24. Kapitel

John und ich sind schon ausgestiegen und auf dem Weg zur Mainzerstraße, als mir klar wird, wie kurzsichtig meine Überlegungen sind. Ich kann es nicht riskieren, auch nur in die Nähe der Wohnung zu kommen und von meinen Eltern entdeckt zu werden.

Denn wenn ich Pa alles erzähle, dann ruft der sofort die Polizei und die Flüchtlinge würden auffliegen, was ihm, solange er wütend ist, völlig egal wäre, seine Meinung ist da ganz klar, Blut ist dicker als Wasser.

Also kann ich nicht zu Frau Vogel. Abgesehen davon muss ich wissen, ob mein Stiefbruder wirklich der Kopf hinter allem ist und ob er Lina auf dem Gewissen hat. Ich wünsche mir sehr, dass er nicht so tief drinhängt wie Dennis. Besonders für Mam, die ja jetzt schon am Ende ist. Ich wage mir nicht vorzustellen, was mit ihr passiert, wenn sie erfährt, dass ihr Stiefsohn für den Mord an ihrer Tochter verantwortlich ist. Es würde sie vernichten.

Nach dem, was Dennis mir heute angetan hat, traue ich mich natürlich nicht allein in Alex’ Wohnung, deshalb frage ich John, ob er mitkommt, auch wenn ich mich gut daran erinnern kann, wie hasserfüllt er allein auf Alex’ Stimme reagiert hat.

»Dein Stiefbruder ist eine widerwärtige Hyäne«, sagt John prompt, begleitet mich dann aber doch zur Münchner Freiheit.

Während wir dorthin laufen, fällt mir ein, dass ich ja jetzt das Handy von Dennis habe und meine Eltern wenigstens anrufen könnte. Gerade, als ich ihre Nummer wählen will, kommt mir eine Idee. Ich drücke die Wahlwiederholung, um zu hören, mit wem Dennis als Letztes telefoniert hat.

Nach dem dritten Läuten zischt eine Frau ins Telefon. »Dennis, was willst du schon wieder? Dein Knecht ist nicht hier und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe. Meine Schulden habe ich schon lange abbezahlt.«

Es klickt. Aufgelegt. Ihre Stimme kam mir bekannt vor, aber sie war so wütend, dass ich nicht sicher bin, an wen sie mich erinnert. Während ich noch darüber nachdenke, tippe ich die Nummer von Mam ein. Es dauert nur eine Millisekunde, bis der Hörer abgenommen wird und Pa ins Telefon brüllt: »Ruby?«

»Pa«, versuche ich es im sanftesten Hier-ist-deine-liebe-brave-Tochter-Tonfall, »mach dir keine Sorgen, mir geht es gut und ich komme gleich nach Hause, aber vorher muss ich noch etwas erledigen.«

»Du bist wohl übergeschnappt! Ich sitze hier und mache mir die allergrößten Sorgen. Ich habe gerade mit Frau Koslowsky telefoniert. Du kommst sofort her, ich muss dir etwas Wichtiges sagen!«

Ich verstehe ihn und ich liebe ihn nur noch mehr, weil er sich solche Sorgen macht, aber ich kann jetzt nicht kommen. Das sage ich ihm und lege mit schlechtem Gewissen auf. Danach suche ich in Dennis’ Handy nach der Festnetznummer von Alex und finde sie unter den Favoriten.

Alex nimmt ab. »Dennis, wo steckst du denn? Was zum Teufel ist eigentlich los?« Ich lege schnell auf. Gut, Alex ist also wirklich zu Hause.

Mittlerweile sind wir an der Münchner Freiheit angekommen, gemeinsam nehmen wir die Treppe nach oben, auch wenn ich bei jeder Stufe die Folgen des Überfalls und die Wunden an meinem Schienbein mehr merke und völlig außer Atem oben ankomme. Aber das ist immer noch besser, als sich dem steuerbaren und kameraüberwachten Aufzug auszuliefern. Nach allem, was passiert ist, bin ich mittlerweile sicher, dass der Aufzug neulich von Alex und Dennis gestoppt wurde, um mir Angst einzujagen. Wie leicht könnte Alex uns in der kleinen Kabine verrotten lassen.

