13. Kapitel
Ich renne die Treppe nach unten und hoffe, dass niemand meine Flucht bemerkt hat. Die nasse kalte Märzluft legt sich wie ein kühler Schleier auf mein heißes Gesicht und beruhigt mich, ich bleibe stehen, kann endlich durchatmen. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser unglaublich grauenhafte Tag noch schlimmer werden könnte. Aber nachdem wir von der Polizei zurück waren, musste Oliver zum Nachtdienst und meine Eltern begannen, darüber zu streiten, ob Lina beerdigt oder verbrannt werden soll und was für eine Beerdigungsfeier sie sich gewünscht hätte. Dabei wurden sie immer lauter und lauter, und obwohl ich mir die Ohren zugehalten habe, musste ich mit anhören, wie sie um den Leichnam meiner Schwester zankten wie wütende Hunde.
Aus der Wohnung von Frau Vogel schimmert noch Licht, obwohl es schon spät in der Nacht ist. Ich könnte zu ihr gehen und fragen, ob es Leon wieder besser geht. Aber ich würde es nicht verkraften, wenn er auch gestorben wäre.
Deshalb laufe ich weiter durch den Hinterhof, vor auf die Karl-Theodor- und dann Richtung Leopoldstraße. Aber bei jedem Schritt, den ich mache, denke ich an Lina, die hier oft entlanggegangen sein muss.
Wann war sie das letzte Mal hier?
Ist sie diese Straße heruntergeschlendert, um an der Münchner Freiheit ins Kino zu gehen oder zu shoppen?
Sie hat keine Ahnung gehabt, dass sie mit achtzehn sterben würde. Wann werde ich sterben? Eine Gänsehaut kriecht mir über den Rücken, als mir wieder der Stoß in meinen Rücken von heute Nachmittag einfällt, ich kuschele mich fester in meine Jacke.
Lina hatte so viele Pläne! Sie wollte nach dem Abi nach Guatemala und dort in einem Kinderhilfsprojekt mitarbeiten, das die Kinder von der Straße holt und ihnen eine Schuhputzausrüstung kauft, mit der sie dann eine Existenz gründen können. Oliver hat die letzten Jahre ganz schön auf sie abgefärbt, aber egal.
Ich laufe immer schneller, habe das Gefühl, dass das mein Hirn auf Trab bringt. Mir fällt ein, was der Alte heute am Scheidplatz über Illusion und Wirklichkeit gesagt hat. Vielleicht sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht? Sicher ist, dass Lina nicht sterben wollte. Aber sie hat Schlafmittel eingenommen und Alkohol. Es ist unmöglich, das einer Schlafenden einzuflößen, sie muss es also selbst getrunken haben. Aber dann muss sie ihren Mörder gekannt haben. Und als sie dann doch wieder aufgewacht ist, war sie für ihn eine tickende Zeitbombe.
Was ist, wenn es nie eine Komplikation gegeben hat, sondern jemand versucht hat, seinen verpfuschten Mordversuch zu Ende zu bringen? Aber das können nur die Menschen sein, die sie im Krankenhaus besucht haben: unsere Familie, die Leute von der Schule und der geheimnisvolle Freund, von dem ich noch immer nicht weiß, wer das sein könnte. Ist er derjenige, der mir all die Hinweise gegeben hat – die Seite mit der Bildzeitung, das Foto?
Was ihn wiederum als Mörder ausschließen würde. Ich muss noch einmal Samira besuchen und nach ihm fragen, denke ich.
Vor mir tauchen die Lichter der Münchner Freiheit auf. Das Dach über dem Busbahnhof sieht von Weitem aus wie ein außerirdischer weißer Pilz. Ich gehe über die Leopoldstraße hinüber zum Café Münchner Freiheit. Früher haben wir hier immer Eis geholt, weil es uns viel besser geschmeckt hat als das von Sarcletti. Die noch nackten Bäume spiegeln sich in den Pfützen, die vor mir im Licht der Laternen schimmern. Melone und Stracciatella.
Kann Gretchen damit etwas zu tun haben? Sie kennt Lina offenbar besser als die anderen. Andererseits hätte sie dann bestimmt nicht so offen über meine Schwester geredet.
Dennis? Er hatte eine Affäre mit Lina, aber die ist schon lange her und irgendwie glaube ich ihm das.
Bleibt Alex. Immer wieder Alex. Und natürlich Oliver, unser superheiliger Stiefvater, der Retter der Obdachlosen und Unterprivilegierten. Manche müssen ja ständig gegen ihre unheiligen Gelüste kämpfen und sind deshalb sozial so engagiert. Das würde auf jeden Fall Linas Angst erklären.
Der Einbruch bei Frau Vogel und der Stoß in den Rücken – das kann Oliver aber nicht alles gewesen sein, da war er im Krankenhaus. Im Gegensatz zu Alex, fällt mir ein. Oder waren das nur Ablenkungsmanöver, so wie der Alte in der U-Bahn gesagt hat?
