein Profil mit der großen Nase, dem vollen Mund und einem leichten Dreitagebart wirkt sympathisch und erinnert mich eher an ein Model für Golfmode als an einen Serienkiller.

Mag ja sein, dass er nett aussieht, doch mir kommt es trotzdem so vor, als würde mich die Dunkelheit auf dem Parkplatz verschlingen. Die schlimmsten Gedanken schießen durch meinen Kopf. Woher kann ich wissen, wie es hinter seiner Stirn aussieht? Auch wenn er noch so harmlos und freundlich wirkt … Hat der Serienkiller Ted Bundy nicht sogar ein bisschen wie der junge Robert Redford ausgesehen?

Mein Herzschlag wummert in meinen Ohren, als Stefan in die allerdunkelste Ecke des Parkplatzes fährt. Schließlich bleibt er stehen, zieht die Handbremse an, dann dreht er mir seinen Oberkörper zu.

Und jetzt? Ich starre nach draußen, nichts als Büsche und Bäume. Stefan stellt nun auch die Scheinwerfer ab. Es wird stockdunkel und ich kann gar nichts mehr erkennen. Verzweifelt versuche ich, mich im Auto umzusehen. Mein Gepäck hat Stefan hinten im Kofferraum verstaut, ich habe nicht mal eine Handtasche, mit der ich zuschlagen könnte, und auch sonst kann ich nichts entdecken, womit ich …

»Venus«, sagt er und ich blicke erschrocken zu ihm auf.

Wenn er sich auch nur einen Millimeter zu mir herbewegt, schreie ich. Reflexartig bewegt sich meine rechte Hand in Richtung Tür. Vielleicht sollte ich lieber gleich rausspringen. Geniale Idee, Blue! Und dann, was machst du dann? Ganz alleine auf einem unbeleuchteten Parkplatz … Willst du darauf warten, dass irgendein Typ zum Pinkeln rausfährt? Schließlich kann das nur ein Mann sein, denn eine Frau, die auch nur einen Funken Verstand hat, würde hier niemals anhalten. Trotzdem greife ich nach der Klinke, es gibt ja sonst keine Alternativen.

»Venus, du hast doch nicht etwa Angst?«, fragt Stefan und nachdem sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnt haben, sehe ich, dass er mir zulächelt.

»Nein, überhaupt nicht«, gebe ich zurück und zwinge mich dazu, ihm bloß nicht zu zeigen, was gerade in mir vorgeht. Doch das ist nicht so leicht, denn in Gedanken sehe ich schon, wie er als Nächstes seine Hand auf meinen Schenkel legt. Ich halte das nicht aus, ich muss etwas sagen, jetzt sofort! Muss ihm klarmachen, dass sich Au-pair-Mädchen nur um die Kinder und nicht um die Väter der Kinder kümmern. Aber gerade als ich mir ein Herz fasse und anfangen will, schaltet er hastig die Innenbeleuchtung an.

»Entschuldige bitte. Ich hätte mit dir natürlich zu einer Raststätte fahren und dort einen Kaffee trinken sollen«, sagt er und blickt einen Moment durch die Windschutzscheibe ins Dunkle hinaus, ehe er sich mir wieder zuwendet. »Aber ich habe einfach zu lange überlegt, wie ich es dir sagen soll. Und dann kam nur noch dieser Parkplatz – wir sind nämlich gleich zu Hause.«

Verwirrt starre ich Stefan an. Ich verstehe überhaupt nicht, was er mir sagen will. Aber es scheint etwas Unangenehmes zu sein, denn auf einmal glänzen Schweißperlen auf seiner Stirn. Okay, es ist ziemlich stickig hier im Auto und die Klimaanlage hat er zusammen mit dem Motor ausgestellt, aber selbst ich schwitze nicht so stark wie er, obwohl ich gerade eine Scheißangst habe.

»Ich weiß nicht, ob du das verstehen wirst«, beginnt er und hört dann wieder auf.

Falls er damit zum Ausdruck bringen will, mein Deutsch könnte zu schlecht sein, irrt er sich. Bis jetzt verstehe ich ihn sehr gut. Außerdem bin ich zweisprachig aufgewachsen.