Oben atme ich einmal tief durch, schaue zu John, der mir zunickt, dann klingele ich Sturm.

Alex macht die Tür auf, als hätte er dahinter schon gewartet.

»Du?« Ungläubig, aber irgendwie auch erleichtert zieht er mich geradezu über die Schwelle, erst als er John bemerkt, verdüstert sich seine Miene.

»Was will der denn hier?«

»Das musst du mir erklären.«

»Wo ist Dennis?«

Ich dränge mich mit letzter Kraft an ihm vorbei in sein Loft und zerre John hinter mir her, dann setzen wir uns an den Esstisch, an dem Alex das Foto von Kimoni zerrissen hat.

Alex folgt uns und pflanzt sich schweigend uns gegenüber auf einen Stuhl.

»Okay, Alex, was hat Dennis dir erzählt? Dass er mich entführt hat? Dass er seinen Knecht dazu gebracht hat, aus mir das Versteck von Linas Sachen herauszuprügeln?«

Alex schweigt, aber ihm ist ganz klar anzusehen, dass all das nichts Neues für ihn ist.

»Also?« Verdammt, ich hasse die Feigheit von diesen sogenannten Alphatieren, die nicht mal Manns genug sind, mir zu erzählen, was los ist!

Alex bleibt stumm. Ich wechsele einen Blick mit John, dann stehe ich wieder auf und stöhne unwillkürlich, weil sich mein ganzer Körper anfühlt wie ein Schlachtfeld.

»Dann gehe ich eben zur Polizei. Die sind schon ganz scharf drauf, einen Ring von Sklavenhändlern auszuheben.«

In Alex’ Gesicht beginnt es zu zucken. Mir kommt eine Idee, wie ich ihn provozieren könnte. »Was hätte eigentlich deine Maman dazu gesagt?«

»Lass meine Mutter aus dem Spiel!« Alex springt wütend auf und schreit so laut, dass wir erschreckt zusammenfahren. Zum ersten Mal sehe ich ihn ohne diese spöttische Gelassenheit, die er sonst so gern zur Schau stellt. Gut, denke ich, das ist der richtige Weg.

»Ich verstehe, deine Mutter war auch nie ein Fan von Onkel Toms Hütte?«

Alex ballt seine Fäuste und bleibt so nah vor mir stehen, dass sein gelber Cashmere-Pullover meine Wangen fast berührt.

»Du weißt nicht das Geringste, gar nichts weißt du.«

»Verdammt, dann erzähl es mir endlich! Fangen wir bei den Alphatieren an!«

»Unter vier Augen.«

Ich schüttle den Kopf, was keine gute Idee ist, weil die Würgespuren von dem Seil sich schmerzhaft in Erinnerung rufen. Jetzt reicht es mir. »Los!«

»Wir haben niemanden getötet.« Alex schaut mit herabgezogenen Mundwinkeln zu John. »Egal, was auch immer dieser verlogene kleine Scheißer dir für Märchen aufgetischt hat.«

Jajajaja. Und er ist die Wahrhaftigkeit in Person!

»Hör auf. Ich weiß, wozu euer Amari in der Lage ist. Hör auf, mich für blöd zu verkaufen.«

Wir starren uns an, jeder wutschnaubend und bereit zuzuschlagen, aber dann fallen Alex Schultern plötzlich nach vorn und er setzt sich stöhnend wieder hin, stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt das Gesicht in seine Hände. Superdramatische Geste.

»Ich höre?«

Er hebt den Kopf wieder, seine dunklen Augen schimmern feucht.

Kann mein Stiefbruder auch noch auf Kommando weinen?

»Es war alles ganz anders, als du denkst.«

Aha. Dann also jetzt die selbstmitleidige Die-anderen-sind-schuld-Tirade.

»Was du nicht sagst.« Ich hoffe, meine Stimme klingt so angeekelt, wie ich mich fühle.

