23. Kapitel
Ich habe Angst.
Ich habe große Angst.
Angst, sie werden mich töten.
Seit einer gefühlten Ewigkeit liege ich auf einem glatten, kalten Boden, mit diesem schwarzen Ding über dem Kopf, von dem ich überzeugt bin, es ist ein Müllsack. Bei jedem Einatmen schmiegt sich jedenfalls Folie fest an meine Nasenlöcher und erinnert mich an den Dreck, in dem ich beinahe erstickt wäre. Aber diese Folie wurde durchlöchert, sodass ich gerade genug Luft bekomme, auch wenn mein Atem winzige Wassertropfen gebildet hat, die das Plastik klebrig machen und den brandigen Geruch auf ekelhafte Weise verstärken.
Meine Hände sind so stramm auf dem Rücken gefesselt, dass stechende Schmerzen durch meine Oberarme jagen. Das dünne Seil hat die Haut an meinen Handgelenken blutig gescheuert, meine Finger sind völlig taub und fühlen sich trotz der Taubheit an, als wären sie auf die doppelte Größe geschwollen. Meine Beine sind nicht gefesselt, aber nachdem ich ein paar Schritte gemacht habe, bin ich gleich wieder gestürzt, der Sack nimmt mir jede Sicht, ich vergeude nur sinnlos Energie.
Ich versuche alles, um mich abzulenken und nicht in dieser Angststarre zu verharren, aber meine Gedanken gehorchen mir nicht und so fällt mir beispielsweise ein, dass sie in Guantanamo die Verdächtigen auch mit einem Sack über dem Kopf gequält haben, so lange, bis sie verrückt vor Angst geworden sind und alles gestanden haben. Ja, ich bin Micky Maus und habe große schwarze Ohren. Ja, die Evolution hat nie stattgefunden, ja, ich bete nie mehr nach Mekka, wenn ihr nur den Sack wegnehmt.
Oder: Nein, ich hab diese Menschen nie gesehen, die hier in grauenhafter Enge in einem Verschlag in der Tiefgarage leben.
Denn das ist ja wohl das Verbrechen, um das es bei mir geht. Ich habe diese Menschen gefunden, vielleicht genauso wie Lina.
Aber wer sind sie und was tun sie hier? Freiwillig wohnt niemand so, nicht einmal die Asylanten in der umstrittenen Wohncontainer-Unterkunft in der Lerchenau, die vor gut einem Jahr geschlossen wurde, waren auf so wenigen Quadratmetern untergebracht.
Und wenn sie nicht freiwillig hier sind, werden sie gezwungen. Von Leuten, die ihren ganzen Hass auf Ausländer richten? Von den Alphatieren?
Mir wird schlecht, wenn ich an das glanzvolle Bankett denke und all die herausgeputzten Menschen und dann an dieses fensterlose Loch mit den eingeschüchterten Schwarzen. Meine Wut ist gut, denn der Zorn hält die Angst in Schach.
Auf keinen Fall darf ich anfangen zu weinen, das macht nur schwach. Es kommt nicht infrage, hier drin zu sterben. Das kann ich meinen Eltern nicht antun.
Ich habe keine genaue Vorstellung davon, wie lange ich schon hier liege, wenn ich allerdings meinen immer brennender werdenden Durst als Indikator betrachte, dann muss es schon mehr als ein halber Tag sein.
Warum kommt niemand und redet mit mir? Was haben sie mit mir vor? Dieses Herumliegen und Warten zermürbt mich mehr als der Durst. Jeder Atemzug macht dieses Plastiktütengeräusch und erinnert mich an die Geräte in Linas Zimmer. Am Anfang habe ich ab und zu mal laut geschnaubt, dachte, das würde Panik bei meinen Entführern auslösen, aber ich scheine wirklich ganz allein hier zu sein.
Um mich abzulenken, denke ich an Lina, die strahlende, lebendige Lina vom Foto. Und mir fallen die merkwürdigsten Sachen ein aus der Zeit, als wir klein waren. Was wir uns für Geschichten erzählt haben, Versionen von Hans Christian Andersens Eiskönigin – bei uns allerdings heiratete die Eiskönigin am Ende und wurde sehr, sehr glücklich. Und welche Spiele wir gespielt haben. Verstecken, immer wieder Verstecken, und Ochs am Berg. Manchmal haben wir auch Mr Singer und Schenk als Mädchenhasen verkleidet und sie Fräulein Singer und Fräulein Schenk genannt. Und seltsamerweise haben wir die beiden oft und gern hart bestraft, was umso erstaunlicher ist, denn unsere Eltern waren sehr tolerant. Wenn Singer und Schenk nicht brav wären, dann kämen die Raben und würden sie fressen, drohten wir. Wir haben ihnen dann in den lebhaftesten Farben ausgemalt, wie ihnen die Raben erst ein Auge und dann das nächste aushacken würden.
Wie grausam wir waren. Und jetzt ist Lina tot. Dann fressen sie die Raben.
