Zum Brüllen komisch und absolut hinreißend – eine liebenswerte Komödie der besonderen Art.

Charlie Ashers Welt ist perfekt, bis seine Frau Rachel bei der Geburt ihres ersten Kindes stirbt. Über Nacht ist Charlie nicht nur Vater, sondern auch Witwer. Und darüber scheint er den Verstand zu verlieren – anders kann er sich das Wesen in Minzgrün nicht erklären, das ihm immer wieder erscheint. Dann fallen auch noch wildfremde Menschen tot vor ihm um, und es stellt sich heraus, dass Charlie von ganz oben eine neue Aufgabe zugewiesen bekommen hat: Seelen einzufangen und sicher ins Jenseits zu befördern. Ein todsicherer Job, aber trotzdem nichts für Charlie …

Christopher Moore

Ein todsicherer Job

Buch

Eigentlich ist Charlie Asher ein recht liebenswerter Mensch: ein wenig neu-rotisch, vielleicht auch ein kleiner Hypochonder, aber alles in allem eher durchschnittlich. Er besitzt ein Haus in San Francisco sowie einen gut ge-henden Secondhand-Laden, den er mit Hilfe von zwei überaus loyalen, aber leicht exzentrischen Mitarbeitern führt. Er ist mit der hübschen Rachel ver-heiratet, die ihn gerade wegen seiner Normalität liebt. Und Rachel und Charlie erwarten ihr erstes Kind. Alles könnte ewig so weitergehen, stünde nicht der Tag der Geburt bevor. Denn an diesem Tag verändert sich Charlies Leben schlagartig: Rachel stirbt kurz nach der Geburt ihrer Tochter Sophie, und Charlie glaubt, darüber verrückt zu werden. Denn er ist sich ziemlich sicher, dass in dem Moment von Rachels Tod neben ihrem Bett ein außerge-wöhnlich großer, schwarzer Mann in einem mintgrünen Anzug auftauchte – allerdings auch auf ebenso unerklärliche Weise plötzlich wieder verschwand. Da die Sicherheitskameras nur Aufnahmen von Charlie am Totenbett seiner Frau zeigen, schickt man ihn mit einigen Medikamenten versehen nach Hause. Doch kaum dort angekommen, häufen sich die merkwürdigen Ereig-nisse. Die Dinge in seinem Laden fangen an zu leuchten, mannshohe Raben nisten sich auf seinem Dach ein, und wildfremde Menschen fallen mausetot vor Charlie um. Und dann taucht auch noch der Mann im grünen Anzug wieder auf, der ihn endlich aufklärt: Auf Befehl von ganz oben ist Charlie ein neuer Job übertragen worden. Er soll die Seelen der Sterbenden einfangen, bevor die Mächte des Dunklen sie entführen können. Keine angenehme Arbeit, aber irgendjemand muss sie ja schließlich machen. Charlie sieht nur nicht ein, warum ausgerechnet er dazu auserkoren sein soll, und fordert den Tod heraus…

Autor

Der ehemalige Journalist Christopher Moore arbeitete als Dachdecker, Kellner, Fotograf und Versicherungsvertreter, bevor er anfing, Romane zu schrei-ben. Er wird von der Kritik zu Recht immer wieder mit Douglas Adams und Terry Pratchett verglichen. Der Autor lebt auf Hawaii und freut sich unterwww.chrismoore.com auf einen virtuellen Besuch.

Von Christopher Moore außerdem bei Goldmann/Manhattan lieferbar

Der Dämonenberater. Roman (54217) · Der Lustmolch. Roman (44986)

Die Himmelsgöttin. Roman (44397) · Die Bibel nach Biff. Roman (54182)

Flossen weg! Roman (54208) · Der törichte Engel. Roman (54224)

Christopher Moore

Ein

todsicherer Job

Roman

Deutsch

von Jörn Ingwersen

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2006

unter dem Titel »A Dirty Job« bei William Morrow,

a division of HarperCollins Publishers Inc., New York

Verlagsgruppe Random House fsc-deu-0100

Das fsc-zertifizierte Papier München Super für Taschenbücher

aus dem Goldmann Verlag liefert Mochenwangen Papier.

Manhattan Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Dezember 2006

Copyright © 2006 by Christopher Moore

Copyright © 2006 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Die Nutzung des Labels Manhattan erfolgt mit freundlicher

Genehmigung des Hans-im-Glück-Verlags, München

Umschlaggestaltung: Design Team München

unter Verwendung einer Zeichnung von Chris Welch

Redaktion: Ilse Wagner

KvD · Herstellung: Str.

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-01256-4

www.goldmann-verlag.de

ERSTER TEIL

So grün war mein Jammertal

Was du suchst, wirst du nicht finden,

Denn als die Götter den Menschen erschufen,

Behielten sie die Unsterblichkeit für sich.

Iss Gutes.

Sei tagtäglich guten Mutes,

Lass deine Tage voller Freude sein.

Lieb’ das Kind an deiner Hand.

Schenk deiner Frau das Glück in deinen Armen.

Darum allein soll sich die Menschheit sorgen.

Gilgamesch-Epos

1

Da ich auf den Tod nicht warten konnte, war er so nett, auf mich zu warten

Charlie Asher wandelte auf Erden wie eine Ameise übers Wasser – als müsste er bei dem geringsten Fehltritt untergehen. Mit der Einbildungskraft eines Betamännchens blinzelte er sein Leben lang in die Zukunft, um herauszufinden, ob sich die Welt verschworen hatte, ihn umzubringen – ihn, seine Frau Rachel und die kleine Sophie, die eben erst zur Welt gekommen war. Doch trotz seiner Vorsicht, seiner Paranoia, seiner unablässigen Sorge, seit Rachel einen blauen Streifen auf ihren Schwangerschaftstest gepinkelt hatte, bis zu dem Moment, als man sie in die Aufwachstation des St. Francis Memorial gerollt hatte, schlich der Tod heran.

»Sie atmet nicht«, sagte Charlie.

»Sie atmet genau richtig«, sagte Rachel und klopfte dem Baby auf den Rücken. »Möchtest du sie halten?«

Charlie hatte die kleine Sophie schon vor einer Weile auf dem Arm gehabt, sie dann aber hastig an eine Krankenschwester weitergereicht und darauf bestanden, jemand, der qualifizierter sei als er, solle Finger und Zehen durchzählen. Er hatte es schon zweimal getan und kam jedes Mal auf einundzwanzig.

»Die tun gerade so, als sei nichts dabei. Als wäre alles in Ordnung, sobald ein Kind nur mindestens zehn Finger und zehn Zehen hat. Was ist mit Sonderausstattungen? Hm? Extrabonusfinger? Was ist, wenn es ein Schwänzchen hat?« (Charlie war überzeugt davon, dass er auf dem Sechs-Monats-Ultraschallbild einen kleinen Schwanz gesehen hatte. Von wegen Nabelschnur! Das Bild hatte er aufbewahrt.)

»Sie hat kein Schwänzchen, Mr. Asher«, erklärte die Krankenschwester. »Und es sind zehn und zehn. Wir haben genau nachgezählt. Vielleicht sollten Sie nach Hause gehen und sich etwas ausruhen.«

»Ich liebe sie trotzdem, auch wenn sie einen Finger mehr hat.«

»Sie ist absolut normal.«

»Oder einen Zeh.«

»Wir wissen, was wir tun, Mr. Asher. Sie ist ein hübsches, gesundes kleines Mädchen.«

»Oder ein Schwänzchen.«

Die Schwester seufzte. Sie war kurz und breit, mit einer tätowierten Schlange am rechten Unterschenkel, die durch ihre weißen Nylonstrümpfe schimmerte. Vier Stunden täglich verbrachte sie damit, Frühchen zu massieren, wobei sie ihre Hände durch Öffnungen im Brutkasten schob, als hätte sie es mit radioaktivem Material zu tun. Sie sprach mit ihnen, redete ihnen gut zu, dass sie etwas ganz Besonderes seien, und fühlte, wie die kleinen Herzen in Brustkörben flatterten, die kaum größer als ein Paar aufgerollte Tennissocken waren. Sie beweinte jedes einzelne Kind und glaubte fest daran, dass die Tränen und Berührungen etwas von ihrer eigenen Lebenskraft auf die winzigen Körper übertrugen. Sie hatte davon reichlich. Seit zwanzig Jahren war sie Säuglingsschwester, und noch nie hatte sie ihre Stimme gegen einen frischgebackenen Vater erhoben.

»Die Kleine hat aber keinen Schwanz. Sie Vollidiot! Hier!« Sie riss die Decke zurück und hielt ihm den Babyhintern hin, als wollte sie eine Salve von waffenfähigem Urin auf das arglose Betamännchen abfeuern.

Charlie wich zurück, schlank und wendig mit seinen dreißig Jahren, doch als ihm einfiel, dass das Baby ja gar nicht geladen war, zupfte er mit einer Geste rechtschaffener Entrüstung das Revers an seinem Tweedjackett zurecht. »Er könnte im Kreißsaal entfernt worden sein, ohne dass wir etwas davon wüssten.« Er wusste es tatsächlich nicht. Man hatte ihn gebeten, den Kreißsaal zu verlassen, erst der Arzt, dann sogar Rachel. (»Er oder ich«, hatte sie gesagt. »Einer von uns beiden muss gehen.«)

In Rachels Zimmer sagte Charlie: »Falls man ihren Schwanz entfernt hat, werde ich ihn mir holen. Bestimmt will sie ihn haben, wenn sie älter ist.«

»Sophie, dein Papa ist nicht wirklich geisteskrank. Er hat nur ein paar Tage nicht geschlafen.«

»Sie guckt mich an«, sagte Charlie. »Sie guckt mich an, als hätte ich ihre Ausbildungsversicherung auf der Rennbahn verzockt, und jetzt muss sie fremden Männern gefügig sein, damit sie Ökonomie studieren kann.«

Rachel nahm seine Hand. »Liebling, ich glaube, in diesem Stadium kann sie noch gar nichts erkennen. Außerdem ist sie noch so klein. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, dass sie fremden Männern gefügig sein muss, um Ökologie zu studieren.«

»Ökonomie«, verbesserte Charlie. »Heutzutage fangen sie früh an. Bis ich den Weg zur Rennbahn gefunden habe, könnte sie alt genug sein. Oh, Gott! Deine Eltern werden mich hassen.«

»Ist das was Neues?«

»Es gibt neue Gründe. Ich habe ihre Enkelin zur Schickse gemacht.«

»Sie ist keine Schickse, Charlie. Darüber haben wir dochschon gesprochen. Sie ist meine Tochter und genauso jüdisch wie ich.«

Charlie sank neben dem Bett auf die Knie und nahm Sophies winzige Hände zwischen seine Finger. »Es tut Daddy leid, dass er dich zur Schickse gemacht hat.« Er ließ den Kopf hängen, vergrub sein Gesicht zwischen Rachel und dem Baby. Rachel strich mit dem Fingernagel an seinem Haaransatz entlang.