»Lange waren die Alphatiere in der Schule wirklich nur sozial engagiert.« Er holt tief Luft.

Achtung Enthüllung. Ich beschließe, ihm kein Wort zu glauben.

»Aber dann wurde meine Mutter getötet.«

»Bei einem Verkehrsunfall.«

»Oh ja, ein Unfall.« Seine Stimme wird bitter. »Abgesehen von der Tatsache, dass der Mann, der sie totgefahren hat, über zwei Promille im Blut hatte. Er ist, ohne zu bremsen, in sie reingefahren. Am helllichten Tag. Einfach so.« Alex schlägt mit der linken Faust leicht in seine geöffnete rechte Handfläche. »Buff, einfach so.«

Er schluckt ein paarmal, steht auf und holt sich ein Glas Wasser, das er in einem Zug austrinkt. Ich spüre plötzlich auch brennenden Durst, aber es wäre ein Fehler, Alex jetzt zu unterbrechen, deshalb warte ich schweigend, bis er sich wieder beruhigt hat.

»Sie stand an einem Fußgängerübergang, an dem Zebrastreifen vor meiner Schule, sie wollte mich abholen, es war mein Geburtstag.«

»Das tut mir leid, Alex.« Und das stimmt. Es tut mir leid, ich weiß jetzt, wie es ist, einen nahen Menschen zu verlieren. Trotzdem erklärt das noch lange nicht, was er getan hat. Und entschuldigen tut es das sowieso nicht.

»Oh ja, allen tat es so leid«, sagt Alex. »Mich haben sie dabei allerdings vor lauter Mitleid vergessen. Kein Mensch hat mich an dem Tag abgeholt. Oliver war in Ghana auf einem wichtigen Ärzte-ohne-Grenzen-Einsatz.«

John sagt sehr ruhig: »Das muss wirklich schlimm gewesen sein.«

Alex wirft ihm einen Blick zu, der eine Mischung aus Abscheu und Verachtung ist. »Das siehst du ganz falsch. Denn für den Mörder meiner Mutter war es doch noch viel schlimmer.« Der zynische Tonfall ist so ätzend, wie ich es selbst bei Alex noch nie gehört habe. »So ein armer, suchtkranker Neger. Ein Flüchtling aus Angola, der sich jeden Tag besaufen muss, um das Leid seiner Kindheit vergessen zu können. Einer, dem wir gestattet haben, legal in Deutschland zu bleiben. Leben wir nicht in einem großartigen Land?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. John räuspert sich. »Was für ein schreckliches Unglück«, entgegnet er. »Es wird sicher sehr lange dauern, bis die Flügel der Zeit deine Trauer davongetragen haben.«

Alex starrt John an, als hätte er Kisuaheli gesprochen.

Ich nehme mich zusammen. »Und deine Trauer hat dich dazu gebracht, einen Sklavenhandel aufzuziehen?«