Er sucht etwas in seiner Jacke, zieht dann ein Stofftaschentuch hervor, tupft sich damit erst die Stirn ab, danach den Mund. Sein Körper wirkt angespannt, fast schon verkrampft und in mir steigt eine leichte Übelkeit auf. Was soll das hier alles? Ich spüre, wie meine Beine zu zittern anfangen. Mein Gefühl sagt mir, dass hier irgendetwas nicht stimmt. So hatte ich mir meine Ankunft in Deutschland wirklich nicht vorgestellt. Und wieso starrt Stefan die ganze Zeit so gedankenverloren nach draußen? Warum spricht er nicht weiter? Meine rechte Hand umklammert die Klinke, als wäre sie ein Rettungsanker.

»Es ist nämlich so«, fängt er stockend an und dann sprudeln die Worte so schnell aus ihm heraus, dass ich ihm wirklich kaum folgen kann. »Meine Frau, Anja, also, sie war nicht sonderlich begeistert von meiner Idee, ein Au-pair-Mädchen zu engagieren. Sie glaubt, dass ihr jungen Mädchen alle nur euer Vergnügen im Kopf habt und es euch egal ist, wie es den Kindern geht. Aber ich wollte unbedingt, dass meine Frau entlastet wird, damit sie auch wieder mehr Zeit für sich hat. Seit die Kleinen auf der Welt sind, musste sie sich ständig um sie kümmern. Leider waren die Zwillinge oft krank und Anja hat sich bis zur völligen Erschöpfung für sie aufgeopfert. Ich würde ihr ja gerne beistehen und helfen, aber ich arbeite nun mal im Geschäft, schließlich muss einer das Geld verdienen. Trotzdem beklagt Anja sich immer wieder darüber, dass ich sie zu wenig unterstütze.«

Als Stefan nach seinem Redefluss innehält und wieder nachdenklich durch die Windschutzscheibe starrt, entspanne ich mich ein bisschen und lehne mich auf dem Beifahrersitz zurück. Von was redet der Typ da eigentlich? Ich meine, ist das nicht genau der Grund, warum Leute sich ein Au-pair-Mädchen nehmen? Weil sie Entlastung brauchen. Aber was gehen mich die Familienprobleme von Anja und Stefan an?

Leichter Ärger steigt in mir auf. Was für ein super Start! Noch nicht mal richtig angekommen und schon scheint es die ersten Schwierigkeiten zu geben! Auf solche Themen wird man von der Au-pair-Vermittlungsagentur natürlich nicht vorbereitet. Man macht den Kinderpflegekurs, sollte gut genug deutsch sprechen und Auto fahren können. Wir durften auch mit ehemaligen Au-pairs reden, aber da war nie die Rede von Problemen in der Familie, da ging es immer nur um die Kinder.

Als Stefan dann weiterspricht, hefte ich meinen Blick auf sein Gesicht und betrachte ihn genauer. Er wirkt müde, doch die Anspannung von eben scheint von ihm abgefallen zu sein. »Und weil wir schon ein Kind verloren haben, ist sie sehr besorgt um die beiden Kleinen. Das verstehst du doch sicher, oder?«

Was meint er mit verloren?

»Wo habt ihr euer Kind verloren?«, frage ich, aber an seiner Reaktion erkenne ich, dass das die falsche Frage war.

»Es ist gestorben und es war furchtbar für uns beide.« Seine Stimme ist leise und klingt trotzdem so hart wie Stahl.

Ich lasse die Klinke an der Tür los. »Oh, das tut mir leid«, murmle ich und begreife jetzt erst, dass verloren auch tot bedeuten kann. Es muss entsetzlich traurig sein, wenn ein Kind stirbt. Da kann ich natürlich verstehen, dass seine Frau sich Sorgen um die Zwillinge macht und bestimmt hypervorsichtig ist.

»Also lass dich von ihr nicht einschüchtern, ja?«, sagt er und wirft mir einen aufmunternden Blick zu.

Ich nicke und plötzlich fällt die ganze Angst der letzten Minuten von mir ab. Das wollte er mir also sagen! Er wollte, dass ich gewappnet bin, bevor ich Anja gegenübertrete. Wie konnte ich nur so dämlich sein und mich derart von meiner Angst überrollen lassen? Das muss an den letzten Tagen liegen, am Abschied von zu Hause, von Grannie und Mom und Vicky. Außerdem war ich natürlich wahnsinnig aufgeregt, in ein fremdes Land zu gehen. Wochenlang habe ich versucht, mir vorzustellen, wie wohl die Familie ist, bei der ich ein Jahr lang leben werde. Und dann der lange Flug … Erschöpft mache ich es mir auf meinem Sitz bequem.

