Das Jahr des Herrn 1863 ist eine düstere, hoffnungslose Zeit in Deutschland. Das einfache Volk ist verarmt. Wer Arbeit hat, schuftet für Groschen. Menschen sterben an Hunger und Epidemien.

In dieser Zeit ist »Amerika« ein Wort der Hoffnung und Sehnsucht - ein Land, wo jeder sein Glück machen und zu Wohlstand kommen kann. Ein magisches Wort auch für den jungen Handwerksgesellen Jacob Adler, der zu Unrecht des Mordversuchs beschuldigt wird und aus Deutschland fliehen muss.

Doch sein Leben in Amerika wird härter und gefahrvoller sein, als er es sich in seinen ärgsten Träumen vorzustellen vermag. Ein Abenteuer wartet auf Jacob Adler, wie es kaum ein zweiter je erlebt hat...

Das sturmgepeitschte Meer wirbelte die Barke auf den hohen Wellenbergen umher wie ein zorniges Kind sein plötzlich mißliebig gewordenes Spielzeug. Mal lag das Schiff fast gänzlich auf der Steuerbord-, dann wieder auf der Backbordseite.

Gigantische Brecher überfluteten den Dreimaster und spülten alles fort, was nicht niet- und nagelfest war. Die wenigen Seeleute, die noch auf Deck waren, hatten sich anseilen müssen, um nicht von der gierigen See verschlungen zu werden. Einige ihrer Kameraden unterschätzten die Gefahr, und die Brecher hatten die Männer mit sich gerissen.

Der Orkan war zu plötzlich und zu heftig über das einsame Schiff hereingebrochen.

Deshalb war es auch nicht gelungen, sämtliche Segel in der erforderlichen Weise zu reffen oder ganz einzuholen.

An sich hatte der Kapitän am Fock- und Großmast nur die Topsegel stehen lassen wollen. Die Marssegel sollten so niedrig stehen, daß man sie schnell reffen konnte, aber noch hoch genug, um den Wind zu erfassen, wenn die Bark ein Wellental durchpflügte. Dadurch wollte der Kapitän sein Schiff manövrierfähig halten, ohne Masten und Takelage überzubeanspruchen.

Was den Seeleuten verwehrt war, besorgte der Sturm. Er fetzte das feste Segeltuch mit einer Leichtigkeit in Stücke, als handle es sich um dünnes Papier.

Mitten in dem Chaos auf Deck des Dreimasters stand der junge Kapitän und bemühte sich vergebens, seine Befehle gegen das Brausen des Sturms und das Rauschen der unermüdlich über das Schiff zusammenstürzenden Brecher anzubrüllen. Die Naturgewalten degradierten sein lautes Organ zum zaghaften Piepsen einer kleinen grauen Maus.

Fast hätte der junge Kapitän sich auch so gefühlt, wäre nicht die erfahrene Mannschaft gewesen, die auch ohne Befehle wußte, was sie zu tun hatte.

Wie ein Wahnsinniger drehte der Erste Steuermann das Steuerrad, wenn das Schiff sich wieder tief auf eine Seite zu legen begann. Und jedesmal schaffte er es rechtzeitig, die HENRIETTA wieder aufzurichten.

Mitleidig dachte der Kapitän an die vielen Menschen unter Deck - Männer, Frauen und Kinder. Für sie mußte alles noch viel schlimmer sein.

Ein Seemann war an den Tanz gewöhnt, den ein Schiff bei schwerem Sturm auf dem Meer vollführte - auch wenn dieser Sturm alles übertraf, was der Kapitän bislang erlebt hatte.

Aber für die Landratten, die eng zusammengepfercht im Bauch des Auswandererschiffes hockten, mußte es das schrecklichste Erlebnis ihres Lebens sein.

Wenigstens konnten sie nicht über Bord gespült werden!

Plötzlich weiteten sich die Augen des Kapitäns, der sich mit einem Seil am Besanmast gesichert hatte und den breiten Holzmast zusätzlich umklammert hielt.

Schon mehrmals war es ihm passiert, daß ihn ein Brecher zu Boden riß, wenn er den Mast losließ. Auf den schwankenden Planken zu stehen, war ihm von Kindesbeinen an vertraut. Aber gegen solche Wucht konnte kein Mann bestehen. Zwar war er trotz des Ölzeugs schon bis auf die Haut durchnäßt, aber so ein Sturz war auch sehr schmerzhaft. Eine blutige Nase und eine dicke Beule an der Stirn hatte er sich schon geholt.

Doch was der Kapitän jetzt sah, war geeignet, ihn alle Vorsicht vergessen zu lassen. Aus dem Eingang zum Zwischendeck strömten die Passagiere, kreidebleich vor Übelkeit und Angst.

Aber was wollten sie auf Deck?

Es gab keine Flucht aus dem Sturm!

Rings um die HENRIETTA war nichts als das aufgewühlte Meer des Ärmelkanals. Noch nicht einmal ein Horizont war zu erkennen. Wilde graue Fluten verschmolzen einfach mit dem dunklen Grau des Himmels, dessen entfesselte Winde die Wolken in Fetzen vor sich hertrieben wie die großen Stücke losgerissenen Segeltuchs. Die Welt, die von dem Schiff durchpflügt wurde, schien nur noch aus wutentbrannten Naturgewalten in einem düster-schmutzigen Grau zu bestehen.

Männer und Frauen wankten an Deck und konnten sich kaum auf den Beinen halten. Als der nächste Brecher über die Bark herfiel, riß er die Auswanderer mühelos von den Beinen. Sie purzelten durch- und übereinander. Einige fielen nach hinten und stürzten die steile Treppe zum Zwischendeck, die sie so mühsam erklommen hatten, wieder hinunter.

Sobald der Brecher sich an der HENRIETTA ausgetobt hatte, zogen sich die Auswanderer an den Aufbauten hoch.

Was, zur dreischwänzigen Seejungfrau, trieb sie bloß an Deck?

Neugierig und besorgt lief der Kapitän nach vorn, bis ihn ein heftiger Ruck an seinen Hüften fast umgerissen hätte.

Das Seil! schoß es ihm durch den Kopf.

Es sollte sein Leben retten. Jetzt behinderte es ihn.

Kurzentschlossen zog er sein Klappmesser aus der Jackentasche unter dem Ölhautmantel und durchschnitt den festen Hanf, der ihn mit dem Besanmast verband. Sobald der Hanf durchtrennt war, verlor der junge Mann den Halt.

Es war sicher kein aufmunterndes Bild für Mannschaft und Passagiere, wenn der Kapitän wie eine unerfahrene Landratte übers Deck taumelte und auf die nassen, glitschigen Planken stürzte. Aber auch ein älterer und erfahrener Seemann als der Kapitän hätte es nicht vermeiden können.

Für einen langen Augenblick wurde der Kapitän ein willfähriger Teil des großen Chaos, das die Natur entfesselt hatte. Er fühlte sich davongetragen, als er den festen Halt verlor. Vom Sturm oder von den Wellen - es blieb sich gleich.

Ein schmerzhaftes Stechen in seinem Kopf löste den Kapitän aus dem Chaos, machte ihm bewußt, daß er noch immer ein Mann mit eigenem Willen und der Kraft war, sich gegen die freigesetzten Naturkräfte zu wehren.

Er war über die Planken gerutscht und gegen eine der niedrigen Fensteraufbauten gestoßen, deren Aufgabe es war, die Kajüten mit Licht und Luft zu versorgen.

Seine rechte Wange war an einer scharfen Kante entlanggeschrammt, daher der plötzliche Schmerz. Die Haut war aufgerissen.

Sein Blut vermischte sich mit dem Salzwasser, wurde von ihm aufgesogen wie alles, was der gierige Atlantik bekommen konnte.

Der Kapitän löste sich von diesem seltsam faszinierenden Anblick, krallte seine Hände um den Fensterkasten und zog sich hoch.

Erst als er halb aufrecht stand, sah er das Unglück, das sich vor ihm anbahnte.

Jetzt wurde der HENRIETTA zum Verhängnis, daß die Seeleute nicht alle Segel hatten reffen oder einholen können.

Der Großmast in der Mitte des Schiffes, der das meiste Segelwerk trug, hielt dem Zerren und Peitschen des Sturms nicht länger stand.

Nicht ganz auf halber Höhe beugte sich der Mast nach vorn.

Weit nach vorn.

Gefährlich weit, wenn man bedachte, daß die Masten eigentlich eine leichte Neigung nach achtern aufwiesen.

Zu weit...

Das gute, feste Föhrenholz splitterte wie ein Zahnstocher, den man nach dem Benutzen lässig zwischen zwei Fingern und Daumen zerbrach.

Aber mit viel weittragenderen Folgen.

Mit Entsetzen beobachtete der Kapitän des gepeinigten Schiffes, wie sich der obere Teil des Mastes vom unteren löste und aufs Deck fiel. Dabei riß er alles mit sich: Rahen, Segel, Tauwerk.

Das schwere Gewirr aus Holz, Segeltuch und Tauen krachte senkrecht nach unten, wo ausgerechnet in diesem Augenblick weitere Passagiere aus dem Aufgang zum Zwischendeck kamen. Verwirrte, verängstigte Menschen, die nicht auf das Verhängnis über ihren Köpfen achteten.

Und der Kapitän konnte nichts tun!

Er rief zwar, brüllte, schrie sich die Seele aus dem Leib. Aber was war das schon gegen die geballte Macht des Orkans? Niemand hörte ihn in dem Getöse.

Der abgebrochene Großmast erschlug die Menschen, begrub sie unter sich, quetschte Glieder und zerbrach Knochen.

Die Verletzten schrien.

Aber der Kapitän sah nur ihre offenen Münder - und die zuckenden Leiber.

Es sah grotesk aus.

Dann war er endlich bei ihnen und faßte da an, wo er den ersten Verletzten fand.

Ein älterer Mann, fast kahlköpfig. Seine Beine waren unter einem abgebrochenen Teil der Großmarsrah eingeklemmt.

Aber als der Kapitän ihn herausziehen wollte, schrie der Auswanderer gequält auf.

»Geben Sie's auf, Käpten«, stöhnte der Alte unter Schmerzen. »Es hat keinen Sinn. Meine Beine sind hinüber.«

»Warum sind Sie bloß an Deck gekommen?« schrie der Kapitän gegen das Brausen des Sturmwinds. »Ich hatte es doch allen Passagieren ausdrücklich untersagt! Es ist viel zu gefährlich. Sie alle können über Bord gespült werden!«

»Ist es nicht gleichgültig. ob wir im Meer ersaufen. oder unter Deck. Käpten?«

Die Schmerzen peinigten den Alten derart, daß er nur noch abgehackte Satzfetzen hervorbrachte. Sein ganzer Körper krampfte sich beim Sprechen zusammen.

»Wenn Sie unter Deck bleiben, werden Sie nicht ersaufen«, erwiderte der Kapitän mit fester Stimme. Vielleicht wollte er dadurch auch seine eigenen Zweifel unterdrücken.

»Gerade dann. werden wir. sterben.«

Auf dem jugendlichen und gleichwohl von den vielen Jahren auf See gebräunten und wettergegerbten Gesicht des Kapitäns zeichnete sich Unverständnis ab.

Konnte man die Worte des Alten überhaupt ernstnehmen?

Wahrscheinlich nicht, entschied der Seemann. Die Todesangst, der Schock des Unglücks und der kaum zu ertragende Schmerz in seinen Beinen mußten seinen Geist verwirrt haben.

»Ich werde Hilfe holen«, versprach der Kapitän im beruhigenden Ton. »Dann heben wir die Rah an und befreien Sie.«

». hat keinen Sinn«, röchelte der Alte. »Das Schiff. wird sinken!« »Unsinn!« Die Stimme des Kapitäns klang fast barsch. »Sobald wir aus dem Sturm heraus sind, sieht alles anders aus.«

Der Alte schüttelte den Kopf.

»Nein. zuviel Wasser. im Schiff.«

Die Augen des Kapitäns zogen sich skeptisch zusammen. Wasser im Schiff? Das klang nicht nach Angstphantasien.

»Wovon reden Sie?« fragte der Seemann.

»Wasser. überall im Zwischendeck. bis zu den Knien.«

Bestürzung überfiel den Kapitän. Ihm dämmerte, daß der Alte keineswegs phantasierte. Zu genau war seine Beschreibung. Aber - Wasser im Zwischendeck?

Das bedeutete, daß der ganze Stauraum unterhalb des Zwischendecks, wo das Gepäck der Auswanderer und der Schiffsproviant aufbewahrt wurden, bereits überflutet war.

Wenn das Wasser bereits im Zwischendeck stand, war es weit über die normale Wasserlinie der Bark gedrungen!

Erst jetzt fiel dem Kapitän auf, daß die HENRIETTA schwerer im Wasser lag als noch vor ein paar Minuten. Das noch immer heftige Schwanken von einer Seite auf die andere lief weniger hektisch ab. Aber das war kein Grund zum Aufatmen, sondern für das genaue Gegenteil.

Es bestätigte die Worte des alten Auswanderers: Wasser drang in den Rumpf des Schiffes ein und machte es zunehmend schwerer - weil es tiefer und tiefer sank.

Jetzt verstand der Kapitän, weshalb immer mehr Menschen trotz seines strikten Verbots aus dem Zwischendeck hochkamen. Sie fürchteten den sicheren Tod, fanden auf Deck aber keineswegs die erhoffte Rettung.

Wenn das Schwanken der HENRIETTA sie nicht von den Beinen riß, besorgten es der Sturmwind und die schweren Brecher. Schreie wurden vom Wind davongetragen.

Trotz der Rettungsseile, die der Kapitän beim plötzlichen Auftreten des Orkans auf Deck hatte zurren lassen, wurden etliche der Menschen über Bord gespült.

Das Herz des Kapitäns krampfte sich zusammen. Er trug für Leib und Leben dieser Menschen die Verantwortung, solange sie sich an Bord der HENRIETTA aufhielten.

Hatte er versagt - auf seiner ersten Fahrt als Kapitän eines eigenen Schiffes?

Eine vertraute Gestalt stemmte sich aus dem Zwischendecksaufgang. Feuerrote Haare über einem flachen, fast stirnlosen Gesicht. Ein Gesicht, daß jetzt Verzweiflung und Erschöpfung ausdrückte. Das Gesicht des Maats Robert Schelp. Er befehligte die Männer an den Pumpen.

Der Kapitän sah ein, daß er dem eingeklemmten Auswanderer im Augenblick nicht helfen konnte. Und daß es Wichtigeres für ihn zu tun gab.

Er mußte nicht nur einen Menschen retten, sondern ein ganzes Schiff!

»Halten Sie aus!« rief er dem Alten zu, hangelte sich an dem abgestürzten Mast entlang zum Aufgang und fragte den durchnäßten Maat: »Schelp, was wollen Sie? Ihr Platz ist unten an den Pumpen! Die HENRIETTA säuft uns noch ab! Warum sorgen Sie nicht dafür, daß das Wasser aus dem Rumpf kommt?«

»Die Pumpen arbeiten nicht mehr!« schrie der Maat voller Verzweiflung. »Sie sind eine nach der anderen ausgefallen.«

Der Kapitän schluckte. Das war eine schlimme Nachricht, auch wenn er sich so etwas bereits gedacht hatte.

»Wie viele Pumpen arbeiten nicht mehr?« fragte er, als er sich von der bösen Überraschung erholt hatte.

»Alle, Käpten!«

»Alle?« Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann nicht sein!«

Und er dachte: Das darf nicht sein!

»Kommen Sie doch runter und sehen es sich an, Käpten. Die Dinger sind nur besserer Schrott, aber nicht viel besser!«

Genau das tat der Kapitän.

Er mußte zu seinem Erschrecken feststellen, daß Schelp recht hatte. Mit den Pumpen war nicht viel anzufangen.

Zwar bemühten sich die Seeleute verzweifelt, sie notdürftig zu reparieren. Bei einer gelang es auch, aber es dauerte keine drei Minuten, bis sie erneut ausfiel.

Das Wasser stieg, stand den Männern schon bis zur Brust. Und die Zeit drängte!

Überhaupt - die Zeit!

Wäre vor dem Auslaufen der HENRIETTA nicht alles so überstürzt gegangen, hätte der junge Kapitän Zeit gehabt, sich das Schiff - sein erstes Kommando - näher anzusehen. Dann hätte er bemerkt, daß die Pumpen nur äußerlich in Ordnung schienen.

»Wir müssen abhauen, Käpten!« riß ihn Schelps laute Stimme aus den Gedanken. »Das Wasser steht uns fast bis zu Hals. Warum hat die HENRIETTA nur keine Lenzpumpe auf Deck?«

Der Kapitän hob die knochigen Schultern und ließ sie ratlos wieder fallen.

»Ich habe die Bark nicht bauen lassen, leider«, seufzte er und befahl seinen Männern dann, nach oben zu gehen. »Seht zu, daß niemand auf dem Zwischendeck bleibt, wenn es überflutet wird. Ein paar der Auswanderer sind die See so wenig gewohnt, daß sie sicher zu schwach sind, um auf den eigenen Beinen zu stehen.«

»Soll das heißen, alles in die Boote?« fragte der rothaarige Maat entgeistert.

Der Kapitän nickte, schwach nur.

»Aber wir haben längst nicht genügend Rettungsboote für alle. Außerdem dürfte es bei diesem Seegang fast unmöglich sein, sie zu wassern.«

Der Kapitän blickte den Maat traurig an.

»Haben Sie einen besseren Vorschlag, Schelp?«

»Nein«, gab der Maat zerknirscht zu.

Im Zwischendeck bestätigte sich die Befürchtung des Kapitäns. Etliche Auswanderer, Männer wie Frauen und Alte wie Junge, weigerten sich in panischem Starrsinn, an Deck zu gehen.

Die hölzernen Schotte, die sie umgaben, gaukelten ihnen eine trügerische Sicherheit vor. Feste Wände versprachen Schutz. Wie die Wände der Wohnungen und Häuser in ihrer deutschen Heimat.

Aber die Schotte der HENRIETTA würden das Wasser nicht zurückhalten, wenn die Bark immer tiefer sank. Das wußte der Kapitän nur zu gut.

Und das Wasser, das bereits kniehoch im Zwischendeck stand, bestätigte es.

Mit Schreien und Handgreiflichkeiten trieb er die seiner Obhut überantworteten Menschen an, ihr Quartier, das schnell zur Todesfalle werden konnte, zu verlassen. Einige Auswanderer mußten er und seine Männer geradezu an Deck zerren.

Aber lohnte sich die Mühe?

Hier oben, wo der Sturm mit unverminderter Kraft toste, sah es nicht so aus.

Die verzweifelten Versuche, die Rettungsboote zu wassern, scheiterten kläglich. Taljen und Bootsrümpfe zerbrachen splitternd, was die Verwirrung und die Panik unter den Amerikafahrern noch steigerte.

Viele sprangen aus freien Stücken über Bord, bloß um beim Untergang der HENRIETTA nicht ein Opfer des Sogs zu werden. Es war das beste, was die Menschen angesichts des sicheren Schiffsuntergangs tun konnten.

Aber der Kapitän zweifelte nicht daran, daß die meisten der Auswanderer trotzdem sterben würden. Der aufgewühlte Atlantik war zu gierig.

Dann brach auch der Fockmast und stürzte aufs Deck.

Ein dickes Tau, das mit nach unten kam, peitschte über Hinterkopf und Rücken des Kapitäns.

Er verlor den Halt.

Gleichzeitig wurde ihm schwarz vor Augen.

Er merkte noch, daß plötzlich um ihn herum überall Wasser war.

Dann übermannte ihn die Schwärze.

*

Die Schwärze!

Er hatte Angst vor der Finsternis. Er verband sie mit Tod und Vernichtung.

Sie durfte ihn nicht bekommen!

Erleichtert stellte der Kapitän fest, daß er nur die Augen zu öffnen brauchte, um das schummrige Licht der Öllampe zu sehen, die während der ganzen Nacht seine Kabine erhellte und ihn vor der Dunkelheit beschützte.

Der Traum war schlimm gewesen. Der Mann war schweißgebadet, sein Nachthemd völlig durchnäßt.

Er würde sich nie an den Traum gewöhnen, obwohl er ihn doch fast jede Nacht heimsuchte, seit mehr als zwanzig Jahren. Seitdem die HENRIETTA gesunken war und ausgerechnet er -ihr Kapitän - zu den wenigen Überlebenden gehört hatte.

Aber wenigstens hatte er die Lampe, die ihn vor der schrecklichen Schwärze bewahrte. Er wußte, daß er sich auf ihr Licht verlassen konnte, wenn ihn der Alptraum zu sehr peinigte. Vielleicht hätte er sonst gar keinen Schlaf gefunden, in seinem ganzen verfluchten Leben nicht.

Er stieg aus der Koje und zog das klitschnasse Nachthemd über den Kopf.

Sein Schiff lag fast vollkommen ruhig. Kaum Seegang, schon gar kein Sturm vor der nordamerikanischen Pazifikküste. Aber wenn er an die Mission dachte, die seinem Schiff bevorstand, konnte es leicht die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm sein.

Der Kapitän trocknete den Schweißfilm an seinem Körper mit einem großen Baumwolltuch und zog sich dann an, um auf Deck zu gehen. Er war zu aufgewühlt zum Schlafen. Vielleicht tat ihm die frische Nachtluft gut.

Die Männer der Bordwache grüßten ihren Kapitän ohne Erstaunen. Sie waren längst daran gewöhnt, daß er nachts an Bord herumwanderte wie ein ruheloser Geist.

Tatsächlich fühlte er sich wie von Geistern besessen. Es waren Hunderte von Geistern. Die Geister der Menschen, die im Ärmelkanal ihr Leben ließen, als sein erstes Schiff im Sturm sank.

Als der Kapitän an der Reling stand, blickte er hinauf zu der Vielzahl funkelnder Sterne, deren Beständigkeit ihn ein wenig beruhigte. Ihr Licht wirkte auf ihn wie das Licht der Öllampe in seiner Kajüte. Auf ihr Leuchten war Verlaß.

Der Himmel war klar. Der Frühling des Jahres 1864 war über den Westen der Vereinigten Staaten hereingebrochen und hatte die düsteren Winterwolken vertrieben, die monatelang über dem Land gehangen hatten.

Aber der Kapitän ließ sich nicht täuschen, das Wetter würde schlechter werden.

Wenn sich einer mit dem Wetter auskannte, dann er. Seit dem Unglück damals im Ärmelkanal hatte er das Wetter noch eingehender studiert als zuvor. Wie ein Theologe die Bibel studierte. Nicht nur das Leben des Kapitäns hing davon ab, sondern auch das der ihm anvertrauten Menschen -Mannschaften und Passagiere.

Und deshalb wußte er, daß das ruhige Wetter bald vorüber sein würde. Er hätte dieses Wissen nur schlecht erklären können. Es war fast wie der Instinkt eines Tieres. Der Kapitän witterte geradezu den bevorstehenden Wetterumschwung.

Sein Blick wanderte über die wenigen Schiffe, die im Hafen lagen, Segler und Dampfer gemischt, hinüber zur Stadt. Sie schlief zum größten Teil, selbst jetzt, wo so viele Menschen hier auf eine Schiffspassage warteten.

Fogerty war wohl noch nie ein aufregender Ort gewesen. Nur wenige Lichter blinkten an Land, keine Konkurrenz für die strahlende Pracht der Gestirne.

»Eine ruhige Nacht, Käpten«, sagte ein Mann, der an seine Seite trat. »So ruhig wie die ganze Reise bisher. Wie Sie sehen, waren Ihre Befürchtungen völlig unbegründet.«

Als der Kapitän sich zur Seite drehte, um den Mann anzusehen, fühlte er sich schlagartig auf die HENRIETTA zurückversetzt. Er sah den verzweifelt an den Pumpen kämpfenden Maat wieder vor sich - Robert Schelp!

Das rote Haar und die breite Nase waren fast identisch. Nur die Stirn war bei diesem Mann ein wenig höher.

Es war nicht der Maat Robert Schelp. Natürlich nicht. Der war im Ärmelkanal ertrunken.