»Meinem Vater war der Tod von Mutter egal. Ich war ihm gleichgültig, mir ging’s ja gut. Ich hatte alles. Ihn haben immer nur die Unterprivilegierten anderer Länder interessiert. Das ging so weit, dass er Maman nicht mal eine ordentliche Beerdigung gegönnt hat, er ließ sie verbrennen und in einem anonymen Urnengrab beisetzen. Sie hätte sich das gewünscht, hat er behauptet. In Wahrheit wollte er es so. Meine Mutter war Französin und praktizierende Katholikin, aber das war ihm egal. Wichtig war ihm dagegen, dass man von dem Geld, das er für den Grabstein spart, in Afrika eine ganze Schule bauen kann. Mich hat er gar nicht gefragt. Ich hätte das alles gerne bezahlt und mich um das Grab gekümmert. Sie dort besucht. Ich habe mich noch nie gut mit ihm verstanden, aber ab diesem Moment habe ich ihn gehasst. Und mich gefragt, was ich tun könnte, um seine Arbeit zu neutralisieren.« Alex hält einen Moment inne. »Es war beinahe zu leicht, ich musste nur die Illegalen dort abfangen, wo er sie behandelt hat. Ich bin ihm gefolgt und wusste dann, wo er an dem Abend praktizieren würde. Erst wollte ich die Leute nur einschüchtern und dafür sorgen, dass sie abgeschoben werden, aber dann hat Dennis Wind von meiner Aktion bekommen und hatte die Idee, dass man mit ihnen Geld verdienen könnte.« Alex hat sich in Rage geredet, er wird immer schneller. »Allein der Gedanke daran, was mein ehrenwerter Vater dazu sagen würde, hat es für mich lohnend gemacht. Das Geld war ein angenehmer Nebeneffekt. Ich habe meiner Mutter ein Grab auf dem Nordfriedhof gekauft, einen wunderschönen Grabstein aus rotem Granit und diese Wohnung.« Er schweigt einen Moment, dann holt er die Kette mit dem @-Zeichen aus seinem T-Shirt und reißt sie mit einem Ruck ab. »Die Kette war meine Idee. Quasi ein Erkennungszeichen für alle, die im inneren Kreis, bei den wahren Alphatieren dabei sind.« Er wirft sie mitten auf den Tisch, wo sie quecksilberböse im Licht blinkt.

»Aber dann ist alles aus dem Ruder gelaufen. Dennis konnte den Mund nicht voll genug kriegen, er wollte immer mehr und mehr. Musste seinem Alten beweisen, was er alles draufhat, auch wenn er die Schule wieder nicht schaffen wird.«

Ich kann es nicht fassen, was ich da höre. Dennis hat Leute versklavt, um zu zeigen, was er draufhat?

»Olivers Gott ist die heilige verlogene Nächstenliebe«, fährt Alex fort. »Der Gott von Dennis’ Vater aber ist der ehrliche goldene Mammon. Er hat einen riesigen Putz- und Hausmeisterservice, der ganze Wohnblöcke in München reinigt. Und er hatte nichts dagegen, sich von uns mehr und mehr Leute verdealen zu lassen. Gretchens Vater war auch nicht abgeneigt. Die Pizzerien brauchten auch jede Menge Spüler und billige Köche.«

Gretchens Vater? Hängt der auch mit drin? Ich erinnere mich, wie er mich angesehen hat, als ich Gretchen in Riem getroffen habe. Und was ist mit Gretchen? Okay, sie war auch auf den Gala-Fotos, aber gehört sie deshalb zu den Kettenträgern, dem inneren Kreis? Ich kann mir das nicht vorstellen, aber haben mich nicht alle in München verarscht? Niemand ist so, wie er vorgegeben hat zu sein.

»Das Ganze lief so gut, dass andere Zeitarbeitsfirmen auf uns aufmerksam geworden sind und angefangen haben, Fragen zu stellen«, sagt Alex. »Um sich zu schützen, hat Dennis sich Amari rangezogen, und ab dem Zeitpunkt wurde das alles eine Nummer zu groß für mich.« Er hebt den Kopf und sieht mich direkt an. »Ich hatte meine Rache gehabt, verstehst du? Ich wollte aussteigen. Aber Dennis hat mich nicht gelassen, sondern fing an, mich zu erpressen.« Sein Blick wird mutlos. »Ruby, du musst mir glauben, ich wollte dir das alles erzählen, schon viel früher. Neulich in der Nacht nach Linas Tod, da bin ich dir mit dem Auto gefolgt. Du bist zur Münchner Freiheit gelaufen und wieder umgekehrt. Aber in letzter Sekunde habe ich dann doch Schiss bekommen und bin weitergefahren.«

Ich schließe für einen Moment die Augen und erinnere mich. Der schwarze BMW, der mit quietschenden Bremsen davongefahren ist. Aber ich lasse mich nicht ablenken. Egal, wann Alex mir es auch sagen wollte, das, was er getan hat, ist so ungeheuerlich, dass sein angebliches Geständnis nur unglaublich feige wirkt.

