18. Kapitel

Die Wohnung ist dunkel. Pa hat von unterwegs Mama angerufen, aber als er gehört hat, dass sie und Oliver heute trotz allem in der Praxis für Leute ohne Krankenversicherung arbeiten, hat er ihr erst einmal nicht erzählt, was passiert ist.

Ich gehe ins Badezimmer, während Pa den Wasserkocher füllt und etwas von Broten murmelt, die er uns machen will.

Ich drehe die Dusche auf und stelle mich, so wie ich bin, darunter. Erst als meine Kleider triefend nass sind, wird mir klar, was ich getan habe. Ich ziehe alles aus und werfe es auf einen Haufen vor die Dusche.

Während das heiße Wasser auf meine Haut prasselt und der ganze Matsch zusammen mit Linas Pfirsichshampoo aus meinen Haaren gespült wird, wird mein Kopf langsam wieder klarer.

Mein Rucksack war komplett leer, mein Handy wurde zertreten. Jemand sucht ganz dringend etwas. Irgendwie muss ich denjenigen darauf gebracht haben, dass ich im Besitz eines Beweises bin, oder nicht? Denn wonach hätte er suchen sollen?

Was hat Lina in ihrem Besitz gehabt, was sie das Leben gekostet hat?

Und was bringt mich jetzt so in Gefahr?

Ich muss noch einmal in die Wohnung von Frau Vogel, dringender denn je.

Während ich mich vorsichtig abtrockne und in meinen Pyjama schlüpfe, denke ich über nichts anderes nach. Alle Gedanken an den Überfall schiebe ich weg, trotzdem sehe ich ständig die Augen von dem Schwarzen vor mir, die mich angestarrt haben, als ich zu mir gekommen bin. Er hat nicht mordlustig oder böse ausgesehen. Woher willst du denn wissen, wie ein Mörder aussieht, Ruby, schießt es mir durch den Kopf.

Aber warum sollte er mich erst misshandeln und dann so anschauen? Oder ist er ein sadistischer Perverser, der Frauen nur lieben kann, wenn ihr Gesicht dreckverkrustet ist? Ein Schauer überläuft mich bei dem Gedanken, wie knapp ich noch viel schlimmeren Dingen entkommen bin.

Denk lieber an die Wohnung von Frau Vogel! Es muss doch irgendwie möglich sein, Linas Sachen dort ausfindig zu machen. Denn dass sie noch da sind, davon bin ich überzeugt. Ich erinnere mich an den Einbruch und daran, dass Napoleon betäubt worden ist. Wenn der Einbrecher tatsächlich gefunden hätte, wonach er gesucht hatte, würde er mich jetzt in Ruhe lassen, oder?

»Ist alles in Ordnung mit dir?« Pas Stimme vor der Tür klingt besorgt. »Du bist jetzt über eine Stunde da drin. Willst du nicht rauskommen und mit mir etwas essen?«

»Sofort.« Ich kämme mir die nassen Haare und creme mein Gesicht ein. Zuerst meide ich den Blick in den Spiegel, aber dann fasse ich mir ein Herz und betrachte mich. Die Nasenwurzel und die Stirn sind blau, vermutlich bin ich da auf einen Stein im Matsch geknallt. Über die rechte Wange ziehen sich Schrammen von Steinen, die sich in die Haut gebohrt haben. Ich hoffe, dass die Wunde von meinem Granatring in seinem Gesicht mindestens genauso schlimm ist! Eines meiner Augen ist geschwollen, ich sehe aus, als wollte ich zu einer Halloweenparty gehen. Und meine Zunge fühlt sich an wie durch den Fleischwolf gedreht. Aber ich lebe.

Ich lebe noch.

Lina ist tot.

Plötzlich fühle ich den Aufprall in den Matsch wieder, die Knie, die sich in mich gebohrt haben, der Druck auf meinen Kopf, das Gefühl zu ersticken. Mein Atem geht stoßweise und mir wird schwindelig, ich muss mich an der Kante des Waschbeckens festhalten. Kurzentschlossen drehe ich das kalte Wasser auf und spritze mir etwas davon ins Gesicht.