Dann startet Stefan endlich wieder den Motor, doch noch fährt er nicht los. Als ich ihn fragend anschaue, erscheint auf seinem Gesicht ein leichtes Grinsen. »Ach, was ich dir noch sagen wollte: In diesem Auto gibt es einen Panikknopf – wenn man den drückt, dann sind alle Türen verriegelt. Und wenn man ihn noch einmal drückt«, er tippt mit dem Finger auf den Schalter, »dann gehen die Türen wieder auf.«

Plötzlich kehrt die Anspannung in meinen Körper zurück. Er hat also ganz genau gemerkt, dass ich voller Angst die Türklinke umklammert hatte. Dabei war das vollkommen nutzlos, denn ich wäre aus dem Auto gar nicht rausgekommen.

»Ich erzähl dir das nur, weil die Agentur gesagt hat, dass du einen internationalen Führerschein hast, und du mit diesem Auto auch oft fahren wirst, weil wir etwas abseits wohnen.«

Er lächelt mir zu, dann gibt er Gas, fädelt sich wieder auf der Autobahn ein und konzentriert sich aufs Fahren.

In meinem Kopf herrscht das reinste Durcheinander. Ich weiß nicht, ob ich das alles gerade nur deshalb so intensiv erlebe, weil ich so müde und überdreht bin, oder ob dieser Stefan wirklich ein bisschen merkwürdig ist.

Wenn ich doch nur mit Vicky sprechen könnte! Ich hoffe, dass ich tatsächlich ein Zimmer mit Internetanschluss habe, damit ich gleich nachher mit ihr chatten kann. Wie es ihr wohl geht? Mit Sicherheit hatte sie keinen so merkwürdigen Start wie ich hier … Ich muss ein herzhaftes Gähnen unterdrücken und so wie es aussieht, werde ich wohl doch erst morgen früh dazu in der Lage sein, mich bei Vicky zu melden.

Wir verlassen die Autobahn und fahren auf einer Landstraße weiter, die durch hügelige Landschaften führt.

Vielleicht war es doch ein großer Fehler, nicht mit Vicky zusammen nach Paris zu gehen, sondern ganz allein nach Deutschland zu kommen. Und das nur, weil Grandma von hier stammt. Meine Freundinnen haben mich für verrückt erklärt, als ich ihnen von meinen Plänen erzählt habe. In den vorderen Odenwald statt nach Paris. Aber erstens kann ich kein bisschen Französisch, zweitens liebe ich Grandma über alles und wollte mehr über sie und Georg, ihre geheimnisvolle große Liebe, herausfinden und drittens wollte ich wissen, ob mein Deutsch wirklich alltagstauglich ist.

Obwohl ich von dieser Parkplatzaktion immer noch völlig durcheinander bin und das Gefühl habe, dass das Blut durch meine Adern rast, muss ich schon wieder gähnen.

Wir verlassen die Landstraße und nähern uns einer Siedlung mit wenigen Häusern. Nur ein paar Fenster sind schwach erleuchtet, ansonsten ist es draußen stockdunkel. Keine bunten Lichter wie in Las Vegas, die die Nacht erhellen. Keine orangefarbene Lichtglocke am Horizont. Unwillkürlich muss ich seufzen. Vegas …

Hey, ich werde doch nicht jetzt schon Heimweh kriegen? Ich kann mir vorstellen, was Vicky dazu sagen würde: Selbst schuld! Warum musst du dich auch in so einem Kaff begraben, nur um in der Vergangenheit deiner Oma rumzuschnüffeln?

Und gerade kommt es mir vor, als hätte sie vollkommen recht. Ich muss schmunzeln – Vicky kann ihre Meinung einfach nie für sich behalten. Aber das ist genau einer der Gründe, weshalb ich meine beste Freundin so gerne mag. Etwas aufgemuntert von dem Gedanken an Vicky starre ich aus dem Fenster und halte nach den Sternen Ausschau – und bin vollkommen entzückt, als ich wirklich welche am Himmel entdecken kann. In Vegas kann man so gut wie nie Sterne sehen!