»Und du kannst damit leben, dass deine Sklaven dir all diesen Luxus finanzieren?« Jetzt verstehe ich noch besser, warum meine Schwester dieses Loft verabscheut hat. »Dein fettes Auto? Diese Wohnung?« Ich lasse ihn nicht aus den Augen. »Musste Lina deswegen sterben, genau wie Kimoni? Weil sie das alles herausgefunden hat?«

»Du täuschst dich, Ruby. Ja – sie hat alles gecheckt, aber nein – niemand hat sie ermordet. Du musst wissen, Lina war hinter Dennis her, natürlich vor allem, weil Gretchen so gnadenlos in ihn verliebt war. Deine Schwester hätte alles getan, um ihn zu kriegen, und kaum hatte sie erfahren, dass Dennis inoffizieller Chef der Alphatiere war, wollte sie unbedingt bei uns mitmachen. Ich hatte dabei kein gutes Gefühl und ich habe versucht, es Dennis auszureden, aber er war so geschmeichelt, dieser Idiot, dass er sie eingeweiht hat. Ein schwerer Fehler, denn Lina war empört und wollte uns verraten. Aber keiner hätte Lina etwas angetan. Ruby, deine Schwester war eine von uns.«

Mir fehlen die Worte. Eine von uns! Und alle anderen kann man einfach ermorden? Was für ein unglaublicher Arsch!

»Kimoni wurde von Amari erschlagen.« Alex räuspert sich ein paarmal. »Weder von Dennis noch von mir, sondern von einem seiner Artgenossen.« Er wendet sich zu John. »Dein elender Bruder wollte uns hochgehen lassen und es war diesem Verräter egal, dass dann auch seine Freunde abgeschoben würden.«

John springt blitzschnell auf und prügelt Alex ins Gesicht, der reagiert überhaupt nicht, was John aus dem Konzept bringt. Er steht vor Alex, keuchend, mit geballten Fäusten, schlägt aber nicht mehr auf ihn ein.

»Mein Bruder war kein elender Verräter! Er war mutig, sein Mörder aber feige. Feige wie deine widerwärtige Rache aus Selbstmitleid. Und im Übrigen bin ich sicher, dass du lügst. Amari handelt nur auf Anweisung.«

»Ich bin kein Mörder. Lina ist mit Kimonis Tod nicht klargekommen. Ich glaube, sie hat sich die Schuld daran gegeben, weil sie ihn ermutigt hat, zur Polizei zu gehen.« Alex findet langsam zu seiner spöttischen Haltung zurück. »Oder dein schwarzer Freund hat sie sich vorgenommen. Von wegen Auge um Auge, Zahn um Zahn. Steht so was nicht auch im Koran?«

»Davon weiß ich nichts, aber ganz sicher steht im Koran: Ihr Menschen! Eure Gewalttätigkeit richtet sich gegen euch selber.« John schüttelt den Kopf. »Kimoni hat geglaubt, es gäbe Gerechtigkeit in diesem Land. Er wollte, dass Dennis und Alex bestraft würden, und er hatte die Hoffnung, dass man das schaffen könnte, ohne uns alle zu gefährden.«

»Was für ein Naivling.« Alex klingt jetzt wieder so wie immer. »Natürlich hätte man euch abgeschoben.«

John nickt. »Das denke ich auch. Und ich glaube, Amari war das genauso klar. Er wollte unbedingt bleiben, nachdem seine Schwester die Papiere bekommen hat und damit legal im Krankenhaus arbeiten durfte.«

»Siehst du, Ruby, er sagt es ja selbst.« Alex lehnt sich zurück. »Frag ihn doch mal, woher Amaris Schwester die Papiere hatte. Dennis hat sie ihr verschafft.«

John lacht freudlos auf. »Und im Gegenzug musste Amari sein williger Helfer werden. Vergiss nicht, das auch zu erzählen.« Er schluckt ein paarmal trocken. »Er ist zum Mörder meines Bruders geworden, aber ich habe keine Beweise dafür.«

»Und Lina?« Immer wieder gerät Lina aus dem Blickfeld.