Besser. Das ist schon besser.

Ich gehe aus dem Bad und setze mich zu Pa an den Esstisch.

Er hat für jeden von uns ein Brot gemacht und Kräutertee gekocht, den er jetzt in zwei Keramikbecher gießt. Der aromatische Dampf breitet sich in der ganzen Küche aus. Ich muss an Oliver denken, wie er neulich nachts mit der Thermoskanne auf mich gewartet hat.

Pa reicht mir zwei Tabletten.

»Valium, gegen die Schmerzen und damit du gut schlafen kannst.«

Misstrauisch betrachte ich die Medikamente. »Von wem sind die?«

»Die Ärztin im Krankenhaus hat sie mir für dich mitgegeben, damit wir nicht noch in eine Notapotheke fahren müssen, nach allem, was passiert ist.«

Mir ist immer noch sehr schwindelig und mein Kopf fühlt sich an, als würden wilde Walküren auf schweren Wikingergäulen kreuz und quer hindurchgaloppieren. Und ich habe das Gefühl, dass ich dringend einmal eine Nacht durchschlafen muss.

Also nehme ich die Tabletten, stehe auf und spüle sie mit einer Handvoll Wasser aus dem Hahn herunter. Dann schleppe ich mich wieder zu Pa an den Tisch.

»Warum hast du dich mit Lina heimlich getroffen?«, frage ich müde und habe keine Ahnung, warum mir das ausgerechnet jetzt einfällt. »Hat sie dir da etwas erzählt, was uns helfen könnte, das alles zu verstehen?«

Er nimmt den Becher und trinkt von dem Tee, als wäre der mit Stecknadeln versetzt.

»Ruby, ich verstehe, dass jeder seine Art hat, mit dem Tod eines nahen Verwandten umzugehen. Aber du musst damit aufhören.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« Ich nippe auch an dem Tee, der auf meiner Zunge brennt, aber meinem wunden Hals guttut. Ich nehme noch einen großen Schluck hinterher.

»Ich meine die Sache mit dem Foto. Und dann dieser merkwürdige Überfall.«

»Glaubst du, ich habe mich selbst überfallen?« Ich fasse es nicht. Für so irre kann er mich nicht halten, er kennt mich doch, ich bin seine Tochter!

»Nein, nein, aber du baust dir eine Theorie zusammen, nur um mit dem Tod deiner Schwester fertigzuwerden.«

»Und was war in der U-Bahn? Der Stoß in den Rücken?«

»Ein Versehen!«

»Das Foto mit dem toten Jungen?«

»Ein Zufall!«

»Der Überfall auf der Treppe im Keller?«

»Davon weiß ich nichts.« Er starrt mich so fassungslos an, als hätte ich gerade einen Löwen aus dem Hut gezaubert.

»Und dann ist da dieses @-Zeichen mit dem Äskulapstab und natürlich noch der vergiftete Napoleon!«

»Was?« Ein ungläubiges Lächeln legt sich über seine Fassungslosigkeit. »Der vergiftete Napoleon? Und was für ein Stab? Jetzt reicht es aber, Ruby.«

»Du glaubst also, ich bin verrückt geworden, ja?« Ich springe auf, gehe zu ihm hin und zeige auf mein Gesicht. »Du denkst wirklich, ich füge mir diese Verletzungen selbst zu? Und was ist mit dem Zeugen? Habe ich den etwa angeheuert, damit er behauptet, er hätte mich aus den Klauen eines Schwarzen vor dem sicheren Tod gerettet?«

Ich bin immer lauter geworden, möchte am liebsten schreien.

»Nein, nein.« Pa hebt beschwichtigend die Hände. »Der Überfall war natürlich echt. Aber er hat mit allem anderen nicht das Geringste zu tun. Das reimst du dir zusammen.« Er legt eine Hand auf meinen Arm. »Ruby …«

Ich ziehe meinen Arm weg. Mein Vater sitzt tatsächlich hier und glaubt mir kein Wort.