Ich habe das Foto immer noch in der Jeansjacke, hole es raus und halte es unter die nächste Laterne.
Das weit aufgerissene Auge scheint mich anzuschreien. Frau Vogel hat dem Schwarzen, der geklingelt hat, nicht aufgemacht. War das dieser Typ? Ich muss ihr morgen das Bild zeigen.
Wie aus dem Nichts heraus höre ich plötzlich Schritte hinter mir. Alarmiert drehe ich mich um.
Aber als die Schritte näher kommen, erkenne ich ein Pärchen, das Arm in Arm an mir vorbeiläuft. Sie torkelt leicht und er hat ziemliche Mühe, sie zu stützen. Dabei kichern sie die ganze Zeit.
Ich atme auf, aber die beiden bringen mich zur Besinnung. Was denke ich mir eigentlich, hier mitten in der Nacht allein herumzulaufen? Nach allem, was passiert ist? Ich drehe mich um und überlege, eine Station mit der Straßenbahn zu fahren, aber die nächste kommt erst in zwanzig Minuten. Also renne ich los, in Richtung nach Hause. Als ich in die Karl-Theodor-Straße einbiege, fährt ein schwarzes Auto erst an mir vorbei, dann fährt es rechts ran, bremst ab. Ich bleibe stehen, bin fast erstarrt – wer ist das? Doch dann rast das Auto unvermittelt wieder los, mit quietschenden Reifen.
Ich halte mich nicht länger damit auf zu überlegen, wer das gewesen sein könnte, sondern sprinte nach Hause, gebe den Code ein und beruhige mich erst, als die Wohnungstür hinter mir ins Schloss fällt.
Es ist dunkel in der Wohnung und ganz still. Ich taste nach dem Lichtschalter, und als es hell wird, erschrecke ich so, dass ein Schrei aus meiner Kehle dringt.
Oliver sitzt regungslos mit zwei Bechern und einer Thermoskanne am Esstisch und starrt mich vorwurfsvoll an.
»Ich habe auf dich gewartet.«
Ich muss schlucken. Hat er so im Dunkeln auch auf Lina gewartet? Will er mich aus dem Weg räumen, weil ich Verdacht geschöpft habe? Plötzlich kommt mir der Gedanke, der Afrikaner auf dem Foto könnte Oliver zusammen mit Lina gesehen haben. Ja, vielleicht hat er meine Schwester unter einem Vorwand in eine seiner heiligen Praxen bestellt, wo der Schwarze Augenzeuge von etwas wurde, das niemand je hätte sehen dürfen. Das wären dann zwei Tote, die auf sein Konto gehen.
Ich muss mich setzen.
»Du solltest etwas trinken.« Er schiebt mir den leeren Becher hin und schraubt die Thermoskanne auf. Dampf steigt auf und es riecht nach Pfefferminztee. Der starke Geruch verdeckt sicher jeden giftigen Beigeschmack, vielleicht ist auch Wodka drin, der ist ziemlich geschmacksneutral. Er gießt den Becher voll.
»Und du?«, frage ich aggressiv. »Willst du nichts trinken?«
»Ich sitze hier seit Stunden und bin schon randvoll mit Tee. Wo bist du gewesen? Deine Eltern sind ausgeflippt, sie wollten die Polizei rufen. Ich musste ihnen ein Schlafmittel verabreichen, um sie zu beruhigen.«
»Schlafmittel«, wiederhole ich.
»Der Tod eines Kindes ist ein furchtbares Trauma.«
»Sag mal, liegen deine Schlafmittel hier überall rum? Kann sich da jeder bedienen wie mit Smarties?«
Er fährt sich durch seine Haare und schüttelt den Kopf. »Ruby, beruhige dich. Du bist emotional sehr labil, das ist ganz natürlich. Am besten gehst du ins Bett. Ich kann dir eine Tablette geben.«
Jetzt, denke ich. Jetzt oder nie! Sprich es endlich aus!
»Hast du Lina missbraucht und dann getötet?«
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, vielleicht dass er aufspringt, herumschreit, brüllt, alles, aber nicht das. Er schrumpft vor meinen Augen wie ein Wurm, auf den man versehentlich getreten ist, legt seine Hände vor sein Gesicht und dann beginnt er zu weinen. Es hört sich furchtbar an, keuchend, abgehackt.
Was hat das zu bedeuten, ist das ein Schuldeingeständnis?
Schließlich gibt er sich einen Ruck und richtet sich wieder auf. »Ich habe deine Schwester geliebt.«
Oh Gott!
»Wie ein Kind. Ich verstehe nicht, wie irgendjemand auf der Welt auf die Idee kommen kann, dass ich diesem Kind etwas antun könnte. Ich bin Arzt«, jetzt wird er lauter und steht auf. »Ich bin Arzt und habe einen heiligen Eid geschworen, dass ich Menschenleben rette und nicht, dass ich Menschen töte.« Seine Wut lässt ihn noch größer werden, als er ohnehin schon ist, er kommt immer näher und steht dann direkt vor mir wie ein aufgebrachter Riese.