Ich muss mich zwingen, wieder klar zu denken. Mich in Erinnerungen zu suhlen, hilft nicht das Mindeste. Eher im Gegenteil.
Jemand kommt herein. Ich höre ein Flüstern.
Ich werde unerwartet sanft hochgezogen, werde gezwungen zu gehen, stolpere dabei.
Stolpern, da blitzt so ein Funke durch mein Hirn, Ruby, wann bist du zuletzt gestolpert und warum? Das Stolpern erinnert mich an etwas Wichtiges, aber an was? Ich werde zu einem Stuhl geführt und dort hingesetzt, dann muss ich versprechen, die Augen zu schließen. Ich gehorche, klar gehorche ich, ich würde auch heilige Eide schwören, ab morgen nur noch Elefantenkacke zu essen. Natürlich nehme ich mir vor zu blinzeln, aber ich werde kein Risiko eingehen, denn ich will diesen Sack loswerden, ihn weg von meinem Kopf haben.
Aber dann ist das Licht dermaßen grell, dass ich trotz aller Anstrengungen nichts erkennen kann, und der Moment ist sofort vorbei, weil jemand einen weichen Schal über meine Augen gelegt hat und ihn am Hinterkopf verknotet.
Plötzlich wird mir klar, dass das ein gutes Zeichen ist. Es bedeutet, sie werden mich am Leben lassen, denn wenn sie mich umbringen wollten, dann wäre es ihnen egal, ob ich sie sehe und später wiedererkenne. Erleichtert atme ich tief durch und genieße es, die Luft kommt mir nach dem klebrigen Plastik süß vor und rein.
»Also, Ruby, jetzt musst du dich entscheiden.«
Die Stimme klingt wie die Durchsagen im Flugzeug, nur ohne Störungen. Ruby? Der Mann kennt mich und hat Angst, ich könnte seine Stimme erkennen, deshalb hat er seine Handflächen direkt vor den Mund gelegt.
»Du kannst in drei Minuten auf dem Weg nach Hause sein oder hier drin verrotten. Alles, was wir von dir wollen, sind Linas Sachen. Ihr Handy, Fotos, Filme, einfach alles. Gib es uns und der Spuk ist vorbei.«
Wieso redet er immer von wir und uns? Ich denke an den Klub der Alphatiere und rate einfach mal. »Alex?«
Niemand antwortet.
»Alex, bist du das?«
Ein Schlag ins Gesicht, überraschend, hart und ohne Vorwarnung. Ich schnappe nach Luft. Verdammt, das war ein zweiter Mann, der seitlich hinter mir steht. Als er sich bewegt, steigt mir der unverkennbare Mix aus viel zu süßem Männerparfüm und Zigaretten in die Nase, mein Körper erinnert sich sofort an den Angreifer aus Riem und überschwemmt mich mit einer Woge von Adrenalin und Angst. Dieser Dreckskerl hat etwas von einem Schatten, man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht, aber man spürt den Schmerz. Mein Herz hämmert, als wäre ich den Fernsehturm raufgejoggt. Sind hier noch mehr dieser Schatten? Stehen sie um mich herum und weiden sich an meinem Schmerz? Ich zerre wütend an meinen Fesseln.
»Arschlöcher!«
Die erste Stimme lacht und es gibt ein leises Echo von dem Schatten. Und schlagartig wird mir klar, was ich hier bin, und ich ersticke fast an meiner Wut.
Ich bin ein Opfer.
Opfer.
Das Wort bricht über mich herein, schlägt mir ins Gesicht, schmerzhafter als die Ohrfeige.
Ich richte mich auf. Dadurch schneiden die Fesseln noch tiefer in meine blutigen Handgelenke, meine Oberarme werden noch stärker gedehnt. Ich verbeiße mir jeden Schmerzenslaut. Jemand, der nach Opfer aussieht, wird auch so behandelt.
»Also, wo ist das Zeug von Lina?«
Alex, könnte diese lächerliche Stimme wirklich die von Alex sein? Alex, der sich lachend Käsewürfel in den Mund wirft. Alex, der ehrlich entsetzt über den Tod meiner Schwester ist, aber auch der Alex, der Kimonis Foto zerfetzt hat. Ich kriege das alles nicht mit dem hier zusammen.
Und trotzdem. »Alex, hör auf damit!«, sage ich und halte gleichzeitig die Luft an in Erwartung des nächsten Schlags.
Doch diesmal kriege ich einen unglaublich harten Tritt ans Schienbein, mit einem Schuh, der eine Stahlkappe haben muss. Unwillkürlich stöhne ich vor Schmerz auf, aber ich verstumme sofort. Kein Opfer. Ich will kein Opfer sein.
»Also?«
»Ich habe nichts und ich weiß auch nichts.«
Ein höllischer Tritt ans andere Schienbein. In meinen Augen explodieren rote Sternchen.