Nachdem wir die Siedlung hinter uns gelassen haben, biegen wir wieder ab und fahren auf ein schwarzes Loch zu, das bei Tageslicht vielleicht ein Wald ist. Davor steht ein hell erleuchtetes Haus mit vielen großen Glasfenstern. In meinen Tagträumen hatte ich mir immer vorgestellt, mein Arbeitsplatz wäre in einem Fachwerk-Lebkuchenhäuschen, aber das hier sieht mehr nach Kalifornien als nach Odenwald aus.

»Viel Glück!«, sagt Stefan, bevor er aussteigt und damit beginnt, meine beiden roten Hartschalenkoffer aus dem Kofferraum zu wuchten.

Viel Glück – wieso denn viel Glück? Warum nicht: Alles Gute? Oder sind meine Sprachkenntnisse doch nicht so gut, wie ich immer geglaubt habe? Grannie und Mom haben von Anfang an auch deutsch mit mir gesprochen, aber vielleicht hat sich ja manches geändert in den letzten Jahren. Schließlich ist es inzwischen schon fast fünfzig Jahre her, dass Grannie nach Amerika gegangen ist – und sie ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt.

Als ich zur Tür komme, ist Stefan bereits im Haus verschwunden. Und vor mir steht Anja. Ich bleibe einen Augenblick stehen, als sie mich von oben bis unten mustert, und kann nicht verhindern, dass auch mein Blick an ihr entlanggleitet.

Sofort fühle ich mich neben ihrer zarten Seepferdchengestalt massig wie ein Zuchtbulle. Sie streckt mir ihre zierliche Hand entgegen, die in meiner verschwindet. Ich drücke sie fest und merke, dass sie trotzdem einen kräftigen Händedruck hat. Gut. Ich hasse warme Schweißhändchen, die wie nasses Toastbrot in der Hand liegen.

»Du musst Venus sein, herzlich willkommen bei uns. Ich hoffe, es wird dir gefallen, auch wenn es sehr einsam hier ist.«

Sie lächelt mich so freundlich an, dass ich den Eindruck gewinne, dass Stefan im Auto ganz schön übertrieben hat. Dafür, dass sie mich hier gar nicht haben wollte, ist sie sehr nett zu mir!

»Ich freue mich auch, euch kennenzulernen. Aber nennt mich doch bitte Blue, Venus ist ein schrecklicher Name.«

»Wie du willst, Blue. Du bist sicher sehr müde, komm mit, ich zeige dir dein Zimmer.«

Sie dreht sich um und geht über den rot gekachelten Flur die ebenfalls gekachelten, aber hellgrauen Treppen hinunter in den Keller. Na das kann ja richtig gemütlich werden – ein Zimmer im Keller! Widerwillig folge ich ihr nach unten, aber als sie dann die Tür öffnet, reiße ich beschämt und überrascht die Augen auf.

Ich stehe in einem riesengroßen Zimmer, die Wand zum Garten hin ist eine einzige Fensterfront mit einer großen Flügeltür.

Direkt vor den Fenstern steht ein großer weißer Schreibtisch mit einem chefmäßigen Lederdrehstuhl. Rechts befindet sich ein Bett mit weißem, verschnörkeltem Metallgestell, eine rosa-türkisfarbene Steppdecke ist über das Bettzeug gebreitet und es liegen ein paar geblümte Kissen darauf. Vom Kopfteil aus kann man direkt nach draußen schauen. Neben dem Bett steht ein runder Nachttisch aus weiß lackiertem Holz, auf dem ein Leselämpchen und ein Wecker stehen und einige Frauenzeitungen liegen. Links an der Wand ist ein eingebauter Kleiderschrank.

»Und hier ist dein Bad.« Anja führt mich zu einer Tür an der rechten Wand und öffnet sie. Dahinter verbirgt sich ein türkisblau gekacheltes Badezimmer, klein, aber mit geräumiger Dusche, Klo und Waschbecken.

»Das ist alles wunderschön«, quetsche ich hervor. Das war viel luxuriöser, als ich es zu träumen gewagt hatte.

»Das freut mich«, sagt sie. »Ich bin übrigens Anja.« Sie reicht mir wieder die Hand, ich nehme sie.