Der Mann, dessen stutzerhafte Kleidung nicht so recht zu seinem derben Gesicht passen wollte, war Arnold Schelp, der jüngere Bruder des Toten.

Ein schwarzer Chapeau claque verdeckte den größten Teil seines Rotschopfes. Aber dichte rote Koteletten schauten darunter hervor und führten fast bis zu dem vorspringenden Kinn. Schelp hatte den dunklen Gehrock zum Schutz gegen den kalten Nachtwind geschlossen. Darunter lugte eine Hose mit hell- und dunkelgrauen Karos hervor, die auf spitze schwarzglänzende Schuhe fiel.

Eine der weißbehandschuhten Hände hielt lässig den kleinen Stock, den Schelp fast immer bei sich trug. Der Kapitän hatte noch nie gesehen, daß er ihn beim Gehen tatsächlich benutzte.

»Noch sind wir nicht am Ziel«, entgegnete der Kapitän, und eine düstere Vorahnung schwang in seiner Stimme mit. »Noch wissen wir nicht einmal, wo unser Ziel liegt. Ich finde es reichlich merkwürdig, daß wir ums Kap Horn rum sind, wo wir doch eigentlich.«

»Psst!« unterbrach ihn zischend der andere Mann und legte den weißen Zeigefinger der behandschuhten Linken vor seine wulstigen Lippen.

Er warf einen scheuen Blick zu den Männern der Bordwache und sagte im Flüsterton: »Wir wollen die Mannschaft nicht eher ins Bild setzen als unbedingt nötig, Peterson!«

Bei der Nennung des Namens zuckte der Kapitän zusammen.

»Nennen Sie mich nicht so, Schelp!« verlangte er, ebenfalls flüsternd. »Sie wissen, daß ich das nicht mag.«

»Oh, ich bitte um Verzeihung, Käpten.«

Schelps spöttischer Tonfall und das belustigte Glitzern in seinen sonst eher trüben Augen zeigten dem Kapitän, daß die Bitte um Verzeihung nur gespielt war.

Der Kapitän vermutete, daß Schelp den Namen mit voller Absicht genannt hatte. Während der Reise von Hamburg nach Amerika hatte er es mehrmals getan. Der Kapitän wußte auch den Grund. Schelp wollte ihn daran erinnern, daß er ihn in der Hand hatte. Das Schiff gehorchte dem Kapitän, aber der Kapitän mußte Arnold Schelp gehorchen.

»Können Sie nicht schlafen, Schelp?«

Der Angesprochene grinste breit.

»Es ist die freudige Erwartung, Käpten. Ich hoffe, morgen unseren Verbindungsmann zu treffen. Dann können wir unsere Reise fortsetzen und zu einem ebenso erfolgreichen wie einträglichen Abschluß bringen.«

»Das erzählen Sie mir schon seit drei Tagen, seit wir vor Fogerty ankern«, brummte der alte Seebär und strich durch seinen dichten Vollbart, der früher einmal schwarz war, jetzt aber mehr grau schimmerte. »Ich habe fast das Gefühl, Ihr Verbindungsmann hat Sie versetzt. Oder er ist nicht durchgekommen. Vielleicht haben die Nordstaatler ihn geschnappt.«

Schlagartig verdüsterte sich Schelps Miene und nahm einen harten, verbissenen Ausdruck an.

»So etwas sollten Sie nicht sagen, Käpten, nicht einmal denken! Unser Verbindungsmann wird kommen, da bin ich mir sicher.«

»Was macht Sie so sicher?«

»Die Wichtigkeit unserer Fracht.«

»Und warum ist dieser geheimnisvolle Herr nicht pünktlich, wenn es so wichtig für ihn und seine Leute ist?«

»Es sind unruhige Zeiten hier in Amerika.« Schelp seufzte und sah für einen Moment so aus, als würde sein Blick über den ganzen riesigen Kontinent schweifen. »Vielleicht wurde er tatsächlich aufgehalten. Aber er wird durchkommen! Auch Sie sollten es sich wünschen, Käpten. Schließlich verdienen Sie auch daran.«

Das stimmte. Aber so oft Piet Hansen auch an das Geld dachte, es machte ihn nicht glücklich.

*

Am folgenden Tag.

Der von vier Pferden gezogene Planwagen erreichte Fogerty am frühen Nachmittag.

Als er die Silhouette der Stadt am Horizont auftauchen sah, rief der Mann auf dem Bock leise den Namen seiner Begleiterin nach hinten: »Irene! Wir sind da!«

Irene Sommer, die ihren kleinen Sohn Jamie unter der Plane in den Schlaf gesungen hatte, kletterte nach vorn und setzte sich neben Jacob Adler auf den Fahrerkasten.

»Sieht einerseits nicht gerade erhebend aus«, meinte sie nach einem langen Blick nach vorn. »Andererseits ist es wohl die größte Stadt, die wir seit Kansas City gesehen haben.«

Der junge Zimmermann nickte und grinste.

»Ja, ich möchte sogar sagen, seit Kansas City ist es der erste Ort, der die Bezeichnung Stadt wirklich verdient.«

»Beleidige Abners Hope nicht!« sagte die Frau mit gespielter Strenge und dachte an die Freunde, die sie und Jacob in der neuen Siedlung zurückgelassen hatten.

Natürlich war Abners Hope keine Stadt. Es hatte nicht einmal richtige Häuser. Nur verstreut in einem fruchtbaren Tal liegende Blockhütten, in deren Fensteröffnungen mangels Glas keine Scheiben saßen.

Und doch zogen die Menschen dort es jeder Stadt vor. Es war ihre neue Heimat und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Eine Zukunft, in der Menschen weißer und schwarzer Hautfarbe gleichberechtigt und in Freundschaft zusammenlebten - so wie die Männer und Frauen in Abners Hope.

Bedauern mischte sich in Irenes Gedanken. Bedauern darüber, Abners Hope und den Freunden, insbesondere Martin und Urilla Bauer, den Rücken zugekehrt zu haben.

Aber Irene und Jacob mußten weiter, jeder aus seinem eigenen persönlichen Grund.

Jacob war nach Amerika gefahren, um seinen Vater und seine Geschwister wiederzufinden, die er auf dem Anwesen seines Onkels Nathan Berger in Texas vermutete.

Und Irene wollte zu den Goldfeldern Kaliforniens, zu Carl Dilger, Jamies Vater.

Dort wollte Jacob sie abliefern, bevor er seine Reise nach Texas fortsetzte. In Fogerty hofften sie eine Schiffspassage nach Süden zu finden.

Aber als der Planwagen, auf die Stadt zurollte, schwand die Hoffnung der deutschen Auswanderer auf eine schnelle Schiffsverbindung nach Kalifornien.

Fogerty, obwohl keine besonders große Stadt, verfügte zwar über richtige Häuser - einige sogar aus Stein - mit Fenstern aus richtigem Glas, aber um den Ort herum zog sich ein ziemlich kruder Kranz von windschiefen Bretterhütten, Zelten oder einfachen Unterständen aus aufgespannten Decken. Eine aus dem Boden gestampfte Siedlung, die nur auf kurze Zeit angelegt war.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Irene, als ihr Planwagen langsam zwischen Zelten und Hütten hindurchfuhr. »Dagegen ist Abners Hope ja New York City!«

»Keine Ahnung«, brummte Jacob. »Sieht aus, als seien die Menschen auf der Flucht.«

Sie waren nicht auf der Flucht, sondern auf der Jagd. Das erfuhren die beiden Deutschen von einer Frau, deren Kind fast unter die Hufe der Zugpferde geraden wäre.

Der kleine, vielleicht fünf- oder sechsjährige Junge lief plötzlich hinter einer wackligen Hütte hervor und sprang auf die Fahrbahn, ohne auf den Planwagen zu achten. Er war ganz damit beschäftigt, ein schwarzweißes Tier zu jagen, das aber glücklich in dem engen Spalt zwischen zwei Hütten auf der anderen Straßenseite verschwand.

Irene schrie auf, als der Junge mitten auf der unbefestigten Fahrbahn einfach stehenblieb.

Jacob reagierte sofort. Er riß an den Zügeln, rief den Pferden das Haltekommando zu und zog die Bremse so abrupt an, daß der Wagen ins Schlingern geriet.

Die beiden vorderen Zugpferde hielten keine zwei Yards vor dem kleinen Jungen an.

»Puh«, machte Irene und ließ den vordersten der HickoryBögen los, über den die große Segeltuchplane gespannt war; sie hatte sich instinktiv daran geklammert, als der Wagen ins Schlingern geriet. »Das war denkbar knapp.«

Die junge Deutsche wischte dicke Schweißtropfen von ihrer Stirn, als aufgeregtes Geschrei von hinten an ihren Ohren drang.

»Das ist Jamie«, erkannte Jacob sofort, fast wie ein besorgter Vater. »Du solltest nach ihm sehen, Irene.«

Sie nickte und seufzte:

»Das Schlingern hat ihn aufgeweckt - und gerade hatte ich ihn in den Schlaf gesungen.«

»Macht doch nichts«, grinste Jacob. »Dann singst du halt noch einmal. Jamie und ich hören es gern!«

»So muß es wohl sein«, sagte Irene, warf dem großen, breitschultrigen Mann mit dem sandfarbenen Haar und dem offenen Gesicht einen warmen Blick zu und verschwand wieder unter der Plane.

Zur selben Sekunde lief eine andere Frau auf die Fahrbahn, stellte sich neben dem kleinen Jungen mit in die Hüften gestemmten Händen auf und sagte laut zu Jacob:

»Sind Sie verrückt, Fremder? Fast hätten Sie meinen kleinen Timmy überfahren. Er hätte tot sein können. Passen Sie gefälligst besser auf!«

Das verschlug dem Auswanderer, der sich keiner Schuld bewußt war, die Sprache. Während er nach Worten suchte, betrachtete er die Frau.

Sie war klein und stämmig. Selbst das weitgeschnittene Kleid aus grobem Leinen konnte ihren starken Körperbau nicht verbergen. Unter einer unförmigen Wollmütze lugte struppiges Haar in einer Farbe hervor, die keine war. Beim besten Willen hätte Jacob nicht zu sagen vermocht, ob er das Haar dunkelgrau, hellbraun oder sonstwie nennen sollte.

»Wollen Sie sich nicht mal entschuldigen, Mister?« keifte die Frau weiter. »Die Witwe O'Faolain ist es nicht gewohnt, daß man sie derart mißachtet!«

Eine Irin! dachte Jacob und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Seit er in New York City an Land gegangen war, hatte er mehrere Zusammenstöße mit den hitzköpfigen Leuten aus Irland gehabt, und fast alle waren ihm in schlechter Erinnerung geblieben.

Kaum war er mit diesem Gedanken zu Ende, als das Verhängnis auch schon in Gestalt zweier Kleiderschränke von Männern durch den Schlamm auf den Planwagen zustapften.

Sie waren vielleicht nicht ganz so groß wie der hünenhafte Deutsche, aber dafür fast doppelt so breit. Ihre groben, düsteren Gesichter versprachen nichts Gutes. Aber am erstaunlichsten fand Jacob, daß sich die Kerle ähnlicher waren als ein Ei dem anderen.

»Was ist hier los, Katie?« fragte einer der beiden noch recht jungen Burschen mit einer seltsam hohen Stimme.

»Dieser unverschämte Kerl hätte fast Timmy überfahren und hält es nicht mal für nötig, sich zu entschuldigen.«

Der Kleiderschrank, der eben gesprochen hatte, wandte sich dem Planwagen zu und meinte:

»Das ist aber ziemlich unhöflich, Mister. Wir Connors und O'Faolains mögen nur einfache Leute sein, aber Höflichkeit wird bei uns großgeschrieben.«

Die beiden Burschen ballten ihre Fäuste, die fast die Größe kleiner Schnapsfässer erreichten.

»Wenn Sie Höflichkeit tatsächlich so großschreiben, sollten Sie sich bei Jacob bedanken«, sagte eine Stimme hinter dem Deutschen. Es war Irene, die mit Jamie im Arm auf den Bock stieg.

»Ich höre wohl nicht richtig!« schnaubte die Witwe O'Faolain und hielt demonstrativ die Rechte hinter ihr unter der Wollmütze verborgenes Ohr. »Soll ich mich bei dem Kerl etwa dafür bedanken, daß er meinen Timmy fast unter die Räder genommen hätte?«

Irene schüttelte den Kopf.

»Nicht dafür, Ma'am. Sondern dafür, daß er den Wagen rechtzeitig angehalten hat!«

»Pah!« Es hätte nicht viel gefehlt, und die stämmige kleine Frau hätte in den Schlamm gespuckt. »Das war ja wohl seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Keiner hat ihn gezwungen, mit seinem Wagen wie ein Irrer durch die Stadt zu rasen.«

»Wie kommen Sie darauf, daß er wie ein Irrer gerast ist?« erkundigte sich Irene mit mühsam aufrechterhaltener Höflichkeit.

»Sonst wäre es wohl kaum beinah zu einem Unglück gekommen!«

»Sie irren sich!« verkündete Irene fest und löste damit offene Empörung auf dem breiten Gesicht der Irin aus.

Die Deutsche ließ sich dadurch nicht beirren und fuhr fort:

»Nicht Jacob trägt die Schuld an dem Unglück, das sich fast ereignet hätte, sondern ganz allein Ihr Sohn. Unser Wagen konnte kaum langsamer fahren. Aber Ihr Junge lief einfach mitten auf die Straße, ohne nach rechts oder links zu sehen. Er hat irgendein Tier verfolgt. Wir haben so scharf gebremst, daß fast der Wagen umgestürzt wäre. Und dabei hätte mein Sohn leicht zu Tode kommen können!«

Bei den letzten Worten blickte Irene zärtlich auf den kleinen Jamie, der so in dicke Decken eingemummelt war, daß nur sein winziges Gesicht herausschaute.

Der noch nicht mal ein Jahr alte Junge schien den Disput interessant zu finden und hatte das Plärren eingestellt. Als könne er dem Streit der Erwachsenen folgen, blickte er sie mit großen Augen an.

Die Witwe O'Faolain folgte Irenes Ausführungen erst mit wachsendem Unmut. Aber als die Deutsche das Tier erwähnte, dem der kleine Timmy nachgelaufen war, schlug die Stimmung seiner Mutter um. Plötzlich blickte sie ihren Sohn streng an und fragte:

»Stimmt das, Timmy? Hast du wieder ein Tier gejagt?«

Der Kleine nickte schüchtern, mehr nicht.

»Das könnte wirklich sein, Katie«, meinte einer der Kleiderschränke. Derselbe, der eben schon gesprochen hatte. »Vorhin hat Timmy hinter der Hütte mit einem Skunk gespielt. Ich habe ihm gesagt, er soll die Finger von ihm lassen.«

»Ein Stinktier?« fragte die Irin ungläubig und blickte dann streng auf ihren Sohn hinab. »Hast du das Stinktier verfolgt, als du auf die Straße gerannt bist, Timmy?«

Wieder bestand seine einzige Antwort nur in einem knappen Nicken.

Als die Witwe O'Faolain wieder zu den beiden Deutschen auf dem Wagen schaute, war alle abweisende Strenge aus ihren herben Zügen verschwunden.

»Sie haben wohl recht, ich muß mich bei Ihnen für meine Unhöflichkeit entschuldigen. Was ich hiermit tue. Ich hätte mich erst erkundigen müssen, was vorgefallen ist.«

Sie drückte ihren Sohn fest an sich.

»Aber die Angst um Timmy hat mich mitgerissen. Nach dem Tod seines Vaters im Winter ist er alles, was ich noch habe.«

Sie sah zu den beiden Kleiderschränken.

»Und meine Brüder natürlich, Bartly und Gypo Connor.«

Die beiden nickten knapp bei der Nennung ihrer Namen. Bartly war der Gesprächigere von ihnen.

»Ich entschuldige mich auch für meinen Sohn Timmy, daß er Ihnen solche Ungelegenheiten bereitet hat«, fuhr die Witwe O'Faolain fort. »Er hat es bestimmt nicht mit Absicht getan. Aber er ist einfach verrückt nach kleinen Tieren.«

»Das glaube ich«, nickte Jacob und sah zu dem verschüchtert wirkenden Kind hinab. »Er ist immer noch ganz sprachlos vor Schreck.«

»Das liegt nicht daran«, erwiderte die Irin mit düsterem Gesicht. »Timmy hat seit dem Tag nicht mehr gesprochen, als er mit ansehen mußte, wie sein Vater von einem Grizzly getötet wurde.«

»Von einem Grizzly?« echote Jacob und dachte an seine eigene Begegnung mit einem beeindruckenden Exemplar des Grauen Bären im Tal der geheimnisvollen Indianer.

Die Witwe nickte schwer und seufzte:

»Ja, es war mitten im tiefsten Winter. Aber der Grizzly hatte wohl vergessen, daß er seinen Winterschlaf halten mußte. Oder etwas hatte ihn aufgeschreckt. Jedenfalls trieb er sich ganz nah bei unserer Farm herum und griff Timmy an, als er Feuerholz ins Haus holen wollte. Mein Mann Timothy, der Herr nehme sich seiner an, hackte gerade das Feuerholz in Stücke. Er sprang mit der Axt dazwischen, aber der Bär machte ihn nieder. Als Bartly und Gypo mit ihren Gewehren aus dem Haus liefen, war es schon zu spät für meinen Mann.«

Bei den letzten Worten bekreuzigte sie sich. Tränen standen in ihren Augen.

»Wir haben dem Grizzly ordentlich was aufs Fell gebrannt«, nickte Bartly Connor. »Aber der Riese war so stark, daß er trotzdem weglaufen konnte. Erst am nächsten Tag haben Gypo und ich ihn im Wald gefunden, kurz vor dem verenden. Wir haben ihm den Rest gegeben.« Er grinste. »Katie hat jetzt eine schöne warme Decke aus gutem Bärenfell.«

»Das alles tut mir sehr leid«, sagte Jacob.

Katie O'Faolain zwang sich zu einem Lächeln und erwiderte:

»Sie können nichts dafür, Mister. Es ist dieses verfluchte Land. Drei Winter hintereinander hatten wir nichts als Unglück. Erst fraßen ausgehungerte Wölfe fast unser ganzes Vieh. Dann starb Timmys kleine Schwester kurz nach ihrer Geburt am Fieber. Und jetzt mein Mann!«

Die Witwe O'Faolain schüttelte heftig den Kopf und meinte dann:

»No, Sir, dieses Land bringt uns kein Glück. Wir haben aufgegeben, als der Schnee schmolz. Jetzt wollen wir nach Kalifornien, wie alle hier.« Sie zeigte auf die provisorische Stadt aus Hütten und Zelten. »Warum sollen nur die anderen durch das Gold reich werden?«

»Wir wollen auch nach Kalifornien«, sagte Jacob und stellte sich, Irene und Jamie vor.

Irene fragte:

»Mrs. O'Faolain, worauf warten Sie und all die Menschen hier?«

»Worauf? Auf ein Schiff natürlich! Aber es laufen längst nicht genügend Schiffe Fogerty an, die weiter nach Kalifornien fahren. Wir hätten gleich den Landweg nehmen sollen, dann wären wir jetzt schon da!«

»Das sind ja schöne Aussichten«, seufzte Irene enttäuscht.

Immer wieder, wenn sie sich Carl Dilger nahe glaubte, schob das Schicksal ein Hindernis dazwischen.

Dann aber war sie entsetzt über sich selbst, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, daß ihr das nicht nur unlieb war. Denn so konnte sie das länger hinauszögern, vor dem sie sich schon lange insgeheim fürchtete: die Trennung von Jacob!

»Wie sieht es mit Unterkünften aus?« fragte Jacob mit Blick auf die nahen Häuser von Fogerty. »Wir haben noch nicht mal ein vernünftiges Zelt. Und das Schlafen im und unterm Wagen sind wir eigentlich über.«

»Oh, es gibt Unterkünfte in der Stadt«, antwortete die Irin. »Seitdem die Leute geradezu in Scharen nach Kalifornien strömen, haben eine Menge Bürger ihre Häuser in Pensionen umgewandelt. Außerdem gibt es noch einen riesigen Kasten, der sich Fogerty Grand Hotel nennt. Aber egal wo, die Zimmer sind teuer. Auch die Bürger von Fogerty hat der Goldrausch erfaßt!«

»Und es gibt wirklich keine Möglichkeit, per Schiff nach Kalifornien zu kommen?« erkundigte sich Irene noch einmal.

»Vor wenigen Tagen kam ein Schiff aus Deutschland an, das als nächsten Hafen San Francisco ansteuern will. Es hat wohl Fracht für Frisco geladen. Ein paar Plätze sind auf dem Kahn frei geworden, weil er einige Auswanderer mitbrachte, die sich anscheinend nichts aus Gold machen. Sie sind gestern schon ins Landesinnere aufgebrochen, um sich dort irgendwo als Farmer niederzulassen.« Das Gesicht der Irin nahm einen bitteren Ausdruck an. »Ich wünsche ihnen mehr Glück, als wir es hatten. Sie können es bestimmt gebrauchen!«

»Was ist mit diesem Schiff?« hakte Irene nach.

»Bis jetzt hat es keine neuen Passagiere aufgenommen. Der Kapitän und Captain Stout befürchten wohl einen Aufruhr derjenigen, die nicht an Bord kommen. Es heißt, an Bord sei allenfalls Platz für hundert Menschen.«

»Wer ist Captain Stout?« wollte Jacob wissen.

»Der Kommandant der hiesigen Garnison. Na ja, was sich so Garnison nennt. Es ist nur eine Handvoll Soldaten. Die meisten werden wohl an der Front gebraucht.«

Jacob wußte sofort, daß die Irin vom Bürgerkrieg sprach, der nun schon seit drei Jahren zwischen den Nord- und den Südstaaten tobte.

»Ist der Kapitän ein Deutscher?« fragte er weiter, als er daran dachte, daß das Schiff aus Deutschland gekommen war.

»Ich glaube schon, ja«, nickte die Irin. »Obwohl es unter dem Sternenbanner segelt.«

»Vielleicht läßt sich da was machen«, murmelte der junge Auswanderer.

Das Gesicht der Witwe hellte sich auf, und sie fragte:

»Sie sind auch aus Deutschland, nicht wahr?«

»Richtig«, bestätigte Jacob. »Man hört es uns wohl an.«

»Ein wenig«, antwortete die Frau auf der Straße höflich. »Falls Sie den Kapitän sprechen, würden Sie dann an die O'Faolains und die Connors denken, Sir?«

»Ich werde sehen, was sich machen läßt.«

»Vielen Dank!« sagte die Frau, und es klang aufrichtig.

Sie ging mit ihrem Sohn von der Straße, und auch die beiden Kleiderschränke gaben den Weg frei.

Jacob löste die Bremse, trieb die Pferde an und bemerkte zu Irene:

»Das waren die höflichsten Iren, die ich jemals getroffen habe.«

Die junge Frau lächelte und erwiderte:

»Wie haben die Nonnen, die mich aufgezogen haben, doch immer gesagt: Es geschehen noch Zeichen und Wunder!«

*

Der etwa achtjährige Junge mit dem blonden Haarschopf rannte, so schnell er konnte, zum Hafen. Er hieß Frankie Herbert, und er hatte einen wichtigen, eiligen Auftrag zu erledigen. Noch dazu ein Auftrag, der ihm die Wahnsinnssumme von zwei Dollar einbrachte.

Golddollar, wohlgemerkt!

Fogerty hatte noch nie so viele Menschen beherbergt wie in diesen Tagen. Immer mehr vom angeblich Gelobten Land namens Oregon enttäuschte Siedler drängte es zur Küste, um eine Schiffspassage nach Kalifornien zu ergattern.

Natürlich hätten sie auch über Land reisen können, wie es einige andere taten. Aber den Menschen, die zum Pazifik reisten, war der Landweg zu lang und zu beschwerlich.

Sie hatten sich lange genug abgemüht, um mit ihrer Hände Arbeit eine Existenz aufzubauen, gottgefällig und natürlich auch gewinnträchtig - seelisch und materiell. Aus dem einen oder anderen Grund war es ihnen nicht gelungen.