Wieder diese lächerlich verstellte Stimme. »Ruby, die Märchenstunde ist vorbei.«
Ich muss es anders machen, ich muss den Typen aus der Reserve locken. »Hast du keine Angst, dass sich deine Mutter im Grab herumdreht?«
Nichts. Hätte Alex darauf nicht reagiert?
Der Typ lacht und langsam dämmert mir, dass ich völlig danebengelegen habe. Und der Verdacht, der mich dann beschleicht, lässt mich erstarren. Wenn meine Vermutung stimmt, dann ist dieser Kerl so perfide und durchtrieben, dass alles mit mir passieren kann. Ich spanne meine Muskeln an, voller Panik, was ihm noch einfällt.
Ich bin kein Opfer. Mich fressen keine Raben.
Eine dicke Kordel legt sich von hinten um meinen Hals und zieht sich langsam und unerbittlich zu.
Ich muss würgen, wünschte, meine Hände wären frei, wehre mich, zappele, drehe mich, winde mich. Luft, ich brauche Luft, ich werde hier nicht sterben!
Ich gebe ein paar Geräusche von mir und kann nicht glauben, dass ich diese unmenschlichen Laute ausstoße.
Das leise Lachen hört auf. »Genug jetzt.«
Das Seil lockert sich.
Ich kann nur krächzen. Wenn es der ist, an den ich denke, dann muss ich Zeit gewinnen. »Okay, okay. Ich verrate, wo ich die Sachen versteckt habe. Aber bevor ich rede, will ich hier raus.«
»Das geht nicht.«
Aber immerhin wird das Seil wieder abgenommen.
Das Seil erinnert mich an etwas. Seil. Schnur. Kordel. Die Wohnung von Frau Vogel. Aber dort waren keine Seile.
»Also?«
»Ich muss es selbst holen«, krächze ich, »dort könnt ihr nicht rein, der Hund beißt.«
»Leon ist so gefährlich wie Lassie mit Altersschwäche.«
Mein Verdacht wird zur grausamen Gewissheit.
Ich beiße die Zähne zusammen. »Wenn ich dir das Zeug gebe, bin ich dann wirklich aus dem Schneider oder werde ich irgendwann tot aufgefunden wie Lina und Kimoni?«
»Wir töten doch niemanden.« Die Stimme klingt sehr genervt und belustigt gleichzeitig.
»Wer ist wir? Oder seid Ihr gar eine königliche Majestät?«
Ich kriege einen Schlag in den Bauch. Treffer!
»Los jetzt!« Ich werde unsanft von dem Stuhl gerissen und vorwärtsgeschubst. Ich versuche trotz allem, klar zu denken. Sie können mich doch nicht mit verbundenen Augen durch die Stadt führen. Hier leben Menschen, meine Eltern haben vermutlich schon die Polizei alarmiert. Nicht zu vergessen, dass Frau Vogel ja auch noch da ist. Wenn wir in ihrer Wohnung sind, könnte ich diese Typen in eine Ecke locken und dort Kartons auf sie stürzen lassen oder so etwas. Das ist zwar noch kein toller Plan, aber wenigstens ein Plan.
Ich bin kein Opfer, gerate aber leider ins Taumeln. Die Stimme packt mich am rechten Arm. »Schön, dass du dich so klug entschieden hast. Gehen wir weiter.«
Eine Tür wird aufgerissen, dann Schreie, ich kann die Stimmen nicht erkennen, so außer sich sind sie vor Zorn. Der Schatten versetzt mir einen derartigen Stoß, dass ich zwei Schritte stolpere und dann hinfalle, und weil ich keine Hände frei habe, um mich abzustützen, versuche ich, mich abzurollen, damit ich nicht auf den Kopf falle. Benommen bleibe ich einen Moment am Boden, dann höre ich Kampfgeräusche, wieder Schreie, dann einen Schlag, ein Krachen und noch einen Schlag.
Dann beugt sich jemand schwer atmend über mich und zerrt mir den Schal weg. Ich blicke in dunkle Augen, die mir so vertraut vorkommen, dass ich in Tränen hätte ausbrechen können. Wenn ich nicht direkt hinter John eine massige Gestalt entdeckt hätte, deren hellgrauer Anzug voller Blut ist, das ihm aus der Nase rinnt. Und seitlich davon liegt noch jemand auf dem schmutzigen Linoleumboden, direkt vor einer uralten Heizung. Und obwohl ich nur seinen Rücken sehen kann und seine lockigen braunen Haare, weiß ich trotzdem, wer er ist. Der Typ, der mich so freundlich angelächelt hat, der mit mir in der Mensa geradezu an seinem Tisch geflirtet hat und mich doch nur aushorchen wollte, der Typ, der mit Leon herumgetollt und ihn dann vergiftet hat, der Typ, dessen Vater diesen Scheck überreicht hat und der einen schwarzen BMW fährt. Der Typ, der beim Foto vom toten Kimoni kalt wie Hundeschnauze bleibt und einen Folterknecht zum Gehilfen hat. Dennis Wallenstein junior. Ich könnte kotzen.