Alex legt seine Hand auf meine und schaut mir in die Augen, als wollte er mich hypnotisieren. Ich zucke zurück, als wäre seine Hand glühend heiß. Ich ertrage es nicht, wenn er mich anfasst.

»Ruby, ich schwöre dir bei dem Grab meiner Mutter, dass ich Lina nicht angerührt habe. Ehrlich gesagt glaube ich wirklich nicht, dass sie überhaupt jemand umgebracht hat.« Er lässt meine Hand los und geht zum Kühlschrank. »Wollt ihr etwas trinken?« Er wartet unsere Antwort nicht ab und stellt vor jeden von uns eine Wasserflasche. Ich spare mir ein Dankeschön, öffne sie sofort und trinke sie in einem Zug leer.

Alex räumt die Flasche weg und bringt mir noch eine. »Lina war nicht blöd. Sie hätte gemerkt, wenn ihr jemand Wodka mit Schlaftabletten verabreicht. Wie hätte Amari ihr jemals so nahe kommen können?«

»Er hat es bei mir auch geschafft.«

»Das ist etwas anderes. Dich konnte er überfallen, aber Lina wurde nicht überfallen.«

Das stimmt. Mit wem hat Lina also so arglos getrunken und gefeiert? Ich schaue fragend zu John.

John erwidert meinen Blick und sein Gesicht wird weich, so wie Mam aussieht, wenn sie Babys anschaut. Er wendet mir auch seinen Körper zu, der in Olivers Sachen merkwürdig verkleidet wirkt. »Ruby, deine Schwester war gut zu uns. Deine Schwester hat unser Leben mit Licht erfüllt, vor allem das von Kimoni.«

Er dreht sich zu Alex. »Ja, ich war in Kimonis Tod gefangen. Aber ich habe meinem Schmerz nicht erlaubt, sich auf Unschuldige auszubreiten. Im Gegensatz zu dir. Feigheit kann dir zwar manchmal das Leben retten, aber ich glaube, die Erinnerung daran wird dich aushöhlen wie Termiten einen Baumstamm.«

»Was soll das bedeuten?«, frage ich.

»Alex?« John klingt unerwartet sanft, als ob er mit einem Kind sprechen würde.

Mein Stiefbruder macht mit seiner rechten Hand eine abwehrende Bewegung, räuspert sich dann. »Ich war dabei, aber ich konnte nichts tun.«

Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. »Du meinst Lina …«

»Nein, ich war bei Kimonis Tod dabei. Amari wollte aus ihm herausprügeln, wo er die Beweise versteckt hat und wer noch davon wusste. Es war nicht geplant, dass er dabei sterben würde.«

»Kollateralschaden, klar.« Ein ekelhafter Geschmack steigt meine Kehle hoch. Ich denke daran, wie ich Alex das Bild des toten Kimoni gezeigt habe. Ich stehe auf, nehme meine Wasserflasche und bin versucht, sie ihm ins Gesicht zu schütten. Aber das wäre nur eine total hilflose Demonstration, ein Eingeständnis meiner Unfähigkeit zu begreifen, was mein Stiefbruder alles getan hat.

»Ruby, glaub mir, ich konnte nichts tun. Dennis hat mich festgehalten, als ich dazwischengehen wollte. Er ist leider stärker als ich. Und es tut mir ja auch leid.«

John hat Tränen in den Augen. »Tut dir auch leid, wie du mich gezwungen hast, seine Leiche wegzuschaffen? Mein Bruder hat nicht nur keinen Grabstein, nein, er hat nicht mal ein eigenes Grab!« Er richtet seinen Blick auf mich. »Als ich von der Arbeit kam, war Kimoni schon tot. Und Alex hat einfach zu mir gesagt: Schaff die Leiche von deinem Bruder fort. Und wenn dir dein Leben lieb ist und du deinen Job behalten willst, dann hältst du die Klappe. Andernfalls geht es dir wie deinem Bruder. Sie haben mir dann einen schwarzen Plastiksack gegeben und drei Männer, die mir helfen sollten.«

Ich habe keine Worte mehr. Das ist alles so schrecklich, dass jede Antwort banal klingen würde.