Es war wie überall auf der Welt. Einige schafften, was sie sich vorgenommen hatten, und andere scheiterten. Und letztere zogen woanders hin, um neu anzufangen - und besser.

Aus diesem Grund waren sie oder ihre Vorfahren schon in die Neue Welt gekommen. Aus diesem Grund wollten sie jetzt nach Kalifornien.

Warum sich auf den Feldern ihrer Farmen abmühen, wenn die Goldfelder einen so viel größeren und vor allen Dingen schnelleren Gewinn versprachen?

Schnell sein, das war bei der Jagd nach Reichtum wichtig. Deshalb verzichteten viele auf den Landweg. Er dauerte einfach zu lange. Was nutzte es, nach Kalifornien zu kommen, wenn die Goldfelder dann bereits geplündert waren und andere reich gemacht hatten?

Schließlich konnte niemand garantieren, daß auch jetzt soviel Gold aus dem Boden zu holen war wie damals beim großen Goldrausch im Jahre 1849!

Doch bis jetzt hielt der Run auf die Goldfelder an. Jedes glitzernde Körnchen, das gefunden wurde, wuchs in den Berichten der Menschen zu einer ganzen Ader und lockte weitere Glücksritter in das fruchtbare große Land, das Mexiko 1848 an die Vereinigten Staaten von Amerika abgetreten hatte.

Und kaum jemand machte sich Gedanken darüber, daß nicht jeder reich werden konnte, nicht die meisten und nicht einmal viele. Fast jeder hielt sich für den Auserwählten, mochten vernünftig gebliebene Freunde und Verwandte auch noch so sehr auf die vom Goldfieber Befallenen einreden. Liebe mochte einen Menschen blind machen, das Gold machte ihn zusätzlich taub und engstirnig.

Auch Frankie Herbert sah nur das Gold vor seinen Augen. Den Golddollar in seiner Tasche und den, den er erhalten sollte, wenn er die Nachricht ablieferte.

Mehrmals rempelte er andere Menschen an, ohne weiter auf sie zu achten. Er entschuldigte sich nicht, und ihr Schimpfen und Fluchen berührte ihn nicht. Ja, das meiste davon hörte er nicht einmal.

Endlich lag der Hafen vor ihm. Lagerhäuser, Kisten und Fässer, Schiffe mit hohen Schornsteinen und noch höheren Masten. Für ein paar Sekunden blieb der Junge stehen, um diese große Welt zu betrachten, die Ferne und Abenteuer verhieß.

Ihm, der keinen anderen Hafen kannte, erschien es jedenfalls groß. Ein Mann aus New York oder San Francisco hätte nicht einmal darüber gelacht, den kleinen Hafen von Fogerty als groß zu bezeichnen - er hätte nur nachsichtig gelächelt.

Das Gold, das in seiner Tasche und in seinem Kopf brannte, riß ihn aus den Träumereien, denen er sich sonst stundenlang hingab, wenn sich der Sohn des Fleischers John Herbert im Hafen herumtrieb.

Zielstrebig steuerte er auf den Liegeplatz der ALBANY am unteren Hafen zu. Er brauchte nicht einmal seine rudimentären Kenntnisse der Schrift zu bemühen, um den in seinen Augen großen Segler zu finden. Natürlich hatte er sich die Ankunft der Bark nicht entgehen lassen und wußte daher ganz genau, wo sie lag.

Zwei lange Musketenläufe, auf denen spitze Bajonette im Licht der ab und zu hinter großen Wolken hervorschauenden Sonne blinkten, kreuzten sich vor seiner Brust. Eine kräftige Hand hielt den Jungen am Kragen der bunten Kalikojacke fest.

Jetzt erst bemerkte Frankie Herbert die beiden aus seiner Sicht großen Männer in den blauen Uniformen.

»He, was soll das!« fauchte er den schnurrbärtigen Mann mit dem gelben Corporalswinkel am Ärmel an, der ihn am Kragen gepackt hielt. »Halten Sie mich für einen gottverdammten Südstaaten-Rebellen, Mister, oder was?«

Die beiden Soldaten platzten fast vor Lachen.

»Wer hat dir denn das Fluchen beigebracht, Junge?« fragte schließlich der Corporal, noch immer heftig kichernd. »Bestimmt nicht der Pfarrer in der Sonntagsschule, wie?«

Bei der letzten Bemerkung wurden die Uniformierten von neuen Lachkrämpfen geschüttelt.

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« rief Frankie Herbert ärgerlich und versuchte vergeblich, sich von der unnachgiebigen Klaue des Corporals zu lösen.

»Das weißt du nicht?« fragte der schnurrbärtige Soldat mit hochgezogenen Brauen. »Du selbst hast doch eben von einem gottverdammten Südstaaten-Rebellen gesprochen!«

»Das ist doch kein Fluch«, beschwerte sich der Junge. »So nennt mein Vater die Südstaatler immer!«

»Na dann«, brummte der Corporal und unterdrückte mühsam ein weiteres Kichern. »Und was willst du hier, Junge. Etwa ein paar gottverdammte Südstaatler jagen?«

»Nein, ich muß zur ALBANY.«

Dabei zeigte Frankie Herbert auf den Dreimaster hinter den Soldaten.

»So ein Pech aber auch«, knurrte der Corporal im gespielten Ärger. »Wir stehen nämlich hier, damit niemand an Bord der ALBANY kommt!«

»Warum?« wollte der Junge wissen. »Steht das Schiff etwa unter Kantine?«

»Kantine ist gut«, lachte der Kamerad des Corporals, ein gemeiner Soldat, noch jung an Jahren. »Da könnte ich jetzt drauf.«

Er rieb über seinen uniformierten Bauch.

»Du meinst wohl Quarantäne!« sagte der Corporal zu Frankie Herbert.

Der Junge nickte, ein wenig erschrocken. Er dachte bereits darüber nach, wie man an Bord eines Schiffes gelangte, das unter Quarantäne, Kantine oder was auch immer stand.

»Nein, die ALBANY steht nicht unter Quarantäne«, verkündete der Corporal zur Erleichterung des Fleischersohns. »Aber es ist so etwas ähnliches. Der Kapitän des Schiffes und unser Captain Stout befürchten, daß es zu Gewalttätigkeiten unter den Leuten kommt, die eine Passage nach Kalifornien haben wollen. Die wenigen Plätze auf dem Schiff sollen gerecht ausgelost werden. Damit sich vorher niemand heimlich an Bord schleicht oder sich gewaltsam Zugang verschafft, stehen wir hier.«

»Ich will nicht nach Kalifornien«, klärte Frankie Herbert die Soldaten auf. »Ich muß nur etwas an Bord des Schiffes bringen.«

»Was denn?« Der Corporal legte die Stirn unter seiner blauen Forage-Mütze in Falten. »Du trägst doch gar nichts bei dir!«

»Doch, eine Nachricht«, erwiderte der blonde Junge im Tonfall größter Wichtigkeit. »Aber die ist sehr geheim und persönlich!«

»So ist das also«, meinte der Corporal und nickte mit vorgetäuschtem Verständnis, während er seinem Kameraden verschwörerisch zuzwinkerte. »Dann bist du also eine Art Geheimkurier.«

»Genau!« stimmte Frankie Herbert zu, erleichtert darüber, daß ihn die Männer in Blau endlich zu verstehen schienen.

»Und für wen ist deine Nachricht bestimmt?«

»Das ist doch geheim!«

Verärgert stampfte der Junge mit dem Fuß auf. Offenbar verstanden die Soldaten ihn doch nicht.

»Aber nicht für uns«, lächelte der Corporal. »Wir sind Soldaten. Vor uns darf niemand Geheimnisse haben.« Er zeigte auf seinen gelben Winkel. »Sieh her, ich bin sogar Corporal.«

»Ist das so etwas wie Friedensrichter oder Bürgermeister?«

»Noch viel höher«, versicherte der Corporal, während er dem anderen Soldaten erneut zuzwinkerte. »Ein Friedensrichter und ein Bürgermeister werden von der Bevölkerung gewählt. Ich aber bin ernannt worden, und weißt du, von wem?«

»Nein, von wem?« fragte Frankie Herbert gespannt.

»Vom Präsidenten.«

»Von Lincoln?«

Der Corporal nickte.

So ganz gelogen war es nicht einmal. Als Soldat der Union war sein oberster Befehlshaber tatsächlich Abraham Lincoln. Nur hatte der Präsident im fernen Washington noch nie etwas von dem Corporal William Backleton aus der kleinen Garnison von Fogerty gehört.

»Dann kann ich es Ihnen ja sagen«, meinte Frankie Herbert erleichtert, nachdem er sein Staunen überwunden hatte. »Die Nachricht ist für Mr. Schelp.«

»Das ist doch dieser Dutch mit dem vielen Geld, der an Bord ist«, sagte Corporal Backleton zu seinem Kameraden, dem Gemeinen Fred Hickel.

»Woher weißt du, daß er viel Geld hat?« entgegnete Hickel.

»So, wie der rumläuft! Die Nachricht ist bestimmt von einem hübschen Girl, das er sich in der Stadt angelacht hat, um sich die Zeit zu vertreiben.«

»Du hast eine schmutzige Phantasie, Corporal«, lachte Hickel.

Doch der Junge nickte bekräftigend und sagte:

»Yes, Sir, eine Dame hat mir die Nachricht übergeben.«

»Eine Dame, hörst du?« fragte der Corporal belustigt. »Um was soll es auch sonst gehen, wenn es sehr geheim und persönlich ist?«

Er ließ den Jungen endlich los und sagte: »Also gut, überbring deine Nachricht, Großer. Wir wollen den Dutch-Gentleman doch nicht um sein Rendezvous bringen!«

Frankie Herbert verstand zwar längst nicht alles, was die beiden Soldaten miteinander redeten. Aber er verstand, daß er an Bord der ALBANY durfte. Das genügte ihm.

Freudig lief er über eine schmale Planke an Bord, wo er sich erneut zwei großen Männern gegenübersah. Seeleute diesmal, ohne Waffen, wenn man ihre kräftigen Arme außer acht ließ.

»Was willst du hier, Knirps?« fragte einer der beiden.

Da rief der Corporal:

»Er hat eine Nachricht für euren Mr. Schelp.«

»Ja«, lachte der andere Soldat. »Sehr geheim und persönlich.«

Der Seemann nickte, sah den Jungen an und sagte:

»Komm mit!«

Er wandte sich um. Frankie Herbert folgte ihm durch die fremde Welt des Schiffsdecks. Er fühlte sich wie ein Kapitän auf großer Entdeckungsfahrt.

*

Die deutschen Auswanderer fuhren durch die von Menschen überfüllte Stadt, bis Jacob vor dem größten, alle anderen Häuser überragenden Gebäude anhielt. Es war aus Stein erbaut.

Ein Schild, das sich über die halbe Vorderfront zog, verkündete, daß es sich um das Fogerty Grand Hotel handelte.

»Wollen wir uns hier wirklich einquartieren, Jacob?« fragte Irene zweifelnd. »Du hast doch gehört, was die Witwe O'Faolain über die Zimmerpreise gesagt hat.«

»Fragen kostet nichts. Außerdem wollen wir ja nicht für ewig hier bleiben.«

Jacob stieg ab und ließ Irene mit Jamie auf dem Wagen zurück. Ein paar niedrige Stufen führten zur breiten, von zwei eingetopften kleinen Tannen gesäumten Doppelflügeltür hinauf.

Er öffnete einen Türflügel und betrat eine große, für seinen Geschmack ein wenig zu dunkle Empfangshalle. Es roch muffig. Bei näherem Hinsehen war die luxuriöse Einrichtung nicht mehr ganz so beeindruckend. Aus den zerschlissenen, teilweise aufgerissenen Polstern quoll schon die Füllung hervor.

In Hamburg oder gar in New York hätte dieses >Grand Hotel< wohl keinen Blumentopf gewonnen. Aber für Fogerty war es vermutlich eine kleine Sensation.

Er hatte den Empfangstresen noch nicht erreicht, da schlurfte schon ein älterer Mann mit hängenden Schultern aus einem verborgenen Raum nach vorn und musterte den Deutschen skeptisch.

Jacob konnte sich gut vorstellen, daß er auf den Mann einen zweifelhaften Eindruck machte. Die weite, anstrengende Reise hatte ihre Spuren an Jacobs Kleidern und an ihm selbst hinterlassen. Sein Gesicht und sein ganzer Körper waren noch ziemlich zerschunden von der gefährlichen Begegnung, die er und Irene mit den Nez-Perce-Indianern und den Siedlern von Greenbush gehabt hatten.

»Die billigsten Zimmer kosten drei Dollar pro Person und Nacht, Mister«, schnarrte der grauhaarige Mann hinter dem Tresen, bevor Jacob noch etwas sagen konnte. »Aber diese Zimmer sind nicht groß und nur sehr einfach ausgestattet.«

»Drei Dollar pro Person?« brummte der junge Deutsche unwillig und strich mit der Hand überlegend an seinem Kinn entlang. »Das ist ein ziemlich stolzer Preis, Sir.«

»Es ist der Preis.«

Jacob dachte an die Schiffspassage, die auch Geld kosten würde. Und daran, daß er und Irene nicht wußten, was sie in Kalifornien erwartete.

Gewiß, sie konnten den Wagen und die Pferde verkaufen. Aber dennoch war es ratsam zu sparen.

Ein paar weitere Nächte im Planwagen würden Irene und Jamie auch noch überstehen. Und Jacob war an das Schlafen unterm Sternenzelt seit seiner dreijährigen Walz durch Deutschland gewöhnt.

»Sir, ich danke Ihnen für die Auskunft«, sagte er enttäuscht. »Aber das ist zuviel für einen armen Zimmermann.«

Er drehte sich um und wollte die Empfangshalle verlassen, als die brüchige Stimme des älteren Mannes ihn zurückhielt:

»Warten Sie, Mister! Sagten Sie eben, Sie sind Zimmermann?«

Der Auswanderer wandte sich erneut zu ihm um und zeigte auf den goldenen Ring in seinem rechten Ohrläppchen.

»Ja, Sir. Dies hier ist bei uns in Deutschland das Zeichen meiner Zunft.«

»Das ist etwas anderes«, meinte der Graukopf interessiert und zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. »Wir bauen hinten gerade einen großen Mietstall. Warum sollen wir das Geschäft anderen überlassen? Leider ist unser Zimmermann überraschend abgehauen. Goldfieber, wissen Sie. Wenn Sie für ihn einspringen, erhalten Sie ein Zimmer zum halben Preis, solange Sie für mich arbeiten. Ihr Deutsche sollt ja sehr fleißig sein. Übrigens, ich heiße Jefferson Kinley. Mir gehört das Hotel. Was sagen Sie zu meinem Angebot, Mister.«

Jacob nannte seinen Namen und meinte dann: »Das Angebot ist gut, aber nicht gut genug.«

»Was verlangen Sie?« erkundigte sich der Alte im geschäftsmäßigen Tonfall.

»Freies Logis und freie Verpflegung.«

»Sie ruinieren mich, Mr. Adler.«

»Bei Ihren Preisen bestimmt nicht.«

»Also gut«, seufzte Kinley, in sein Schicksal ergeben. »Freies Logis und freie Verpflegung.«

»Für mich und meine Begleitung, also zwei Zimmer.«

»Ihre Begleitung? Zwei Zimmer?«

Der Hotelier wirkte auf Jacob fast komisch, wie ein verwirrter Papagei.

»Eine junge Dame, die ich nach Kalifornien begleite. Sie benötigt natürlich ein eigenes Zimmer.«

Jacob wußte, daß er hoch pokerte. Aber er war fest entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Schließlich waren er und Irene auf das Grand Hotel, mochte das Wohnen hier gegenüber dem Übernachten im Wagen auch noch so angenehm sein, nicht angewiesen. Außerdem benahm sich Jefferson Kinley mit seinen Preisen auch nicht gerade wie ein barmherziger Samariter.

»Eine junge Dame?« Kinley wirkte alarmiert und reckte das spitze Kinn vor. »Hören Sie, Mister, dies ist ein anständiges Hotel. Falls Sie meine übergroße Gutmütigkeit ausnutzen wollen, seien Sie gewarnt. Ich lasse nicht zu.«

»Sie denken falsch von Mrs. Sommer und mir«, fiel ihm Jacob ins Wort. »Mrs. Sommer ist eine anständige Frau. Sie ist mit ihrem kleinen Sohn unterwegs zu ihrem Mann.«

Eigentlich waren Irene und Carl Dilger nicht verheiratet. Jacob hätte folglich nicht von einer Mrs., sondern von Miß Sommer sprechen müssen. Aber angesichts der moralischen Verantwortung, die Jefferson Kinley offenbar für sein Haus fühlte, hielt er ein bißchen Flunkern für angebracht.

Außerdem wollten Irene und Carl ja heiraten; ein für Jacob schmerzlicher Gedanke.

»Wenn das so ist«, meinte der Hotelier unsicher. »Aber Sie erwähnten gerade ein Kind. Dann sind es also drei Personen?«

»Zahlen Kleinkinder bei Ihnen etwa auch drei Dollar pro Nacht?«

»Nein, die Hälfte. Aber ich will kooperativ sein. Die junge Dame zahlt den halben Preis, und ihr Kind darf umsonst wohnen.«

Jacob schüttelte entschlossen den Kopf und sagte mit fester Stimme:

»Freie Unterkunft und freie Verpflegung für uns alle drei, Mr. Kinley. Oder wir suchen uns einen anderen Platz!«

Der Hotelier sah den Auswanderer an wie ein von unerträglichen Schmerzen gepeinigter Mann.

»Sie ruinieren mich wirklich, Mr. Adler.«

Jacob grinste nur. Er spürte, daß er dieses Spiel gewonnen hatte.

»Na schön, na schön, ich schlage ein«, brummte Kinley, als er einsah, daß der Zimmermann nicht nachgeben würde. »Wann fangen Sie an zu arbeiten?«

»Sobald ich im Hafen gewesen bin und mich um eine Passage nach Kalifornien gekümmert habe.«

»So lange wollen Sie in Fogerty bleiben?«

Jacob nickte.

Der Hotelier rieb zufrieden seine Hände.

»Dann wird der Mietstall bestimmt bald fertig. Schiffspassagen nach Kalifornien sind hier so rar wie Negersklaven im Weißen Haus. Sie werden soviel Zeit haben, daß Sie eine ganze Stadt bauen können, Mr. Adler.«

»Führen Sie mich nicht in Versuchung, Sir«, grinste Jacob und ging nach draußen zu Irene und Jacob.

*

Piet Hansen und Arnold Schelp saßen in der Kapitänskajüte über den Resten des Mittagessens, das sie mit einem Bourbon begossen.

Der Kapitän war alles andere als wild darauf, mit dem Rothaarigen zu speisen. Arnold Schelp dagegen bestand auf dem gemeinsamen Essen, jeden Tag. Und leider mußte Hansen tun, was Schelp sagte.

Der rothaarige Geschäftsmann wollte gerade sein Bourbonglas nachfüllen, als heftig gegen die Tür geklopft wurde.

»Ja?« fragte Hansen, fast ein wenig erleichtert darüber, daß die ungeliebte Zweisamkeit mit Schelp unterbrochen wurde.

Es war einer der amerikanischen Seeleute aus der hauptsächlich aus Deutschen und Amerikanern bestehenden Mannschaft. In seiner Begleitung befand sich ein blondschöpfiger Junge.

»Der Knirps hier hat eine Nachricht für Mr. Schelp, Käpten«, wandte sich der Seemann ordnungsgemäß an den Kapitän.

Dieser wechselte einen kurzen Blick mit dem Rothaarigen. Beide dachten dasselbe: Der Junge brachte die Botschaft, auf die sie schon seit Tagen warteten!

»Ist gut«, nickte der Käpten. »Schick den Jungen herein und warte draußen!«

Zögernd ging Frankie Herbert auf den großen Tisch zu, nachdem der Seemann die Kajütentür hinter sich geschlossen hatte. Dies hier war wirklich eine fremde Welt. Die geräumige Kajüte wirkte auf den Jungen wie der Palast eines Königs.

Tatsächlich war die Kapitänskajüte für eine Bark wie die ALBANY sehr prunkvoll ausgestattet. Die Wände waren mit Bücherregalen und Gemälden bedeckt; letztere zeigten ausnahmslos Motive aus der Seefahrt. Die Vorhänge aus feinstem Samt vor dem großen Fenster waren an den Rändern mit Goldborten besetzt. Über dem Tisch hing ein Kronleuchter, der auch dem Salon eines großen Herrenhauses Ehre gemacht hätte.

Piet Hansen war weder im Luxus aufgewachsen, noch benötigte er ihn. Aber er hatte sich daran gewöhnt. Er hatte die Kajüte von seinem Vorgänger, dem alten Josiah Haskin, so übernommen, wie sie war. Natürlich störte der Luxus den Seebären auch nicht. Er hatte lange genug auf die ihm gebührende Kapitänsstellung verzichten müssen - mehr als zwanzig Jahre.

»Schlaf nicht ein, Junge!« ermahnte der Rothaarige den staunenden Frankie Herbert. »Wer schickt dich?«

»Eine Dame«, antwortete der Fleischersohn, als er vor dem reich gedeckten Tisch stand.

»Was für eine Dame?« fragte Schelp überrascht. »Wie heißt sie?«

»Das weiß ich nicht, sie ist neu in der Stadt. Sie wohnt im Hotel.«

»Im Grand Hotel?«

Frankie Herbert nickte eingeschüchtert. Was ihn ängstigte, war nicht so sehr die fremdartige Umgebung, sondern mehr der Mann mit den roten Haaren.

Es war ein seltsamer Mann. Er wirkte grob, fast wie ein Fleischer. Aber seine Kleidung war die eines feinen Pinkels -so nannte Frankies Vater die Honoratioren von Fogerty, die am Samstag höchstpersönlich in seinem Laden erschienen, um den Einkauf des Sonntagsbratens zu überwachen. Es paßte nicht zusammen.

»Wie sieht diese Dame denn aus?« forschte Schelp nach.

»Das weiß ich auch nicht.«

Ungeduldig schlug die große Hand des Rothaarigen auf den Tisch. Die Hand war grobporig wie sein Gesicht. Und sie war dicht behaart; die vielen Härchen schimmerten rötlich. Sie sah nicht aus wie die Hand eines feinen Mannes - der Grund, weshalb Schelp, außer beim Schlafen und Essen, fast immer Handschuhe trug.

»Was weißt du denn überhaupt?« rief Schelp verärgert. »Hast du nicht mit dieser Dame gesprochen?«

»Doch!«

»Weshalb kannst du dann nicht sagen, wie sie aussieht?«

»Schwarz.«

»Schwarz?«

Der Junge nickte eifrig.

»Ihre Kleidung ist ganz schwarz, und vor dem Gesicht trägt sie einen schwarzen Schleier.« Während er sprach, zog Frankie Herbert ein kleines Briefkuvert aus der Jackentasche. »Das soll ich Ihnen geben, Mr. Schelp.«

»Dann gib es mir!« verlangte der Rothaarige unwirsch und streckte eine seiner behaarten Pranken aus.

Aber der Junge legte das Kuvert nicht hinein, sondern sagte leise:

»Die Dame hat gesagt, Sie geben mir für den Brief einen Golddollar.«

»Gib mir den Brief, dann bekommst du deinen Dollar.«

»Haben Sie denn einen Golddollar, Sir?« fragte der Junge zweifelnd und dachte an das viele Gesindel, das sich zur Zeit in Fogerty herumtrieb. Sein Vater hatte ihn eindringlich vor Bettlern und Betrügern gewarnt.

»Willst du mich beleidigen?« brüllte Schelp.

Seine Rechte schnappte sich den stets griffbereiten Stock und hob ihn drohende zum Schlag.