»Bist du in Ordnung?«, fragt John total besorgt und offensichtlich schon zum zweiten Mal. Er beugt sich über mich und durchtrennt die Fesseln mit einem Taschenmesser. »Was haben diese Dreckskerle dir angetan?«
»Nichts«, antworte ich und begreife in der Sekunde, in der ich es gesagt habe, was für eine Ungeheuerlichkeit ich da gerade von mir gegeben habe, denn sie haben mich unglaublich verletzt und gedemütigt. »Ich meine, ich lebe noch.«
»Das sehe ich.« John lächelt ganz unerwartet und ich fühle mich trotz der Schmerzen und des Zorns wieder wie ich selbst.
»Wir müssen sofort weg von hier.« John schaut nervös über seine breiten Schultern.
»Unsinn, wir müssen die Polizei rufen.«
Johns Augen weiten sich entsetzt, was mich zu einem schrecklichen Gedanken bringt. »Oder hast du die beiden getötet?«
John schüttelt vehement den Kopf. »Obwohl es mir sehr schwergefallen ist, mich zu beherrschen.«
Ich riskiere einen weiteren Blick über Johns Schulter. Dennis liegt noch immer am Boden, offensichtlich bewusstlos, doch der massige Afrikaner stöhnt jetzt und macht Anstalten, zu sich zu kommen.
»Wer ist er?«
»Das ist Amari, er ist der Knecht von Dennis. Wir müssen schnellstens hier weg.«
»Aber wir können die beiden doch nicht so liegen lassen«, sage ich und frage mich sofort, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Ist mir doch scheißegal, ob Dennis eine Gehirnerschütterung oder sonst etwas hat, soll er gefälligst daran zugrunde gehen!
In diesem Moment sehe ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln.
»Vorsicht«, schreie ich, da hat sich Amari schon aufgerappelt und stürzt sich auf John. Sie sind beide gleich groß, aber Amari wirkt massiger.
»Verräter!«, zischt Amari und legt seine Hände um Johns Hals.
»Mörder!«, gibt John zurück und würgt Amari, dann rollen die beiden erbittert über den Fußboden, sie keuchen, versuchen, sich zu befreien, und sind doch in den Händen des anderen gefangen. Ihre Münder sind hart zusammengepresst, es sieht so aus, als seien sie zum Äußersten entschlossen.
Die Panik ist plötzlich wieder da, was, wenn Amari gewinnt, John wirkt neben ihm so schmal und klein. Ich muss ihm helfen, sofort! Womit hat John die beiden vorhin niedergeschlagen? Ich suche seine Waffe, schaue zu Dennis, der noch immer regungslos in der Ecke liegt, krieche zur nächsten Wand, wo ich mich mühsam abstütze und hochrappele. Jetzt sehe ich ihn, es ist ein Baseballschläger, ich werfe mich nach vorn, um ihn mir zu schnappen, aber gerade, als ich ihn habe, umklammert eine Eisenhand meinen Fuß. Dennis ist wieder zu sich gekommen. »Das solltest du nicht tun«, keucht er.
Ich starre ihn an. Opfer, hallt es in mir wider. Ich bin kein Opfer.
Ich schlage ihm auf die Hand, er lässt los, rappelt sich aber sofort hoch und krümmt sich weg, ich nutze meine Chance und ramme ihm den Schläger in seine Kniekehlen. Er knickt ein und ich kann mich gerade noch beherrschen, ihm den Schläger nicht voll auf den Schädel zu dreschen.
Ich wirbele auf dem Absatz herum, Amari sitzt mittlerweile rittlings auf John und Johns Augen sind schon so verdreht, dass ich nur noch das Weiße sehe.
Ich hole aus und schlage Amari mit aller Macht zwischen die Schulterblätter. Er stürzt zur Seite wie ein gefällter Baum und ich beuge mich über John. Er schnappt nach Luft und seine Augen normalisieren sich wieder.
»Das Seil! Das Seil, mit dem sie mich gefesselt haben, wo ist das?«, keuche ich. Dennis hinter mir versucht schon wieder, auf die Beine zu kommen.
John steht taumelnd auf, fängt sich aber schnell und findet das Seil auf dem Fußboden. Während er Dennis in den Polizeigriff nimmt, binde ich ihm die Arme zusammen.
»Was soll denn das werden?«, höhnt Dennis. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«
John antwortet nicht. Er lässt Dennis los und schlingt den Schal, den sie mir um die Augen gebunden hatten, um die Handgelenke von Amari, aber vorher dreht er sie noch nach hinten, dabei schreit Amari auf. Hoffentlich habe ich irgendwas zertrümmert, das ihm lange, lange wehtut.
Aber dann, schon wenige Sekunden später, als Dennis und Amari gefesselt vor uns liegen und uns stumm anschauen, da verstehe ich zum ersten Mal, was mit der Spirale der Gewalt gemeint ist. Vor wenigen Sekunden hätte ich den beiden mit Freuden das Gehirn eingeschlagen. Gewalt erzeugt wieder Gewalt und die noch schlimmere Gewalt.