»Es ist schlimm genug, dass Lina unter meinen Händen weggestorben ist, entsetzlich für uns alle, aber deine Anschuldigungen ätzen sich wie Essig in meine Wunden. Hast du denn nicht das kleinste bisschen Respekt vor dem Schmerz anderer Menschen? Kannst du nur an dich denken? Lina hat sich so danach gesehnt, Frieden mit dir zu schließen. Aber du hast sie immer und immer wieder zurückgestoßen wegen eines einzigen lächerlichen Fehlers, den sie in deinen rachsüchtigen Augen begangen hatte. Wie kannst du es wagen, herzukommen und mit solch abartigen Verdächtigungen um dich zu werfen? Wie kannst du dich erdreisten, in so einem Moment einfach zu verschwinden und deinen Eltern noch mehr Schmerzen zuzufügen? Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der ein so winziges selbstsüchtiges Herz hat. Nirgends auf der Welt, nicht einmal im Kongo! Geh mir aus den Augen, du machst mich krank!« Er stößt mich weg und läuft in sein Schlafzimmer.
Mein Puls hämmert in den Ohren und ich merke, dass meine Beine zittern. Ich habe Angst gehabt, dass er mich schlagen würde. Und irgendwie hat er mich ja auch geschlagen, nein, nicht nur das, er hat mir gleich einen ganzen Pfahl durch mein Herz gestoßen.
VI
Sie möchten wohl dem Feuer entrinnen, doch
sie werden nicht daraus entrinnen können, und ihre Pein wird
immerwährend sein.
((5:37))
Der leichte, aber beständige Nieselregen hat sein Sweatshirt längst durchweicht, läuft hinten in seinen Nacken und seine Füße schwimmen in den Stoffturnschuhen. Jeder Schritt ein quatschendes Geräusch. So kann er nicht weiter hinter ihr herschleichen. Vielleicht ist es ein Zeichen von Kimoni, dass er endlich mit ihr reden soll.
Sie wirkt ganz anders als in den letzten Tagen, wie betäubt sitzt sie seit Stunden auf dieser Schaukel.
Vor einer Ewigkeit schon hatte er sich dazu durchgerungen, sie anzusprechen, aber genau in dem Moment kam eine Frau mit einem kleinen Kind in gelbem Ölzeug und stürmte den Sandkasten, sodass er sich wieder in seine Deckung hinter die alte Kastanie zurückziehen musste.
Sie reagiert überhaupt nicht auf die Neuankömmlinge, sitzt immer noch auf dem schwarzen Gummireifen, schaukelt nicht, bewegt sich nicht, weint nicht, sitzt nur da.
Bisher hatte er noch nicht die Gelegenheit, ihr Gesicht so nah und im vollen Licht zu sehen. Unfassbar, dass sie die Schwester von Lina sein soll. So bleich, als hätte man alles Blut aus ihr gesogen, und so dünn, dass ihre Beine ihn an die einer Gazelle erinnern. Er hätte sie kilometerweit tragen können. Ihre schmalen Handgelenke umklammern die dicken Eisenketten der Schaukel wie einen Rettungsring. Ihr blondes Haar hängt ungekämmt weit über den Schultern, es ist nass und sieht viel zu schwer aus für ihren zarten Kopf. Ein Teil von ihm möchte zu ihr gehen und sie trösten, auch wenn es keinen Trost gibt. Doch der andere Teil warnt ihn. Gestern, nach der Sache in der U-Bahn, war er für kurze Zeit sicher, dass sie nicht dazugehört. Deshalb hatte er spontan reagiert.
Aber dann, als sie mitten in der Nacht auf der Straße aufgetaucht war, war er sich nicht mehr so sicher gewesen. Was hat sie dort gesucht?
Er wird nicht schlau aus ihr. Und auch sein Herz gibt ihm neuerdings Rätsel auf. Wenn er sie ansieht, schrumpfen die bösen Racheflammen in seinem Herzen zu einem wärmenden Feuerchen.
Das Kind mit dem Ölzeug ist endlich von oben bis unten voller Matsch und seine Mutter will gehen. Der Kleine trampelt wütend auf den Sandkuchen herum, die er gebacken hat, wirft sich in den Matsch, doch als die Mutter nicht weiter reagiert, folgt er ihr brav.
Jetzt ist der Moment gekommen, denkt er und verlässt seine Deckung. Langsam geht er auf sie zu, überlegt ein letztes Mal, was er zu ihr sagen wird.
Ihre Blicke begegnen sich. Sie reißt entsetzt ihre wunderschönen großen Augen auf, blaugrün wie der Sambesi in der Sonne. Doch da verfärbt sich ihr Gesicht schlagartig elefantengrau, sie springt auf und rennt davon, als wären die Teufel hinter ihr her.
Er darf auf keinen Fall Aufsehen erregen und sie offen verfolgen. Deshalb spurtet er zurück in seine Deckung und es dauert einen Moment, bis ihm klar wird, was gerade passiert ist.