»Du solltest nach Hause fahren und schlafen.«

Charlie murmelte etwas in die Decke. Als er aufblickte, hatte er Tränen in den Augen. »Sie fühlt sich warm an.«

»Sie ist auch warm. Das soll so sein. Es liegt daran, dass sie ein Säugetier ist. Hat mit dem Stillen zu tun. Warum weinst du?«

»Ihr beiden seid so wunderschön.« Er breitete Rachels dunkles Haar auf dem Kissen aus, drapierte eine lange Locke auf Sophies Kopf – wie eine Babyperücke.

»Ist schon okay, wenn ihr keine Haare wachsen. Es gab da mal so eine wütende, irische Sängerin, die keine Haare hatte und trotzdem ansehnlich war. Wenn wir ihr Schwänzchen hätten, könnten wir daraus vielleicht Haare transplantieren.«

»Charlie! Geh nach Hause!«

»Deine Eltern werden mir die Schuld geben. Ihre kahle Enkelin ist eine Schickse, die fremden Männern gefügig ist und Betriebswirtschaft studiert… wahrscheinlich kriege ich die Schuld an allem.«

Rachel nahm den Summer von ihrer Decke und hielt ihn hoch, als wäre er mit einer Bombe verdrahtet. »Charlie, ich schwöre dir: Wenn du nicht auf der Stelle nach Hause gehst und dich ausschläfst, rufe ich nach der Schwester und lass dich rauswerfen.«

Sie klang ernst, lächelte aber. Charlie hatte sie schon immergern angesehen, wenn sie lächelte. Es fühlte sich an wie Zustimmung, Genehmigung. Die Lizenz, Charlie Asher zu sein.

»Okay, ich werde gehen.« Er fühlte ihre Stirn. »Hast du Fieber? Du siehst müde aus.«

»Ich habe eben ein Kind zur Welt gebracht, du Träumer!«

»Ich mach mir nur Sorgen um dich.« Er war kein Träumer. Sie gab ihm nur die Schuld an Sophies Schwänzchen, und deshalb nannte sie ihn »Träumer« und nicht »Vollidiot« wie alle anderen.

»Liebster, geh! Bitte! Damit ich mich ein bisschen ausruhen kann.«

Charlie schüttelte ihre Kissen auf, sah nach dem Wasserkrug, stopfte die Bettdecke fest, küsste ihre Stirn, küsste das Baby, schüttelte das Baby auf, dann fing er an, die Blumen umzuarrangieren, die seine Mutter geschickt hatte, holte die große, weiße Lilie nach vorn, rückte das Knabenkraut zurecht…

»Charlie!«

»Ja, doch! Ich geh ja schon!« Er sah sich noch mal im Zimmer um, dann schob er sich rückwärts zur Tür.

»Soll ich dir irgendwas von zu Hause mitbringen?«

»Ich bin gut versorgt. In dem Klinikkoffer, den du mir gepackt hast, ist alles drin. Es könnte sogar sein, dass ich den Feuerlöscher gar nicht brauche.«

»Besser, einen zu haben und ihn nicht zu brauchen, als einen zu brauchen und…«

»Geh! Ich ruh mich etwas aus. Der Arzt will sich Sophie noch mal ansehen, dann nehmen wir sie morgen mit nach Hause.«

»Das scheint mir doch sehr bald zu sein.«

»Es ist normal.«

»Soll ich dir noch ein bisschen Propangas für den Campingkocher bringen?«

»Wir werden versuchen, ohne auszukommen.«

»Aber…«

Rachel hielt den Summer hoch, als drohte sie mit harschen Konsequenzen, falls man ihren Wünschen nicht entsprechen sollte. »Hab dich lieb«, sagte sie.

»Ich dich auch«, sagte Charlie. »Euch beide.«

»Bye, Daddy.« Wie eine Puppenspielerin winkte Rachel mit Sophies kleiner Hand.

Charlie hatte einen Kloß im Hals. Noch nie hatte jemand »Daddy« zu ihm gesagt, nicht mal eine Puppe. (Einmal hatte er Rachel beim Sex gefragt: »Wer ist dein Daddy?«, woraufhin sie »Saul Goldstein« antwortete. Danach war er eine Woche lang impotent gewesen, denn es warf alle möglichen Themen auf, über die er lieber gar nicht nachdenken wollte.)

Rückwärts ging er aus dem Zimmer und schloss die Tür ganz leise, dann lief er den Flur entlang, am Tresen vorbei, wo ihn die Krankenschwester mit dem Schlangen-Tattoo im Vorübergehen anlächelte.

Charlie fuhr einen sechs Jahre alten Minivan, den er von seinem Vater geerbt hatte, zusammen mit dem Secondhandladen und dem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich dieser befand. Schon immer hatte es im Lieferwagen leicht nach Staub, Mottenkugeln und Körpergeruch gestunken, trotz aller Duftbäumchen, die Charlie auf sämtliche Haken, Knöpfe und Knäufe verteilt hatte. Er öffnete die Fahrertür, und der Duft des Unerwünschten – die Ware eines Trödlers – zog über ihn hinweg.

Bevor er den Schlüssel überhaupt im Zündschloss hatte, sah er die Sarah-McLaughlin-CD auf dem Beifahrersitz. Rachel würde sie vermissen. Es war ihre Lieblings-CD, und jetzt musste sie ohne sie entspannen. Das wollte er nicht zulassen. Charliegriff sich die CD, schloss den Lieferwagen ab und machte sich auf den Weg zu Rachels Zimmer.

Zu seiner Erleichterung stand die Schwester nicht mehr hinterm Tresen, was ihm einen vorwurfsvollen Blick ersparte. Im Stillen hatte er eine kleine Ansprache darüber vorbereitet, dass ein guter Ehemann und Vater die Bedürfnisse seiner Frau vorauszusehen habe, und dazu gehöre eben auch, ihr Musik zu bringen… na ja, er konnte den kleinen Vortrag auch auf dem Rückweg halten, wenn sie ihn mit ihrem frostigen Blick bedachte.

Langsam schob er die Tür von Rachels Zimmer auf, um sie nicht zu erschrecken, erwartete ihr freundlich tadelndes Lächeln, doch sie schien zu schlafen, und ein sehr großer, schwarzer Mann im mintgrünen Anzug stand neben ihrem Bett.

»Was machen Sie da?«

Erschrocken fuhr der Mann in Mint herum. »Sie können mich sehen?« Er deutete auf seine schokoladenfarbene Krawatte, und eine Sekunde lang fühlte sich Charlie an diese dünnen Pfefferminztaler erinnert, die in besseren Hotels auf den Kopfkissen lagen.

»Natürlich kann ich Sie sehen. Was machen Sie hier?«

Charlie trat an Rachels Bett, drängte sich zwischen den Fremden und seine Familie. Die kleine Sophie schien von dem großen, schwarzen Mann ganz fasziniert zu sein.

»Das ist nicht gut«, sagte der Mintmann.

»Sie sind im falschen Zimmer«, sagte Charlie. »Raus hier!« Charlie langte hinter sich und tätschelte Rachels Hand.

»Das ist wirklich, wirklich nicht gut.«

»Sir, meine Frau versucht zu schlafen, und Sie sind im falschen Zimmer. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden, bevor ich…«

»Sie schläft nicht«, sagte Mintmann. Seine Stimme war sanft, klang nach Südstaaten. »Tut mir leid.«

Charlie drehte sich um und sah Rachel an, erwartete, sie lächeln zu sehen, doch sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf war neben das Kissen gesunken.

»Liebling?« Charlie ließ die CD fallen und schüttelte sie vorsichtig.

Die kleine Sophie fing an zu schreien. Charlie fühlte Rachels Stirn, nahm sie bei den Schultern und rüttelte sie. »Liebling, wach auf! Rachel!« Er hielt sein Ohr an ihr Herz und hörte nichts. »Schwester!«

Charlie hechtete über das Bett, um den Summer zu nehmen, der Rachel aus der Hand gefallen war, und lag quer auf der Decke. »Schwester!« Er drückte den Knopf und drehte sich zu dem Mann in Mint um. »Was ist passiert…?«

Er war weg.

Charlie rannte auf den Flur hinaus, doch da war niemand. »Schwester!«

Zwanzig Sekunden später kam die Schwester mit dem Schlangen-Tattoo, dreißig Sekunden darauf gefolgt vom Wiederbelebungsteam mit einem Rollwagen.

Sie konnten nichts mehr tun.

2

Ein scharfes Schwert

Frische Trauer besitzt eine besondere Schärfe, die die Nerven kappt und die Wirklichkeit abtrennt… eine scharfe Klinge ist barmherzig. Erst nach einer Weile, wenn die Schneide stumpf wird, setzt der echte Schmerz ein.

Deshalb merkte Charlie auch nichts von seinem Geschrei in Rachels Zimmer, von den Beruhigungsmitteln, die man ihm verabreichte, von dieser elektrisierten Hysterie, die sich wie ein Film über alles legte, was er an jenem ersten Tag tat. Danach war alles nur noch wie die Erinnerung eines Schlafwandlers, gefilmt aus der Augenhöhle eines Zombies, und wie ein Untoter taumelte er durch Vorwürfe, Erklärungen, Vorkehrungen und Formalitäten.

»Man spricht von zerebraler Thromboembolie«, hatte der Arzt gesagt. »Während der Wehen bildet sich in den Beinen oder in der Hüfte ein kleiner Blutklumpen, der dann zum Gehirn wandert und die Blutzufuhr unterbricht. Sehr selten, aber es kommt vor. Wir konnten nichts machen. Selbst wenn es dem Notfallteam gelungen wäre, sie wiederzubeleben, hätte ihr Hirn schweren Schaden genommen. Sie hatte keine Schmerzen. Vermutlich wurde sie nur müde und ist dann eingeschlafen.«

Charlie flüsterte, um nicht schreien zu müssen. »Dieser Mannin Mintgrün! Er hat irgendwas mit ihr angestellt. Er hat ihr etwas injiziert. Er war da, und er wusste, dass sie im Sterben lag. Ich habe ihn gesehen, als ich ihr die CD bringen wollte.«

Sie zeigten ihm das Überwachungsvideo. Die Schwester, der Arzt, die Krankenhausleitung und die Anwälte – sie alle sahen sich die schwarzweißen Bilder an, wie er aus Rachels Zimmer kam, dann den leeren Flur und schließlich, wie er wieder in ihr Zimmer ging. Kein großer, schwarzer Mann in Mint. Sie fanden nicht mal die CD, von der er sprach.

Schlafentzug, sagten sie. Halluzinationen, hervorgerufen durch Erschöpfung. Trauma. Man gab ihm Medikamente zum Schlafen, Medikamente gegen Angst, Medikamente gegen Depressionen, und dann schickten sie ihn mit seiner kleinen Tochter nach Hause.