Piet Hansen hielt Schelps Arm fest und sagte:

»Mäßigen Sie sich, Schelp! Sie als Geschäftsmann sollten die Vorsicht unseres Kuriers eigentlich zu würdigen wissen.«

Das Lächeln, das daraufhin über Schelps grobes Gesicht glitt, war nicht geeignet, Frankie Herberts Furcht vor dem seltsamen Mann zu mindern.

Wenigstens ließ dieser den Stock sinken, kramte etwas aus der Tasche seiner dunklen Weste und sagte:

»Sie haben recht, Käpten, wenn ich darüber nachdenke. Der Junge imponiert mir. So habe ich auch mal angefangen.«

Hoffentlich endet der Junge nicht so wie Schelp! schoß es durch Hansens Kopf.

»Hier, mein Sohn, nimm deinen Golddollar!«

Vorsichtig, nach der Hand mit dem Stock schielend, nahm Frankie Herbert das glänzende Geldstück entgegen und legte dafür den Brief in die behaarte Hand.

»Sollst du auf eine Antwort warten?« fragte Schelp.

»Nein, Sir.«

Schelp wandte sich an Hansen.

»Dann kann der Junge gehen.«

Der Käpten rief den draußen wartenden Seemann herein, um den Jungen an Land zu begleiten.

Als Frankie Herbert die fremde Welt des Segelschiffes verließ, fühlte er sich erleichtert. Der Mann mit dem roten Haar hatte ihm Angst gemacht.

Aber dann glitt ein Lächeln über das Kindergesicht - Frankie dachte an die beiden Goldstücke in der Tasche seiner Kalikojacke.

In der Kapitänskajüte griff Arnold Schelp nach einem Messer des Silberbestecks und fetzte ungeduldig den unbeschrifteten weißen Umschlag auf, der lediglich mit einem Adreßaufdruck des Fogerty Grand Hotels versehen war. Der gleiche Aufdruck schmückte das Briefpapier, das nur wenige handgeschriebene Worte enthielt.

Schelp las laut vor:

»Erwarte Sie umgehend im Grand Hotel, Zimmer 214. V. Smith.«

»Nicht gerade ein ausführliches Schreiben«, seufzte der Kapitän. »Ist V. Smith der Verbindungsmann, auf den Sie warten?«

»Ich nehme es an«, antwortete der Rothaarige, während er den Brief zusammenfaltete und in eine Tasche seiner Weste steckte. »Mir wurde kein Name genannt. Ich weiß nur, daß ich in Fogerty neue Instruktionen erhalten soll. Wer sonst sollte also den Brief geschickt haben?«

»Vielleicht ein Agent des Nordens.«

Schelp starrte Hansen entgeistert an.

»Wie meinen Sie das, Käpten?«

»Ich meine, daß es eine Falle sein könnte. Vielleicht haben die Nordstaatler Ihren Verbindungsmann geschnappt und durch einen ihrer Agenten ersetzt.«

»Verflucht, das wäre eine Erklärung für die Verspätung!« Schelp ließ den schweren Silberknauf seines Stocks hart auf die Tischplatte knallen. »Aber wenn es so ist, warum dann das Treffen im Hotel? Die Yankees könnten das Schiff doch ganz einfach stürmen.«

»Vielleicht wollen sie noch mehr herausfinden und deshalb das Spiel so lange fortsetzen, wie es geht.«

Überlegend fuhr Schelps Linke durch seinen feuerroten Haarschopf.

Er schüttelte schließlich den Kopf und seufzte:

»Ich schätze, es gibt nur eine Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden, Käpten. Wir müssen ins Hotel!«

»Wir?« fragte Hansen überrascht.

Schelp nickte grinsend und zog einen kleinen Gegenstand aus einer der Westentaschen: ein versilberter Derringer mit vergoldetem Griff, protzig, aber tödlich.

»Ich möchte Sie in meiner Nähe haben, Käpten. Vielleicht haben Sie mich ja verraten, dann möchte ich mich gebührend bei Ihnen bedanken.«

»Ich habe Sie nicht verraten«, sagte Hansen und dachte: Vielleicht hätte ich es tun sollen!

»Wir werden sehen.«

Schelp ließ den Derringer wieder verschwinden, stand auf und griff nach seinem Rock und dem Chapeau claque.

»Kommen Sie, Käpten, das Spiel hat begonnen!«

Kurz darauf verließen die beiden Männer das Schiff und erwiderten knapp den Gruß der beiden Soldaten.

»Der Käpten geht auch mit«, raunte der Corporal seinem Kameraden zu. »Anscheinend hat die Dame noch eine Freundin.«

»Yeah«, grinste der Gemeine. »Sehr geheim und persönlich.« »Es ist schon ein Witz, daß ausgerechnet Yankee-Soldaten die ALBANY bewachen«, raunte Piet Hansen seinem Begleiter zu.

»Ja«, grinste der Mann in der stutzerhaften Kleidung. »Als wüßten sie, wie wertvoll unsere Fracht ist.« Mit gemischten Gefühlen verließen die beiden Deutschen den Hafen und gingen in Richtung Stadt.

*

Die beiden kleinen Zimmer, die der Hotelier Jefferson Kinley den deutschen Auswanderern zuwies, lagen zu einer schmalen Seitengasse hinaus. Sie waren ziemlich dunkel und fast spartanisch eingerichtet, aber dafür sauber und umsonst. Irene blieb mit Jamie auf ihrem Zimmer, um sich auszuruhen.

Jacob fuhr mit dem Wagen zum nächsten Mietstall, um ihn und die Tiere zu verkaufen. Beides benötigten sie nicht mehr. Und sie im Mietstall unterzustellen, hätte nur unnötige Kosten verursacht.

Der Mietstallbesitzer, ein bulliger Mann mit spiegelglatter Glatze und dem Namen Svenson, bot fünfzig Dollar pro Pferd und noch einmal fünfzig für den Wagen. »Das ist aber nicht viel«, sagte Jacob enttäuscht. »Nein«, sagte der Glatzkopf offen. »Es ist sogar sehr wenig. Aber Sie können sich ruhig in Ruhe umhören. Mein Angebot bleibt bestehen. Niemand in Fogerty wird Ihnen mehr bieten.« »Warum nicht?«

»Weil Sie einen Tag zu spät gekommen sind. Die Auswanderer vom Schiff, die gestern ins Landesinnere aufgebrochen sind, hätten wohl mehr bezahlt. Aber die meisten Leute, die jetzt nach Fogerty kommen, suchen eine schnelle Schiffspassage zu den Goldfeldern, wie Sie. Das Angebot an Pferden und Wagen übersteigt die Nachfrage bei weitem. Die Zeltstadt da draußen wird Ihnen nicht entgangen sein.«

»Aber wenn wieder ein Schiff mit Auswanderern kommt«, wagte der Deutsche noch einen schwachen Versuch.

»Vielleicht kommt morgen eins«, erwiderte der Glatzkopf achselzuckend. »Vielleicht aber auch erst in einem Jahr oder später, was ich eher glaube. Wer aus der Alten Welt in die Neue auswandert, macht sich nicht gern die Mühe, nach der weiten Reise auch noch das Kap Horn zu umschiffen. Die meisten fahren nach New York. Und wer doch ums Kap Horn fährt, der geht lieber in Frisco an Land und bricht von dort zu den Goldfeldern auf. Daß diese Deutschen mit dem Schiff hierher gekommen sind, war schon ungewöhnlich genug. Sie müssen dem Kapitän oder dem Eigner einen stolzen Preis gezahlt haben, daß er eine so weite Strecke zurückgelegt hat.«

Jacob überlegte schwer und fragte zögernd: »Wenn das Angebot so groß und die Nachfrage so gering ist, weshalb wollen Sie mein Gespann überhaupt kaufen, Mr. Svenson?«

»Weil der Wagen ganz in Ordnung ist und die Pferde sogar sehr gut. Die werde ich schon los. Aber wenn sich die Sache für mich lohnen soll, kann ich Ihnen nicht mehr bieten, Mr. Adler. Ich muß die Pferde ja auch versorgen, bis ich sie verkaufen kann.«

»Das sehe ich ein«, nickte Jacob.

»Also gut, ich bin mit den zweihundertfünfzig Dollar einverstanden.«

Svenson holte das Geld und einen eilends aufgesetzten Kaufvertrag aus dem Haus, den der Deutsche unterschrieb. Dann erkundigte er sich nach der Möglichkeit einer Schiffspassage.

»Da brauchen Sie viel Geduld«, sagte Svenson und hielt den Kaufvertrag hoch. »Falls Sie es sich noch einmal überlegen und vielleicht lieber über Land nach Kalifornien wollen, bin ich gern bereit, das Papier zu zerreißen und unseren Geschäftsabschluß zu vergessen.«

»Ich habe eine Frau und ein kleines Kind dabei«, seufzte Jacob. »Hinter uns liegen bereits einige Strapazen. Ich glaube, mit dem Schiff geht es schneller und angenehmer.«

»Zweifellos - falls Sie ein Schiff finden. Wenn nicht, kommen Sie mit den zweihundertfünfzig Bucks zurück, und ich gebe Ihnen das Gespann wieder, abzüglich der Unterstell-und Futterkosten natürlich.«

»Das ist ein Wort«, sagte Jacob froh und bedankte sich bei dem freundlichen Mr. Svenson. »Haben Sie keinen Tip, wo ich wegen einer Schiffspassage nachfragen könnte, Sir?«

»Höchstens auf dem Schiff, das die Auswanderer gebracht hat. Es will ja weiter nach Frisco. Gehen Sie einfach zum Hafen und fragen Sie nach der ALBANY!«

ALBANY!

Der Name traf Jacob wie ein Schock. So hatte das Schiff geheißen, mit dem er, Irene und Martin Bauer nach Amerika gefahren waren.

Aber es mußte ein Zufall sein. Albany war eine bekannte Stadt im Staat New York. Es gab sicher viele Schiffe mit diesem Namen.

Trotzdem fragte er den Mietstallbesitzer:

»Ist die ALBANY ein Dreimaster, eine nicht mehr ganz taufrische Bark?«

»Ich interessiere mich mehr für Pferde und Wagen als für Schiffe. Die Masten habe ich nicht gezählt. Und was ist eine Bark?«

»Schon gut, vielen Dank«, winkte Jacob ab und verließ den großen Stall.

Er hatte es plötzlich sehr eilig, zum Hafen gekommen.

Mit klopfendem Herzen dachte er an das Schiff, das ihn von Hamburg in die Neue Welt gebracht hatte.

Und an den alten Seebären Piet Hansen, der Jacob und seinen Freunden während der langen, beschwerlichen Reise mehr als einmal beigestanden und ihnen sogar die englische Sprache beigebracht hatte. Er war ihnen mit der Zeit ein echter Freund geworden. Am Ende der Reise hatte er das Kommando über die ALBANY übernommen.

Wenn es tatsächlich diese ALBANY war, die im Hafen von Fogerty lag, durfte die Passage für Jacob und Irene kein Problem sein.

So dachte Jacob Adler.

Hätte er allerdings gewußt, was ihn erwartete, wäre er schnurstracks zum Mietstall zurückgekehrt und hätte von dem freundlichen Mr. Svenson Pferde und Wagen zurückverlangt.

*

Jefferson Kinley blickte den beiden Männern, die in den großen Empfangsraum traten, neugierig entgegen. Sofort witterte der erfahrene Hotelier ein Geschäft.

Nicht bei dem Graubart, der schon von weitem nach Tang und Salzwasser roch. Er kam mit ziemlicher Sicherheit von einem der Schiffe im Hafen, hatte dort Kajüte und Koje und wollte sich daher bestimmt nicht im Fogerty Grand Hotel einquartieren.

Aber der Mann in seiner Begleitung konnte ein lohnender Gast sein, falls er auf Zimmersuche war. Daß er in die übertrieben feinen Kleider nicht recht paßte, sah der Hotelier sofort. Es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil. Gerade die Neureichen, die Emporkömmlinge des Geldadels, Kinder der kalifornischen Goldfelder oder Gewinnler des Bürgerkriegs, ließen häufig besonders viel springen, um ihren Reichtum zu unterstreichen.

In der Hoffnung auf ein gutes Geschäft straffte Jefferson Kinley seinen krummen Rücken nach Möglichkeit und setzte das strahlendste Lächeln auf, zu dem er fähig war.

»Womit kann ich den Gentlemen dienen?«

»Mit einer Auskunft«, erwiderte Arnold Schelp schroff.

»Möchten Sie die Zimmerpreise wissen?«

»Nein, nur den Weg zu Zimmer Nummer 214. Wir werden dort erwartet.«

Die eben noch hochgezogenen Mundwinkel des Hoteliers fielen herunter. Aus dem Lächeln wurde unverhohlene Enttäuschung.

»Die Treppe rauf und im zweiten Stock einfach nach links, dann können Sie's nicht verfehlen«, beschied er ohne jeden weiteren Elan.

»Danke«, nickte Schelp knapp und ging mit dem Kapitän die Treppe hinauf.

Hansen fragte während des Aufstiegs:

»Ob V. Smith wohl die geheimnisvolle Dame ist oder ein Mann?«

»Ich hoffe, auch in Ihrem Interesse, daß Sie das wirklich nicht wissen, Käpten!«

Schelp sagte das im scharfen Ton und klopfte mit der Rechten gegen seine Seite, an die Stelle, wo der Derringer steckte. Den unvermeidlichen Stock hielt er in der Linken.

Hansen preßte die Lippen zusammen und zog die Stirn in Falten. Zum tausendstenmal fragte er sich, auf was er sich da eingelassen hatte.

Aber es war zu spät, um aus der Sache auszusteigen.

Seit die ALBANY mit ihrer ganz speziellen Fracht den Hamburger Hafen verlassen hatte, war er Arnold Schelp auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Vielleicht schon seit mehr als zwanzig Jahren. Seit jenem verhängnisvollen Orkan, der die HENRIETTA auf dem Ärmelkanal überfiel.

Schelp blieb vor der schweren Eichenholztür stehen, an der die vergoldeten Lettern >214< prangten, und schob Hansen vor.

»Sie klopfen an, Käpten!«

Es klang nicht nur wie ein Befehl - es war einer!

Hansen atmete tief durch und ließ seine Faust zweimal gegen die Tür schlagen.

Nach wenigen Sekunden fragte eine Männerstimme:

»Ja?«

Schelp nickte dem Kapitän aufmunternd zu.

»Meine Name ist Hansen«, sagte dieser. »Ich möchte V. Smith sprechen.«

»Wer sind Sie?«

»Der Kapitän der ALBANY.«

Kurzes Schweigen.

Dann erscholl wieder die fremde Stimme, die das Englische mit breitem Akzent sprach:

»Wir erwarten jemand anderen.«

Hansen sah Schelp an, und der nickte wieder.

»Mr. Schelp ist bei mir«, verkündete der Kapitän.

Ganz leise drangen Stimmen auf den Gang. Hinter der Eichentür unterhielten sich mehrere Menschen.

Die Stimmen wurden von schweren Schritten abgelöst. Ein Schlüssel drehte sich mit lautem Klacken im Schloß. Die Tür wurde aufgezogen, nur einen Spaltbreit. Ein Auge spähte durch die schmale Öffnung.

Und noch etwas lugte hindurch: der lange Lauf eines Revolvers, der direkt auf Hansens Bauch gerichtet war.

Der Kapitän fühlte sich immer unwohler, als er an den großen Revolver vor sich und den kleinen Derringer in seinem Rücken dachte.

Auf die kurze Entfernung war Schelps Taschenwaffe genauso tödlich wie die große Faustfeuerwaffe des Unbekannten hinter der Tür.

»Scheint in Ordnung zu sein«, sagte der Mann hinter der Tür laut.

Die Mitteilung war für den oder die anderen Menschen im Hotelzimmer bestimmt.

Die Tür wurde ganz aufgezogen.

Der Mann, dem Hansen gegenüberstand, war groß und wuchtig.

Auf den ersten Blick wirkte er auf den Kapitän wie ein alter Soldat, obwohl er Zivil trug: schwarze Hosen und einen hellen Rock, unter dem an der rechten Hüfte ein schwarzledernes Holster hervorlugte.

Diese verschließbare Revolvertasche nach militärischem Zuschnitt bestärkte Hansens Eindruck, es mit einem Soldaten zu tun zu haben. Ebenso die kerzengerade Haltung des Mannes, der entschlossene Ausdruck in dem von einem großen Schnurrbart mit nach oben gezwirbelten Enden verzierten Gesicht und die lässige Art, wie er den schweren Leach & Rigdon-Revolver hielt. Der Leach & Rigdon war unter den Südstaatlern verbreitet.

»Kommen Sie rein, beide!«

Der scharfe Ton machte aus der Einladung einen Befehl. Und auch der Revolver, der noch in der Faust des Mannes lag.

Der Bewaffnete verschloß die Tür wieder hinter den beiden Besuchern.

Diese stellten verwirrt fest, daß sie sich mit dem anderen allein in dem großen, luxuriös ausgestatteten Salon befanden. Mit wem hatte er eben gesprochen?

Die Antwort erschien in Gestalt zweier weiterer Personen, die hinter einem Vorhang hervortraten. Er verbarg den Durchgang zu einem großen Schlafzimmer. Ein Mann und eine Frau hatten sich dort versteckt gehalten.

Der zweite Mann war kleiner als der erste, was aber nicht so auffiel, da er bedeutend schmaler war, fast drahtig. Sofort erkannte man den Südländer. Die Haut war olivfarben, das Haupthaar sowie der gepflegte Oberlippen- und Kinnbart tiefschwarz.

Er trug keine sichtbare Waffe, aber die rechte Außentasche seines blauen Samtrocks war verdächtig stark ausgebeult. Und die rechte Hand schwebte immer in Höhe dieser Tasche.

Über die Frau ließ sich so gut wie gar nichts sagen. Es war die Dame in Schwarz, die den Jungen zur ALBANY geschickt hatte. Ihr langes Kleid war so schwarz wie der Hut mit dem undurchdringlichen Schleier, wie ihre Stiefeletten und ihre Handschuhe. Man sah nicht ein Stück Haut. Nur etwas Haar, einige Locken, die unter dem Hut hervorquollen. Sie waren so rot wie Schelps Haare.

»Er ist es«, stellte die Frau fest, nachdem sie den Deutschen in der Stutzerkleidung eingehend gemustert hatte. »Er entspricht haargenau der Beschreibung, die ich von Arnold Schelp habe.«

Jetzt erst steckte der Mann mit dem Schnurrbart die langläufige Waffe zurück ins Holster und sagte:

»Verzeihen Sie die Vorsicht, aber wir dürfen nichts riskieren. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Captain Abel McCord von der Armee der Konföderierten Staaten von Amerika.«

In seinen Worten schwang Stolz mit. Stolz auf seinen Rang und noch mehr auf die Armee, in der er diente.

Der Südländer wollte nicht zurückstehen. Er trat einen Schritt vor, verneigte sich leicht und sagte mit spanischem Akzent:

»Ich bin Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza, Sonderbevollmächtigter der mexikanischen Exilregierung.«

»Ich wußte gar nicht, daß Benito Juarez sich bereits im Exil befindet«, erwiderte Schelp.

Der Mexikaner musterte ihn genau, konnte aber nicht herausfinden, ob die Bemerkung des Deutschen ernst gemeint war.

Schließlich sagte er:

»Senor Schelp, ich spreche nicht von diesem indianischen Usurpator Juarez, sondern von der rechtmäßigen Regierung.

Juarez befindet sich noch in Mexiko.« Er senkte seine Stimme und verlieh ihr gleichzeitig einen verschwörerischen Beiklang. »Aber bestimmt nicht mehr lange!«

Schelp nickte wenig beeindruckt, verneigte sich vor der Frau und sagte:

»Sie müssen demnach Mrs. oder Miß V. Smith sein, Madam.«

»Mrs. Smith, ja.«

Ihre Stimme klang kalt, als sei vor langer Zeit jedes Gefühl in der Frau gestorben.

»Und wo ist Mr. Smith, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?«

»Ich trauere um ihn, Mr. Schelp. Ich habe erst vor kurzem erfahren, daß die Yankees ihn hingerichtet haben.«

»Mein Beileid«, sagte Schelp und versuchte, ehrlich betroffen zu klingen.

Obwohl Captain McCord seinen Revolver weggesteckt hatte und auch Schelp offenbar nicht mehr ans Schießen dachte, fühlte sich Hansen nicht wohler. Diese illustre Gesellschaft beunruhigte ihn. Zwei Deutsche, zwei Amerikaner und ein Mexikaner. Wo so viele Interessen aufeinanderstießen, mußte es einfach zu Reibungen kommen.

»Nehmen Sie Platz, Gentlemen«, sagte die Frau.

Ihre behandschuhte Rechte wies auf eine dick gepolsterte Sitzgruppe.

Die beiden Deutschen setzten sich auf eine Couch, Mrs. Smith und der Mexikaner in große Sessel.

Der konföderierte Offizier holte eine Flasche KentuckyWhiskey und füllte zwei Gläser, für sich und für Schelp. Alle anderen lehnten ab.

Auch Piet Hansen, der zwar in der Regel nie etwas gegen einen guten Schluck einzuwenden hatte, jetzt aber lieber einen klaren Kopf behalten wollte.

McCord angelte sich einen Stuhl, setzte sich zu den anderen und fragte, als er das schmale Glas hob:

»Dürfen wir auf einen erfolgreichen Abschluß des Unternehmens anstoßen, Mr. Schelp?«

Der Angesprochene hob ebenfalls sein Glas und lächelte.

»Aber ja doch, Captain McCord. Im Bauch der ALBANY lagert genau die Fracht, die Ihre Verbindungsleute in Deutschland bei mir bestellt haben. Die Reise nach Fogerty verlief dank Käpten Hansens nautischen Fähigkeiten reibungslos. Ich hoffe, das wird auch auf den Rest der Fahrt zutreffen!«

»Deshalb sind wir hier«, sagte McCord und deklamierte dann feierlich: »Auf den Süden!«

Er leerte sein Glas mit einem kräftigen Zug.

»Auf den Süden«, wiederholte Schelp, allerdings längst nicht so begeistert, und leerte ebenfalls sein Glas.

In Gedanken fügte er hinzu: Und auf die Golddollars in der konföderierten Kriegskasse!

McCord wandte sich an Piet Hansen und fragte: »Können Sie morgen nach Sonnenaufgang ablegen, Käpten?«

Der Seebär nickte.

»Ja, Captain. Frischwasser und frische Vorräte sind an Bord. Wir müssen nur noch durch Losentscheid die Passagierfrage klären.«

»Die Passagierfrage?« echote der Südstaatler. »Was heißt das?«

Hansen klärte ihn über das Problem auf.

»Wir dürfen gar keine Passagiere mitnehmen!« verlangte McCord. »Daß die ALBANY einige Auswanderer nach Fogerty gebracht hat, geschah nur zur Tarnung der Fahrt. Aber auf der weiteren Reise können wir keine Zeugen gebrauchen!«

»Das sagen Sie mal den Männern und Frauen da draußen, denen nichts auf der Welt so wichtig ist, wie möglichst schnell nach Kalifornien zu kommen«, brummte Hansen. »Die werden Sie auf der Stelle lynchen, Captain.«

»Und was werden die Leute machen, wenn wir sie an Bord nehmen, aber nicht San Francisco anlaufen?« fragte McCord.

»Wahrscheinlich werden sie meutern«, gab Hansen zu. »Wenn man sie nicht rechtzeitig in Schach hält. Wie auch immer, dann haben wir es nur mit etwa hundert Menschen zu tun. Hier in Fogerty sind es weit über tausend. Außerdem würde es den Verdacht von Captain Stout, der die hiesige Garnison kommandiert, erregen, wenn ich plötzlich verkünde, daß niemand von den Goldsuchern an Bord darf.«

»Ich stimme dem Käpten zu«, sagte Arnold Schelp. »Wir sollten uns möglichst unauffällig verhalten, bis wir auf See sind.«

»Das ist richtig«, sagte die Frau in einem Tonfall, der wie eine Entscheidung klang.

Der Offizier in Zivil und der Mexikaner ordneten sich ihr unter, was Schelp und Hansen mit einigem Erstaunen zur Kenntnis nahmen.