»Das muss aufhören«, sage ich fest. »Wir rufen jetzt die Polizei.«
»Und was wollt ihr denen erzählen?« Dennis klingt, als wären wir hier beim Nachmittagstee der Queen und würden Jagderlebnisse zum Besten geben, dabei ist sein Ralph-Lauren-Hemd völlig zerrissen und seine schwarze Jeans ist voller Flecken und Staub. Nichts in seinem Gesicht erinnert mehr an den liebenswerten Doug von King of Queens, da ist nichts Tollpatschiges mehr, nichts Fürsorgliches. Die braunen Locken umrahmen ein leeres Gesicht ohne jeden Ausdruck. Als er merkt, dass ich ihn anschaue, schafft er es, mich milde anzulächeln, und mir läuft es trotz des hitzigen Gefechts gerade eben kalt den Rücken runter, denn es ist genau dieses warmherzige Lächeln, mit dem er mich in der Mensa zu seinem Tisch gelockt hat. Fehlt nur noch, dass er seine Haare aus dem Gesicht schnickt.
»Einstein, gib auf, ihr habt nicht den kleinsten Beweis gegen uns!« Breites, freundliches, ja fast väterliches Lachen. Was für ein grandioser Schauspieler!
»Ich habe John als Zeugen.«
Dennis’ Lachen klingt jetzt amüsiert, als hätte ich ihm einen wirklich guten Witz erzählt. »Oh ja, John. Den hab ich ja ganz vergessen. Noch so ein feiges Arschloch, das gar nicht in Deutschland sein darf. Der ist doch weg, lange, bevor die Polizei hier ankommt.«
Unwillkürlich schaue ich zu John. »Ist das so?«
»Er hat recht, ich war feige. Aber das hat sich geändert. Ich möchte dem ein Ende bereiten. Und dazu brauchen wir die Beweise.« Er dreht sich um. »Aber wir sollten die Polizei nicht hierherrufen, das wäre Verrat an den anderen, die hier leben.«
John presst die Lippen zusammen und nickt dabei, wie um seine Worte zu bekräftigen.
»Ruby, Ruby. Vom Regen in die Traufe«, Dennis schüttelt den Kopf wie über ein unartiges Kind. »Du glaubst, John ist dein Retter, dabei ist er der Schlimmste von allen. Ich wollte dich schonen, wegen Alex, aber das war ein Fehler von mir. Und jemand wie ich darf sich keine Fehler erlauben.«
Jemand wie er? Oh ja, der Nero des 21. Jahrhunderts!
»Warum ziehst du jetzt Alex hier mit rein?«
Mir ist schon klar, Alex steckt vermutlich auch in diesem Sumpf, die Frage ist nur, ob er bis zum Hals drinhängt oder nicht.
»Aber das alles hier war seine Idee.« Dennis zeigt mit dem Kopf auf den Raum, als gäbe es etwas zu sehen, aber der Raum ist fensterlos, kahl bis auf den klapprigen Holzstuhl und den uralten Heizkörper. »Die ganze Nummer mit den Alphatieren.« Er sieht fast entzückt aus. »Ich liebe diesen Deckmantel der Wohltätigkeit.«
Also doch. Ich lag richtig mit meiner Vermutung.
»Warum habt ihr Kimoni getötet?«, frage ich.
»Den haben nicht die Alphatiere auf dem Gewissen«, behauptet Dennis und hat was von einem Politiker, der glaubwürdig rüberkommt, weil er nur ein bisschen lügt. »Das hat allein John zu verantworten. Oder Lina, wie man’s nimmt.«
Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Dennis nicht nur ein Schauspieler ist, sondern ein Magier, denn er hat es geschafft, dass ich all seine Vorspiegelungen und Täuschungen für bare Münze genommen habe. Und obwohl mir das jetzt klar ist und ich weiß, dass Dennis nur versucht, Streit zwischen uns zu säen, muss ich John fragen, muss es von ihm hören.
»John! Sag mir, dass der Scheißkerl hier lügt.«
John schaut mich mit einem langen, sehr langen Blick aus seinen dunklen Augen an und ich habe keine Ahnung, was er mir damit sagen will.
Verdammt, ich habe keine Lust mehr auf Rätselraten, sie sollen endlich mit mir reden! Außerdem stöhnt Amari ständig lauter.
