11. Kapitel

Ich brauche eine halbe Stunde vom Scheidplatz bis zur Mainzerstraße. Ich bin blind vor Tränen, mir ist übel und Passanten, die mir entgegenkommen, starren mich neugierig an. Ich blicke zu Boden, beiße meine Zähne zusammen und gehe weiter. Plötzlich möchte ich mich einfach nur in Linas Zimmer verkriechen und allein sein. Doch als ich endlich das Haus erreicht habe, höre ich lautes Wehklagen, das vom Hinterhof zu kommen scheint.

Wer auch immer es ist, ich hatte genug Schmerz für heute. Aber das Schluchzen klingt schrecklich, verlangt nach menschlicher Anteilnahme. Also gehe ich mit klopfendem Herzen weiter, und als ich um die Ecke biege, sehe ich Frau Vogel, die in ihrem erbsengrünen Mantel auf dem nassen Hof vor dem regungslosen Leon am Boden kniet und erbärmlich schluchzt.

Als ich näher komme, schaut sie hoch, ihr rundes Gesicht nass von Tränen. »Er ist tot.«

»Sind Sie sicher?«

»Er bewegt sich nicht. Und normalerweise wittert er seine Leckerlis noch im Tiefschlaf.« Sie wedelt mit einem Kauknochen vor Napoleons Nase herum, aber der Hund reagiert nicht.

Voller Angst gehe ich neben dem Tier in die Knie und lege meine Hand auf das Fell. Zu meiner großen Überraschung fühlt sich Leon erstaunlich warm an. »Ich glaube doch, dass er lebt. Vielleicht ist er nur betäubt? Wir sollten ihn sofort zu einem Tierarzt bringen.«

»Aber ich habe kein Auto.«

»Ich rufe Ihnen ein Taxi«, biete ich an. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, rufe die Taxizentrale an und erkläre die Lage. Die Telefonistin verspricht mir, gleich einen Kombi zu schicken.

Während wir warten, frage ich Frau Vogel, was denn genau passiert ist.

Sie streichelt Napoleon unablässig und erzählt mir, dass sie heute Spätschicht im Supermarkt hatte und ganz normal losgegangen sei. Aber als sie am Bonner Platz eine U-Bahn-Karte kaufen wollte, hätte sie bemerkt, dass sie ihren Geldbeutel vergessen hätte. Deshalb sei sie zurückgegangen. Und da lag dann Napoleon vor der Haustür, von Weitem sah es so aus, als würde er schlafen.

»Warum denn vor der Haustür?«

Verblüfft schaut mich Frau Vogel an. »Stimmt, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Wie ist Napoleon rausgekommen?«

Mich überläuft es kalt. Ganz klar, jemand war in der Wohnung und hat den Hund aus dem Weg geräumt, um in aller Ruhe nach Linas Sachen suchen zu können.

In diesem Augenblick biegt ein Taxi-Kombi in den Innenhof. Frau Vogel hat wieder Hoffnung geschöpft und holt schnell ihre große schwarze Oma-Handtasche. Dann hieven wir zusammen mit dem Fahrer Napoleon hinten auf die Ladefläche.

Während ich die Klappe zumache, geht sie nach vorne, dann bleibt sie kurz stehen und dreht sich zu mir. Ihr dickes verweintes Gesicht zeigt einen ratlosen Ausdruck. »Mir ist immer noch nicht eingefallen, wo ich die Tüte von deiner Schwester hingestellt habe«, sagt sie und hebt entschuldigend die Hand. »Wenn du willst, mein Code ist 1234, das ist zwar eine verbotene Kombination, aber eine andere kann ich mir nicht merken. Geh ruhig rein, ich erlaube es dir und das erlaube ich sonst wirklich niemandem.« Sie öffnet die Wagentür. »Danke für deine Hilfe.«

Das Taxi fährt los und ich hoffe für sie, dass ihr Hund wieder zu sich kommt.

Statt nach oben zu Mam zu gehen, gebe ich den Code von Frau Vogels Wohnung ein. Ich kann mich später noch in Linas Zimmer verkriechen und trauern, aber jetzt habe ich die Chance herauszubekommen, was mit meiner Schwester passiert ist!

Lange war Frau Vogel ja nicht weg, also hat sie denjenigen, der in ihrer Wohnung war, hoffentlich gestört, bevor er etwas gefunden hat. Als ich den Code eingebe, frage ich mich, ob der Einbrecher noch in der Wohnung ist. Andererseits ist es eine Erdgeschosswohnung. Der Einbrecher ist vermutlich aus dem Fenster gestiegen, als Frau Vogel zurückkam.

Trotzdem mache ich die Tür nur sehr langsam auf. Es riecht wie das letzte Mal modrig, feucht, nach altem Hund und Tierfutter. Von irgendwoher kommt ein Luftzug. Meine Theorie mit dem Fenster scheint zu stimmen, denn Frau Vogel schließt die Fenster sicher, wenn sie das Haus verlässt. Das erleichtert mich etwas, dann lauert der Einbrecher hier drin nicht auf mich.

Überall stehen überquellende Umzugskartons und Müllsäcke, der Boden ist bedeckt mit alten Pizzakartons, Zeitungen, zerknülltem Papier, Haarspangen, Socken und undefinierbaren Häufchen. Dazwischen führen schmale Trampelpfade hindurch, zum Beispiel von der Tür zum Sofa, wobei auch das auf einer Seite voller Kleider ist. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass der Eindringling in so kurzer Zeit gefunden hat, wonach er gesucht hat.

Mutlos schaue ich von Müllhaufen zu Müllhaufen. Lina hat sich ein geradezu geniales Versteck ausgesucht. Es scheint mir vollkommen unmöglich, hier ihre Sachen wiederzufinden. Wenn ich wenigstens wüsste, wonach ich genau suche.