Wer war die Frau in Schwarz, daß ihr Wort solches Gewicht besaß?

Weder der Kapitän noch der zwielichtige Geschäftsmann glaubten, daß >Smith< ihr richtiger Name war.

»Daß wir nicht San Francisco anlaufen, habe ich mir schon gedacht«, sagte Schelp und beugte sich vor. »Aber welchen Hafen laufen wir an?«

»Gar keinen Hafen«, antwortete Abel McCord und zog ein großes, dickes Papier aus der Innentasche seines Rocks, um es auf dem gemaserten Holztisch zu entfalten.

Es war eine Landkarte, die den Westen und Südwesten Nordamerikas sowie Mexiko zeigte. Die Karte war zerknittert, mehrfach eingerissen und mit Flecken übersät, also häufig benutzt worden.

Zielsicher stieß der Captain einen Finger auf eine bestimmte Stelle der Karte und verkündete den beiden Deutschen:

»Gentlemen, hier liegt das Ziel unserer Reise!«

Neugierig blickten Hansen und Schelp auf die Landkarte.

»Im Golf von Kalifornien?« fragte Schelp schließlich mit gekräuselter Stirn. »Ich hatte gedacht, mit der Regierung der Konföderierten Staaten von Amerika ein Geschäft zu machen, nicht mit der von Mexiko.« Nach einem Seitenblick auf den Mexikaner fügte er hinzu: »Mit welcher mexikanischen Regierung auch immer.«

Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza straffte seinen drahtigen Körper und erklärte:

»Senores, seien Sie versichert, daß es bald nur noch eine mexikanische Regierung gibt. Und die wird eng mit den Konföderierten Staaten zusammenarbeiten. Sind Sie über die politische Lage in Mexiko unterrichtet?«

»Ich denke schon«, nickte Schelp.

Als Geschäftsmann mußte er wissen, was in der Welt vor sich ging. Politik und Wirtschaft waren zwei Beine ein und desselben Körpers.

Allerdings waren die Verhältnisse in Mexiko derzeit einigermaßen verworren: Im Jahre 1858 trat Benito Juarez, ein Mann mit Indioblut in den Adern, die Präsidentschaft an und entmachtete weitgehend das alte Feudalsystem der adligen Großgrundbesitzer. Er ließ sich vom Kongreß diktatorische Vollmachten übertragen und setzte die Rückzahlung aller Auslandsschulden aus.

Daraufhin sandten Frankreich, England und Spanien ein gemeinsames Expeditionskorps nach Mexiko, um Juarez zur Ordnung zu rufen. Schnell wurde jedoch klar, daß der außenpolitischen Abenteuern stets aufgeschlossen gegenüberstehende französische Kaiser Napoleon III. seine eigene Ziele verfolgte und eine neue Monarchie auf den Trümmern der zusammenstürzenden mexikanischen Republik errichten wollte. England und Spanien zogen deshalb ihre Truppen aus Mexiko zurück.

Napoleon aber verfolgte sein Ziel weiter, und seine Truppen rückten im Juni 1863 in Mexico City ein. Benito Juarez und seine Armee wurden immer weiter in den Nordwesten Mexikos abgedrängt.

Inzwischen war so gut wie sicher, daß Napoleon den Habsburger Fürsten Ferdinand Maximilian, jüngerer Bruder des österreichischen Kaisers Franz Joseph, mit Hilfe des mexikanischen Adels und der jesuitisch beherrschten Geistlichkeit zum Kaiser von Mexiko machen wollte. Schon im vergangenen Jahr war Maximilian nach der Einnahme von Mexico City dort zum Kaiser ausgerufen worden. Jetzt mußte der neue Kaiser nur noch in sein Reich kommen, um das hohe Amt anzutreten - falls die Juaristen es zuließen.

»Was ich Ihnen jetzt mitteile, ist streng vertraulich«, fuhr Don Emiliano fort. »Darf ich mich auf Ihr Stillschweigen verlassen?«

Die beiden Deutschen nickten.

»Maximilian wird bald in Mexiko eintreffen«, erklärte der Mann im blauen Rock. »Mit Unterstützung der französischen Truppen und der mexikanischen Armee wird er Juarez schlagen und das Land zu neuer Blüte führen.«

»Das ist sicher sehr schön für Sie«, erwiderte Schelp ein wenig gelangweilt. »Aber was hat das mit uns zu tun?«

»Präsident Lincoln unterstützt Juarez«, sagte Don Emiliano. »Lincoln befürchtet, wenn Mexiko erst einmal unter seinem neuen Kaiser erstarkt ist, wird es Texas zurückfordern.«

»Dabei wollen wir es gar nicht hergeben«, meinte Abel McCord. »Weder an die Yankees noch an die Mexikaner.«

»Selbstverständlich soll Texas weiterhin zu den Konföderierten Staaten von Amerika gehören«, versetzte Don Emiliano rasch. »Aber wir befürchten, Lincolns Regierung wird sich nicht mit unserer Absichtserklärung zufriedengeben. Unsere Informanten melden Vorbereitungen der Union für eine Eroberung von Texas.«

»Ich verstehe«, lächelte Schelp.

»Wenn Lincolns Truppen an der Grenze zu Mexiko stehen, könnte das zu einer Stärkung von Benito Juarez führen. Die Monroe-Doktrin, nicht wahr, Don Emiliano?«

Der Mexikaner nickte säuerlich.

»Si, Senor Schelp. Die Monroe-Doktrin, auf die sich die Union beruft, lehnt jedweden äußeren Einfluß auf den gesamten amerikanischen Kontinent ab. Sie könnte ein Vorwand für Lincoln sein, seine Truppen zur Unterstützung von Juarez über den Rio Grande del Norte zu schicken.«

»Um das zu verhindern, unterstützen Sie wiederum die Konföderierten«, entwirrte Schelp das politische Geflecht.

»Si«, sagte der Mexikaner wieder, sichtlich erfreut darüber, daß der Deutsche die Sache verstand.

»Und wie geschieht das?« fragte Schelp.

Nicht der Mexikaner antwortete, sondern die Frau in Schwarz:

»Wir benötigen Ihre Lieferung zur Verteidigung von Texas. Allerdings wird es immer schwieriger, Hilfsgüter ins Land zu bringen. Der Norden hat in jüngster Zeit leider eine Menge strategisch bedeutsamer Siege errungen. Texas verfügt über keinen offenen Hafen mehr. Ein Teil der Küste wird von den Yankees besetzt gehalten. Der Rest wird von ihrer Marine blockiert. Deshalb gehen wir über Land.«

Das schwarze Leder ihres behandschuhten Fingers wanderte auf der Landkarte in Ost-West-Richtung durch den Norden Mexikos, über den Rio Grande nach Texas hinein.

»Diesen Weg«, erklärte sie. »Die ALBANY wird eine bestimmte Bucht südlich von Guaymas anlaufen. Dort warten ausreichend Wagen und eine bewaffnete Eskorte auf die Lieferung, die Captain McCord und ich nach Texas begleiten werden.«

»Kein ungefährlicher Weg«, befand Schelp und gesellte seinen Zeigefinger zu dem der Frau. »Ich denke, Juarez sitzt hier im Norden Mexikos!« »Lassen Sie das unsere Sorge sein, Senor Schelp«, warf sich Don Emiliano in die Brust. »Die kaisertreuen Truppen werden diesen größenwahnsinnigen Indio schon im Zaum halten. Vielleicht gibt es gar keinen Juarez mehr, wenn die ALBANY die Küste von Sonora erreicht.«

Schelp zuckte mit den Schultern.

»Wie auch immer, mein Problem ist es nicht. Ich werde bei Lieferung bezahlt, nicht wahr?«

Nur kurz blickte er Captain McCord an. Dann verweilte sein Blick auf dem verschleierten Gesicht der Frau. Er spürte, daß sie dem Offizier befahl, wenn Schelp auch die Zusammenhänge nicht verstand.

»Natürlich, Mr. Schelp«, versicherte sie. »So wie besprochen.«

»Es war auch besprochen, daß ich bei der Kontaktaufnahme mit dem Verbindungsmann eine Anzahlung in Höhe von zwanzig Prozent erhalten soll.«

»Es war uns leider nicht möglich, die Summe mitzubringen«, erklärte die Frau, ohne daß ihr ausgesprochenes Bedauern in ihrem Tonfall widerhallte. »Wir hatten mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen, was Sie an unserer verspäteten Ankunft erkennen können. Eine so bedeutsame Summe mitten durchs Yankee-Gebiet zu transportieren, wäre nicht ratsam gewesen.«

»Aber unsere Abmachung!«

»Sie bekommen Ihr Geld, Mr. Schelp, sobald wir im Golf von Kalifornien vor Anker gehen. Dafür verbürge ich mich.«

»Sie persönlich, Mrs. Smith!«

»Ja, ich persönlich.«

Ihre Stimme klang so unbeteiligt wie die ganze Zeit schon. Sie ließ nicht erkennen, ob die verschleierte Frau die ätzende Ironie vernommen hatte, die in Schelps Worten lag.

»Also gut«, knurrte der Geschäftsmann. »Ich werde mich an Sie halten, Madam!«

Das klang drohend.

Abel McCord warf dem Deutschen einen zornigen Blick zu und wollte etwas erwidern.

Doch die Frau kam ihm zuvor und legte eine Hand auf den Arm des Captains, der sich mühsam zur Ruhe zwang.

»Dann ist ja alles geregelt«, sagte die Frau. »Captain Smith, Don Emiliano und ich kommen morgen früh an Bord der ALBANY. Bereiten Sie für uns Kajüten vor, Käpten Hansen!«

Auch dies klang wie ein Befehl.

Hansen, wenig erfreut von der ganzen Geschichte und ihrer Entwicklung, brummte etwas Unverständliches.

Als die beiden Deutschen die Treppe zur Hotelhalle hinuntergingen, fragte Schelp:

»Was ist los mit Ihnen, Käpten? Sie machen ein Gesicht, als hätten Sie gerade den Klabautermann gesehen.«

»So ähnlich ist mir zumute. Die ganze Geschichte wird mir allmählich zu kompliziert und unübersichtlich. Weshalb, zum Beispiel, müssen wir erst hier raufschippern, wenn es jetzt wieder die Küste hinunter und dann in den Golf von Kalifornien geht?«

»Ein Täuschungsmanöver für die Yankees, Käpten. Deren Blockade richtet sich hauptsächlich gegen Schiffe, die aus Europa kommen. Aber ein Schiff, das aus dem Pazifik in Richtung Kalifornien fährt, ist so unverdächtig wie nur irgend etwas.«

»Bis sich herausstellt, daß dieses Schiff gar nicht Kalifornien anläuft, sondern Mexiko«, meinte Hansen düster.

»Wenn sich das herausstellt, sind wir längst am Ziel. Außerdem werden es die Yankees nicht einmal bemerken. Sie sind zu sehr mit den Blockadebrechern im Atlantik beschäftigt.«

»Ihr Wort in Neptuns Ohr, Schelp«, brummte Hansen. »Aber mein Seemannsinstinkt sagt mir, daß nicht alles so glatt verlaufen wird, wie wir es uns wünschen!«

Piet Hansen ahnte nicht, daß er gerade in diesem Moment auf die erste Komplikation zusteuerte.

*

Es war die ALBANY!

Mit vor Staunen offenem Mund stand Jacob Adler am Hafen und betrachtete die Bark, die ihm so vertraut war wie kein anderes Schiff auf dieser Welt. Das Schiff, das ihn nach Amerika gebracht hatte. Auf dem er Irene kennengelernt hatte. Vergebens sann er darüber nach, was den Dreimaster ausgerechnet ins verschlafene Fogerty getrieben haben mochte. Aber er würde es sicher bald erfahren - vom Kapitän persönlich!

Frohen Mutes steuerte er auf den Ankerplatz der ALBANY zu, als sich die Musketen des Corporals William Backleton und des gemeinen Soldaten Fred Hickel vor ihm kreuzten.

»Halt!« schnarrte der Corporal. »Keinen Schritt weiter, Mann! Was wollen Sie hier?«

»Ich möchte an Bord dieses Schiffes«, antwortete der Deutsche und zeigte auf die ALBANY.

»Das möchten viele«, meckerte Backleton. »Aus welchem Grund möchten Sie an Bord?« »Ich will eine Passage nach Kalifornien buchen.« »Das möchten auch viele. Deshalb stehen wir hier.« Jetzt zeigte der Corporal mit dem Daumen in Richtung der ALBANY. »Wenn Sie auf diesem Schiff nach Frisco fahren wollen, Mister, müssen Sie am Losverfahren teilnehmen.« »Wie läuft das ab?«

»Keine Ahnung. Erkundigen Sie sich auf der Kommandantur.« Zögernd sagte Jacob:

»Aber ich kenne den Kapitän der ALBANY!«

Corporal Backleton grinste und blickte seinen Kameraden an.

»Den Trick hatten wir noch nicht, was, Fred?«

Hickel schüttelte den Kopf.

»No, ich glaube nicht.«

»Das ist kein Trick«, verteidigte sich Jacob. »Lassen Sie den Kapitän rufen, dann wird sich alles aufklären!«

»Das geht leider nicht«, erwiderte der Corporal. »Der Kapitän ist vor einer halben Stunde in die Stadt gegangen?«

»Piet Hansen?« fragte der Deutsche.

»Ich weiß nicht, wie er heißt«, antwortete der Corporal im gleichgültigen Tonfall.

Jacob beschrieb den alten Freund.

Backleton nickte.

»Yeah, genau so sieht der Kapitän dieses Kahns aus.«

Wieder wurde Jacob von der freudigen Erregung ergriffen, die ihn schon zweimal am heutigen Nachmittag überfallen hatte. Erst in Svensons Mietstall, als der Kahlkopf die ALBANY erwähnte. Und dann eben beim Anblick des Schiffes.

Er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen und überlegte hin und her, was er tun sollte. Hier auf Hansen warten, damit er ihn bloß nicht verpaßte?

Aber dann konnte es spät in der Nacht werden. Jacob wußte, daß der alte Seebär einem ordentlichen Schluck nicht abgeneigt war.

Jacob beschloß, ins Hotel zu gehen. Er mußte die gute Neuigkeit so schnell wie möglich Irene mitteilen. Zur ALBANY und damit zu Hansen konnte er jederzeit zurückkehren.

Jacob war so sehr damit beschäftigt, sich Irenes Reaktion auf seine Nachricht auszumalen, daß er kaum auf die Umgebung achtete. Je näher er dem Grand Hotel kam, desto aufgeregter wurde er.

Deshalb bemerkte er die beiden Männer nicht, die aus der Hoteltür traten, durch die er gerade stürmen wollte.

Er prallte mit einem von ihnen zusammen und stand dann zum zweitenmal innerhalb einer Stunde mit offenem Mund da.

Der Mann, mit dem er kollidiert war, blickte nicht minder überrascht.

Die Augen in dem zerfurchten, von einem grauschwarzen Bart bedeckten Gesicht waren weit aufgerissen, als sie Jacob musterten.

»Jacob Adler!« rief der Seemann schließlich erfreut aus.

»Piet Hansen!«

Er war es ohne Zweifel, wenn auch der Bart nicht mehr ganz so üppig wucherte wie zu der Zeit, als Hansen noch Zweiter Steuermann auf der ALBANY gewesen war. Dafür waren Bart und Haupthaar stärker ergraut, als Jacob es erinnerte.

So, als läge viel mehr als ein knappes Jahr zwischen ihrem Abschied in New York City.

Oder so, als würde der neue Kapitän der ALBANY von schweren Sorgen geplagt.

Das Aufleuchten ins Hansens Augen war nur von kurzer Dauer. Die Freude, die sein Gesicht zeichnete, klang überraschend schnell ab.

»Wir müssen unbedingt einen Schluck zusammen trinken«, sagte Jacob. »Irene ist übrigens auch hier, mit ihrem kleinen Sohn. Wir wollen zu Carl Dilger, der in Kalifornien sein soll. Daß die ALBANY nach San Francisco ausläuft, kommt uns wie gerufen.«

Das Räuspern des dritten Mannes machte Jacob erst bewußt, daß er nicht allein mit dem Seemann war.

Hansens Miene verfinsterte sich noch mehr, als Arnold Schelp sich erkundigte, wer der junge Mann sei.

»Ein Auswanderer, der auf der ALBANY nach Amerika gefahren ist, als ich noch Steuermann auf dem Kahn war«, antwortete Hansen und sagte dann zu Jacob: »Und das ist Arnold Schelp aus Hamburg, dessen Fracht ich nach Frisco bringe.«

»Was ist das denn für eine Fracht?« wollte Jacob wissen.

»Bergbaumaschinen«, sagte Schelp schnell, ehe Hansen antworten konnte. »Die Goldsucher benötigen sie für ihre Minen.«

»Dann sind die Maschinen für Sie so viel wert wie pures Gold, Herr Schelp«, meinte Jacob.

Der Rothaarige lachte trocken.

»Das haben Sie wohl recht, Herr Adler. Hier kann ich zehnmal soviel dafür verlangen wie drüben in Deutschland. -Im Augenblick sind wir in Eile. Wollen wir uns nicht heute abend zum Essen im Hotel treffen?«

»Ja«, sagte Jacob verwirrt.

Er hatte sich das Wiedersehen mit Piet Hansen etwas anders vorgestellt.

»Gut, dann so gegen sieben Uhr«, meinte Schelp und ging mit Hansen weiter.

Jacob stand in der offenen Tür und starrte ihnen lange nach.

Dies schien ein Tag der Überraschungen zu sein.

*

Jamie war in guten Händen, als Jacob und Irene abends ins Hotelrestaurant gingen, um sich mit Piet Hansen und dem seltsamen Herrn Schelp zu treffen. Lorna Kinley, die vierzehnjährige Nichte des Hoteliers, die als Zimmermädchen im Grand Hotel arbeitete, hatte einen Narren an dem kleinen Jungen gefressen; sie war geradezu versessen darauf, auf ihn aufzupassen.

Als die beiden Auswanderer den schmalen Gang von der Empfangshalle zum Restaurant durchquerten, bemerkte die Frau:

»Ich bin schon sehr gespannt auf das Wiedersehen mit dem alten Piet. Er hat uns damals sehr geholfen. Ohne ihn hätten wir nicht einmal englisch gesprochen.«

»Seemannsenglisch«, grinste Jacob bei dem Gedanken an die vielen nautischen Flüche, die in Hansens Sprachunterricht eingeflossen waren.

Schnell wurde er wieder ernst und sagte:

»Piet hat sich sehr verändert, Irene, du wirst schon sehen. Erst hatte ich den Eindruck, er freut sich ebenso wie ich über unser Zusammentreffen. Aber ich habe mich wohl getäuscht. Erwirkte sehr distanziert.«

»Vielleicht war er einfach nur zu überrascht, um seine Freude richtig zeigen zu können.«

»Mag sein«, brummte Jacob ohne Überzeugung.

Hansen und Schelp saßen bereits an einem von Kerzen erleuchteten Tisch. Schelp winkte die beiden heran, während der Seemann ihnen eher kühl entgegenblickte.

Doch dann eröffnete Hansen ihnen, sie könnten selbstverständlich auf der ALBANY nach San Francisco mitfahren, sogar als Kajütenpassagiere.

»Ich weiß nicht, ob wir uns das leisten können«, meinte Jacob zweifelnd. »Ich habe zwar heute unseren Wagen und die Pferde verkauft, aber Kalifornien ist bestimmt nicht billig, wo jeder dort Gold zu finden scheint.«

»Natürlich ist die Reise für euch kostenlos«, sagte Hansen. »Ihr habt so viel für mich getan, daß ich mich freue, mich bei euch revanchieren zu können.«

»Das ist sehr lieb von Ihnen, Piet«, lächelte Irene. »Aber wir können auch auf dem Zwischendeck reisen. Schließlich sind wir daran gewöhnt. Und von Fogerty nach San Francisco ist es gewiß nicht so anstrengend wie von Hamburg nach New York.«

»Als Zwischendeckpassagiere kann ich euch gar nicht mitnehmen«, erwiderte der Kapitän zu Jacobs und Irenes Überraschung.

»Warum nicht?« fragte Irene.

»Weil die Plätze heute abend ausgelost werden. Wenn ich jemanden ins Zwischendeck lasse, der nicht am Losverfahren teilgenommen hat, riskiere ich Mord und Totschlag. Die Zurückbleibenden würden die ALBANY stürmen, sobald sie davon erfahren. Und so voll, wie Fogerty derzeit ist, würden sie bestimmt davon erfahren.«

»Ich verstehe es trotzdem nicht«, schüttelte Irene ihren blonden Lockenkopf. »Als Kajütenpassagiere machen wir Ihnen keinen Ärger?«

»Nein«, bestätigte Hansen. »Die Kajütenplätze sind nicht für das Losverfahren ausgeschrieben. Ich werde sagen, ihr seid gut zahlende Passagiere.«

»Uns soll es recht sein«, nickte Jacob.

Aber dann verdüsterte sich seine Miene. Er dachte an das Zusammentreffen mit der Witwe O'Faolain.

»Allerdings ist da ein Problem«, sagte er zögernd und berichtete von dem Versprechen, das er der Irin gegeben hatte.

»Eine Frau, zwei Männer und ein kleines Kind?« meinte Hansen zweifelnd. »Nicht gerade aus dem besten Stall? Ich weiß nicht, ob ich die auch noch als gut zahlende Kajütenpassagiere ausgeben kann.« Er schüttelte den ergrauten Kopf. »Nein, wirklich nicht.«

»Schade«, sagte Jacob mit ehrlicher Trauer. »Ich hätte mich sehr gefreut, wenn es geklappt hätte. Ich habe noch nicht viele Iren getroffen, die so nett waren wie die Witwe O'Faolain.«

»Natürlich kommen Ihre Freunde mit, Mr. Adler«, sagte Arnold Schelp in einem Ton, als gehöre ihm das Schiff. »Das wäre ja noch schöner, wenn Sie die hier zurücklassen müßten. Sie und Miß Sommer müssen halt ein wenig in der Kajüte zusammenrücken.«

»Das tun wir gern«, atmete Jacob erleichtert auf.

»Außerdem sind wir an Enge gewöhnt«, fügte Irene hinzu.

Sie dachte an das überfüllte Zwischendeck der ALBANY auf der Fahrt nach New York und an die vielen Nächte, die sie und Jamie im Planwagen verbracht hatten, eingeklemmt zwischen Hausrat, Werkzeug und Proviant.

»Das heißt, falls Sie einverstanden sind, Piet«, sagte Jacob und warf dem Kapitän einen fragenden Blick zu.

Gerade noch rechtzeitig war ihm aufgegangen, daß er, Irene und Schelp dabei waren, die Entscheidung über Hansens Kopf hinweg zu treffen. Über ein Schiff zu bestimmen, ohne den Kapitän vorher zu fragen, war nicht nur eine Art Sakrileg, sondern auch blanker Unsinn. Der Kapitän hatte stets das letzte Wort.

Während Jacob den alten Seebären gespannt beobachtete, fiel ihm auf, daß dieser wiederum einen fragenden Blick zu Schelp warf, bevor er sich mit der Regelung einverstanden erklärte. Ganz so, als habe der auffällig gut gekleidete Geschäftsmann auf der ALBANY mehr zu sagen als der Kapitän.

Nachdem Hansen und Schelp sich verabschiedet hatten, sprach Jacob mit Irene über das ihm merkwürdig erscheinende Verhältnis zwischen den beiden Männern.

»Ja, irgendwie hat sich der alte Piet seltsam benommen«, gab Irene zu. »Er wirkte so zerrissen.«

»Zerrissen?«

Irene nickte.

»Fast so, als sagte er nicht, was er eigentlich dachte. Als hätte er es lieber gesehen, uns nicht mit nach San Francisco zu nehmen.«

»Vielleicht klärt sich alles auf, wenn wir an Bord sind«, meinte Jacob.

Er sollte recht behalten.

Aber er ahnte nicht, auf welch dramatische Weise die Aufklärung erfolgen sollte.