»Ruby, ich habe das nicht gewollt«, sagt Alex.

»Ich glaube, eine Kakerlake ist noch mutiger als du. Auf jeden Fall hat sie mehr Moral.«

»Du hast recht.« Jetzt sieht Alex plötzlich anders aus, grau im Gesicht, jeglicher Spott ist aus den Zügen wie weggewischt. »Ich werde mich der Polizei stellen und gegen Dennis und Amari aussagen. Ich werde das alles irgendwie gutmachen.«

»Unmöglich«, John klingt immer noch sanft, »mein Bruder ist tot.«

»Und meine Schwester ist auch tot.«

»Aber mit Linas Tod haben wir nichts zu tun. Ich habe Dennis und Amari an dem Abend, als Lina die Tabletten genommen hat, in einer Pizzeria von Gretchens Vater getroffen. Ich habe ihnen eröffnet, dass ich endgültig aussteige und es für mich vorbei ist. Aber Dennis hat mir gedroht, er würde dafür sorgen, dass es so aussieht, als hätte ich Kimoni ermordet. Sie würden mich nur aussteigen lassen, wenn ich die Beweise, die Kimoni gehabt hatte, herbeischaffen würde.«

»Ich glaube dir kein Wort.« Neben Alex ist Käpten Sparrow ein Heiliger.

»Und was ist mit mir?« John wischt die Tränenspur von seinem Gesicht ab. »Vertraust du mir?«

»Warum fragst du das?«

»Weil ich gespürt habe, wie du mich vorhin angesehen hast.«

»Aber ich vertraue dir«, beteure ich und das tue ich wirklich, obwohl ich unwillkürlich daran denken muss, wie er Alex gerade ins Gesicht geschlagen hat. Wie weit würde er in seiner Wut und seinem Schmerz gehen?

Alex sieht von John zu mir. »Wenn du ihm vertraust, wie ist er dann an Linas Handy gekommen?«, fragt er mich.

»Deine Lügen ziehen bei mir nicht mehr.«

Alex steht auf und stürzt sich auf John, der völlig steif dasteht und mich fassungslos anschaut. Ehe John reagieren kann, greift er in seine Hosentasche und zieht dann ein rosa Klapphandy heraus. Ich erkenne es sofort. Es ist Linas Mobiltelefon. Das, was ich überall gesucht habe.

Mir verschlägt es die Sprache. Was wird hier gespielt? Wo kommt das jetzt her? Sind denn hier alle nur Lügner und Schauspieler, sogar John?

»John, bitte, erklär’s mir!«

John greift nach dem Handy, steckt es wieder ein und geht unvermittelt zur Tür. »Ich muss hier raus«, sagt er. »Ihr Europäer habt zugelassen, dass euer Kopf euer Herz erstickt.« Er verlässt die Wohnung so schnell, dass er schon draußen ist, bevor ich wirklich kapiere, was hier gerade passiert.

Ich renne ihm hinterher. »John«, brülle ich ins Treppenhaus, »was soll denn das? Bitte – wir müssen zusammen zur Polizei!«

»Da wäre er schön blöd!«, murmelt Alex.

Ich wirbele herum, möchte ihm gern sein spöttisches Grinsen vom Gesicht wischen, möchte wissen, wo eigentlich der echte Alex ist, der mit den Gefühlen, der doch irgendwo tief in seinem Bauch wissen muss, wie furchtbar das ist, was er da getan hat. Und dann beschleicht mich der entsetzliche Gedanke, dass es diesen Alex vielleicht gar nicht gibt.

XII

Und als die Wahrheit von uns zu ihnen kam, sagten sie: »Das ist offensichtlich Zauberei.«
((10:76))

Er stürmt die Treppen runter, weiß nicht wohin, nur weg von denen. Er hasst sich selbst für seine Gefühle, denn das alles ist wider die Natur. Es ist doch unmöglich, dass eine Gazelle einem Löwen das Herz brechen kann.