»Gib mir dein Handy, Dennis.«
»Tu das nicht.« John hebt beschwörend seine Hände. »Wenn du die Polizei hierherrufst, dann zerstörst du das Leben von sehr vielen Menschen. Keiner von uns hat eine Aufenthaltsgenehmigung. Sie werden alle abgeschoben, viele von ihnen an Orte, wo sie keine zwei Tage überleben werden.«
»In dieser Tiefgarage wurde dein Bruder ermordet! Wir können das nicht auf sich beruhen lassen!«
»Komm mit.«
Amari stöhnt wieder und mit jedem Stöhnen schwindet mein Triumphgefühl von eben mehr gegen null. »John, wirklich, lass mich wenigstens einen Krankenwagen rufen.«
»Und wie willst du den Sanitätern diese Wunden erklären?«
»Wir sagen ihnen, was passiert ist, ganz einfach. Die Wahrheit ist immer das Beste.«
Dennis sieht so aus, als ob er am liebsten applaudieren möchte, aber mit seinen gefesselten Händen geht das nicht. »Du bist so was von lächerlich, Ruby. Unglaublich, dass du der Einstein der Familie sein sollst. Die Wahrheit ist immer das Beste. Blödsinn. Kein Mensch interessiert sich für Wahrheiten, die nicht in sein Weltbild passen. Ist dir das noch nie aufgefallen? Schau dir Oliver und Alex an.«
»Sei still!« John hat sich drohend neben Dennis aufgebaut. »Ruby, komm mit. Es ist wichtig, dass du das verstehst.« Er geht zur Tür und bittet mich mit einer flehenden Geste, ihm zu folgen.
»Ihr wollt uns doch nicht etwa so liegen lassen? Ruby, das ist aber kein guter Stil!«
Wir ignorieren Dennis, verlassen den Raum und gehen in den Korridor, in dem ich vor wer weiß wie vielen Stunden gelandet bin.
John öffnet eine der Türen im Gang, es ist nicht die von heute Morgen, aber wieder bin ich schockiert.
Auch in dieser Kammer stehen unzählige Stockbetten, allerdings gibt es hier nur Männer, die dicht an dicht in dem Raum stehen, liegen, sitzen. Der Geruch nach alten Zeitungen, Schweiß und verschüttetem Bier überwältigt mich so, dass ich fast würgen muss. Anders als heute Morgen bei den Frauen schaut hier allerdings niemand entsetzt auf, eine tiefe Resignation wabert durch den Raum und schnürt mir die Kehle zu.
John nickt mir zu, wir gehen aus dem Raum zurück in den Gang mit den schummrigen Neonröhren und John schließt die Tür.
Mir ist elend. »Was tun die alle hier?«, flüstere ich. »Was macht Dennis mit ihnen?«
John sieht mich an. »Kann sein, dass es an eurer Schule ein paar Leute gibt, die wirklich das machen, was die Alphatiere behaupten zu tun. Aber Dennis und dein Stiefbruder haben etwas ganz anderes aufgezogen. Das hier ist nichts anderes als moderne Sklavenhalterei.«
Sklaven? Ich glaube, mich verhört zu haben.
»All diese Menschen hier dürfen von Rechts wegen nicht in Deutschland sein. Dennis und Alex wissen das und zwingen sie, für sie zu arbeiten.«
»Aber wie sind sie auf euch gekommen?«
John schüttelt den Kopf. »Ist doch ganz einfach. Die Praxis.«
Olivers Praxis? Ich starre John an.
»Nein, dein Stiefvater weiß nichts davon.« John kommt meiner Frage zuvor. »Das glaube ich jedenfalls nicht. Alex hat sich draußen auf die Lauer gelegt und jeden von uns, den er geschnappt hat, erpresst.«
Fassungslos geht mir ein Licht nach dem anderen auf.
»Sie haben Oliver dazu benutzt, an Illegale ranzukommen, haben sie hierher verschleppt. Und wenn sie nicht tun, was Dennis und Alex sagen, werden sie verpfiffen?«
John nickt. »So ist es. Sie arbeiten in Putzkolonnen, als Spüler in Restaurants, auf dem Bau, alles ohne Lohn. Glaub mir, diese Alphas haben reiche Väter mit sehr profitablen Firmen.« Sein Grinsen ist freudlos.
Ich kann nichts mehr sagen. Kann nicht fragen, warum sie sich das gefallen lassen, das weiß ich auch so, natürlich weiß ich das. Kein Mensch, der illegal in Deutschland lebt, kann zur Polizei gehen und sich einfach beschweren. Er würde sofort wieder abgeschoben werden.
Ich drehe mich um, gehe den Gang zurück in den Raum, wo Dennis und Amari liegen, und beuge mich über Dennis, dessen Augen mich reichlich glasig anstarren, aber er bleibt still, während ich ihn grob durchsuche. Er hat sogar zwei Handys, die beide funktionieren.
»Wir schaffen die beiden auf die Straße«, sage ich bestimmt. »Dann rufe ich den Notarzt.«
»Ruby«, Dennis flüstert nur noch, »du machst einen großen Fehler, wenn du diesem Nigger auch nur ein Wort glaubst. Er ist der Schlimmste von allen, er hat deine Schwester auf dem Gewissen, er ganz allein.«
John verzieht keine Miene. Er starrt Dennis einfach nur regungslos an, aber in seinen Augen lodert eine Wut, wie ich sie noch nie gesehen habe, und für einen Moment wird mir ganz kalt.