Charlies ältere Schwester Jane hielt die kleine Sophie im Arm, als sie Rachel zwei Tage später begruben. Er konnte sich nicht erinnern, einen Sarg ausgesucht oder sonstige Arrangements getroffen zu haben. Es war wieder dieser somnambule Traum: Die angeheirateten Verwandten rannten hin und her, wie taumelnde Gespenster, und gaben unangemessene Kondolenzklischees von sich: »Es tut uns so leid. Sie war so jung. Eine Tragödie. Wenn wir irgendetwas tun können…«

Rachels Vater und Mutter umarmten ihn, so dass sie die Köpfe wie ein dreibeiniges Stativ zusammensteckten. Tränen tropften auf die Schieferplatten im Foyer des Beerdigungsinstitutes. Jedes Mal, wenn Charlie spürte, dass die Schultern des alten Mannes bebten, brach sein Herz von neuem. Saul nahm Charlies Gesicht in die Hände und sagte: »Du kannst es dir nicht vorstellen, denn ich kann es mir nicht vorstellen.« Doch Charlie konnte es sich vorstellen, denn er war ein Betamännchen. Vorstellungskraft war sein Fluch, und er konnte es sich sehr wohl vorstellen, denn er hatte Rachel verloren und jetzt eine Tochter, diese winzig kleine Unbekannte, die dort in den Armen seiner Schwester lag. Er konnte sich gut vorstellen, wie der Mann in Mint sie ihm genommen hatte.

Charlie blickte vom tränenfeuchten Boden auf und sagte: »Deshalb sind Beerdigungsinstitute mit Teppichen ausgelegt. Man könnte ausrutschen.«

»Armer Junge«, sagte Rachels Mutter. »Selbstverständlich sitzen wir shiva mit dir.«

Charlie bahnte sich einen Weg quer durch den Raum zu seiner Schwester Jane im dunkelgrauen Zweireiher aus Nadelstreifen-Gabardine, in dem sie – mit ihrer gegelten Eighties-Popstar-Frisur und dem Baby in pinkfarbener Decke auf dem Arm – nicht so sehr androgyn, als eher etwas ratlos aussah. Ihr stand der Anzug besser als ihm, aber trotzdem fand Charlie, sie hätte ihn um Erlaubnis bitten sollen.

»Ich kann das nicht«, sagte er. Er beugte sich vor, bis seine Halbinsel aus dunklem Haar ihren platinblonden Flock-of-Seagulls-Flip berührte. Das schien die beste Haltung für gemeinsame Trauer zu sein, und es kam ihm vor, als stünde er betrunken an einem Pinkelbecken und lehnte sich mit dem Kopf an die Wand. Verzweiflung.

»Du hältst dich wacker«, sagte Jane. »Niemand kann so was gut.«

»Was ist denn eigentlich Shiva?«

»Ich glaube, diese Hindu-Göttin mit den vielen Armen.«

»Das kann nicht stimmen. Die Goldsteins wollen mit mir darauf sitzen.«

»Hat Rachel dir denn nichts über jüdische Bräuche beigebracht?«

»Hab nicht aufgepasst. Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«

Jane schob sich die kleine Sophie auf die Schulter und strich Charlie mit der freien Hand über den Rücken. »Wird schon werden, Kleiner.«

»Sieben«, sagte Mrs. Goldstein. »Shiva bedeutet >Sieben<. Früher haben wir sieben Tage beisammen gesessen, gebetet und die Toten betrauert. Das ist orthodox. Heutzutage sitzen die meisten nur drei Tage.«

Sie saßen shiva in Charlies und Rachels Apartment mit Blick auf die Cable Cars an der Ecke Mason und Vallejo Street. Das Gebäude war ein vierstöckiger, edwardianischer Backsteinbau (architektonisch nicht ganz der pompöse Kurtisanenstil der Viktorianer, aber doch so nuttig, dass sich manch ein Seemann in der Seitenstraße darauf einen runterholen mochte), erbaut nach dem Erdbeben und dem Brand von 1906, dem das ganze Viertel dessen, was heute North Beach, Russian Hill und China Town ist, zum Opfer fiel. Charlie und Jane hatten das Haus und den Laden im Erdgeschoss geerbt, als ihr Vater vor vier Jahren starb. Charlie bekam das Geschäft, die große Doppelwohnung, in der sie aufgewachsen waren, und dazu die Instandhaltungskosten des alten Gebäudes aufs Auge gedrückt, während Jane die Hälfte der Mieteinnahmen und das oberste Apartment mit Blick auf die Bay Bridge erbte.

Auf Mrs. Goldsteins Anweisung hin waren sämtliche Spiegel im Haus mit schwarzem Stoff verhängt, und auf dem Kaffeetisch mitten im Wohnzimmer stand eine große Kerze. Man sollte auf niedrigen Bänken oder Kissen sitzen, was Charlie beides nicht im Haus hatte, und so ging er zum ersten Mal seit Rachels Tod hinunter in den Laden, um nachzusehen, ob er was Brauchbares finden konnte. Die Hintertreppe führte von einer Speisekammer neben der Küche direkt ins Lager, wo Charlie sein Büro hatte,zwischen Kisten voller Waren, die sortiert, ausgezeichnet und eingeräumt werden mussten.

Der Laden war dunkel – bis auf das Licht, das von den Laternen draußen auf der Mason Street durchs Schaufenster fiel. Charlie stand am Fuß der Treppe, mit einer Hand am Lichtschalter, und starrte ins Dunkel. Überall auf den Regalen voller Bücher und Krimskrams, zwischen alten Radios und Kleiderständern leuchtete es rot, pulsierte fast wie pochende Herzen. Ein Sweater auf dem Ständer, ein Porzellanfrosch in der Grabbelkiste, vorn beim Schaufenster ein altes Coca-Cola-Tablett, ein Paar Schuhe. Alles rot.

Charlie drückte den Schalter, dass die Neonröhren an der Decke flackerten und es hell im Laden wurde. Das rote Leuchten war verschwunden. »Okaaaaay«, sagte er zu sich selbst, ganz ruhig, als wäre jetzt alles in Ordnung. Dann knipste er das Licht wieder aus. Rotes Leuchten. Auf dem Tresen, nicht weit von ihm, stand ein Visitenkartenhalter aus Messing in Form eines schreienden Kranichs und leuchtete matt. Er nahm sich den Moment, ihn näher zu betrachten, um sicherzugehen, dass nicht von irgendwo draußen rotes Licht hereinschien. Er betrat den dunklen Laden, sah sich den Kranich von allen Seiten an. Nein, das Messing pulsierte. Definitiv. Er machte kehrt und hastete – so schnell er konnte – die Treppe hinauf.

Fast rannte er Jane über den Haufen, die Sophie sanft in ihren Armen wiegte und leise mit ihr sprach.

»Was?«, sagte Jane. »Ich weiß genau, dass da unten irgendwo große Kissen sein müssen.«

»Ich kann nicht«, sagte Charlie. »Ich steh unter Drogen.« Er baute sich vor dem Kühlschrank auf, als wollte er sich daran festketten.

»Ich geh ja schon. Hier, nimm das Baby.«

»Ich kann nicht. Ich bin auf Droge. Ich habe Halluzinationen.«

Jane hielt das Baby in der rechten Armbeuge und nahm ihren Bruder in den Arm. »Charlie, du hast Antidepressiva und Beruhigungsmittel genommen, kein Acid. Sieh dich um. Du wirst in dieser Wohnung niemanden finden, der nicht in irgendeiner Form zugedröhnt ist.« Die Durchreiche ermöglichte einen Blick ins Wohnzimmer: Frauen in Schwarz, die meisten um die Fünfzig oder älter, schüttelten die Köpfe, die Männer wirkten ungerührt, standen im Wohnzimmer herum, alle mit einem Glas voll Alkohol. Sie starrten ins Nichts.

»Siehst du? Die sind doch alle breit.«

»Was ist mit Mom?« Charlie nickte zu seiner Mutter hinüber, die aus dem Pulk der grauhaarigen Frauen in Schwarz herausstach, weil sie mit Navajo-Schmuck behängt und so braungebrannt war, dass sie sich in ihrem »Old Fashioned«-Cocktail aufzulösen schien, wenn sie davon trank.

»Mom ganz besonders«, sagte Jane. »Ich such was, worauf man shiva sitzen kann. Obwohl ich nicht verstehe, wieso man nicht auf dem Sofa sitzen darf. Jetzt nimm endlich deine Tochter.«

»Ich kann nicht. Mir ist nicht zu trauen.«

»Nimm sie, Schwachkopf!«, bellte Jane ins Charlies Ohr, so etwas wie ein Flüsterbellen. Die beiden hatten schon lange geklärt, wer hier das Alphamännchen war, und Charlie war es nicht. Sie reichte ihm das Baby und steuerte die Treppe an.

»Jane!«, rief ihr Charlie nach. »Sieh dich um, bevor du Licht machst. Guck nach, ob dir was komisch vorkommt, okay?«

»Aha. Komisch also.«

Sie ließ ihn in der Küche stehen, wo er seine Tochter betrachtete und dachte, dass ihr Kopf zwar etwas eckig wirkte, sie an sonsten aber Rachel ähnlich sah. »Deine Mama mochte Tante Jane«, sagte er. »Die beiden haben sich bei Risiko immer gegen mich verbündet – und bei Monopoly – und bei Diskussionen – und beim Kochen…« Er rutschte an der Kühlschranktür herab und saß mit gespreizten Beinen auf dem Boden, vergrub sein Gesicht in Sophies Decke.

Im Dunkeln stieß Jane mit dem Schienbein gegen eine Holzkiste mit alten Telefonen. »Also, das ist doch bescheuert«, sagte sie und machte Licht. Da war nichts komisch. Und dann – weil Charlie alles Mögliche war, nur nicht verrückt – machte sie das Licht wieder aus, um sicherzugehen, dass ihr nichts entgangen war. »Na klar. Sehr komisch.«

Das einzig Komische im Laden war, dass sie dort im Dunkeln stand und ihr Schienbein rieb. Doch dann, kurz bevor sie das Licht wieder anmachte, sah sie jemanden, der durchs Schaufenster hereinschaute. Er schirmte seine Augen ab, um im Licht der Straßenlaternen etwas zu erkennen. Ein Obdachloser oder ein betrunkener Tourist, dachte sie. Sie schob sich durch den dunklen Laden, zwischen Türmen von Comicheften hindurch, die sich am Boden stapelten, bis dorthin, wo sie hinter einem Jackenständer einen Blick auf das Schaufenster werfen konnte, das mit billigen Kameras, Vasen, Gürtelschnallen und allem möglichen vollgestopft war, was Charlies Ansicht nach von Interesse, aber natürlich keinen Einbruch wert war.

Der Mann sah groß aus, mitnichten obdachlos, gut gekleidet, wenn auch einfarbig. Es sah gelblich aus, aber im Licht der Laternen war das schwer zu sagen. Konnte auch hellgrün sein.

»Wir haben geschlossen«, sagte Jane laut genug, dass man sie durch die Scheibe hören konnte.

Der Mann da draußen sah sich im Laden um, konnte sie aber nicht finden. Er trat von der Scheibe zurück, und da sah sie erst,wie groß er wirklich war. Sehr groß. Licht von der Laterne fiel auf seine Wange, als er sich umwandte. Er war ausgesprochen dünn und ausgesprochen schwarz.