*

»Mußte das sein, Schelp?« brummte Hansen unwillig, als er mit seinem Begleiter zurück zum Hafen ging.

Sie durchquerten den dunklen, unbelebten Bereich der Lagerhäuser, die zwischen den Kais und der eigentlichen Stadt lagen. Es roch stark nach Fisch und Teer.

Der Seemann hatte seine alte klobige Pfeife entzündet. Zum Teil waren die Gassen zwischen den hohen Lagerhauswänden so eng, daß sie das Licht der nächtlichen Gestirne fast ganz aussperrten. Das Glimmen von Hansens Pfeife war dann die einzige Lichtquelle.

»Was meinen Sie, Käpten?« spielte Arnold Schelp den Unwissenden.

»Ich meine, daß ich es für keine gute Idee halte, uns jede Menge Kajütenpassagiere aufzuhalsen. Die Leute, die wir durch das Losverfahren aufs Zwischendeck bekommen, sind schon zuviel. Warum sollen wir uns mehr Schwierigkeiten machen als nötig?«

Das war nicht die ganze Wahrheit. Hansen machte sich Sorgen um Jacob und Irene. Das Spiel, auf das er sich eingelassen hatte, war nicht ungefährlich. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, die Freunde zu gefährden.

»Sie irren sich, Käpten«, erwiderte Schelp. »Gefährlich wäre es gewesen, Ihre Freunde nicht an Bord zu nehmen. Dieser Adler und das Mädchen hätten sich ganz schön über ihren alten Freund Piet Hansen gewundert, und das zu Recht. Wer sich wundert, stellt unbequeme Fragen. Fragen, die uns hätten verraten können. Glauben Sie mir, so ist es besser.«

»Was ist besser?« fragte eine scharfe Stimme aus der Dunkelheit. »Mit was für Karten spielen Sie beide?«

Hansen und Schelp blieben abrupt stehen. Am Ende einer Gasse, die auf einen schmutzigen, von Unrat bedeckten Hinterhof führte.

Hätte sie nicht schon die unerwartete Stimme zum Anhalten veranlaßt, so bestimmt das metallische Geräusch, das in der Stille der Nacht noch lauter und damit bedrohlicher als gewöhnlich klang. Jemand hatte den Hahn einer Schußwaffe zurückgezogen.

Es war ein langläufiger Revolver. Ein Leach & Rigdon. Eine Konföderiertenwaffe.

Die Konföderiertenwaffe, in deren bedrohliches Mündungsloch Hansen und Schelp heute schon einmal geblickt hatten, im Grand Hotel.

Auf dem kleinen Hof war es etwas heller als in den dunklen Gassen. Schwaches Licht fiel auf die große, wuchtige Gestalt von Captain Abel McCord.

Der Südstaatler trat aus einer anderen Gasse, die ebenfalls auf den Hof mündete. Er ging langsam, jeden Schritt abwägend, um die Deutschen keine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Er trug dieselbe Kleidung wie am Nachmittag und dazu einen hellen Hut, dessen Krempe an einer Seite hochgezogen und nach innen geklappt war. Das dunkle Hutband war mit goldenen Knöpfen verziert.

»McCord!« stieß Schelp verblüfft hervor, während Hansen nur nervös auf dem Stil seiner Pfeife herumkaute. »Wie kommen Sie hierher?«

»Ein taktisches Manöver«, antwortete der Captain mit unbewegtem Gesicht.

Die Stimme klang ruhig.

Nur das Zittern der nach oben gezwirbelten Schnurrbartenden verriet seine starke Erregung.

»Ich bin Ihnen vom Hotel gefolgt und habe Ihnen den Weg abgeschnitten.«

Schelp legte die schmale Stirn in Falten.

»Warum denn bloß?«

»Weil ich wissen möchte, auf welcher Seite Sie wirklich stehen.«

McCord blieb stehen, etwa zwei Schritte vor den anderen. Der Leach & Rigdon mit dem gespannten Hahn lag ruhig in seiner kräftigen Faust.

»Wer sind der Mann und die Frau, mit denen Sie zu Abend gegessen haben?«

McCords Frage löste zur Verwunderung des Offiziers und auch des Seemanns Erheiterung bei Arnold Schelp aus. Er lachte laut und schob seinen Zylinder mit dem silbernen Stockknauf in den Nacken.

»Deshalb sind Sie verunsichert, Captain?« Schelp schüttelte ungläubig den Kopf. »Das waren nur alte Freunde von Kapitän Hansen. Sie kommen mit, wenn die ALBANY morgen ablegt.«

»Alte Freunde?« knurrte ein zutiefst skeptischer Captain McCord. »Oder Agenten der Yankees?«

»Sie arbeiten nicht für Lincoln«, entgegnete Schelp. »Es sind deutsche Auswanderer. Käpten Hansen wird es Ihnen bestätigen, McCord.«

»Ja, es stimmt«, brummte der Seemann undeutlich und nahm dann erst den Pfeifenstiel aus dem Mund.

Er berichtete dem Südstaatler, wie er Jacob und Irene kennengelernt und wie er die beiden hier zufällig wiedergetroffen hatte.

Während Hansen sprach, spielte Schelp in der Art eines gelangweilten Stutzers mit seinem Angeber-Stöckchen herum und näherte sich dabei unmerklich dem Offizier der Konföderierten.

»Ein ziemlich großer Zufall«, befand McCord skeptisch, als Hansen seinen kurzen Bericht beendet hatte. »Eigentlich nicht die Art von Zufällen, die mir gefallen.«

»Das ist auch nicht nötig, Captain!«

Als Arnold Schelp dies hervorstieß, war er bereits mit einem Satz zu McCord gesprungen und hatte ihm mit dem schweren Stockknauf den Revolver aus der Hand geschlagen.

Die Waffe schlug auf dem Boden auf. Eine Stichflamme schoß aus der Mündung, als sich der Schuß löste.

Ein dumpfes Klatschen folgte. Das heiße Blei war in eine der hölzernen Wände eingeschlagen.

Arnold Schelp zeigte eine Schnelligkeit und Geschmeidigkeit, die man dem groben Mann auf den ersten und auch auf den zweiten Blick nicht so einfach zugetraut hätte.

Die Hand mit dem Stock war ständig in Bewegung. Nach dem Schlag auf McCords Hand stieß der Knauf unter sein Kinn und traf schmerzhaft den Kehlkopf.

Der Südstaatler würgte, als er für Sekunden keine Luft bekam. Seine Augen traten groß hervor.

Zeit genug für Schelp, einen dritten und einen vierten Schlag zu landen.

Der dritte traf McCord in den Magen. Er knickte zusammen wie ein Klappmesser und ging vor Schelp in die Knie.

Der vierte Schlag, den Schelp mit voller Wucht über McCords Kopf zog, riß den Hut hinunter.

Der Südstaatler stöhnte gequält auf und ging vollends zu Boden. Sein Gesicht fiel vor Schelps spitzen Schuhen in den Dreck.

Der Mann mit dem kleinen, gefährlichen Stock bückte sich schnell, hob den Revolver auf, richtete ihn auf McCord und zog den Hahn zurück.

Als er das Klicken hörte, hob der Südstaatler den Kopf und sah zu dem Deutschen auf.

»Also. sind Sie. doch. Verräter.«, keuchte er, noch immer um Atem ringend.

»Nein, keineswegs«, erwiderte Schelp gelassen. »Ich mag es nur nicht, wenn man mich mit der Waffe bedroht. Deshalb wollte ich Ihnen demonstrieren, wie man sich dabei fühlt, Captain.«

Schelp hatte kaum ausgesprochen, als er hinter sich ein würgendes Geräusch hörte.

Gleichzeitig sagte eine Stimme, die von einem starken Akzent geprägt war: »Diese Demonstration ist Ihnen vollauf gelungen, Senor Schelp. Aber jetzt muß ich Sie bitten, den Hahn von Captain McCords Waffe ganz langsam zurückgleiten zu lassen und den Revolver an seinen Eigentümer zurückzugeben.«

Hansen hatte das Würgen von sich gegeben, als der Sprecher seinen linken Arm um die Kehle des Kapitäns schlang.

Der Sprecher war Don Emiliano Maria Hidalgo de Tardonza. In seiner Rechten hielt er, was am Nachmittag seine Rocktasche so verdächtig ausgebeult hatte: ein französischer LeMat-Revolver. Die Mündung war gegen Hansens Stirn gepreßt.

Kalter Schweiß stand auf dieser Stirn. Die Pfeife rutschte zwischen den Lippen des Seemanns heraus und fiel zu Boden.

Er war bestimmt kein Feigling. In seinem Seefahrerleben hatte er dem Tod viele Male ins Gesicht gespuckt. Aber dies hier war anders.

Auch wenn die Naturgewalten auf See manchmal unberechenbar schienen, seine große Erfahrung ließ ihn so gut wie niemals hilflos werden. Er wußte, was er zu tun hatte. Welche Kommandos er geben mußte. Welche Segel gesetzt, gerefft oder eingeholt werden mußten. Wie er die ALBANY in den Wind zu legen hatte, um die Kraft des Sturms auszunutzen, statt von ihr bedroht zu werden.

Hier aber spürte Piet Hansen nicht die glitschigen, schwankenden und doch so vertrauten Planken unter seinen Füßen. Gerade der feste Boden, auf dem er stand, war für ihn fremdes, bedrohliches Terrain.

Mehr noch die Geschichte, auf die er sich eingelassen hatte.

Der brutale Schelp mit seinem tückischen kleinen Stock.

Captain McCord, der noch im Schmutz lag.

Und der Mexikaner, der Hansens Leben mit einer Fingerbewegung auslöschen konnte.

Auf Naturgewalten konnte man reagieren, weil man sie trotz aller Unwägbarkeiten berechnen konnte. Menschen aber waren unberechenbar.

Und das trieb den Schweiß auf Piet Hansens Stirn.

»Sie jagen mir keine Angst ein, Don Emiliano«, sagte Schelp kalt. »Aber ich wollte sowieso gerade tun, was Sie sagen.«

»Dann tun Sie es!« Don Emiliano klang jetzt gar nicht mehr so höflich und zuvorkommend wie sonst. Alles Ölige war aus seiner Stimme verschwunden. Der Akzent verstärkte noch die Schärfe seiner Worte. »Schnell!«

Schelp gab den Revolver an McCord zurück.

Daraufhin ließ der Mexikaner Hansen los, behielt den LeMat aber weiterhin in der Hand.

Ächzend und leise fluchend, stand der Südstaatler auf. Unschlüssig hielt er die Waffe in der Rechten und warf Schelp tödliche Blicke zu.

»Was hindert mich eigentlich, Sie niederzuschießen, Mister?« fragte McCord grimmig.

»Vielleicht die Tatsache, daß die Ladung an Bord der ALBANY für Sie dann unerreichbar wäre«, grinste der Mann mit dem Stock selbstbewußt. »Sie wird nämlich von ein paar Männern bewacht, die nur von mir Befehle entgegennehmen.«

»Sie haben an alles gedacht, wie?« knurrte der Südstaatler unwillig.

»Ich hoffe doch.«

McCord brummte etwas Unverständliches, steckte den Leach & Rigdon zurück ins Holster und bückte sich nach seinem Hut. Er setzte ihn auf und blickte dann den Mexikaner finster an.

»Sie waren doch die ganze Zeit in der Nähe. Warum haben Sie nicht eher eingegriffen, Don Emiliano?«

Der Mexikaner lächelte mit aller falschen Liebenswürdigkeit, zu der er fähig war.

»Es war ein sehr interessanter Kampf, Senor Capitän McCord. Ich wollte sehen, wie er sich entwickelt.«

Unter was für Menschen bin ich geraten? fragte sich Piet Hansen insgeheim.

Ein kalter Schauer lief über seinen Rücken.

*

»Sie haben die beiden gehen lassen, einfach so?« fragte die Frau in Schwarz.

»Si, Senora«, nickte der Mexikaner beflissen. »Was Senor Schelp erzählte, erschien uns glaubwürdig.«

Schweigen erfüllte das luxuriöse große Zimmer im Fogerty Grand Hotel. Wie zwei Schuljungen, die von ihrem Lehrer auf Herz und Nieren abgeklopft wurden, standen Don Emiliano und Captain McCord vor der Frau im schwarzen Kleid.

Schwach fiel das Licht der Main Street durch die zugezogenen Vorhänge, verblaßte aber gegen das Leuchten des kristallenen Lüsters, das die Gesichter der Menschen erhellte. Zumindest zwei Gesichter. Das Gesicht der Frau war immer noch - oder schon wieder - durch den dunklen Schleier verborgen.

Keine zwanzig Minuten waren seit der Begegnung bei den Lagerhäusern vergangen. Fast unverzüglich waren die beiden Männer zu ihrer Begleiterin gegangen, um Bericht zu erstatten.

Der Südstaatler hatte nur zwei, drei Minuten benötigt, um sein ramponiertes Äußeres einigermaßen wiederherzurichten.

Ganz war es ihm nicht gelungen. Schmutzflecke an seiner Kleidung und eine bläuliche Hautverfärbung unter dem Kinn bewiesen es.

Und er spürte noch die Schmerzen. In seinem Kopf, in seiner Kehle und in seinem Magen.

Am schlimmsten aber war die Demütigung, die der stolze Captain der Konföderierten Armee erlitten hatte, als er vor dem deutschen Geschäftemacher im Dreck lag. Am liebsten hätte der diesem Kriegsgewinnler eine Kugel durch den Kopf gejagt, als er seinen Revolver wiederhatte.

Aber er hatte sich bezwungen, weil er Schelp brauchte. Er und der ganze Süden waren auf Männer wie ihn angewiesen -leider. Männer, die am Kampf des Südens um seine Unabhängigkeit verdienten. Die dem Süden aber auch das lieferten, was er benötigte, um seinen Kampf fortzusetzen.

McCord hielt sich zurück, aber er vergaß und verzieh nicht. Er würde an die Demütigung durch Schelp denken, wenn er diesen Dutch nicht mehr benötigte.

»Und wenn es doch eine Falle ist?« fragte die Frau.

Sie saß fast reglos in einem Sessel. Wie eine große, mit dunklen Tüchern verhüllte Puppe.

Wieder verriet ihre kühle Stimme keinerlei Gefühl und schon gar nicht das Ausmaß ihres Zweifels.

»Das glaube ich nicht«, antwortete McCord. »Wir sind schließlich mit an Bord und haben dann alles unter Kontrolle.«

»Oder Schelp hat uns unter Kontrolle«, blieb die Frau skeptisch. »Vielleicht will er nur herausfinden, wo genau an der mexikanischen Küste unser Anlaufpunkt ist.«

»Und dann kommt die Yankee-Marine und läßt die Falle zuschnappen?« fragte McCord mit aufgerissenen Augen.

»Ja, Abel«, seufzte die Frau und ließ damit zum erstenmal so etwas wie ein Gefühl erkennen. »Es wäre eine Möglichkeit. Ich habe selbst schon zu spüren bekommen, wie abgefeimt Pinkertons Agenten sind.«

Der Mexikaner kratzte nervös an seinem dunklen Kinnbart und fragte:

»Wenn das stimmt, Senora, was sollen wir dann tun?«

»Genau das, was Sie und der Captain getan haben, Don Emiliano. Die Dinge laufen lassen und unter Beobachtung behalten. Schließlich brauchen die Verteidiger von Texas Schelps Ladung.«

»Falls die ALBANY wirklich das geladen hat, was Schelp uns versprochen hat«, knurrte McCord, der plötzlich überall Verrat witterte.

»Davon werden wir uns überzeugen, wenn wir an Bord sind«, sagte die Frau.

»Wenn diese beiden angeblichen Auswanderer Pinkerton-Leute sind, dann gnade ihnen Gott«, schüttelte McCord drohend seine geballte Faust. Seit der Demütigung durch Schelp hatte er wenig über für Leute, die aus Deutschland kamen. »Dann nehme ich mir diesen Adler und seine Freundin persönlich vor!«

Die Frau in Schwarz machte eine ruckartige Bewegung nach vorn, so daß sich der Sessel ein Stück verschob. Ihre behandschuhten Hände krallten sich um die Lehnen.

Und als sie sprach, wirkte ihre Stimme nicht mehr so kühl wie bisher, sondern im höchsten Maße erregt:

»Wie heißt der Deutsche? Adler?«

»Yeah«, nickte McCord.

»Jacob Adler etwa?«

»Right. Aber ich verstehe nicht.«

»Und seine Begleiterin?« unterbrach die Frau in Schwarz den Captain. »Wie heißt sie? Irene Sommer?«

Wieder nickte McCord, mit einem ziemlich verblüfften Gesichtsausdruck.

»Kennen Sie die beiden?« schnappte er. »Also sind es doch Pinkertons!«

»Nein, keine Pinkertons«, stieß die Frau den angehaltenen Atem aus und ließ sich wieder ins Polster zurücksinken. »Es sind tatsächlich Auswanderer.«

»Aber woher kennen Sie ihre Namen, Senora?« wollte der Mexikaner wissen.

»Von früher«, lautete die vieldeutige Antwort. »Zwischen uns steht noch eine alte Rechnung offen.«

Sie wandte ihr verschleiertes Gesicht den beiden Männern zu und sagte:

»Ich denke, wir sollten jetzt zu Bett gehen. Vor uns liegt ein anstrengender und interessanter Tag.«

Don Emiliano nickte und wünschte der Senora eine gute Nacht, bevor er die Tür zum Gang aufzog. Die Zimmer von ihm und McCord lagen direkt neben dem der Frau.

Der Captain aber traf keine Anstalten, ihm zu folgen, sondern sagte mit Blick auf die Frau:

»Wir haben noch etwas zu besprechen.«

Der Mexikaner nickte verstehend und gab sich keine Mühe, das belustigte Zucken zu unterdrücken, das um seine Mundwinkel spielte. Er ging hinaus und schloß hinter sich die Tür.

McCord trat auf den Sessel zu und streifte seinen hellen, jetzt schmutzigen Rock ab.

»Nicht heute, Abel«, sagte die Frau, deren Stimme wieder die übliche Kälte ausstrahlte. »Ich muß über einiges nachdenken.«

»Jeder hat seine Bedürfnisse«, erwiderte der Südstaatler zweideutig.

Er stand jetzt hinter dem Sessel und ließ seine kräftigen Hände über die Schultern der Frau wandern, bis zu ihren Brüsten, wo sie besitzergreifend verharrten.

»Stehen Sie auf, Ma'am!« knurrte er in einer Mischung aus männlicher Begierde und militärischem Befehl.

Zögernd gehorchte die Frau und ließ es zu, daß McCord sie umdrehte und bäuchlings über den Sessel warf.

Seine Hände wanderte nach unten und hoben den Saum ihres Kleides hoch.

Als sie dasselbe mit den Unterröcken tun wollten, wirbelte die Frau herum und stieß ihn von sich.

»Das Licht!« keuchte sie, mehr erschrocken als erregt. »Sie haben das Licht vergessen, Abel!«

Unwillig blickte der Captain sie an.

»Muß das sein?« fragte er. »Warum lassen Sie es nur im Dunkeln zu?«

»Das geht Sie nichts an!«

»Wissen Sie, daß es ein verdammt merkwürdiges Gefühl ist, eine Frau zu lieben, von der man nicht ein einziges Stück Haut gesehen hat? Nicht einmal das Gesicht!«

»Sie können es auch bleiben lassen, Abel.«

»Ach? Ihnen liegt also nichts an mir?«

Die Frau überlegte. Sie würde Abel McCord auf dem Schiff vielleicht noch brauchen.

Auf Don Emiliano war nicht unbedingt Verlaß.

Die Mexikaner waren so wetterwendig wie die schmerzenden Narben der Frau, die sie bei jedem Witterungsumschwung peinigten.

Außerdem war der Don ihr gegenüber nicht so fügsam wie der Captain - weil er ihr im Gegensatz zu McCord nicht hörig war.

Sie kam zu dem Schluß, daß sie McCord noch benötigte. Zur Erfüllung ihrer geheimen Mission, aber auch ihrer persönlichen Rache an diesen deutschen Auswanderern, Jacob Adler und Irene Sommer. Es mußte eine Fügung des Schicksals sein, daß sie die beiden hier wiedertraf.

»Löschen Sie das Licht, Abel!« verlangte die Frau.

Seufzend befolgte McCord die Aufforderung, kam dann zu der Frau zurück und legte sie wieder über die Sessellehne.

Sie dachte an den bevorstehenden Tag, an das Wiedersehen mit den deutschen Auswanderern und an die verschiedenen Möglichkeiten, sich an ihnen zu rächen, während der Offizier wenig gefühlvoll, fast hart, in sie eindrang.

Und als sie schließlich, mit hochgeschobenen Röcken über dem Sessel liegend, doch einen Anflug von Lust verspürte, dachte sie dabei nicht an McCord. Wie immer, wenn sie mit dem Captain intim war, schwebte vor ihrem geistigen Auge das Gesicht des einzigen Mannes, dem jemals ihr Herz gehört hatte.

*

Der Mann, der in der nachmitternächtlichen Finsternis durch den rückwärtigen Teil des Fogerty Grand Hotels schlich, war auf den ersten Blick eine überaus komische Erscheinung. Von der in einem bommelbeschwerten Zipfel auslaufenden Schlafmütze über das viel zu weite Nachthemd bis zu den ausgetretenen Filzpantoffeln, in denen die nackten Füße steckten.

Gar nicht komisch war allerdings das verkniffene, alarmierte Gesicht des älteren Mannes.

Und komisch wirkte auch nicht die wuchtige doppelläufige Schrotflinte, die er angespannt vor sich hielt, während er die finsteren Gänge im Parterre durchquerte, die zu dem Teil des Hotels gehörte, der Gästen nicht zugänglich war. Hier lagen die Küche und die Vorratsräume.

Jefferson Kinley brauchte nicht viel Licht. Eigenhändig hatte er beim Bau seines Hotels mitgeholfen. Er kannte jede Ecke, jede Unebenheit im Boden.

Und er wußte, wohin er sich wenden mußte. Die seltsamen Geräusche, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten, wiesen ihm den Weg.

Mal war es ein Klopfen, dann wieder eine Art Sägen. Aber mitten in der Nacht arbeitete doch niemand, weder der Hufschmied noch der Büchsenmacher, nicht der Stellmacher und nicht der Böttcher.

Die Geräusche kamen vom Hinterhof des Hotels. Nein, als Kinley draußen stand zwischen alten Lieferkisten und mit Abfällen und Regenwasser gefüllten Fässern, erkannte der die Wahrheit. Sie kamen aus dem halbfertigen großen Anbau, der einmal sein eigener Mietstall werden sollte. Und jetzt bemerkte er auch das Licht, das durch die unverfugten Ritzen nach draußen drang.

Er schlich näher, geräuschlos. Mit den jeden Laut dämpfenden Pantoffeln fiel ihm das nicht schwer. Außerdem, wer immer im halbfertigen Mietstall wütete, bei dem Lärm würde er Kinley kaum hören.

Der Mietstall besaß zwei Eingänge. Eine große Doppelflügeltür zeigte zur Benson Street hinaus und war für Tiere und Wagen gedacht. Die kleine Seitentür, zum Hof und zum Hotel hin gelegen, war nur Menschen vorbehalten.

Der Hotelier stellte fest, daß die Hoftür nur angelehnt war. Vorsichtig schob er sie so weit auf, daß er sich gerade eben hindurchzwängen konnte. Mehrere Öllampen waren in dem großen Raum verteilt und tauchten ihn in gleichmäßiges Licht.

Kinley hörte ein lautes, schnelles Hämmern. Aber er sah nicht, wer oder was dieses Geräusch verursachte. Der große Stall schien menschenleer.

Aber das konnte nicht sein!

Er sah auf die Lampen. Jemand hatte sie aufgestellt, um bei seiner nächtlichen Tätigkeit, welcher Art auch immer sie sein mochte, genügend Licht zu haben.

Der Mann im Nachthemd glaubte zu erkennen, daß die Geräusche aus dem vorderen Stallteil kamen, der zur Benson Street führte. Er ging den Geräuschen nach, nutzte jeden Pfeiler als Deckung und hielt die schwere Doppelläufige stets schußbereit.