»Los, jetzt.« Ich zerre Dennis, so gut es geht, auf die Füße, während John sich Amari auf die Schultern wuchtet. In dem Moment rutscht eine Kette aus dessen Hemd. Die Perlen daran erinnern mich an etwas, aber ich komme nicht darauf, was es sein könnte.
Wir schleppen uns durch drei endlose Flure aus rohem Beton, in denen es so ruhig ist, als wären wir tief unter der Erde. Außer dem Flimmern der Neonröhren, unserem angestrengten Keuchen und Amaris Stöhnen durchdringt nichts diese kalte Stille.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommen wir zu einer letzten Tür. John lädt Amari von den Schultern und späht nach draußen, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein ist. Dann durchqueren wir die Tiefgarage und gelangen über den Notausgang ins Freie.
Draußen sauge ich die frische Luft ein und bin entsetzt, als mir klar wird, dass es schon wieder dämmert. Ich war den ganzen Tag hier eingesperrt. Ma und Pa müssen durchdrehen vor Angst.
»Wie hast du mich gefunden, John?«
»Gar nicht.« John zuckt bedauernd mit den Schultern. »Ich habe am Spielplatz auf dich gewartet, aber dann ist Amari dort aufgetaucht. Mir ist klar geworden, dass ich nur dann Ruhe vor ihm haben werde, wenn ich ihn ein für alle Mal erledige. Deshalb bin ich zum Lager gefahren.«
»Ein für alle Mal erledige … zum Lager …« Wieder überläuft mich ein Schaudern und eigentlich ist mir nicht mehr danach, für Dennis und Amari einen Krankenwagen zu rufen, aber das alles muss ein Ende haben.
Amari ist mittlerweile bewusstlos geworden und Dennis’ Gesicht hat eine gelbbleiche Tönung angenommen und ist über und über mit Schweißperlen benetzt.
»Hilf mir, bitte!« John setzt Amari am Boden vor einem hässlichen Waschbeton-Blumenkasten mit dornigem Gestrüpp ab, dann lehnen wir Dennis daneben, der keine Anstalten macht, sich zu wehren. John holt sein Messer raus, was mich kurz erschreckt, bis ich sehe, dass er den beiden nur die Fesseln abnimmt, was ich völlig vergessen hätte.
John steckt sein Messer wieder ein. »Los, verschwinden wir von hier.«
Ich zögere. Ich will nicht weglaufen, will immer noch, dass die Wahrheit ans Tageslicht kommt.
John scheint meine Gedanken zu kennen. »Ruby, wir müssen die Beweise finden, die Lina gehabt hat. Ohne sie wird die Polizei Dennis und Alex nie verhaften. Höchstens Amari. Und abgesehen davon, so wie du aussiehst, nehmen sie dich sofort mit ins Krankenhaus.«
Ich schaue an mir herunter, Linas Jeans sind blutig und zerrissen und ich will gar nicht wissen, wie mein Gesicht mittlerweile aussieht.
»Du kannst den Sanitätern ja schlecht erklären, dass ihr alle drei zusammen die Treppe runtergefallen seid!«
Er hat recht. Natürlich hat er recht. Und ich sehe auch, dass wir die Beweise brauchen.
Darüber hinaus muss ich unbedingt mit Alex reden. Es macht mich ganz krank, wenn ich mir vorstelle, dass dieser Sklavenhandel seine Idee war. Aber vielleicht ist auch das nur wieder eine Zaubervorstellung von Dennis und in Wahrheit ist Alex’ Weste rein wie Persil. Aber so wie er sich über Schwarze geäußert hat und so panisch, wie Alex auf das Foto des toten Kimoni reagiert hat, fürchte ich, dass Dennis recht haben könnte.
»Okay, gehen wir.« Ich setze einen knappen Notruf ab, werfe das Handy in Dennis’ Schoß und beschließe, das zweite zu behalten. Von Weitem höre ich schon das Martinshorn, ich schaue zu John, er nickt und dann laufen wir los Richtung U-Bahn. Ich komme nur langsam vorwärts, weil mir jeder Knochen im Leib wehtut.
Bis wir dort angelangt sind, ist es völlig dunkel. Mich beschäftigen die ganze Zeit die Bilder dort unten im Keller. »Von woher kommen all diese Flüchtlinge?«
»Aus Afrika. Meistens von dort, wo die Rebellen die besten Waffen haben oder wo es am wenigsten zu essen gibt.« John hält mich davon ab, die Rolltreppen ganz nach unten zu fahren. »Wir brauchen noch einen Fahrschein, das lernst du als Allererstes. Illegale dürfen niemals auffallen.«
»Aber ich habe weder Geld noch ein Ticket bei mir.«
»Dafür muss man immer Geld haben.« John zieht eine blaue Streifenkarte aus Olivers Jogginghose und stempelt für uns beide. Dann erst gehen wir die Treppen zum Bahnsteig hinunter. Ich habe plötzlich eine Gänsehaut, muss wieder an den Stoß in den Rücken denken, an die Frau mit den vielen Tüten und an den freundlichen alten Mann.