»Ich suche den Besitzer«, sagte der große Mann. »Ich muss ihm etwas zeigen.«

»Es gab einen Todesfall in der Familie«, sagte Jane. »Wir haben diese Woche geschlossen. Könnten Sie nächste Woche wiederkommen?«

Der große Mann nickte, sah sich auf der Straße um. Er wippte auf einem Fuß, als wollte er gleich losrennen, musste sich aber bremsen wie ein Sprinter vor dem Start. Jane rührte sich nicht. Es waren immer Leute draußen auf der Straße, und es war ja noch nicht spät, aber dieser Typ war zu nervös für diese Situation. »Hören Sie, wenn Sie etwas schätzen lassen wollen…«

»Nein.« Er fiel ihr ins Wort. »Nein. Sagen Sie ihm einfach, sie ist… nein. Sagen Sie ihm, er soll auf ein Päckchen achten, das mit der Post kommt. Ich weiß nicht genau, wann.«

Jane lächelte in sich hinein. Der Typ hatte irgendetwas – eine Brosche, eine Münze, ein Buch -, von dem er glaubte, dass es vielleicht etwas wert sein mochte. Wahrscheinlich hatte er es in der Kommode seiner Großmutter gefunden. Dutzende Male hatte sie es schon erlebt. Sie taten, als hätten sie die untergegangene Stadt Eldorado entdeckt, trugen es unter ihren Mänteln oder eingewickelt in tausend Lagen Taschentuch und Klebeband. (Je mehr Klebeband, desto wertloser war der Gegenstand normalerweise – da ließ sich bestimmt eine Gleichung aufstellen.) In neunzig Prozent der Fälle war es Schrott. Sie hatte erlebt, wie ihr Vater alles tat, um das Ego der Besitzer zu schonen, sie langsam auf die Enttäuschung vorzubereiten und davon zu überzeugen, dass der Erinnerungswert manche Dinge unbezahlbar machte, und er – bescheidener Gebrauchtwarenhändler, der er war – sich nicht erdreisten wollte, einen Preis dafür zu nennen. Charlie dagegen erklärte ihnen nur, er verstünde nichts von Broschen oder Münzen oder was sie sonst noch bei sich haben mochten, und überließ es anderen, die schlechte Nachricht zu überbringen.

»Okay, ich sag es ihm«, rief Jane aus ihrer Deckung hinter den Mänteln hervor.

Daraufhin verschwand der Mann, stakste wie eine Gottesanbeterin mit Riesenschritten die Straße hinauf und war nicht mehr zu sehen. Jane zuckte mit den Schultern, ging zurück und machte Licht, dann suchte sie zwischen den Stapeln nach Kissen.

Der Laden war groß, nahm fast das gesamte Erdgeschoss in Anspruch, und war nicht besonders gut sortiert, da alle Ordnungssysteme, die Charlie ausprobierte, schon nach wenigen Wochen unter ihrem eigenen Gewicht zu kollabieren schienen, was nicht so sehr ein organisatorisches Flickwerk mit sich brachte, sondern einen Garten kunterbunter Stapel. Lily, das rothaarige Gruftimädchen, das drei Nachmittage die Woche bei Charlie arbeitete, sagte, der Umstand, dass sie nie etwas fand, sei der Beweis, dass hier die Chaostheorie praktische Anwendung fand, nur um sich dann murmelnd davonzumachen, in der Gasse hinter dem Haus Nelkenzigaretten zu rauchen und in die Hölle zu starren. (Wobei Charlie aufgefallen war, dass die Hölle einem Müllcontainer verdächtig ähnlich sah.)

Zehn Minuten brauchte Jane, um die Inseln zu umschiffen und drei Kissen aufzutreiben, die breit und dick genug zu sein schienen, dass man darauf shiva sitzen konnte, und als sie wieder in Charlies Wohnung kam, fand sie ihren Bruder eingerollt auf dem Küchenfußboden, in Embryonalstellung, mit der kleinen Sophie vor dem Bauch, eingeschlafen. Die anderen Trauergäste hatten ihn total vergessen.

»Hey, Schwachkopf.« Sie stieß mit dem Zeh an seine Schulter, und er rollte auf den Rücken, hielt das Baby im Arm. »Sind die Kissen okay?«

»Hast du gesehen, dass es leuchtet?«

Jane ließ den Kissenstapel fallen. »Was?«

»Das rote Leuchten! Hast du im Laden was Leuchtendes gesehen? Was Rotes, Pulsierendes?«

»Nein. Du?«

»Glaub schon.«

»Lass sie weg.«

»Wen?«

»Die Medikamente. Gib sie zurück. Offenbar sind sie viel besser, als du zugibst.«

»Aber du hast doch gesagt, sie sind nur gegen Angstzustände.«

»Lass die Finger von den Drogen. Ich pass auf die Kleine auf, solange du shiva sitzt.«

»Du darfst nicht auf meine Tochter aufpassen, wenn du unter Drogen stehst.«

»Auch gut. Gib mir die kleine Sabberschnute und setz dich hin.«

Charlie reichte Jane das Baby. »Außerdem musst du Mom ruhig stellen.«

»O nein. Nicht ohne Drogen.«

»Die sind im Medizinschrank im Badezimmer. Unterstes Fach.«

Inzwischen hockte er am Boden, rieb sich die Stirn, als wollte er die Haut straffen. Sie stieß mit dem Knie an seine Schulter.

»Hey, Kleiner. Es tut mir ehrlich leid. Das weißt du, hm? Muss ich nicht erst sagen, oder?«

»Nein.« Ein schwaches Lächeln.

Sie hob das Baby hoch, betrachtete es liebevoll, spielte die Mutter Jesu. »Was meinst du? Sollte ich mir auch so was besorgen?«

»Du kannst meines jederzeit leihen, wenn du möchtest.«

»Nein, nein. Ich sollte mir selbst eines klauen.«

»Jane!«

»Kleiner Scherz! Meine Güte. Manchmal bist du so ein Weichei. Geh und sitz shiva. Geh. Geh. Geh.«

Charlie sammelte die Kissen ein und ging ins Wohnzimmer, um mit seinen Verwandten zu trauern, etwas nervös, denn das einzige Gedicht, das er kannte, war »Müde bin ich, geh zur Ruh«, und er hatte so eine Ahnung, dass es ihn nicht drei Tage über Wasser halten würde.

Jane vergaß völlig, den großen Mann draußen vor dem Schaufenster zu erwähnen.

3

Unter dem 41er-Bus

Es dauerte zwei Wochen, bis Charlie wieder vor die Tür ging und zum Geldautomaten an der Columbus Avenue spazierte, wo er seinen ersten Mitbürger tötete. Die Waffe seiner Wahl war der 41er-Bus auf dem Weg von der Trans-Bay-Station zum Presidio an der Golden Gate Bridge. Will man sich in San Francisco von einem Bus überfahren lassen, ist der 41er die beste Wahl, denn er bietet einen hübschen Ausblick auf die Brücke.

Charlie war nicht wirklich darauf vorbereitet gewesen, dass er an diesem Morgen jemanden umbringen würde. Er wollte ein paar Zwanziger für die Ladenkasse holen, nach seinem Konto sehen und vielleicht etwas gelben Senf vom Laden an der Ecke holen. (Charlie war kein Freund von braunem Senf. Der war wie Fallschirmspringen: okay für Rennfahrer und Serienkiller. Ihm persönlich verschaffte ein Hauch von französischem Senf alle Würze, die er im Leben brauchte.) Nach der Beerdigung war ein ganzer Berg von Aufschnitt in Charlies Kühlschrank zurückgeblieben, so dass er seit zwei Wochen nichts anderes aß, aber jetzt war nur noch Schinken, dunkles Brot und Babybrei übrig, ungenießbar ohne gelben Senf. Er hatte die kleine Plastikflasche in der Tasche und fühlte sich schon erheblich besser, doch als der Bus den Mann überrollte, war an Senf nicht mehr zu denken.

Es war ein warmer Oktobertag, das Licht über der Stadt war weich und herbstlich, der Nebel walzte nicht mehr jeden Morgen gnadenlos im Schneckentempo aus der Bucht, und es wehte gerade so viel Wind, dass die paar Segelboote draußen auf der Bay aussahen, als posierten sie für einen impressionistischen Maler. In dem Sekundenbruchteil, in dem Charlies Opfer klar wurde, dass es unter die Räder kommen würde, wusste es dies vielleicht nicht zu schätzen, doch hätte es sich keinen besseren Tag aussuchen können.

Der Mann hieß William Creek. Er war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete als Marktanalyst im Bankenviertel, wohin er an diesem Morgen gerade wollte, als er beschloss, kurz am Geldautomaten anzuhalten. Er trug einen leichten Anzug und Sneakers, hatte seine Arbeitsschuhe in der Ledermappe unter seinem Arm. Der Griff eines kleinen Taschenschirms ragte aus seiner Mappe hervor und weckte Charlies Interesse, denn obwohl der Griff des Schirms aus Walnussimitat zu bestehen schien, glühte er doch, als sollte er geschmiedet werden.

Charlie stand in der Schlange und versuchte, nicht darauf zu achten, gab sich desinteressiert, aber er musste einfach hinsehen. Das Ding glühte! Sah das denn keiner?

William Creek wandte sich kurz um, als er seine Geldkarte in den Automaten schob, merkte, dass Charlie ihn anstarrte, und gab sich Mühe, sein Jackett wie Mantaflügel auszubreiten, damit Charlie nicht sehen konnte, wie er seine Geheimnummer eintippte. Creek nahm seine Karte und das Geld, machte kehrt und steuerte zielstrebig auf die Straßenecke zu.

Charlie hielt es nicht länger aus. Dieser Regenschirmgriff pulsierte wie ein pochendes Herz. Als Creek am Bordstein stand, sagte Charlie: »Entschuldigung! Entschuldigen Sie, Sir!«

Als Creek sich umdrehte, sagte Charlie: »Ihr Schirm…«

In diesem Moment überquerte der 41er-Bus die Kreuzung Columbus und Vallejo mit gut fünfzig Sachen und steuerte für seinen nächsten Halt den Bordstein an. Creek starrte auf die Mappe unter seinem Arm, weil Charlie darauf deutete, und blieb mit dem Absatz seines Schuhs am schrägen Bordstein hängen. Er verlor das Gleichgewicht, wie es jedem von uns tagtäglich passieren kann, wenn wir durch die Stadt laufen, über einen Riss im Gehweg stolpern und ein paar schnelle Schritte machen, um die Balance wiederzufinden, doch William Creek machte nur einen einzigen Schritt. Rückwärts. Vom Bordstein.

Da gibt es wohl nichts zu beschönigen, oder? Der 41er-Bus nahm ihn auf die Hörner. Creek flog fast fünfzehn Meter durch die Luft, bevor er wie ein fleischgefüllter Gabardinesack auf die Heckscheibe eines Saab schlug, dann wieder auf dem Gehweg landete und Körperflüssigkeiten von sich gab. Seine Habe – die Mappe, der Schirm, eine goldene Krawattennadel, eine TAG-Heuer-Uhr – klapperte die Straße hinunter, prallte von Reifen, Schuhen, Gullydeckeln ab und blieb zum Teil erst an der nächsten Kreuzung liegen.