»Und warum hast du dich mit Lina heimlich getroffen?«

Er seufzt und das ärgert mich.

»Lass mich raten, du wolltest keinen Ärger mit mir, ja?«

»Nein, Lina hat das vorgeschlagen.«

Irgendwie macht mich seine Antwort wieder wütender.

»Und das findest du richtig? Wenn sie vorgeschlagen hätte, Rasputin zu Schinken zu verarbeiten, dann hättest du das auch gemacht, ja?«

»Verdammt.« Er schlägt auf den Tisch, sodass die immer noch unangetasteten Brote in die Luft hüpfen. »Ruby, jetzt beherrsch dich bitte! Komm mal wieder runter.«

»Wer ist denn überfallen worden, du oder ich?«

Jetzt hat er auch noch Tränen in den Augen. »Du, mein Schatz, du. Es tut mir leid, alles, einfach alles tut mir so leid.« Er legt den Kopf auf seine Arme.

Und ich sitze daneben, kann nicht fassen, was ich da sehe, bin auf mich wütend, dass ich mich so verhalte, bin auf ihn wütend, dass er mir nicht glaubt, bin auf meine Schwester wütend, dass sie einfach stirbt und mich mit all diesem Wahnsinn zurücklässt.

Ich gehe in Linas Zimmer, greife mir Schenk und Mr Singer, drücke sie fest an mich und lege mich auf Linas Bett. Vergrabe mein lädiertes Gesicht in den Kuschelhasen und wünschte, ich wäre wieder vier Jahre alt und läge kichernd mit Lina unter einer Decke.

Aber ich bin allein.

IX

Ein schlechtes Wort aber ist wie ein schlechter Baum, der aus der Erde entwurzelt ist und keine Festigkeit hat.
((14:26))

Er hat es zwar geschafft zu entkommen, aber er kann nicht mehr zur Arbeit zurück, denn dort wartet nicht nur Amari auf ihn, sondern auch der Chef. Und für die Unterkunft gilt das Gleiche.

Jetzt bleibt ihm nur noch die Gazelle. Aber er erinnert sich nur allzu gut an das Entsetzen in ihren Augen und ihm ist klar, dass er sehr vorsichtig sein muss.

Schon als kleiner Junge musste ihn seine Mutter oft ermahnen: Amandla, wer auf einen Baum klettern will, fängt unten an, nicht oben. Jetzt ist er vom Blätterdach neben die Gazelle gesprungen und hat sie zu Tode erschreckt. Seine Ungeduld wird noch alle umbringen. Er muss an sie herankommen, er braucht eine Viertelstunde allein mit ihr, um ihr alles zu erklären, aber er fürchtet, sie wird ihm schreiend davonrennen, schließlich muss sie ihn für ihren Angreifer halten.

Außerdem ist sein Anblick furchterregend, voller Dreck und Blut, er braucht dringend neue Kleider und er kann sie sich nirgends beschaffen.

Außer … ihm kommt ein Gedanke und er weiß sofort, dass Kimoni diese Idee zutiefst verabscheuen würde. Er schüttelt den Kopf, als würde er wirklich mit ihm reden. Dir verdanke ich all das, nur deinem Dickkopf, ohne den könntest du noch leben. Ohne deinen Dickkopf würde vielleicht sogar sie noch leben. Also wage es nicht, mich davon abzuhalten.

Ich kann so nicht herumlaufen, damit bin ich viel zu auffällig und du weißt doch, unser bester Schutz ist es, unauffällig zu bleiben. Außerdem wird es dieser Frau nicht wehtun, ja, sie wird es nicht einmal bemerken, wenn etwas fehlt. Sie sind alle so reich in diesem Land, niemand hat mehr den Überblick über seinen Besitz. Niemand begreift, dass die Freiheit mit jedem Stück, das man zu viel besitzt, verloren geht.

Ja, ja, hört er leise Kimonis spöttische Stimme, nenn dich ruhig einen Freiheitskämpfer. Dabei bist du nur ein elender Dieb.