»Anja, auf gute Zusammenarbeit, ja?« Ich versuche, ihr dabei in die Augen zu schauen. Aber sie wendet den Kopf ab und starrt auf meine Koffer, die Stefan hier abgestellt hat, als wären sie ein Haufen Müll. Dann zieht sie ihre Schultern nach hinten, seufzt leise und mustert mich von oben bis unten.

»Hast du Hunger?«, fragt sie und ihre Mundwinkel verziehen sich dabei etwas abschätzig, als wollte sie sagen, so wie du aussiehst, hast du bestimmt Hunger, aber es wäre besser, wenn du nichts essen würdest.

Dieser Blick ärgert mich sehr, denn ich habe extra für den neuen Job zehn Kilo abgenommen und sehe zum ersten Mal in meinem Leben eher wie ein Cheerleader als wie ein Bulldozer aus. Aber neben ätherischen Frauen, die wirken, als würde der leiseste Windhauch sie vom Stuhl wehen, komme ich mir immer noch wie ein Walross vor. Und genau das ist auch der Grund dafür, warum ich meinen ersten Vornamen hasse. Wenn man Venus heißt, muss man mindestens wie eine Göttin aussehen, um nicht dauernd ausgelacht zu werden.

»Ja, ein Salat wäre toll oder irgendetwas Frisches.«

»Gut.« Ihre grashalmdünn gezupften Augenbrauen heben sich anerkennend. »Komm, ich zeige dir die Küche und das Haus.«

Ich weiß nicht so recht, ob ich Anja nett finden soll, aber ich beschließe, ihr und mir noch ein bisschen Zeit zu lassen, schließlich müssen wir ein Jahr lang miteinander klarkommen.

Wir gehen die Treppe wieder nach oben, wo eine stählerne Küche ohne jeden Schnickschnack in ein weißes Wohnzimmer übergeht. Die einzigen Farbkleckse sind ein paar rote Kissen und die Bilder an den Wänden.

Wow, ist das elegant. Ich bin wirklich beeindruckt. Unser Wohnzimmer in Vegas sieht aus wie das in King of Queens oder Alle lieben Jim oder Two an a half Men – ein gammliges Sofa beherrscht den Raum, zwei noch schäbigere Fernsehsessel und jede Menge Nippeskram. Da traut man sich wenigstens hinzusetzen und lümmelt auch gerne rum. Aber hier hätte ich einfach nur Angst, irgendwelche Flecken auf dem Sofa zu hinterlassen. Wie macht sie das nur mit den Kindern?

Anja deutet auf die edlen Freischwinger an dem riesigen Esstisch. »Setz dich doch!«, sagt sie und holt einen vorbereiteten Salat aus dem Kühlschrank und übergießt ihn mit einer Soße, die sie aus diversen Behältern zusammenrührt. Über der Arbeitsfläche, die bis auf einen gewaltigen Steinmörser mit Stößel vollkommen leer ist, sind sehr helle Lampen installiert, sodass ich ihr Gesicht gut sehen kann. Obwohl die Haut straff über den Knochen liegt, kann ich viele Linien erkennen und tiefe Ringe unter den Augen. Sie ist eigentlich schon zu alt für so junge Kinder, überlege ich, aber vielleicht hatte sie ja eine künstliche Befruchtung. War es nicht so, dass dabei häufig Zwillinge geboren wurden?

Hastig wende ich meinen Blick ab, als Anja sich zu mir umdreht, und tue so, als würde ich mich im Zimmer umschauen. Anja dreht sich wieder um, gibt einige Pfefferkörner in den Mörser, zerschlägt sie mit dem Stößel und löffelt sie dann über den Salat, den sie noch einmal prüfend anschaut und dann vor mich hinstellt.

»Wo sind denn die Zwillinge?«, frage ich, während ich mich heißhungrig auf den Salat stürze. Irgendwie ist das Ganze so unwirklich. Vor einer Stunde saß ich voller Angst auf einem dunklen Parkplatz und nun bin ich in dieser hell erleuchteten Küche und plaudere mit einer Frau, vor der mich ihr eigener Mann vor ein paar Minuten noch gewarnt hat.