Charlie stand am Bordstein und versuchte zu atmen. Er hörte so einen Pfiff wie vom Schaffner einer Spielzeugeisenbahn, hörte nichts anderes, bis ihn jemand anrempelte und er merkte, dass es sein eigenes, rhythmisches Wimmern war. Dieser Mann – der Mann mit dem Regenschirm – lebte nicht mehr. Leute kamen angelaufen, ein gutes Dutzend bellte in die Handys, der Busfahrer rannte Charlie fast über den Haufen, als er den Bürgersteig entlang zu dem Blutbad lief. Charlie taumelte ihm nach.

»Ich wollte ihn gerade fragen…«

Niemand beachtete Charlie. Seine ganze Willenskraft und aufmunternde Worte seiner Schwester waren nötig gewesen, damit er überhaupt wieder vor die Tür ging, und dann das…

»Ich wollte ihm gerade erklären, dass sein Schirm brennt«, sagte Charlie, als müsste er sich rechtfertigen. Aber niemand machte ihm einen Vorwurf. Sie hetzten an ihm vorbei, manche hin zur Leiche, andere weg davon, rempelten ihn an und sahen sich um, als hätte sie ein kalter Windhauch angeweht, oder ein Gespenst.

»Der Schirm«, sagte Charlie, auf der Suche nach dem Beweisstück. Dann fand er ihn, fast unten an der nächsten Ecke, im Rinnstein, immer noch rot glühend, flackernd wie eine defekte Neonröhre. »Da! Seht doch!« Aber die Leute standen im weiten Halbkreis um den toten Mann, hielten ihre Hände vor die Münder. Niemand beachtete den dürren, verschreckten Kerl, der hinter ihnen Unsinn von sich gab.

Charlie ließ die Menge hinter sich, wollte den Regenschirm aus der Nähe betrachten. Er blickte auf, vergewisserte sich, dass kein Bus kam, bevor er auf die Straße trat. Eben sah er wieder hin, als eine kleine, schwarze Hand aus dem Gully kam und sich den Schirm schnappte.

Charlie wich zurück, drehte sich um, suchte jemanden, der gesehen hatte, was er gesehen hatte, fand aber keinen. Niemand suchte auch nur Blickkontakt. Ein Polizist trabte vorbei, und Charlie hielt ihn am Ärmel fest, doch als der Mann sich umwandte, sah ihn dieser erst erstaunt und dann entgeistert an. Charlie ließ ihn los. »Verzeihung«, sagte er. »Tut mir leid. Ich sehe, Sie haben zu tun… Entschuldigen Sie.«

Der Cop schüttelte sich, dann drängte er durch die gaffende Menge zum toten William Creek.

Charlie rannte los, über die Columbus Avenue, die Vallejo rauf, bis sein Keuchen und Herzrasen den Lärm der Straße übertönten. Als er noch etwa einen Block von seinem Laden entfernt war, zog ein gigantischer Schatten über ihn hinweg wie ein Tiefflieger oder ein riesiger Vogel, und Charlie spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Er ließ den Kopf sinken, pumpte mit den Armen und nahm die Ecke an der Mason Street, als eben ein Cable Car vorüberfuhr, randvoll mit seligen Touristen, die glatt durch ihn hindurch sahen. Er blickte auf, ganz kurz nur, und meinte, hoch oben über der Straße etwas wahrzunehmen, das hinter dem Dach des sechsstöckigen Altbaus auf der anderen Straßenseite verschwand. Dann spurtete er durch die Ladentür in sein Geschäft.

»Hey, Boss«, sagte Lily. Sie war sechzehn, blass und birnenförmig, die frauliche Figur irgendwo zwischen Babyspeck und Kinderkriegen. Heute war ihr Haar lavendelfarben: Fiftys-Hausfrauenfrisur, farblich wie die Folie an einem Präsentkorb.

Charlie lehnte an der Tür, halb über eine Kiste gebeugt, sog mit rasselndem Atem die muffige Luft seines Trödelladens in sich hinein. »Ich – glaub – ich – hab – eben – jemanden – ermordet«, keuchte er.

»Ausgezeichnet«, sagte Lily und ignorierte Botschaft und Verhalten gleichermaßen. »Wir brauchen Kleingeld für die Kasse.«

»Mit einem Bus«, sagte Charlie.

»Ray hat angerufen«, sagte sie. Ray Macy war Charlies anderer Angestellter, ein neununddreißigjähriger Junggeselle, dem es in ungesundem Maß an klaren Grenzen zwischen Internet und Wirklichkeit mangelte. »Er ist in Manila, um die Liebe seines Lebens zu treffen. Eine Miss LoveYouLongTime. Ray ist überzeugt davon, dass sie Seelenverwandte sind.«

»Da war was im Gully«, sagte Charlie.

Lily begutachtete einen Riss in ihrem schwarzen Nagellack. »Also hab ich die Schule geschwänzt, um einzuspringen. Das mach ich schon, seit du – äh – ausfällst. Ich werd ’ne Entschuldigung brauchen.«

Charlie richtete sich auf und trat an den Verkaufstresen. »Lily, hast du gehört, was ich eben gesagt habe?«

Er nahm sie bei den Schultern, aber sie machte sich von ihm los. »Autsch! Scheiße! Finger weg, Asher, du Sado-Freak, das ist mein neues Tattoo.« Sie boxte ihm an den Arm, wich zurück und rieb ihre Schulter. »Ich hab dich gehört. Komm wieder runter, sil vous plait!« Seit Lily Baudelaires Die Blumen des Bösen im Hinterzimmer auf einem Stapel gebrauchter Bücher gefunden hatte, spickte sie ihre Sätze mit französischen Phrasen. »Im Französischen lässt sich die profunde Noirness meiner Existenz weit treffender zum Ausdruck bringen«, sagte sie.

Charlie legte beide Hände auf den Tresen, damit sie nicht so zitterten, dann sprach er langsam und bedächtig wie mit jemandem, für den Englisch eine Fremdsprache war. »Lily, ich habe einen echt beschissenen Monat und weiß es zu schätzen, dass du deine Zukunft wegwirfst, um herzukommen und es dir an meiner Stelle mit den Kunden zu verscherzen, aber wenn du dich jetzt nicht sofort hinsetzt und etwas Anstand und Menschlichkeit an den Tag legst, werde ich dich leider entlassen müssen.«

Lily setzte sich auf den Chrom-und-Plastik-Hocker hinter dem Tresen und schob sich die langen, lavendelfarbenen Strähnen aus den Augen. »Du möchtest also, dass ich gut zuhöre, weil du einen Mord gestehen willst? Soll ich mir Notizen machen oder einen alten Kassettenrekorder vom Regal holen und alles aufnehmen? Willst du mir etwa erzählen, ich wäre rücksichtslos, weil ich versuche, deine offensichtliche Anspannung zu ignorieren, die ich später der Polizei gegenüber werde erwähnen müssen, damit ich dann persönlich dafür verantwortlich bin, dass du in der Gaskammer landest?«

Charlie lief es eiskalt über den Rücken. »Himmelarsch, Lily!« Die Schnelligkeit und Präzision ihrer Gruseligkeit überraschteihn immer wieder. Sie war wie ein Wunderkind der Gruseligkeit. Glücklicherweise führte ihm ihre extreme Schwarzseherei vor, dass er vermutlich doch nicht in der Gaskammer enden würde.

»So ein Mord war das nicht. Irgendwas hat mich verfolgt, und…«

»Schweig!« Lily hob die Hand. »Es wäre mir lieber, nicht meinen Arbeitseifer bekunden zu müssen, indem ich sämtliche Details deines grässlichen Verbrechens meinem fotografischen Gedächtnis anheim gebe, um es später vor Gericht aussagen zu können. Ich werde einfach behaupten, ich hätte dich gesehen und du hättest auf mich einen ganz normalen Eindruck gemacht – für jemanden der auch sonst von nichts ’ne Ahnung hat.«

»Du hast kein fotografisches Gedächtnis.«

»Hab ich wohl, und es ist ein Fluch. Nie werde ich vergessen, wie sinnlos…«

»Letzten Monat hast du mindestens achtmal vergessen, den Müll rauszubringen.«

»Hab ich nicht.«

Charlie atmete tief ein. Die vertraute Streiterei mit Lily beruhigte ihn ein wenig. »Okay, also, ohne hinzusehen: Welche Farbe hat dein Hemd?« Er zog die Augenbrauen hoch, als hätte er sie erwischt.

Lily grinste, und einen Moment lang sah er, dass sie noch ein Kind war, irgendwie süß und ein bisschen doof hinter ihrem dicken Make-up und der Pose. »Schwarz.«

»Du hast geraten.«

»Du weißt, dass ich nur schwarze Sachen habe.« Sie lächelte. »Ich bin froh, dass du nicht nach meiner Haarfarbe gefragt hast, denn die ist seit heute Morgen neu.«

»Das ist gar nicht gut für dich. In diesem Färbemittel sind Toxine.«

Lily hob ihre lavendelfarbene Perücke an und zeigte ihre kurzen, kastanienbraunen Locken, dann setzte sie das Ding wieder auf. »Ich bin Mutter Natur persönlich.« Sie kam hoch und klopfte auf den Barhocker. »Setz dich, Asher. Gestehe! Langweile mich!«

Lily stand an den Tresen gelehnt und neigte ihren Kopf, um aufmerksam zu wirken, doch mit ihren schwarz geschminkten Augen und den bunten Haaren sah sie eher aus wie eine Marionette, der ein Faden gerissen war. Charlie trat hinter den Tresen und setzte sich auf den Hocker. »Ich stand in der Schlange hinter diesem William Creek und hab gesehen, wie sein Regenschirm geglüht hat…«

Und Charlie ging mit ihr die ganze Geschichte durch, der Schirm, der Bus, die Hand, die aus dem Gully kam, der Sprint nach Hause mit dem großen Schatten über den Dächern, und als er fertig war, fragte Lily: »Und woher weißt du, wie er hieß?«

»Hä?«, sagte Charlie. Von allen schrecklichen, absonderlichen Fragen, die sie ihm hätte stellen können: Warum diese?

»Woher weißt du, wie der Mann hieß?«, wiederholte Lily. »Du hast doch kaum mit ihm gesprochen, bevor er unter die Räder kam. Hast du seine Quittung gesehen, oder was?«

»Nein, ich…« Er hatte keine Ahnung, woher er den Namen wusste, aber plötzlich war ein Bild davon in seinem Kopf, in Blockbuchstaben. Er sprang vom Hocker. »Ich muss los, Lily.«

Er rannte durch die Tür zum Lagerraum und die Treppe hinauf.

»Ich brauch immer noch eine Entschuldigung für die Schule!«, rief Lily von unten, doch Charlie stürmte durch die Küche, vorbei an einer großen Russin, die sein Baby in den Armen wiegte, ins Schlafzimmer, griff sich den Notizblock, der immer auf seinem Nachtschrank neben seinem Telefon lag.

Dort stand in seiner eigenen Handschrift in Blockbuchstaben der Name »William Creek«, darunter die Zahl 12. Schwer sank er aufs Bett und hielt den Notizblock wie ein Sprengstofffläschchen in die Höhe.