Er wünschte, er hätte sich besser unter Kontrolle. Er hätte ihr sagen müssen, dass das, was sie für eine Wasserstelle hält, nur ein vergifteter Tümpel ist. Aber das soll jetzt ihre Sache allein sein. Wie kann ein lächerliches Handy ihr Herz dermaßen täuschen. Wenn sie nach allem, was passiert ist, nicht weiß, ob er die Wahrheit sagt oder nicht, dann ist sie es nicht wert.

Er ist fertig mit ihr und dieser elenden kleinen Schabe. Und es freut ihn fast, dass sie so nie erfahren wird, dass die Schabe die Wahrheit gesagt hat. Jedenfalls, was den letzten Abend von Lina angeht, denn die Schabe, Dennis und Amari waren tatsächlich in der Pizzeria. Er hat die drei voller Rachedurst belauert und nur auf eine Gelegenheit gewartet, es ihnen heimzuzahlen, auch wenn er Kimoni versprochen hatte, sich nie wieder in Rache zu verlieren.

Er muss sich zusammennehmen, so wie er rennt und sich zwischen den Passanten durchschiebt, fällt er auf. Die Leute starren ihn an, als wäre er ein Dieb auf der Flucht, fast wünscht er sich, dass sich jemand an seine Verfolgung machen würde, nur um ihm dann zu entwischen. Aber dann zwingt er sich doch, ruhiger zu werden, mehr aus Gewohnheit, denn warum sollte er überhaupt noch hierbleiben wollen, in diesem widerwärtigen Land voll kaltherziger blinder Gazellen?

Um seine Seele von diesen sinnlosen Gedanken abzulenken, sagt er Gedichte auf, die er in der deutschen Schule bei den Missionaren gelernt hat. Gedichte von Zauberworten und Waldesruhen und von merkwürdigen Birnen, mächtigen Raben und eisigen Reitern. Darin war er immer schon gut, viel besser als Kimoni, der sich nichts merken konnte und der es gerade so geschafft hat, Englisch zu lernen. Ein flüchtiges Lächeln zwingt sich in Johns Gesicht, wenn er daran denkt, wie glücklich sie waren, als sie es über Italien endlich bis hierher geschafft hatten, voll irrsinniger Träume. Kimoni hatte die Idee, Pilot zu werden, wollte gerne wieder eine Uniform tragen, trotz des Horrors, den sie als Kinder bei den Rebellen erlebt hatten, trotz der Narben. Manchmal waren sie raus zum Flughafen gefahren und hatten den Jumbos beim Starten und Landen zugesehen. »Schau, genau so einen werde ich mal fliegen.« Kimonis Augen hatten geleuchtet wie Blinkfeuer.

Ich habe so vieles ertragen, überlegt John, aber ohne einen Menschen, den man liebt, ist nichts mehr sinnvoll. Es stimmt, was seine Mutter immer gesagt hat. Allein essen ist wie allein sterben.

Er bleibt stehen und betrachtet sich in einem der Schaufenster auf der Leopoldstraße. Was für ein Mann bist du, John? Auch nicht besser als die Schabe. Du kannst nicht so tun, als ginge dich das alles nichts an. Ganz egal, ob dein Herz in den blaugrünen Sambesiaugen der Gazelle ertrinkt oder an ihrem Misstrauen erfriert, du musst sie warnen. Sie glaubt anderen, weil sie selbst immer die Wahrheit sagt. Dabei gibt es doch auch in diesem Land die Redensart vom Wolf im Schafspelz.

Amari hält sich für einen Wolf, obwohl er ein Schaf ist. Seine Schwester gibt sich dafür lammfromm, dabei lauert sie jetzt, wo er verletzt ist, sicher schon sprungbereit im Baum. Sie würde alles für Amari tun.

Er wird nicht zweimal den gleichen Fehler machen und sie unterschätzen, denn er kann es sich nicht leisten, jemanden zu verlieren, der sein Herz berührt hat.

Er dreht sich um und läuft zurück, wird schneller, fängt an zu rennen. Und diesmal ist es ihm egal, ob ihn jemand für einen Dieb hält.