Tüten. Stolpern. Kordel. Perlen. Mein Unterbewusstsein möchte mir etwas sagen, aber es dringt nicht durch, zu vieles beschäftigt mich.
»Es sind doch so viele. Warum wehren sie sich nicht gegen Dennis?«
John zuckt mit den Schultern. »Das kann nur jemand sagen, der jede Nacht in einem sauberen Bett schläft und jeden Morgen einen vollen Kühlschrank vorfindet. Jemand, der denkt, es ist normal, dass er sich mit einem Plakat Ich finde Angela Merkel total beschissen auf den Marienplatz stellen kann, ohne dass er und seine Familie verhaftet werden.«
Ich komme mir immer blöder vor, klar, all das ist für mich ganz normal.
»Zuerst sind sie froh, endlich ein Bett und einen sicheren Platz zum Schlafen zu haben. Und Arbeit. Dennis zahlt uns zwar nichts von dem Geld, das er mit uns verdient, aber er sorgt für Lebensmittel. Viele haben vorher auf der Straße gelebt und hatten weder zu essen noch Arbeit. Und du glaubst gar nicht, wie öde ein Tag ist, wenn du nicht das Kleinste bisschen zu tun hast. Du sehnst dich regelrecht nach Arbeit. Außerdem verspricht Dennis, dass er Papiere besorgt. Da überlegst du dir sehr genau, ob du dich mit deinem Besitzer anlegen willst.«
»Aber diese Papiere, die kommen dann leider nie, oder?«
»Ab und zu schafft er es wirklich und das nehmen viele von uns als Beweis dafür, dass sie nur Geduld haben müssen.«
»Warum hast du mir das nicht gleich beim ersten Mal erzählt, als du mich gesehen hast? Warum hast du mich nur häppchenweise mit Infos versorgt?«
»Weil ich nicht sicher sein konnte, auf welcher Seite du stehst. Ich wusste ja nicht, ob du zu ihnen gehörst und …« Er zögert.
»Ja?«
»Und ich hatte auch Angst vor mir selbst, vor dem, was ich tun könnte.«
Was meint er denn damit? Sofort drängt sich wieder Dennis’ Stimme in meinen Kopf. John ist der Schlimmste von allen. Nein, das will ich nicht glauben. Das kann nicht sein. Ich betrachte Johns eindrucksvolles Profil von der Seite, das starke Kinn und den vollen Mund, die hohen Wangenknochen und die breite Stirn. Dieser Mann hat mich schon zweimal gerettet, wie kann ich solche Gedanken haben?
Eine mit vielen luftigen Tüten bepackte Frau drängt sich an uns vorbei. Nachdem sie mein Gesicht gesehen hat, schnappt sie empört nach Luft und wirft John böse Blicke zu, als wäre er dafür verantwortlich. Ihre Tüten kommen ins Schaukeln. Tüten aus Papier mit dicken Kordeln dran, königliches Dunkelblau mit dezent goldenem Logo. Wie hypnotisiert starre ich auf sie, denke dabei wie ein kaputter Roboter: Die Farbe stimmt nicht, die Farbe stimmt nicht. Und dann begreife ich, was mein Unterbewusstsein mir die ganze Zeit sagen will. Die Beweise, ich weiß endlich ganz genau, wo ich die Beweise finde, die Lina versteckt hat.
John ist stehen geblieben. »Geht es dir nicht gut?«
Ich versichere ihm, dass alles in Ordnung ist, sogar in allerbester Ordnung, dann steigen wir in die U-Bahn Richtung Odeonsplatz und dort in die U3 zum Bonner Platz um.
Während der Fahrt fällt mir auf, wie viele Menschen John missbilligende Blicke zuwerfen oder ihn anstarren, und ich bewundere das stoische Schulterzucken, mit dem er das an sich abperlen lässt wie Wassertropfen auf einem Regenmantel. »Man gewöhnt sich daran«, murmelt er, als ihm klar wird, worüber ich nachdenke. »Und nicht alle meinen es böse. Wir fallen hier einfach auf. Glaub mir, in einem afrikanischen Dorf würdest du als Weiße mit ähnlichen Blicken bedacht werden.«
Er lächelt mich zaghaft an und es wirkt auf mich so, als wäre er selbst über dieses fremde Gefühl erstaunt. Leider verschwindet sein Lächeln sofort hinter seinem schmerzhaft verzogenen Mund. Als wäre es verboten. Aber genau das berührt etwas in meiner Brust, es fühlt sich an, als würde jemand meinem Herz winzige blitzende Stromschläge verpassen und den Puls damit völlig durcheinanderbringen.
Trotzdem muss ich ihn für eine Weile loswerden, denn ich möchte Linas Sachen allein holen, mich in aller Ruhe damit beschäftigen und dann entscheiden, was weiter passieren soll. Niemand soll mich dabei stören.
Nicht einmal John, mein Retter.