Hinter sich hörte er Mrs. Korjews schwere Schritte, als sie ihm ins Schlafzimmer folgte. »Mr. Asher, was war los? Sie rennen wie brennender Bär.«

Und da Charlie ein Betamännchen war und sich im Laufe der Jahrmillionen eine gewisse Standardreaktion auf Unerklärliches herausgebildet hatte, sagte er: »Da will mich jemand verarschen.«

Lily war gerade dabei, ihren Nagellack mit schwarzem Filzstift auszubessern, als Stephan, der Postbote, in den Laden spaziert kam.

»Alles im Lack, Darque?«, sagte Stephan, während er einen Stapel Post aus seiner Tasche fischte. Er war vierzig, klein, muskulös und schwarz. Seine Wrap-Around-Sonnenbrille saß fast immer oben auf den festen Reihen schmaler Cornrows. Lily hatte ihm gegenüber gemischte Gefühle. Sie mochte ihn, weil er sie »Darque« nannte, die Kurzform von »Darquewillow Elventhing«, der Name, unter dem sie im Laden Post bekam, aber weil er fröhlich war und die Menschen zu mögen schien, traute sie ihm nicht.

»Du musst unterschreiben«, sagte Stephan und hielt ihr ein Gerät mit elektronischem Schreibfeld hin, auf dem sie mit elegantem Schwung Charles Baudelaire kritzelte, ohne auch nur hinzusehen.

Stephan knallte die Post auf den Tresen. »Schon wieder allein? Wo sind denn alle?«

»Ray ist auf den Philippinen, Charlie steht unter Schock.« Sie seufzte. »Die Last der Welt liegt auf meinen Schultern…«

»Armer Charlie«, sagte Stephan. »Man sagt, es ist das Schlimmste, was einem passieren kann, wenn man seinen Ehepartner verliert.«

»Ja, das auch. Heute steht er unter Schock, weil er gesehen hat, wie jemand oben an der Columbus Avenue vom Bus überfahren wurde.«

»Hab davon gehört. Kommt er damit klar?«

»Scheiße, nein, Stephan, er wurde vom Bus überfahren.«

»Ich meinte Charlie.« Stephan zwinkerte trotz ihres harschen Tons.

»Ach, wie Charlie eben so ist.«

»Was macht das Baby?«

»Gibt offenbar ekelerregende Substanzen von sich.« Lily hielt sich den Filzstift unter die Nase, als könnte sie damit den Geruch eines müffelnden Babys übertünchen.

»Dann ist ja alles gut.« Stephan lächelte. »Das war’s für heute. Hast du was für mich?«

»Ich hab gestern ein paar rote Plateaustiefel reinbekommen. Plastik. Größe vierundvierzig.«

Stephan sammelte Ludenklamotten aus den Siebzigern . Lily sollte ein Auge darauf haben, was in den Laden kam.

»Wie hoch?«

»Zehn Zentimeter.«

»Tiefflug«, sagte Stephan, als erklärte das alles. »Mach’s gut, Darque.«

Lily winkte mit ihrem Filzstift, als er ging, und blätterte die Post durch. Das meiste waren Rechnungen, ein paar Werbezettel und ein dicker, schwarzer Umschlag, der sich wie ein Buch oder Katalog anfühlte. Adressiert war er an Charlie Asher c/o Ashers Secondhand, mit einem Poststempel von Plutos Nächtger Sphär, was offenbar in irgendeinem Staat lag, der mit U anfing. (Lily fand Erdkunde nicht nur beklemmend langweilig, sondern im Zeitalter des Internets auch völlig überflüssig.)

War das Päckchen nicht an Asher’s Secondhand adressiert?, überlegte Lily. Und stand nicht sie, Lily Darquewillow Elventhing, dort hinter dem Tresen, die einzige Angestellte – nein – vielmehr de facto die Geschäftsführerin besagten Ladens? Und war es nicht ihr gutes Recht – nein – ihre Pflicht, diesen Umschlag zu öffnen, um Charlie dieser lästigen Aufgabe zu entledigen? Wohlan, Elventhing! Dein Schicksal sei besiegelt, und wenn es vielleicht doch nicht dein Schicksal ist, kannst du immer noch auf Unwissenheit plädieren, was sie in der Politik ja auch nicht anders machen.

Sie nahm einen diamantbesetzten Dolch unter dem Tresen hervor (die Steine waren über dreiundsiebzig Cent wert), schlitzte den Umschlag auf und zog ein Buch hervor. Es war Liebe auf den ersten Blick.

Der Einband glänzte wie ein Kinderbuch, mit der farbenfrohen Illustration eines grinsenden Skeletts, auf dessen spitzen Fingernägeln kleine Menschen steckten. Alle schienen sich bestens zu amüsieren wie auf einem Karussell, das ihnen ganz nebenbei ein klaffendes Loch in die Brust stanzte. Es sah festlich aus, mit grellen Blumen und Bonbons im Stil mexikanischer Folklorekunst. Es hieß Das Große Bunte Buch des Todes, was in lustigen Buchstaben aus menschlichen Oberschenkelknochen groß und breit oben auf dem Umschlag geschrieben stand.

Lily schlug die erste Seite auf, wo ein Zettel steckte.

Das dürfte alles erklären. Tut mir leid.

MF

Lilly nahm den Zettel heraus und schlug das erste Kapitel auf: Jetzt bist Du also der Tod: Folgendes musst Du wissen.

Mehr war nicht nötig. Das war mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das coolste Buch, das sie je gesehen hatte. Damit konnte Charlie bestimmt überhaupt nichts anfangen, besonders in seinem momentan hyperneurotischen Zustand. Sie steckte das Buch in ihren Rucksack, dann zerriss sie den Zettel in kleine Fetzen und begrub sie ganz unten im Papierkorb.

4

Das Betamännchen in seiner natürlichen Umgebung

»Jane«, sagte Charlie, »die Ereignisse der letzten Wochen haben mich zu der Überzeugung gebracht, dass ruchlose Mächte oder Menschen – unidentifiziert, aber dennoch real – das Leben, wie wir es kennen, bedrohen und es möglicherweise darauf abgesehen haben, den Faden unseres Daseins abzurippeln.«

»Und deshalb muss ich dieses gelbe Zeug essen?« Jane saß an Charlies Frühstückstresen und aß Cocktailwürstchen direkt aus der Packung, dippte sie in eine Schale mit französischem Senf. Die kleine Sophie saß in so einem Ding auf dem Tresen, das wie der Helm eines Star-Wars-Kriegers aussah.

Charlie lief in der Küche auf und ab, unterstrich seine naheliegenden Argumente und wedelte dabei mit seinem Würstchen herum. »Erstens war da dieser Mann in Rachels Zimmer, der auf mysteriöse Weise von den Videoaufnahmen verschwunden ist.«

»Weil er gar nicht da war. Guck mal, Sophie mag gelben Senf, genau wie du.«

»Zweitens«, fuhr Charlie fort, obwohl seine Schwester beharrlich Desinteresse zeigte, »diese Gegenstände im Laden haben geleuchtet, als wären sie radioaktiv. Steck ihr das nicht in den Mund.«

»O mein Gott, Charlie. Sophie ist hetero. Guck dir mal an, wie sie es auf dieses Würstchen abgesehen hat.«

»Und drittens dieser Creek, der gestern an der Columbus Avenue vom Bus überfahren wurde. Ich wusste, wie er hieß, und sein Regenschirm hat rot geglüht.«

»Jetzt bin ich aber enttäuscht«, sagte Jane. »Ich hatte mich schon so darauf gefreut, sie ins Mädchenteam zu holen, ihr alle Vorteile zu verschaffen, die ich nie hatte, aber sieh dir nur mal an, was sie da mit diesem Würstchen treibt. Die Kleine ist ein Naturtalent.«

»Nimm es ihr aus dem Mund!«

»Entspann dich, sie kann es nicht essen. Sie hat ja nicht mal Zähne. Und da sitzt ja auch kein stöhnender Tele-Tubby am anderen Ende. Meine Fresse, ich werde reichlich Tequila brauchen, wenn ich dieses Bild aus meinem Kopf kriegen will.«

»Sie soll kein Schweinefleisch essen, Jane. Sie ist jüdisch! Willst du meine Tochter etwa zur Schickse machen?«

Jane riss Sophie das Cocktailwürstchen aus dem Mund und sah es sich genauer an, obwohl noch ein Sabberfaden daran hing. »Ich glaube kaum, dass ich diese Dinger jemals wieder essen kann«, sagte Jane. »Bestimmt muss ich immer daran denken, wie meine Nichte ihrer Frotteepuppe einen bläst.«

»Jane!« Charlie nahm ihr das Würstchen weg und warf es in die Spüle.

»Was?!«

»Hörst du überhaupt zu?«

»Ja, ja. Du hast gesehen, wie jemand vom Bus überfahren wurde, und jetzt rippelt sich dein Faden ab. Und?«

»Und jemand will mich verarschen!«

»Was soll daran neu sein, Charlie? Seit deinem achten Lebensjahr denkst du, dass dich jemand verarschen will.«

»Stimmt ja auch. Wahrscheinlich. Aber diesmal ist es real. Es könnte real sein.«

»Hey, das sind Rindfleischwürstchen! Sophie ist gar keine Schreckse.«

»Schickse!«

»Egal.«

»Jane, du bist überhaupt keine Hilfe bei meinem Problem.«

»Welches Problem? Hast du ein Problem?«

Charlies Problem bestand darin, dass sich die Auswüchse seiner Betamännchen-Phantasie wie Bambussplitter unter seine Fingernägel bohrten. Während Alphamännchen oft mit überlegenen physischen Attributen aufwarten können (Größe, Kraft, Schnelligkeit, Aussehen – im Laufe der Äonen durch das Überleben der jeweils Stärksten selektiert) und meist alle Mädchen abbekommen, überlebten die Gene des Betamännchens nicht deshalb, weil es sich Widrigkeiten entgegenstellte und überwand, sondern weil es sie voraussah und mied. Während also die Alphamännchen den Mastodons nachjagten, sah das Betamännchen voraus, dass es möglicherweise schief gehen konnte, wenn man etwas, das im Grunde nichts weiter als ein böser, behaarter Bulldozer war, mit einem spitzen Stock bedrohte, und deshalb blieb es im Lager zurück, um die trauernden Witwen zu trösten. Machten sich Alphamännchen auf den Weg, benachbarte Stämme zu unterwerfen, Beute zu machen und Köpfe zu sammeln, sahen die Betamännchen voraus, dass der Zustrom weiblicher Sklaven im Fall eines Sieges einen Überschuss an jungen, hübschen, unbemannten Frauen mit sich bringen würde, die nichts anderes zu tun hatten, als die Köpfe zu pökeln und die Beute zu sortieren. Manche von ihnen fanden Trost in den Armen eines Betamännchens, das schlau genug war, zu überleben. Im Fall einer Niederlage… nun, da kam wieder die Sache mit den Witwen zum Tragen. Das Betamännchen ist selten das Stärkste oder Schnellste, doch da es die Gefahr vorhersieht, ist es seinem Konkurrenten, dem Alphamännchen, zahlenmäßig weit überlegen. Die Welt wird von Alphamännchen regiert, doch drehen sich ihre Räder um die Achse des Betamännchens.