Dann fuhr er zusammen wie vom Blitz getroffen.

»Hier oben bin ich, Mr. Kinley.«

Als Kinley sich von dem Schreck erholt hatte, sprang er ungelenk hinter einen großen Stoß Bauholz und riß den Waffenlauf nach oben. Dorthin, von wo die überraschende Stimme gekommen war. Der Hotelier war so nervös, daß er beinah losgefeuert hätte, beide Läufe!

»Schießen Sie nicht, Sir«, bat der Mann, der mit nacktem Oberkörper rittlings auf einem Querbalken des Dachstuhls hockte und einen schweren Hammer in der Hand hielt. »Auf die Entfernung würde Ihr Schrot mich in viele kleine Teile reißen. Wäre schwer, die alle wieder zusammenzuklauben.«

Erstaunt blickte Kinley zu dem großen, muskulösen jungen Mann hinauf, der wiederum den Hotelier mit einem fast entschuldigendem Lächeln auf dem offenen Gesicht ansah. Der Mann mit dem Hammer hatte so schwer gearbeitet, daß ein dicker Schweißfilm seine Haut bedeckte. Das helle Haar klebte in der Stirn.

»Mr. Adler«, stieß Kinley erstaunt hervor. »Was, zur Hölle, tun Sie hier?«

»Das sehen Sie doch, ich arbeite. Wie wir es abgemacht haben.«

»Aber mitten in der Nacht?«

»Miß Sommer und ich haben eine Passage auf der ALBANY ergattert, die morgen ausläuft. Sie haben uns Unterkunft und Verpflegung gewährt, Mr. Kinley. Dafür schulde ich Ihnen etwas.«

Jacob zeigte auf den Dachstuhl.

»Die Dachkonstruktion ist ziemlich wacklig. Ich versuche, ihr so viel Halt zu geben, daß Ihnen der Neubau nicht einstürzt, bis Sie einen neuen Zimmermann verpflichten können.«

Mit fassungslosem Gesicht ließ der Hotelier die Doppelläufige sinken.

»Ich habe ja schon gehört, daß ihr Deutschen ein fleißiges Völkchen seid. Aber daß ihr sogar die Nacht durcharbeitet!«

Er schüttelte den Kopf und meinte dann:

»Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz, Mr. Adler. Aber sehen Sie zu, daß Sie noch ein paar Stunden Schlaf bekommen. Und schlafen Sie nicht da oben ein. Sie könnten herunterfallen und sich das Genick brechen. Oder schlimmer noch, Sie könnten Ihr Schiff versäumen!«

Als Kinley den Mietstall verließ, begleitete ihn erneutes Hämmern.

*

Jacob hämmerte schon wieder, als die Sonne ihre ersten blaßrosa Finger über das sanft gewellte Land jenseits der provisorischen Stadt aus grotesken Zeltkonstruktionen und windschiefen Hütten ausstreckte.

Wie die angrenzende Stadt der festen Häuser lag auch hier noch alles im tiefen Schlaf, Menschen wie Tiere. Um so lauter dröhnten die Schläge des jungen Deutschen.

Diesmal benutzte er die bloße Faust. Die dünne Brettertür der wackligen Hütte erbebte geradezu unter seinen Schlägen. Diese Iren schienen einen bombenfesten Schlaf zu haben.

Als Jacob zum erneuten Schlag gegen die schon arg malträtierte Tür ausholte, wurde sie plötzlich aufgerissen.

Zwei grimmige Gesichter starrten den Deutschen aus mühsam geöffneten Augen an. Gesichter, die nicht auseinanderzuhalten waren: Bartly und Gypo Connor.

»Verdammt, was wollen Sie mitten in der Nacht?« blies einer der beiden dem Zimmermann eine dicke Schnapsfahne ins Gesicht.

Aus der Gesprächigkeit des Mannes schloß Jacob, daß es sich um Bruder Bartly handelte.

»Erkennen Sie mich nicht, Mr. Connor?«

Die Rechte des Iren kratzte durch das nach allen Seiten abstehende rostbraune Haar, die Linke über das schmutzige, löchrige Unterhemd fast gleicher Farbgebung unter der rechten Achsel. Dieses Verhalten sollte anscheinend die Gehirntätigkeit von Bartly Connor ankurbeln.

Plötzlich aber begann er zu schwanken, eine Auswirkung der Schlaf- oder Alkoholtrunkenheit - oder von beidem. Er brauchte beide Hände, um sich am Türrahmen festzuhalten. Jacob hatte den Eindruck, daß dadurch die ganze Hütte wackelte.

»Beim Heiligen Patrick, das ist der Dutch von gestern!« trompetete Bartly Connor das Ergebnis seiner geistigen Bemühungen hinaus, und Bruder Gypo nickte bestätigend.

Jacob trat einen halben Schritt zurück, um der Gefahr zu entgehen, sich durch das bloße Einatmen von Bartly Connors Ausdünstungen einen Vollrausch einzuhandeln. Außerdem vermischte sich der Schnapsdunst trotz seiner Stärke mit körperlichen Gerüchen, die den Verdacht nährten, Bartly Connor hätte das in billigen Fusel umgesetzte Geld lieber in ein gutes Stück Seife investieren sollen.

»Wecken Sie Ihre Schwester und Ihren Neffen, Mr. Connor«, sagte der Deutsche. »In nicht ganz drei Stunden verläßt die ALBANY Fogerty in Richtung San Francisco.«

Die schläfrigen Augen des Iren zogen sich skeptisch zusammen.

»Was hat das mit uns zu tun?«

»Wir sind alle an Bord«, lächelte Jacob.

»Verdammter Hund!« brüllte Bartly Connor und stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf den morgendlichen Besucher, die großen Hände zu gefährlichen Klauen geformt.

Der Ire war nicht langsam, aber seine alkoholbedingte schlechte körperliche Verfassung machte seine Bewegungen fahrig und vorhersehbar.

Jacob tauchte unter seinen Armen weg und machte einen Ausweichschritt zur Seite.

Bartly Connor streifte ihn nicht einmal. Der kräftige Ire torkelte an dem großen Deutschen vorbei und wurde von seinem eigenen Schwung in den Schmutz der breiigen braunen Masse gerissen, die nur unter großzügigster Verwendung des Begriffes als Straße zu bezeichnen war. Nächtlicher Regen hatte sie zusätzlich aufgeweicht.

Ein wenig mitleidig sah Jacob zu ihm hinab und wollte gerade seine Hand ausstrecken, um dem Gestürzten aufzuhelfen. Da verlor der Zimmermann den festen Boden unter den Füßen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, sein Oberkörper würde zerquetscht.

Gypo Connor war in stummer Entschlossenheit hinter den Deutschen getreten, hatte seinen Rumpf mit beiden Armen umschlungen, ihn vom Boden aufgehoben und versuchte nun, ihm sämtliche Rippen oder gar das Rückgrat zu brechen.

Jacob wehrte sich mit kräftigen Hieben gegen Kopf und Leib des Iren, aber seine unglückliche Stellung erlaubte keinen entscheidenden Treffer. Außerdem schien Gypo Connor ungefähr so schmerzempfindlich zu sein wie die Panzerplatte eines Kriegsschiffes.

Der schlammbesudelte Bruder Bartly stand ächzend auf und wankte mit geballten Fäusten auf Jacob zu.

»Laß mir noch was von dem Dutch übrig, Gypo«, knurrte er mit zorngerötetem Gesicht. »Ich will ihm mal kräftig die Nase in sein hübsches Gesicht drücken!«

Schon holte Bartlys Rechte zum Schlag auf, da keifte eine Frauenstimme:

»Schwager Bartly, Schwager Gypo, was stellt ihr schon wieder an?«

Die Witwe O'Faolain stand in der Türöffnung, die Hände in der schon bekannten Weise in die breiten Hüften gestützt, und blickte die drei Männer in einer Mischung aus Mißfallen und Verwunderung an.

»Mr. Adler«, sagte sie dann, als sie den Deutschen erkannte. »Was verschafft uns die Ehre Ihres Besuches?«

Der Druck durch Gypos Arme war so fest, daß Jacob kaum noch atmen konnte.

»Runterlassen«, keuchte er.

»Gypo, stell Mr. Adler sofort wieder hin!« befahl die stämmige Frau, die in etwas Wollenes gehüllt war, das man irgendwo zwischen Schlafrock und Decke ansiedeln mußte.

Der kräftige Ire gehorchte und gab in einem Anfall unerwarteter Gesprächigkeit einen Grunzlaut von sich. Jacob nahm an, daß es eine Mißfallensbekundung war. Vielleicht aber wollte der Mann sich auch bei seiner Schwägerin oder gar bei dem Deutschen entschuldigen.

Jacob war es letztlich gleich. Hauptsache, er konnte wieder frei atmen.

Vornübergebeugt, mit auf die Knie gestützten Händen, stand er da und sog die frische Morgenluft in tiefen Zügen in sich hinein. Dann richtete er sich langsam auf und betastete seinen Oberkörper, um zu prüfen, ob noch alle Knochen heil waren.

»Gypo hat Ihnen doch nicht weh getan, Mr. Adler?« fragte die Witwe O'Faolain besorgt.

»Wie kommen Sie darauf?« meinte Jacob und stellte erleichtert fest, daß trotz heftiger Schmerzen in seinem Brustkorb noch alles heil zu sein schien.

»Dann ist es ja nicht so schlimm«, befand die Frau und sah ihre Schwäger strafend an. »Trotzdem muß ich mich für euch wohl schämen, Schwager Bartly und Schwager Gypo. Wie könnt ihr den armen Mr. Adler nur so erschrecken?«

»Der Dutch wollte uns verhöhnen«, rief Bartly mit offener Empörung und schüttelte drohend seine noch immer zur Faust geballte Rechte in Jacobs Richtung. »Er sagte mir ins Gesicht, die ALBANY würde bald auslaufen und wir sollten uns deshalb beeilen.«

Katie O'Faolains Gesicht zeigte weiterhin Verärgerung. Aber jetzt schien sie Jacob zu gelten.

»Das ist wirklich kein feiner Zug von Ihnen, Mr. Adler«, sagte sie kopfschüttelnd. »Das hätte ich von Ihnen nicht gedacht. Dabei machen Sie einen so höflichen Eindruck.«

»Ich verstehe Sie nicht«, erwiderte Jacob. »Was habe ich getan?«

»Wir haben gestern abend bei der Auslosung keine Plätze auf der ALBANY erwischt«, erklärte die Frau. »Und jetzt kommen Sie und verspotten uns auch noch. Ich kann Schwager Bartly nur recht geben, das ist kein feiner Zug!«

»Ich verspotte Sie keineswegs«, lächelte Jacob, erleichtert darüber, daß er endlich die Beweggründe der Iren verstand. »Ich habe mit dem Kapitän des Schiffes gesprochen. Er ist ein alter Bekannter und hat uns einen Kajütenplatz auf der ALBANY zugesichert.«

»Und?« fragte die Witwe O'Faolain scharf. »Glück für Sie, Mr. Adler. Was hat das mit uns zu tun?«

»Eine Kajüte ist für Miß Sommer und mich allein viel zu groß. Ich wollte Sie deshalb fragen, ob Sie die Kajüte während der Fahrt nach San Francisco mit uns teilen möchten.«

Katie O'Faolain starrte den Deutschen für eine halbe Minute an, als sei er eins der sieben Weltwunder. Dann stürzte sie auf ihn zu, schlang ihre Arme um ihn und überschüttete ihn mit einer Kanonade saftiger, schmatzender Küsse.

»Mr. Adler«, keuchte sie, als sie endlich von ihm abließ. »Sie sind der beste, freundlichste, höflichste Deutsche in den ganzen Vereinigten Staaten. Ich könnte Sie auf der Stelle heiraten!«

»Hm, vielen Dank«, brummte Jacob. »Aber ich schätze, dazu ist keine Zeit. Die ALBANY wird nicht auf uns warten.«

Dann verabschiedete er sich schnell auf später an Bord, bevor der Witwe O'Faolain einfallen konnte, daß auch Schiffskapitäne Trauungen vornehmen konnten.

*

Die Witwe O'Faolain und ihre Familie kamen ebenso pünktlich an Bord wie Jacob, Irene und Jamie.

Auch die Glücklichen, die das Losverfahren zu Zwischendeckpassagieren bestimmt hatte, drängten sich, mit ihrer Habe bepackt, rechtzeitig über die Planken auf den Dreimaster. Die Goldfelder Kaliforniens lockten und vertrieben jeden Müßiggang.

Jeder, der an Bord kam, mußte seinen Namen nennen. Der Zweite Steuermann, ein gedrungener Deutsch-Amerikaner namens Joe Weisman, strich den betreffenden Namen auf seiner Liste durch. Dann erst gaben ein paar kräftige, mit Knüppeln bewaffnete Seeleute den Weg zu den Decksaufbauten frei, wo die Treppe zum Zwischendeck hinunterführte.

Vor dem Anlegeplatz der ALBANY hatte Captain Stout seine kleine Garnison mit aufgepflanzten Bajonetten einen Halbkreis bilden lassen, um das auslaufende Schiff im Notfall gegen die zu verteidigen, die zurückbleiben mußten.

Aber kaum einer von ihnen ließ sich im Hafen blicken. Vielleicht wollten sie sich den Schmerz ersparen, dem Schiff nachzublicken, das Kurs auf das heiß ersehnte Kalifornien nahm.

Jacob hatte das Gepäck in der Kajüte, die er und Irene sich mit den Iren teilten, verstaut und ging auf Deck, weil er Piet Hansen noch gar nicht gesehen hatte. Irene blieb mit ihrem quengelnden Sohn unten.

Unterwegs stellte Jacob zu seiner Verwunderung fest, daß die Nebenkajüte offenbar nicht belegt war. Das verwunderte ihn, versprach jeder freie Platz an Bord doch ein gutes Entgelt. Seit dem großen Goldrausch von 1849 waren Schiffspassagen nach San Francisco nicht mehr so begehrt gewesen. Auf Deck fragte er den nächstbesten Seemann nach dem Grund.

»Es kommen noch Passagiere, Sir«, lautete die undeutliche, von einem ordentlichen Priem behinderte Antwort. »Glaube, da sind sie.«

Er zeigte mit schmutzigen Fingern an Land, wo gerade eine geschlossene Kutsche nach kurzer Kontrolle den Schutzwall der Blauuniformierten passierte.

Vor einer der Planken hielt die Kutsche an, und der Fahrer lud das Gepäck vom Dach, um es an Bord zu bringen. Für drei Menschen waren es nicht sonderlich viele Sachen.

Mit Interesse beobachtete Jacob die neuen Kajütenpassagiere.

Zwei waren Männer, einer davon mit deutlich südlichem Einschlag. Beide waren gut gekleidet, wenn auch längst nicht so auffällig wie Arnold Schelp.

Am meisten interessierte sich Jacob aber für die Frau, die in Trauer zu sein schien. Nichts, aber auch gar nichts war von ihr zu sehen außer schwarzem Stoff. Sogar ihr Gesicht lag hinter einem dunklen Schleier, und ein schwarzes Netz bedeckte das Haar.

»Wer ist das?« fragte Jacob den kräftig kauenden Seemann.

»Nicht die Spur von Ahnung, Sir. Habe nur läuten hör'n, daß es Bekannte von Mr. Schelp sein soll'n.«

»Die Frau auch?«

Der Seemann zuckte mit den Schultern und spuckte einen Teil des Priems über die Reling hinunter ins brackige Hafenwasser.

»Weiß nicht, Sir. Wird wohl so sein.«

Obwohl die Frau vollkommen verhüllt war, erschien sie Jacob wie eine alte Bekannte.

Und - täuschte er sich, oder blieb sie tatsächlich kurz stehen, um ihm einen Blick zuzuwerfen. Er konnte sich nicht helfen, ein eisiger Schauer lief dabei seinen Rücken hinunter.

»Aye, Sir, ist'n kalter Wind«, nickte der Seemann, der das Erschauern des Deutschen falsch deutete. »Haben zu lange hier gelegen. Das gute Wetter ist vorbei. Machen Sie sich aufn gehörigen Seegang gefaßt!«

Jacob hörte eine vertraute Stimme von achtern und sah sich um. Piet Hansen stand auf der Brücke und gab durch ein hartledernes Sprachrohr die Befehle, um die Bark zum Auslaufen vorzubereiten. Jacob wollte ihn jetzt nicht stören und seine Aufmerksamkeit wieder den neuen Kajütenpassagieren zuwenden.

Doch sie waren bereits unter Deck verschwunden. Der Kutscher verließ die ALBANY. Die Planke, über die er gegangen war, wurde eingezogen.

Der Gedanke an die schwarzgekleidete Frau und ihre Begleiter verblaßte. Das Auslaufmanöver nahm Jacobs Aufmerksamkeit gefangen.

Die Ankerkette wurde ins Vorschiff gezogen. Ein plumpes Dampfboot setzte sich vor die Bark und wurde mit zwei starken Seilen an ihrem Bug vertäut.

Schon einmal hatte er miterlebt, wie die ALBANY von einer Dampfbarkasse in tieferes Gewässer gezogen wurde, damals in Hamburg. Doch da hatte er nichts gesehen, weil er als blinder Passagier unter einem Rettungsboot verborgen lag.

Jetzt wanderte sein Blick zwischen dem kleinen, aber starken Schraubendampfer und der zusammenschrumpfenden Hafenstadt hin und her.

Es war seltsam, aber er fühlte wenig Erleichterung, endlich unterwegs nach Kalifornien zu sein. Eine Ungewisse Vorahnung ließ ihm die Zukunft so düster erscheinen wie der dicke Rauch, der aus den beiden niedrigen Schornsteinen des Dampfers in den bewölkten Himmel aufstieg. Die ALBANY glitt direkt in den fast schwarzen Dunst hinein.

*

Im Hauptquartier der Garnison von Fogerty, am Abend dieses Tages.

Das unerwartete Klopfen an der Tür ließ Captain Henry Stout zusammenfahren. So sehr, daß Flüssigkeit aus dem fleckigen Glas schwappte und seinen blauen Uniformrock benetzte.

Wieso bloß?

Nur weil er sich einen kleinen Schluck genehmigte?

Er kam sich immer wie ein Verbrecher vor, wenn er die Schublade aufzog, die Whiskeyflasche herausnahm und sich einen Doppelten eingoß. Die einzige Freude seiner öden Tage hier am Ende der Welt.

»Ja?« brüllte der kleine, untersetzte Garnisonskommandant. »Was gibt's?«

»Ein Mr. Herbert will Sie sprechen, Captain.«

Es war die durchdringende Kommandostimme von First Sergeant Henderson.

»Kenne ich nicht«, antwortete der Captain durch die geschlossene Tür. »Was will er zu so später Stunde?«

»Weiß ich auch nicht genau, Sir. Hat wohl was mit dem Schiff zu tun, das heute nach Frisco ausgelaufen ist.«

»Die ALBANY?«

»Yes, Sir.«

»Und?«

»Mr. Herbert meint, vielleicht seien Spione an Bord gewesen.«

»Spione?«

Das ließ Captain Stout aufhorchen.

Er kippte den Rest Whiskey in sich hinein, stellte Flasche und Glas zurück in die tiefe Lade, setzte sich gerade hin und knöpfte eilig den blauen Rock zu.

»Right, Sergeant, schicken Sie den Mann herein!«

In Begleitung eines grobschlächtigen Mannes erschien ein Junge, genauso blond wie der Erwachsene. Sie waren unverkennbar Vater und Sohn.

Der Fleischer John Herbert erzählte von den beiden Golddollars, die Mrs. Herbert in der Jackentasche ihres Sprößlings gefunden hatte. Erst hatte dieser sich verstockt gezeigt, als der Vater ihn um Rechenschaft über seinen unerwarteten Reichtum ersuchte. Aber ein paar saftige Ohrfeigen der kräftigen Fleischerhand hatten Frankie Herberts Zunge gelöst. Jetzt mußte er seinen Bericht dem Captain gegenüber wiederholen.

Stout hörte mit wachsendem Interesse zu. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich fast. Noch während der Junge seinen umständlichen Bericht ablieferte, versuchte der Offizier, die Sache richtig einzuschätzen.

Natürlich konnte alles ganz harmlos sein. Vielleicht war es tatsächlich nur eine Liebesbotschaft.

Aber vielleicht hatte auch John Herbert recht, der etwas von Spionen der gottverdammten Südstaaten-Rebellen faselte.

Yeah, dachte Stout, vielleicht waren es Spione. Oder etwas in der Art.

Ein Wort geisterte durch seinen Kopf: Blockadebrecher!

Wenn es so war, würde es dann nicht negativ auf ihn zurückfallen, daß er die ALBANY aus dem Hafen hatte entkommen lassen?

Er hatte das Schiff sogar noch durch seine Männer bewacht! Würde es nicht besser sein, nichts weiter zu unternehmen?

Aber gerade das war es wohl, was ihm den ungeliebten und unbedeutenden Posten weitab der Kampflinien eingetragen hatte. Immer hatte der Offizier Henry Stout zu lange gezögert. Andere hatten Entscheidungen getroffen und lobende Erwähnungen in den Personalakten gesammelt. Seine Altersgenossen aus West Point hatten viel höhere Ränge inne als er und befehligten große Truppenteile. Sie sammelten Ruhm und Ehre im Krieg. Und er, Henry Stout, saß hier in Fogerty und bewachte einen Hafen, für den sich niemand interessierte als ein paar goldsüchtige Glücksritter!

Er sah seine Chance. Wenn die ALBANY tatsächlich ein Blockadebrecher war und er zu ihrem Aufbringen beitragen konnte, würde er vielleicht nicht mehr lange hier sitzen und aus lauter Frust den Whiskey in sich hineinschütten.

Er sprang auf, und seine Schultern strafften sich.

»Sergeant«, bellte er den reglos im Raum stehenden Henderson an. »Sofort Eiltelegramme ans Hauptquartier in San Francisco und an das dortige Navy-Büro. Die ALBANY ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Blockadebrecher und unter allen Umständen aufzubringen!«

*

Auf dem Pazifik, ein paar Stunden später. »Müssen wir wirklich wie Diebe in der Nacht hier herumschleichen?« fragte Captain Abel McCord unwillig seine Begleiterin.

Er sprach im Flüsterton.

In der Hand hielt er eine Blendlaterne aus rostigem Blech, deren matte Vergrößerungslinse einen hellen Schein auf die im heftigen Seegang schwankenden Planken warf.

»Es ist besser so«, beschied die Frau, die wie stets von Kopf bis Fuß schwarz verhüllt war.

»Aber warum? Schließlich ist es unsere Ladung. Hm, jedenfalls dann, wenn wir sie bezahlt haben. Wir haben ein Recht darauf, sie in Augenschein zu nehmen. Warum kontrollieren wir sie nicht ganz offen?«

»Weil ich nicht das sehen will, was dieser Stutzer Schelp uns zeigt. Ich will mir selbst aussuchen, wo wir unsere Stichproben machen.«

»Yeah«, sagte McCord im zerdehnten Texas-Akzent. »Jetzt verstehe ich.«

Die beiden Menschen blieben vor einer Luke stehen, die das Zwischendeck von dem großen Frachtraum trennte, der den unteren Schiffsteil bildete und fast gänzlich unterhalb der Wasserlinie lag.

McCord rüttelte an der Luke, aber sie war verschlossen.

»Soll ich sie aufbrechen?« fragte er und legte die Rechte auf das Stemmeisen, das in seinem Gürtel steckte.

»Versuchen wir es erst mal hiermit.«

Die Frau zog einen Ring mit mehreren Schlüsseln zwischen den Falten ihres Kleides hervor. Schon der zweite paßte, und klackend sprang das große Schloß auf.

»Woher?« staunte der Captain.

»Von einem Maat, der fünf Golddollars unwiderstehlich fand.«

Sie gingen die steile Treppe hinunter. Nur wenig Wasser stand in den Ecken und Bodenausbuchtungen. Die Pumpen der ALBANY arbeiteten gut.