Ich folge dem Trampelpfad zum fleckigen Sofa, dessen Farbe man in dem Licht nicht erkennen kann, und setze mich dort auf den schmalen freien Streifen. Umgeben von all den modrigen Kartons und aufgeplatzten Müllsäcken fühle ich mich wie überflüssiges Strandgut, das niemand je aufsammeln wird. Ich ziehe die Knie hoch, lege meine Arme um sie herum und lehne den Kopf dagegen.

Und so bleibe ich eine sehr lange Zeit sitzen und denke immer nur: Lina ist tot. Dann kommt noch ein Gedanke dazu: Ich wäre auch beinahe gestorben. Aber warum? Wenn ich tief einatme, spüre ich die Stelle, wo ich gestoßen wurde.

Ich muss mit Pa über das alles reden. Unsinn. Lina ist tot, das ist schlimm genug, noch mehr kann er nicht verkraften. Und Mam? Sie würde mir nicht mal glauben, würde es für eine Reaktion auf Linas Tod halten.

Ich wünschte, ich könnte mit Pa einfach zurück nach Hause, lange mit Sonny ausreiten, Feli besuchen und das alles vergessen.

Feli. Ich muss sie anrufen, denke ich. Aber komischerweise scheue ich davor zurück, meiner besten Freundin zu erzählen, was passiert ist. Als ob es dadurch erst wirklich wird.

Mutlos strecke ich meine Beine wieder aus und gehe zurück zur Tür, die ich kaum über den vermüllten Boden ziehen kann.

Das hier hat alles keinen Sinn. Ich laufe nach oben, sehne mich nach einer Dusche und frischen Klamotten, muss diesen grauenhaften Tag von mir abspülen. Außerdem möchte ich das Lederband mit dem Schlüssel wieder im Sitzsack verstecken.

»Ruby, bist du das?« Als ich die Tür aufmache, stürmen mir Oliver und Ma entgegen.

»Wo warst du?«

»Spazieren.«

»Spazieren?« Oliver baut sich vor mir auf. »Deine Mutter hat sich solche Sorgen gemacht.«

»Hat Alex denn nichts erzählt?« Nicht nett von mir, Alex ins Spiel zu bringen, aber er ist schuld, dass ich weggerannt bin.

Meine Mutter kommt zu mir und umarmt mich. »Ruby, Oliver hat es nicht so gemeint, aber als du aus dem Krankenhaus gestürmt bist, haben wir uns große Sorgen gemacht. Ist alles in Ordnung mit dir?«

Sie schaut mir prüfend in die Augen und ich sehe, wie verquollen und rot ihr Gesicht vom vielen Weinen ist. »Es tut mir leid«, flüstere ich und meine es auch so.

»Schon gut, du bist ja da.« Sie drückt mich an sich, streichelt über meinen Rücken und berührt dabei die Druckstellen von meinem Kellersturz. Ich zucke leicht zusammen, doch niemand bemerkt es.

Ich erkläre ihnen, dass ich dringend duschen möchte. Sie nicken, aber ich habe den Eindruck, dass sie irgendwie enttäuscht von mir sind.

Zuerst verstecke ich das Band mit dem Schlüssel wieder im Sitzsack, dann gehe ich in Linas Bad und versuche, nicht auf das kaputte Schloss zu schauen. Beim Ausziehen raschelt es in meiner Jeansjacke. Ich schaue nach, weiß genau, da war nur ein Labello drin und sonst nichts.

Es ist ein zerknitterter weißer Umschlag.

Ich setze mich auf den flauschigen dunkelgrünen Badvorleger und lege den Umschlag auf den Klodeckel. Was ist das für ein Umschlag? Und woher kommt er?

Ich starre ihn an wie eine giftige Schlange und fürchte, ich werde auch gleich vom Baum der Erkenntnis essen. Und ich habe keine Ahnung, ob mir das schmecken wird.

Mit zitternden Händen öffne ich den Umschlag.

V

… denn mancher Argwohn ist Sünde. Und spioniert nicht und führt keine üble Nachrede übereinander. Würde wohl einer von euch gerne das Fleisch seines toten Bruders essen?
((49:12))

Er liegt zwischen Hunderten von aufeinandergestapelten Getränkekisten auf den Knien und schlägt die Stirn gegen den schmutzigen Boden, so heftig, dass die Kakerlaken aufgeschreckt davonhuschen.

Immer wieder, er verdient mehr Strafe als das. Er war unachtsam, er hat es schon zum zweiten Mal verpatzt, er war zu sentimental. Er unterdrückt ein Schluchzen, Selbstmitleid führt nicht weiter. Selbstmitleid schwächt nur, das hat Kimoni erkannt. Doch seine Idee, dass Gerechtigkeit besser sei als Rache, die hat ihn umgebracht.

Sie hatten die elenden Ratten, zu denen man sie gemacht hatte, überschätzt. Ratten haben keinen Sinn für Gerechtigkeit, nur für Futter.

Aber sie, die anderen, sind mächtig, sie sind allgegenwärtig, sie essen das Fleisch ihrer Brüder.

Er hat es wieder nicht fertiggebracht, Amari zuvorzukommen, obwohl sie ihm gesagt hat, wozu er imstande sein kann. Es ist, als ob Amari von jemandem gelenkt würde, der jeden seiner Schritte schon im Voraus kennt. Als ob jemand seine Gedanken lesen könnte.

Einzig, was die zarte Tochter angeht, hat er die richtige Entscheidung getroffen. Er holt das rosafarbene Handy aus der Hosentasche und küsst es wie einen Glücksbringer. Er muss sich beeilen, sonst wird es noch mehr falsche Tote geben.