Das Problem (Charlies Problem) bestand darin, dass die Phantasie des Betamännchens angesichts der modernen Gesellschaft überflüssig geworden war. Es war wie mit den Reißzähnen des Säbeltigers oder dem Testosteron der Alphamännchen: Es gab einfach viel mehr Betamännchen-Phantasie, als man sinnvoll gebrauchen konnte. Entsprechend wurden viele Betamännchen Hypochonder, Neurotiker und Paranoiker oder gerieten in Abhängigkeit von Pornos oder Videospielen.

Denn während sich die Phantasie des Betamännchens entwickelte, um Gefahren zu meiden, ermöglichte sie ihm heutzutage einen imaginären Zugang zu Macht, Geld und langbeinigen Modelweibchen, die ihm in Wahrheit nicht mal in die Nieren treten würden, wenn sie ein Krabbeltier von ihrem Schuh abstreifen wollten. Die reichhaltige Phantasie des Betamännchens mag oft in die Wirklichkeit hinüberlappen und sich in geradezu genialischem Maß in Wahnvorstellungen manifestieren. Tatsächlich halten sich zahlreiche Betamännchen – im Widerspruch zu empirischen Erkenntnissen – für Alphamännchen und wurden von ihrem Schöpfer mit ausgeprägtem Charisma und einiger Verschlagenheit beschenkt, was zwar von der Idee her der Knaller sein mag, für Frauen aus Fleisch und Blut jedoch absolut nicht zu erkennen war. Jedesmal, wenn sich ein Supermodel von seinem Rockstar-Gatten scheiden lässt, freut sich das Betamännchen im Stillen (oder genauer gesagt: spürt es eine Woge ungerechtfertigter Hoffnung aufsteigen), und jedesmal, wenn ein hübscher Filmstar heiratet, hat das Betamännchen das Gefühl, eine weitere Chance verpasst zu haben. Ganz Las Vegas – mit seinem Plastikprunk, dem Reichtum zum Mitnehmen, seinen vulgären Türmen und Kellnerinnen mit utopischen Brüsten – basiert auf den Wahnvorstellungen des Betamännchens.

Die Selbsttäuschung des Betamännchens hatte auch eine nicht unerhebliche Rolle gespielt, als Charlie seine Rachel zum ersten Mal ansprach, an jenem regnerischen Februartag vor fünf Jahren, als er – um dem Wetter zu entkommen – einen Laden betrat, der Ein hübscher, heller Ort für Bücher hieß, und Rachel ihm ein scheues Lächeln schenkte, über einen Stapel von Carson McCullers hinweg, die sie gerade einsortierte. Sie schien zu lächeln, weil er vor jungenhaftem Charme nur so triefte, während es in Wahrheit daran lag, dass er einfach nur triefte.

»Sie tropfen«, sagte sie. Sie hatte blaue Augen, helle Haut und dunkle Locken, die ihr Gesicht umrahmten. Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel, was sein Betamännchen-Ego anspornte.

»Ja, gern«, sagte Charlie und trat einen Schritt näher.

»Soll ich Ihnen ein Handtuch holen oder so?«

»Ach was, das bin ich gewohnt.«

»Sie tropfen auf Cormac McCarthy.«

»’Tschuldigung.« Charlie wischte All die schönen Pferde mit dem Ärmel ab, während er zu erkennen versuchte, ob sie unter dem labberigen Pulli und den Cargo-Hosen eine hübsche Figur hatte. »Kommen Sie oft hierher?«

Rachel brauchte einen Moment, bis sie reagierte. Sie trug ein Namensschild, räumte Bücher in Regale und war ziemlich sicher, dass sie diesen Typen schon mal im Laden gesehen hatte. Also konnte er nicht ganz blöd sein, sondern eher schlau. Mehr oder weniger. Unwillkürlich lachte sie.

Charlie zuckte mit den feuchten Schultern und lächelte. »Ich bin Charlie Asher.«

»Rachel«, sagte Rachel. Sie gaben sich die Hand.

»Rachel, würden Sie irgendwann mal mit mir einen Kaffee oder irgendwas trinken?«

»Das kommt ganz darauf an, Charlie. Vorher müssen Sie mir ein paar Fragen beantworten.«

»Selbstverständlich«, sagte Charlie. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich da auch ein paar Fragen.« Er dachte »Wie siehst du nackt aus?« und »Wann kann ich es mir ansehen?«

»Also gut.« Rachel legte Die Ballade vom Traurigen Café beiseite und zählte ihre Finger ab.

»Haben Sie einen Job, ein Auto und eine Wohnung? Und sind die letzten beiden dasselbe?« Sie war fünfundzwanzig und schon eine Weile Single. Sie hatte gelernt, ihre Bewerber auszusortieren.

»Äh – ja, ja, ja und nein.«

»Ausgezeichnet. Sind Sie schwul?« Sie war schon eine ganze Weile Single in San Francisco.

»Habe ich Sie auf einen Kaffee eingeladen oder nicht?«

»Das hat nichts zu bedeuten. Ich kenne Typen, die erst gemerkt haben, dass sie schwul sind, nachdem wir schon ein paar Mal ausgegangen waren. Scheint meine Spezialität zu sein.«

»Wow. Sie machen wohl Witze.« Er musterte sie von oben bis unten und kam zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich eine tolle Figur unter ihren weiten Sachen hatte. »Ich hab schon mal daran gedacht, aber das ist nichts für mich…«

»Korrekte Antwort. Okay, ich gehe mit Ihnen einen Kaffee trinken.«

»Nicht so hastig. Was ist mit meinen Fragen?«

Rachel stemmte ihre Fäuste in die Hüften, seufzte und verdrehte die Augen. »Okay. Schießen Sie los.«

»Ich habe eigentlich keine Fragen. Sie sollten nur nicht denken, ich wäre leicht zu haben.«

»Und deshalb haben Sie mich schon nach dreißig Sekunden gefragt, ob ich mit Ihnen ausgehen möchte?«

»Kann man es mir zum Vorwurf machen? Da standen Sie vor mir: dieser Blick, dieses Lächeln, dieses Haar, so trocken… und umgeben von guten Büchern…«

»Fragen Sie!«

»Glauben Sie, es könnte sein… also, wenn wir uns besser kennen, dass Sie mich vielleicht irgendwann mögen? Ich meine, halten Sie das für möglich?«

Es machte nichts, dass er sie bedrängte, egal, ob er nun schlau oder tollpatschig war. Sie konnte sich seines charmelosen Betamännchen-Charmes einfach nicht erwehren und wusste, was sie antworten würde. »Keine Chance«, log sie.

»Sie fehlt mir«, sagte Charlie und wandte sich von seiner Schwester ab, als müsste er sich dort in der Spüle ganz dringend etwas ansehen. Seine Schultern bebten, und Jane ging zu ihm und nahm ihn in die Arme, als er auf die Knie sank.

»Sie fehlt mir schrecklich.«

»Das weiß ich doch.«

»Ich hasse diese Küche.«

»Ganz deiner Meinung, Kleiner.«

Die Gute.

»Wenn ich diese Küche sehe, sehe ich ihr Gesicht, und damit komm ich einfach nicht zurecht.«

»Doch, kommst du. Bestimmt. Es wird besser werden.«

»Vielleicht sollte ich umziehen.«

»Du solltest tun, was du für richtig hältst, aber der Schmerz reist immer mit.« Jane knetete ihm Nacken und Schultern, als wäre seine Trauer ein Knoten, der sich mit etwas Druck lösen ließe.

Nach ein paar Minuten war er wieder bei sich, funktionstüchtig, saß am Tresen zwischen Sophie und Jane und trank eine Tasse Kaffee. »Meinst du denn, dass ich mir das alles einbilde?«

Jane seufzte. »Charlie, Rachel war das Zentrum deines Universums. Das war jedem klar, der euch gesehen hat. Dein Leben kreiste nur um sie. Seit Rachel nicht mehr da ist, hast du auch keine Mitte mehr, nichts, was dich erdet, du bist ganz eierig und instabil, so dass dir manches unwirklich vorkommt. Aber du hast eine Mitte.«

»Hab ich?«

»Dich selbst. Ich habe doch auch keine Rachel, und jemand wie sie ist auch nicht in Sicht, aber trotzdem komme ich nicht ins Rotieren.«

»Du willst mir also sagen, ich soll mich nur noch um mich selbst drehen, so wie du?«

»Das tue ich. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch?«

»Interessiert es dich?«

»Gutes Argument. Meinst du, du kommst zurecht? Ich muss noch ein paar Yoga-DVDs kaufen. Der Kurs fängt morgen an.«

»Wozu brauchst du DVDs, wenn du einen Kurs belegst?«

»Es muss aussehen, als hätte ich Ahnung, sonst will doch keiner mit mir ausgehen. Kommst du klar?«

»Wird schon. Ich kann nur die Küche nicht betreten. Oder mich in der Wohnung umsehen oder Musik hören oder fernsehen.«

»Na, gut. Dann viel Spaß«, sagte Jane und kniff dem Baby auf dem Weg hinaus kurz in die Nase.

Als sie weg war, saß Charlie eine Weile am Tresen und betrachtete die kleine Sophie. Seltsamerweise war sie das Einzige in der Wohnung, was ihn nicht an Rachel erinnerte. Sie war ihm fremd. Sie sah ihn an – diese großen, blauen Augen – mit so einem seltsamen, glasigen Blick. Nicht mit Bewunderung oder Staunen, was man vielleicht erwarten würde, eher als hätte sie getrunken und wollte los, sobald sie ihre Autoschlüssel gefunden hatte.

»Entschuldige«, sagte Charlie und wandte seinen Blick dem Stapel unbezahlter Rechnungen neben dem Telefon zu. Er spürte, dass das Kind ihn beobachtete, sich – wie er glaubte – fragte, wie vielen Frotteepuppen sie wohl noch einen blasen musste, bis sie in dieser Welt einen vernünftigen Vater bekam. Trotzdem prüfte er, ob sie auch sicher in ihrem Sitz festgeschnallt war, und machte sich an die Wäsche, denn er wollte ein wirklich guter Vater werden.

Betamännchen sind fast immer gute Väter. Meist sind sie beständig und verantwortungsvoll, die Art von Männern, die ein Mädchen (sofern es bereit ist, auf das siebenstellige Gehalt und den durchtrainierten Körper zu verzichten) gern als Väter ihrer Kinder haben möchte. Natürlich wäre es ihr lieber, wenn sie dafür nicht mit ihm schlafen müsste, aber hat man erst ein paarmal von Alphamännchen einen Tritt bekommen, erscheint es einem doch als angenehmer Kompromiss, in den Armen eines Mannes aufzuwachen, der einen vergöttert – und sei es nur aus reiner Dankbarkeit für Sex, selbst dann noch, wenn man den Kerl kaum ertragen kann.