Anja setzt sich zu mir und knabbert an einem Grissini herum. »Sie schlafen.« Sie seufzt. »Zum Glück. Aber ich hatte heute einen schweren Tag. Ich musste zum Arzt, weil beide so geschrien haben, dass ich sie nicht mehr beruhigen konnte. Leider konnte man uns nicht helfen und hat uns mit Schmerzzäpfchen abgespeist und wieder nach Hause geschickt.« Anjas Stimme klingt gequält und auf einmal wirkt sie noch müder als gerade eben unter dem hellen Licht der Küchenlampen.

»Das tut mir leid«, antworte ich und meine es auch so. Stefans Frau sieht wirklich ganz schön mitgenommen aus.

Sie seufzt. »Ja, mir auch. Die armen Dinger. Komm, schleichen wir uns kurz zu ihnen und schauen, ob sie schlafen.«

Ich nicke natürlich und lege mein Besteck auf den Tisch, obwohl die ersten Bissen vom Salat meinen Hunger gewaltig angeheizt haben.

Wir steigen die hier mit beigem Teppichboden belegte Treppe nach oben zum Ende des Flures. An der Tür kleben in bunt bemalten Holzbuchstaben die Namen der beiden: Mia und Benjamin.

»Bennie ist der Jüngere von beiden«, sagt Anja und legt dann den Zeigefinger an ihre Lippen. Sie öffnet die Tür vollkommen geräuschlos.

Links unter dem Fenster ist ein großer Wickeltisch, rechts in der Ecke vom Kinderzimmer stehen nebeneinander zwei wunderschöne Himmelbetten auf Rädern. Eines ist rosa, das andere hellblau. Wir schleichen uns näher.

»Das hier ist Mia.« Anja zeigt auf das knapp ein Jahr alte Baby, das auf dem Bauch liegt und leise schnarchend schläft. Dann gehen wir zu dem blauen Bettchen, wo Bennie vollkommen geräuschlos atmet.

Ich kann die beiden im Dämmerlicht, das im Zimmer herrscht, zwar nicht richtig anschauen, aber sie wirken superniedlich und ich bin wahnsinnig darauf gespannt, sie morgen kennenzulernen.

Anja streicht beiden vorsichtig über die Köpfchen und seufzt. »Ich bin so froh, dass sie endlich schlafen. Träumt was Schönes, ihr zwei!«, flüstert sie.

Ich finde es gut zu sehen, wie liebevoll sie mit den beiden umgeht. In diesem Moment muss ich an Stefans Geschichte denken – und an das tote Baby. Was muss diese arme Frau nicht schon alles durchgemacht haben!

Nachdem Anja noch an ihren Decken herumgezupft hat, verlassen wir das Kinderzimmer wieder und gehen hinunter zum Esstisch.

Während ich den Salat aufesse, fragt mich Anja über meine Familie aus und warum ich als Au-pair arbeiten möchte.

»Weil ich gut mit Kindern umgehen kann«, antworte ich natürlich, denn das stimmt auch. Trotzdem verschweige ich, dass dieser Job für mich die einzige Chance war, etwas über Grannies große Liebe herauszufinden.

Aber dann kommen wir natürlich doch auf Oma, denn nur ihretwegen kann ich ja so gut deutsch sprechen. Aber als ich sage, dass Oma aus Weitersheim stammt, interessiert das Anja nicht sonderlich. Sie will vielmehr wissen, ob ich mich mit Erster Hilfe auskenne, und ist begeistert, als sie hört, dass wir uns in dem Kinderpflegekurs ausführlich damit befasst haben.

»Du bist müde, aber das ist auch kein Wunder nach der langen Reise, die du hinter dir hast«, stellt Anja angesichts meines andauernden Gähnens schließlich fest und lächelt mich freundlich an.

»Wenn du noch etwas brauchst, sag einfach Bescheid! Ich wünsche dir eine gute Nacht. Du weißt ja, dass das, was man in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumt, in Erfüllung geht. Also, träum auch etwas Schönes.«

Kurz überlege ich noch, ob ich Stefan Gute Nacht sagen soll. Aber er ist nach meiner Ankunft nach oben in ein Zimmer verschwunden und hat sich nicht mehr blicken lassen. Komisch, denke ich. Wo er doch befürchtet hatte, dass Anja mich eher nicht so freundlich begrüßen würde. Warum hat er sich nicht zu uns an den Tisch gesetzt? Doch ich bin zu müde, um weiter darüber nachzudenken, und laufe schließlich schlaftrunken die Treppen nach unten.