Die Frau übernahm die Blendlaterne und zeigte auf mehrere Kisten, die dann McCord mit dem schweren Eisen aufbrach. Jedesmal fiel die Inaugenscheinnahme des Inhalt zur vollen Zufriedenheit der beiden auf.

Keiner der beiden bemerkte, daß dabei ein kleines ovales Messingschild von einer Kiste abplatzte und zu Boden fiel. Die anderen Kisten waren nicht mit diesen Schildern versehen. Man hatte die Schilder entfernt, bevor die Kisten in Hamburg auf die ALBANY verladen worden waren. Helle Flecken auf dem Holz verrieten die Stellen, wo sie gesessen hatten.

Fast zärtlich strich die in schwarzem Leder steckende Hand der Frau über den kalten Stahl in einer der großen Kisten, als die Schwarzgekleidete plötzlich hart gegen das Holz gedrückt wurde.

Sie spürte McCords kräftige Hände an ihrem Leib abwärts wandern und ihre Röcke hochheben. Schnell schob die Frau in Schwarz die Blechblende über die Linse der Laterne, und im Laderaum wurde es finster.

Die Welt bestand nur noch aus Geräuschen. Das Klatschen der Wellen, die gegen den Schiffsrumpf schlugen. Das Ächzen und Knarren der Planken und der Kisten, die zwar gut vertäut waren, aber doch jede Bewegung der Bark nachvollzogen. Und das immer schnellere Keuchen des Südstaatlers, der sich über die Frau beugte und ihren Leib mit solcher Gewalt gegen die Kiste drückte, daß deren Rand schmerzhaft in ihren Bauch stach.

Sie biß die Zähne zusammen und ließ es geschehen. Wenn sie keine Umstände machte, würde es um so schneller vorbei sein.

Was waren schon die paar Minuten in der Nacht, die sie sich Abel McCord hingab? Der Captain setzte sein Leben bei dieser Mission aufs Spiel.

Sie ihres natürlich auch. Aber es bedeutete ihr nichts mehr, seitdem sie vom Schicksal ihres Mannes erfahren hatte.

Endlich war der Südstaatler fertig. Er stand noch eine Minute über die Frau gebeugt, bis er neue Kraft gefunden hatte. Dann ließ er von ihr ab und zog seine Hose hoch.

Er griff nach der Laterne, die sie noch in der Hand hielt. Wie er den Lichtstrahl aufflammen ließ, hatte sie ihre Röcke bereits wieder geordnet. Kein Zoll ihrer Haut war mehr zu sehen, als das Licht auf sie fiel.

Sie zuckte zurück, als McCord die freie Hand nach ihrem Gesichtsschleier ausstreckte.

»Was soll das, Abel?« fragte sie erschrocken.

Sein breites Gesicht drückte wilde Entschlossenheit aus. Sie hatte sich getäuscht. Seine Erregung war noch nicht abgeklungen, sondern hatte sich nur auf eine andere Ebene verlagert.

»Ich will endlich dein Gesicht sehen!« keuchte er mit der Stimme und den Augen eines Besessenen. »Ich halte es so nicht länger aus. Zeig es mir!«

Er wollte den Schleier wegreißen, aber die linke Hand der Frau schlug seinen Arm beiseite. Ihre Rechte verschwand in den Falten des schwarzen Kleides und kehrte mit einem vierläufigen Sharps Derringer zurück, den sie auf McCords Brust richtete.

Ohne zu zögern zog sie den Hahn zurück und sagte scharf:

»Wenn Sie mich auch nur anrühren, McCord, schicke ich Sie zur Hölle!«

Ihre Stimme und ihre ganze Haltung ließen den Captain keine Sekunde an der Ernsthaftigkeit der Drohung zweifeln.

»All right, Sie haben gewonnen«, brummte er und bückte sich nach dem Stemmeisen, das er auf den Boden gelegt hatte, bevor er sich der Frau genähert hatte.

Äußerlich war Abel McCord völlig ruhig. Aber innerlich brodelte er.

Lange würde er die fortlaufende Kette von Demütigungen nicht mehr hinnehmen. Deutsche, Mexikaner und diese geheimnisvolle Frau, die das Oberkommando ihm vor die Nase gesetzt hatte - sie alle machten sich über ihn, einen Offizier der Konföderation, lustig!

Nicht mehr lange!

*

Die Tage auf See vergingen für die Passagiere der ALBANY in rasch ermüdender Eintönigkeit.

Das einzige, was sich änderte, war das Wetter. Es wurde von Tag zu Tag schlechter. Manchmal wurde der Himmel so düster, daß sich der Tag kaum von der Nacht unterschied.

Immer wieder peitschten Sturmwinde das Schiff. Und Regenböen waren der Meinung, der Pazifische Ozean rings um den schlanken Segler sei noch nicht genug Wasser.

Die Passagiere sahen nichts als tiefgrauen Himmel und hellgraues Meer, wenn sie sich einmal an Deck wagten. Meistens dauerten diese Ausflüge nicht sehr lange und endeten damit, daß sich die Landratten weit über die Reling beugten, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen.

Nach sieben Tagen Fahrt wurden die Menschen allmählich unruhig. Einige waren der Meinung, man müßte San Francisco endlich erreicht haben.

Kapitän Hansen ließ verlauten, das schlechte Wetter haben die Bark vom Kurs abgebracht, und der schwere Seegang behindere ihr Vorankommen.

»Komisch«, bemerkte Jacob zu Irene. »Ich hätte nicht gedacht, daß der alte Piet sein Schiff so aus dem Ruder laufen läßt.«

Der alte Piet?

Nein, das war Hansen ganz und gar nicht. Er benahm sich gegenüber Jacob und Irene fast wie ein Fremder. Wenn er fünf Worte mit ihnen wechselte, war das schon viel.

Arnold Schelp zeigte sich aufgeschlossener, gab aber nicht mehr als unverbindliche Plattitüden von sich.

Das Zusammenleben mit den O'Faolains und den Connors verlief unerwartet harmonisch und tröstete die beiden Deutschen über Piet Hansens Schweigsamkeit ein wenig hinweg.

Die anderen Kajütenpassagiere, die beiden Männer und die Frau in Schwarz, ließen sich kaum blicken. Ihr Essen nahmen sie in der eigenen Kajüte oder zusammen mit Schelp und Hansen in der des Kapitäns ein. Wenn die beiden Männer mal an Deck erschienen, blieben sie für sich oder hielten sich an Schelp und Hansen.

Nur einmal sah Jacob, der auf dem Vorderdeck stand und sich angeregt mit dem aus dem Westfälischen stammenden Schiffszimmermann unterhielt, die von Kopf bis Fuß schwarze Gestalt auf dem Achterdeck stehen. Er bildete sich ein, daß die Frau zu ihm herübersah. Aber wegen des Schleiers blieb das eine bloße Vermutung.

Jacob gab sich einen Ruck und durchmaß das Deck der ALBANY mit den schnellen, großen Schritten, die er sich angewöhnt hatte, als der junge Geselle Jacob Adler drei Jahre lang durch Deutschland streifte, um seine Fähigkeiten als Zimmermann bei verschiedenen Meistern in verschiedenen Städten zu vervollkommnen. Ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Konventionen wollte er die Frau ansprechen und fragen, ob sie sich kannten.

Aber als er um den Rettungsbootsdavit neben dem Besanmast herum war, sah er die Frau nicht mehr. Wie ein Phantom hatte sie sich in Luft aufgelöst.

Dann erst fiel ihm ein, daß der Eingang zu ihrer Kajüte auf dem Achterdeck lag, direkt hinter dem Platz des Steuermanns, wo zur Zeit Joe Weisman stand.

War sie vor Jacob geflohen?

Jacob fragte Weisman nach der Frau und ihrem Namen.

Der schüttelte den Kopf, auf dem frühzeitig weiß gewordene Haare unter der zerknautschten Seemannsmütze hervorlugten.

»Ich habe keine Ahnung, wer das ist, Herr Adler«, antwortete der Zweite Steuermann der ALBANY in einem englisch gefärbten Deutsch. »Seit Schelp und die anderen an Bord sind, ist unser Käpten nicht mehr wiederzuerkennen. Als hätte etwas von ihm Besitz ergriffen und seine Seele umgestülpt.«

»Das sind düstere Worte«, sagte Jacob. »Können Sie die erläutern, Herr Weisman?«

»Nein.« Das leicht gerötete Gesicht des Zweiten Steuermannes verschloß sich. »Hansen ist mein Käpten.«

Das hieß, Weisman wollte nicht mehr sagen. Jacob drang nicht weiter in ihn. Er konnte den Steuermann verstehen.

Aber er machte sich Sorgen.

Wegen Hansen.

Und wegen der Frau in Schwarz.

*

Die Ratten, die in Scharen an Bord ihr Unwesen trieben, ängstigten die meisten Menschen oder riefen zumindest Ekel bei ihnen hervor.

Nicht so bei Timmy O'Faolain.

Nur große Tiere machten ihm angst. Solche wie der wilde Grizzly, der seinen Vater vor seinen Augen zerrissen hatte.

Kleine Tiere aber liebte der Junge, egal, welcher Art sie waren. Auch die Ratten.

Besonders eine hatte es ihm angetan, die er an ihrem schön gemusterten Fell erkannte. Helle Streifen zogen sich in gleichmäßigen Linien vom Kopf bis zu dem langen Schwanz. Timmy nannte sie deshalb die Gestreifte.

Der Junge verbrachte die Tage damit, der Gestreiften aufzulauern. Nicht um sie zu fangen oder ihr gar etwas anzutun. Seine Mutter hätte kein Verständnis für das Anschleppen einer Ratte aufgebracht, das wußte er. Schließlich hatte sie aus ihm unerfindlichen Gründen schon etwas gegen den Skunk gehabt, mit dem er sich in Fogerty fast angefreundet hätte.

Nein, Timmy war nur neugierig und wollte mehr über die Gestreifte herausfinden. Wie ein Forscher. Er verfolgte sie, machte ihre Schlupflöcher ausfindig und verfolgte sie wieder. Bis in den großen Laderaum im Bauch des Schiffes.

Die Luke stand offen, weil ein Maat hinabgestiegen war, um die Festigkeit der Frachtvertäuung und den Stand des eingedrungenen Wassers zu überprüfen.

Vorsichtig, damit ihn der Maat nicht bemerkte, schlich Timmy zwischen den Kisten hindurch. Aber die Gestreifte war schneller und tauchte in dem finsteren Gewirr unter.

Enttäuscht wollte Timmy umkehren. Etwas schepperte leise, als sein Fuß dagegenstieß. Ein kleiner, fast runder Gegenstand. Er hob ihn auf. Fast wie ein Münze, nur breiter und leichter. Vielleicht war es wertvoll. Eine Seite war glatt und leer, die andere beschriftet. Aber Timmy konnte die Schrift nicht lesen. Er konnte überhaupt nicht lesen.

Er ließ seinen Fund in die Hosentasche gleiten und schlich leise aus dem Laderaum.

*

Als Jacob, der sich mit Irene und Jamie an Deck die Beine vertreten hatte, in die Kajüte zurückkehrte, hielt die Witwe O'Faolain ihm Timmys Fund unter die Nase.

Irene war mit dem Kind noch oben geblieben. Sie wollte versuchen, endlich einmal ausführlich mit Piet Hansen zu sprechen, der am Ruder stand und ihr deshalb nicht so leicht entkommen konnte. Jacob ging nach unten. Möglicherweise hatte Irene mehr Erfolg bei Piet, wenn sie allein ihren Charme versprühte.

»Vielleicht ist das Deutsch?« fragte Katie O'Faolain zweifelnd, während Jacob die Plakette betrachtete. »Ich kann nicht sehr gut lesen, aber Englisch ist's bestimmt nicht.«

»Sie haben recht, Mrs. O'Faolain, das ist Deutsch!« stieß Jacob erregt hervor und las laut: »Wilger & Hartmann Waffen-& Sprengstoffwerke, Hamburg.«

Mit ernstem Gesicht sah er Timmy an und fragte:

»Und das hast du wirklich von ganz unten aus dem Laderaum?«

Der Junge nickte heftig und streckte den Zeigefinger in Richtung Fußboden.

»Was bedeutet das, Mr. Adler?« erkundigte sich die Mutter des Jungen.

»Wenn es stimmt, was ich vermute, jedenfalls nichts Gutes!« brummte Jacob und stürmte auch schon hinauf aufs Deck.

Irene stand, Jamie auf dem Arm, bei Piet Hansen am Steuerrad und plauderte offenbar ungezwungen mit ihm.

Jacob fuhr rüde dazwischen, zeigte die Plakette vor und fragte:

»Können Sie mir das erklären, Piet?«

Trotz des Bartes konnten Jacob und Irene sehen, wie Hansen erblaßte.

»Wo. wo hast du das her, Junge?« fragte er, vergeblich um Fassung ringend.

»Aus dem Laderaum, ganz tief unten.«

»Hast du etwa rumgeschnüffelt?«

»Ich denke, nicht ich sollte hier Fragen beantworten, Piet, sondern Sie«, blieb Jacob stur. »Und erzählen Sie mir nicht, diese Hamburger Waffenfabrik würde nebenbei Minenbaugeräte herstellen! Das paßt nämlich nicht in das Bild, das ich mir von Ihrem seltsamen Verhalten und den ebenso seltsamen Passagieren in der Nachbarkajüte gemacht habe.«

»Sie sind noch genauso scharfsinnig wie früher, Mr. Adler, mein Kompliment.«

Die Stimme einer Frau in seinem Rücken ließ Jacob herumfahren. Die Frau in Schwarz war aus der Kajüte gekommen und bedrohte ihn mit einem vierläufigen Derringer. Rechts und links von ihr standen ihre Begleiter. Die Waffen in ihren Händen waren größer und bestimmt nicht minder tödlich.

»Captain McCord sagte mir, die deutsche Frau unterhalte sich mit dem Käpten«, fuhr die gesichtslose Frau fort. »Da wollte ich lieber nach dem Rechten sehen, glücklicherweise.«

Jacob überlegte krampfhaft, wo er ihre Stimme schon einmal gehört hatte. Sie kam ihm seltsamerweise vertraut und fremd zugleich vor. Das Fremde lag vielleicht an der Kälte, mit der sie sprach.

Aber woher kannte er die Stimme und die Frau bloß?

Um Zeit zu gewinnen, fragte er:

»Was für ein Captain ist dieser McCord? Etwa einer der Konföderierten Armee?«

»Mit Ihrem Scharfsinn hätten Sie es zu mehr als zum Zimmermann bringen können«, erwiderte die Frau. »Und jetzt hinunter in unsere Kajüte, Adler. Sie, die Frau und das Kind. Denken Sie immer an das Kind, dann machen Sie bestimmt keinen Unsinn!«

Sie trat zur Seite und gab den Weg zum Kajüteneingang frei. Zögernd befolgte Jacob ihren Befehl, als ein unerwarteter Donner über die ALBANY hereinbrach.

Auf allen Gesichtern zeichnete sich Überraschung ab. Wahrscheinlich auch auf dem der Frau, hätte man es sehen können.

So schlecht war das Wetter nicht, daß mit einem Gewitter zu rechnen war. Und es war auch kein Gewitter. Kein Blitz, kein weiterer Donner.

Nur eine Wasserfontäne, die vor dem Bug der ALBANY aufspritzte, als das schwere Geschoß ins Meer klatschte.

Da flog auch schon ein von mehreren Mündern aufgenommener Ruf über das Deck der Bark:

»Kriegsschiffe! Sie schießen auf uns!«

Die Seeleute und die Passagiere, die sich an Deck befanden, stürzten an die Reling und fanden den Ruf bestätigt.

Einer von ihnen war Joe Weisman. Er lief aufs Achterdeck und quittierte die Waffen in den Händen der schwarzgekleideten Frau und ihrer Begleiter mit einem verstörten Blick.

»Wie ist die Lage, Mr. Weisman?«

Hansens auf englisch ausgesprochene Frage riß den Zweiten Steuermann aus seiner Verstörung.

»Wir haben drei Kriegsschiffe der Union ausgemacht, Käpten«, berichtete der gedrungene Deutsch-Amerikaner. »Ein Raddampfer und zwei zu Schrauben-Fregatten umgerüstete Kauffahrer, eine Bark und eine Brigg. Sie haben Signal gesetzt, Käpten!«

Die Art, wie Weisman den letzten Satz aussprach, zeigte, daß er seine Verstörung keineswegs überwunden hatte.

»Und?« schnarrte Hansen. »Was wollen sie von uns?«

»Wir sollen uns ergeben und ein Prisenkommando an Bord lassen«, berichtete der Zweite Steuermann fassungslos. »Käpten, was bedeutet das? Wir sind doch ein harmloses Handelsschiff!«

»Ja, eins, das Waffen für den Süden schmuggelt«, sagte Jacob bitter. »Ein Blockadebrecher!«

»Schnauze!« schrie Abel McCord und zog den langen, schweren Lauf seines Leach & Rigdon-Revolvers über den Kopf des Zimmermanns.

Jacob brach vor seinen Füßen zusammen.

»Ist das wahr, Käpten?« fragte Weisman entsetzt. »Haben wir Kriegsfracht für die Konföderierten an Bord?«

»Stellen Sie jetzt keine Fragen, Weisman!« befahl Piet Hansen. »Führen Sie meine Befehle aus!«

Der Zweite Steuermann schüttelte den Kopf.

»Nein, Käpten! Erst will ich die Wahrheit wissen!«

»Die Wahrheit ist, daß du jetzt unser Gefangener bist, Teerjacke!« knurrte McCord und richtete den Leach & Rigdon auf Weisman. »Aber nicht lange, denn zur Aufrechterhaltung der Bordmoral werde ich jetzt ein Exempel an dir statuieren!«

Als McCords Daumen den Hahn zurückzog, krachte Jacobs Fuß gegen die Waffenhand des Captains.

Der Schuß löste sich, während der Revolver im hohen Bogen durch die Luft flog. Die Kugel klatschte in das Rettungsboot neben dem Besanmast.

»Verfluchter Dutch!« zischte McCord und stürzte sich auf Jacob.

Die Faust des Zimmermanns landete mitten im Gesicht des Offiziers und schleuderte ihn zurück. Hart schlug McCords Kopf gegen eine der hüfthohen Fensteraufbauten.

»Schluß jetzt, Adler!« befahl die Frau in Schwarz.

Aber die vier Läufe ihres Sharps Derringers waren nicht auf Jacob gerichtet, sondern auf das kleine Kind in Irenes Armen.

»Machst du noch einmal Ärger, stirbt der Kleine!« Ihre Stimme klang fast ein wenig bedauernd, als sie hinzufügte: »Es ist besonders traurig, wenn Kinder sterben.«

In diesem Augenblick glaubte Jacob zu wissen, wen er vor sich hatte.

Auch wenn es unglaublich schien! Er hatte die Frau für tot gehalten.

Bevor er den Namen aussprechen konnte, rollte erneuter Donner über die ALBANY.

Diesmal war es gleich eine ganze Salve, die an der Steuerbordseite der Bark den Pazifik aufriß.

Die Kartätschen schlugen so dicht am Rumpf des Dreimasters ein, daß nicht mit Sicherheit zu sagen war, ob es sich noch um bloße Warnschüsse handelte.

Hastig kurbelte Piet Hansen am Steuerrad, um die ALBANY aus der Schußlinie zu reißen.

Der schlanke Rumpf legte sich nach Backbord. Die Bark floh vor dem Raddampfer, der sie unter Feuer genommen hatten.

Tief tauchte der schlanke Leib des Dreimasters in die Fluten des Pazifiks ein, als wolle er sich unter den Wellenbergen verstecken.

Das Manöver fiel für die Menschen an Bord der ALBANY zu überraschend und zu heftig aus.

Nur die standfesten Seeleute - und nicht einmal alle von ihnen - konnten sich auf den Beinen halten.

Sonst stürzte alles hin und rutschte über das schiefe Deck, bis Decksaufbauten oder die Reling die Rutschpartie beendeten. Die Menschen verschmolzen zu einem einzigen Durcheinander von verrenkten Gliedmaßen, erschrockenen Schreien und schmerzerfülltem Stöhnen.

Hände griffen nach jeder Kante, um sich festzuhalten. Füße suchten vergebens nach einem festen Stand und glitten aus. Köpfe prallten gegen Holz und Eisen. Blut floß.

Hätte die Breitseite das Schiff getroffen, hätte es an Bord der ALBANY kaum wüster und unübersichtlicher zugehen können. Es war die Hölle.

Während Jacob sich an einer Verstrebung der Reling festklammerte, sah er mit Erleichterung, daß auch die Frau in Schwarz den Halt verlor. Dadurch waren Irene und Jamie außer Gefahr, von einer Kugel des Derringers getroffen zu werden -zumindest vorerst.

Die verschleierte Frau stürzte und rutschte in Jacobs Richtung.

Auch Irene und das Kind wären gestürzt, hätte Joe Weisman sie nicht im letzten Augenblick mit einem Arm umschlungen und festgehalten. Mit der anderen Hand hielt er sich an den Pfosten fest, auf denen die Überdachung für den Steuermann ruhte. Der erfahrene Seemann stand relativ sicher auf gespreizten Beinen, die jede Schwankung der Bark abfederten.

Die ALBANY richtete sich wieder auf. Aber nur, um in einen neuen Donner hineinzufahren.

Diesmal hatte das kleinste der drei Kriegsschiffe, die zur Schrauben-Fregatte umgebaute Brigg, seine Geschütze abgefeuert. Der Pulverrauch ihrer eigenen Breitseite hüllte sie für Sekunden völlig ein wie ein plötzlich aus dem Meer gestiegener Nebel.

Aber auch das kleinste Kriegsschiff hatte gefährliche Geschütze an Bord. Und was aus deren Rohren kam, waren gewiß keine Warnschüsse!

Eine Kartätsche pfiff über die Köpfe der Menschen auf dem Achterdeck der ALBANY, zerfetzte das Gaffelsegel am Besanmast und verschwand glücklicherweise im Meer, ohne größeren Schaden anzurichten.

Hinter dem Heck des Seglers schlugen die weiteren Geschosse ins Wasser. In schneller Reihenfolge und sehr dicht nebeneinander.

Die Breitseite war gut gezielt, zum Glück für die Menschen an Bord des Seglers nicht zu gut. Hätte sie nur ein paar Yards weiter vorn gelegen, hätte sie das gesamte Heck der ALBANY in Trümmer gerissen.

Die dunkle Gestalt der vermummten Frau lag neben Jacob an der Reling.

Der überraschende Sturz hatte sie benommen gemacht. Sie stöhnte vor Schmerzen.

Der schwarze Hut mit Schleier und Haarnetz war von ihrem Kopf gerissen worden.

Voller Entsetzen starrte der junge Deutsche auf das, was einmal das Gesicht einer schönen Frau gewesen war.

Der Anblick war gräßlich.

Und doch vermochte Jacob die weit aufgerissenen Augen nicht abzuwenden.

Wie war so etwas möglich?

Er konnte einfach nicht fassen, was er sah!

Ende des 1. Teils

Und so geht das Abenteuer weiter

Kanonendonner und Pulverdampf. Dicke Rauchfahnen aus hohen Schornsteinen und im Wind knatternde Segel. Hektisch ausgestoßene Kommandos und panische Schreie. Im Pazifischen Ozean, einige Meilen vor der Westküste des nordamerikanischen Kontinents, war die Hölle ausgebrochen. Unter dunklen Wolkenbergen tobte ein Kampf ums Überleben. Und mittendrin in diesem Chaos Jacob, Irene und Jamie. Die Fahrt auf dem Blockadebrecher Piet Hansens endet in einem Fiasko. Doch die Gefahr kommt nicht nur von den Kriegsschiffen der US-Marine. Auch an Bord der ALBANY wartet der Tod in Gestalt einer schwarz gekleideten, verhüllten Frau. Was es mit ihr auf sich hat, erfährt Jacob erst, als sie einen Derringer auf seinen Kopf richtet - und abdrückt.

DER HAI VON FRISCO von J.G. Kastner!