Im ersten Moment kommt mir mein Zimmer wie eine große schwarze Höhle vor, weil man durch die Fensterfront ins unendlich Dunkle schaut. Es wirkt ganz anders als Wände.

Aber als ich das Licht anschalte, wird das Zimmer sofort wieder freundlich.

Bevor ich die Koffer auspacke, fahre ich noch meinen Laptop hoch. Ich bin überglücklich, als ich feststelle, dass ich tatsächlich das WLAN der Zeltners nutzen kann, und schreibe noch schnell eine Mail an Mom und Grandma, damit sie wissen, dass ich gut angekommen bin.

Weil meine Beine immer noch so kribbelig sind, mache ich die Terrassentür auf und gehe auf das gepflasterte Rechteck vor meinen Fenstern. Die Luft ist wunderbar warm und seidig und duftet wie das Summerfruit-Shampoo, das ich so gerne benutze. Ich schaue zum Wald hinüber, der wie ein schwarzes Loch alle Energie anzuziehen scheint. Aber das kommt mir sicher nur so vor, weil wir in Vegas nirgends Wald haben. Außerdem wird es bei uns niemals richtig dunkel, denn alle Gebäude, Hotels und Kasinos sind die ganze Nacht hindurch beleuchtet. Man muss schon weit in die Wüste rausfahren, um die Sterne zu sehen. Hab ich einmal gemacht mit Marc, aber der wollte gar keine Sterne anschauen, sondern bloß rumknutschen – was aber mindestens genauso schön war.

Es raschelt im Wald, dabei ist es vollkommen windstill. Wahrscheinlich Rehe oder Hasen.

Ich gehe wieder in mein Zimmer, lasse die Tür einen Spalt offen, damit Luft hereinkommen kann, durchwühle die Koffer nach meinem Kulturbeutel und dem Nachthemd. Dann probiere ich mein neues Bad aus. Meine Cremes und Lotions sehen in dem edlen Bad ein bisschen billig und irgendwie gammlig aus, aber außer mir wird das ja nie jemand mitkriegen. Die Duschkabine ist schön groß, das Wasser ist sehr heiß und ich fühle mich gleich viel besser, auch wenn ich im Spiegel übel müde aussehe.

Auf dem Weg ins Bett frage ich mich, warum Grannie so dermaßen dagegen war, dass ich mir ihre Heimat anschaue. Als ich ihr davon erzählt habe, dass ich mein Au-pair-Jahr in Deutschland verbringen möchte, hat sie mich gefragt, warum ich ausgerechnet in dieses Land wolle. Weil ich eben gerne ihre Heimat kennenlernen will, habe ich ihr geantwortet. Noch nie habe ich sie so wütend gesehen. ›Heimat‹, hat sie gesagt, das wäre nichts anderes als ein kitschiges, typisch deutsches Wort ohne jede Bedeutung.

Mich überfällt eine bleierne Müdigkeit und meine Gedanken werden zäh wie Kaugummi. Nachdem ich es mir im Bett gemütlich gemacht habe, wandert mein Blick zur Fensterfront. Gut, dass es hier nur Jalousien gibt und keine Gardinen vor den Scheiben sind, sonst könnte ich jetzt gar nicht sehen, wie schön der Mond aufgegangen ist. Irgendwie kommt er mir kleiner vor als in Vegas. Das bringt mich zum Lachen, denn es könnte leicht sein, dass in Vegas nur eine schick beleuchtete, viel zu große Mondattrappe am Himmel hängt, die genauso unecht ist wie der Eiffelturm oder die Pyramiden von Vegas. Nur ein Geschenk der Stadt an die verliebten Honeymooner.

Flitterwochen.

Unwillkürlich muss ich tief durchatmen. Es ist verdammt lange her, dass mich jemand geküsst hat. Viel zu lange. Vicky hat behauptet, wenn ich hierherfahre, dann bliebe das ein Jahr lang auch so, ganz einfach, weil es hier keine jungen Typen gäbe, wohingegen es in Paris von attraktiven Studenten nur so wimmeln würde. Und wenn ich mir diesen einsamen Halbmond über dem schwarzen Wald so anschaue, dann beschleicht mich das bange Gefühl, Vicky könnte recht behalten.