Denn das Betamännchen ist – wenigstens das – treu. Es gibt einen guten Ehemann und einen guten Freund ab. Es hilft einem beim Umzug und bringt die Suppe, wenn man krank ist. Rücksichtsvoll, wie es ist, bedankt sich das Betamännchen bei einer Frau nach dem Sex und ist oft genug auch schnell bereit, sich zu entschuldigen. Es kann gut Haustiere hüten, vor allem, wenn man nicht sonderlich an seinen Lieblingen hängt. Ein Betamännchen ist vertrauenswürdig. Normalerweise ist deine Freundin in den Händen eines Betamännchen-Freundes sicher, es sei denn natürlich, sie ist eine miese Schlampe. (Tatsächlich wäre es möglich, dass einzig und allein die miese Schlampe für das Überleben der Betamännchen-Gene verantwortlich ist, denn so loyal es auch sein mag, ist das Betamännchen real attackierenden Brüsten gegenüber doch machtlos.)

Nun mag ein Betamännchen sehr wohl das Potential für einen guten Ehemann und Vater besitzen, doch wollen diese Fähigkeiten erlernt sein. In den folgenden Wochen tat Charlie kaum etwas anderes, als die kleine Fremde in seinem Haus zu umsorgen. Sie war eine Außerirdische, buchstäblich – eine Art Fress-Scheiß-Wutanfall-Maschine – und er verstand rein gar nichts von ihrer Spezies. Doch während er sie umsorgte, mit ihr sprach, ihr seinen Schlaf opferte, sie badete, ihr beim Nickerchen zusah und sie wegen der widerwärtigen Substanzen ermahnte, die aus ihr hervorsickerten oder -rülpsten, verliebte er sich in sie. Eines Morgens, nach einer besonders nachtaktiven Parade des Fütterns und Wickelns, wachte er auf und sah, dass sie leeren Blickes das Mobile über ihrem Kinderbett anstarrte, doch als sie ihn dann bemerkte, lächelte sie. Da war es um ihn geschehen. Wie schon ihre Mutter steuerte sie den Kurs seines Lebens mit einem Lächeln. Und wie bei Rachel an jenem verregneten Morgen im Buchladen, erstrahlte seine Seele. Das Unbegreifliche, die seltsamen Umstände von Rachels Tod, die leuchtenden Gegenstände im Laden, das düstere, geflügelte Ding über der Straße, das alles war angesichts des neuen Lichts in seinem Leben gar nicht mehr so wichtig.

Er begriff nicht, wie bedingungslos ihre Liebe zu ihm war. Wenn er also mitten in der Nacht aufstand, um sie zu füttern, zog er ein Hemd über, kämmte sich das Haar und achtete darauf, dasser nicht aus dem Mund roch. Bereits wenige Minuten, nachdem ihn die Zuneigung seiner Tochter wie ein Knüppel getroffen hatte, entwickelte er eine tief sitzende Sorge um ihre Sicherheit, die schon nach einigen Tagen zu einem bunten Strauß der Paranoia erblühte.

»Hier drinnen sieht’s ja aus wie im Schaumstoffladen«, sagte Jane eines Nachmittags, als sie Charlie die Rechnungen aus dem Laden und Schecks zum Unterschreiben brachte. Charlie hatte alle scharfen Ecken und Kanten in der Wohnung mit Schaumgummi und Isolierband gepolstert, sämtliche Steckdosen gesichert, die Schränke mit Schlössern versehen, neue Rauch-, Kohlenmonoxid- und Radonmelder installiert und den V-Chip im Fernseher aktiviert, so dass er jetzt nichts mehr sehen konnte, bei dem es nicht um Tierbabys oder das Alphabet ging.

»Unfälle sind die häufigste Todesursache amerikanischer Kinder«, sagte Charlie.

»Aber sie kann ja noch nicht mal auf den Bauch rollen.«

»Ich möchte bereit sein. Überall liest man, dass man ihnen eben noch die Brust gibt, und schon wacht man am nächsten Tag auf und sie sind vom College geflogen.« Er war gerade dabei, das Baby auf dem Kaffeetisch zu wickeln, und hatte dafür schon zehn feuchte Tücher verbraucht, sofern sich Jane nicht verzählt hatte.

»Ich glaube, es könnte vielleicht eine Metapher sein. Du weißt schon… weil sie so schnell groß werden.«

»Jedenfalls bin ich vorbereitet, wenn sie krabbeln lernt.«

»Wieso bastelst du ihr nicht gleich einen Schaumgummianzug? Es wäre einfacher, als die ganze Welt zu polstern. Charlie, es sieht hier drinnen etwas unheimlich aus. Du kannst ja nicht mal eine Frau mit nach Hause bringen. Sie würde denken, du hast sie nicht mehr alle.«

Charlie sah seine Schwester lange an, ohne etwas zu erwidern, wie erstarrt, hielt eine Wegwerfwindel in der einen Hand und die Füßchen seiner Tochter zwischen den Fingern der anderen.

»Sofern du dafür bereit bist«, fügte sie eilig hinzu. »Ich meine, ich will damit nicht sagen, dass du eine Frau mitbringen würdest.«

»Okay, denn das würde ich auch nicht.«

»Natürlich nicht. Das wollte ich damit nicht sagen. Aber du musst mal aus deinen vier Wänden raus. Vor allem musst du runter in den Laden. Ray hat den Geschäftscomputer in eine Art Dating-Service umfunktioniert, und die Sozialarbeiterin, die sich um Schulschwänzer kümmert, hat schon dreimal nach Lily gefragt. Und ich kann nicht die Buchführung machen und den Laden schmeißen und auch noch meinem Beruf nachgehen, Charlie. Dad hat dir den Laden aus gutem Grund vererbt.«

»Aber dann passt niemand auf Sophie auf.«

»Lass sie bei Mrs. Korjew. Oder bei Mrs. Ling. Wenn es sein muss, könnte ich sie abends ein paar Stunden nehmen.«

»Abends gehe ich nicht runter. Da werden die Sachen radioaktiv.«

Jane packte ihren Stapel mit den Unterlagen auf den Kaffeetisch gleich neben Sophies Kopf und trat mit verschränkten Armen zurück. »Sei so nett und überleg mal kurz, was du da redest.«

Charlie tat es, dann zuckte er mit den Schultern. »Okay, es klingt etwas verrückt.«

»Lass dich kurz unten im Laden sehen, Charlie. Nur ein paar Minuten, damit du weißt, wie es ist, und um Ray und Lily einen kleinen Schrecken einzujagen, okay? Ich wickel die Kleine zu Ende.«

Jane zwängte sich zwischen Couch und Kaffeetisch, schobihren Bruder aus dem Weg. Dabei stieß sie die volle Windel auf den Boden, sodass sie aufklappte.

»Oh, mein Gott!« Sie würgte und wandte sich ab.

»Noch ein Grund mehr, keinen braunen Senf zu essen, hm?«, sagte Charlie.

»Du Arsch!«

Er wich zurück. »Okay, ich geh runter. Bist du sicher, dass du es schaffst?«

»Geh!«, sagte Jane, winkte ihn mit der einen Hand hinaus und hielt sich mit der anderen die Nase zu.

5

Die Finsternis wird frech

»Hey, Ray«, rief Charlie schon auf der Treppe in den Lagerraum. Er versuchte immer, möglichst laut zu sein, und rief frühzeitig »Hallo!«, um seine Angestellten vorzuwarnen, dass er im Anmarsch war. Er hatte schon diverse Jobs gehabt, bevor er zurückkam, um den Familienbetrieb zu übernehmen, und er wusste aus Erfahrung, dass niemand Chefs mochte, die sich anschlichen.

»Hey, Charlie«, sagte Ray. Ray war vorn, saß auf dem Hocker hinterm Tresen. Er ging auf die vierzig zu, war groß, mit halber Glatze, und er lief durch die Welt, ohne sich je umzusehen. Er konnte es nicht. Als Polizist hatte er vor sechs Jahren eine Kugel in den Nacken bekommen und seither ohne Spiegel keinen Blick mehr über seine Schulter geworfen. Ray lebte von einer großzügigen Erwerbsunfähigkeitsrente der Stadt und arbeitete bei Charlie im Tausch gegen Mietfreiheit für seine Wohnung, so dass diese Transaktion bei beiden nicht in den Büchern auftauchte.

Er kreiselte auf dem Hocker herum, sah Charlie an. »Hey… äh… ich wollte dir sagen, dass… na ja… deine Lage, ich meine, dein Verlust… Alle mochten Rachel. Also, wenn ich irgendwas für dich tun kann…«

Charlie traf Ray zum ersten Mal seit der Beerdigung, so dassdie Peinlichkeit sekundärer Beileidsbezeugungen erst noch durchwatet werden musste. »Du hast schon mehr als genug getan und meine Schichten übernommen. Woran arbeitest du gerade?« Charlie gab sich verzweifelt Mühe, die mattrot leuchtenden Gegenstände im Laden zu ignorieren.

»Ach, das…« Ray rotierte und rollte rückwärts, damit Charlie einen Blick auf den Bildschirm werfen konnte, auf dem Reihen lächelnder, junger Asiatinnen zu sehen waren. »Es nennt sich Desperate Filipenas Dot Com

»Hast du da auch Miss LoveYouLongTime kennen gelernt?«

»So hieß sie gar nicht. Hat Lily das gesagt? Die Kleine hat Probleme.«

»Ja, na ja, Kinder…«, sagte Charlie und bemerkte plötzlich eine matronenhafte Frau in Tweed, die in den Kuriositätenregalen vorn im Laden herumstöberte. Sie hielt einen rot leuchtenden Porzellanfrosch in der Hand.

Ray klickte eines der Bilder an, woraufhin sich eine nähere Beschreibung öffnete. »Guck dir die hier an, Boss. Da steht, sie steht auf Skullen.« Ray drehte sich wieder auf seinem Hocker um und wackelte mit den Augenbrauen.

Charlie riss sich von der Frau mit dem glühenden Frosch los und betrachtete den Bildschirm.

»Es bedeutet >Rudern<, Ray.«

»Nein, tut es nicht. Hier, da steht, sie hatte am College die Riemen fest im Griff.« Wieder dieses Augenbrauenwackeln, aber diesmal wollte er, dass Charlie einschlug. »Schlag ein!«

»Ebenfalls Rudern«, sagte Charlie und ließ den Excop hängen. »Die Dinger, mit denen sie durchs Wasser paddeln, heißen Riemen.«

»Wirklich?«, sagte Ray enttäuscht. Er war dreimal verheiratet gewesen und von allen drei Frauen verlassen worden, weil er un fähig war, so etwas wie ein erwachsenes Sozialverhalten an den Tag zu legen. Ray trat der Welt als Polizist gegenüber, was manche Frauen anfangs sehr wohl attraktiv fanden, dann jedoch erwarteten, dass er diese Haltung – gemeinsam mit seiner Dienstpistole – in den Garderobenschrank hängte, wenn er abends nach Hause kam. Was er nicht tat. Als Ray seine Arbeit bei Ashers Secondhand aufgenommen hatte, dauerte es zwei Monate, bis Charlie ihn dazu bringen konnte, die Kunden nicht mehr mit »Gehen Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!« herumzukommandieren. Ray verbrachte viel Zeit damit, über sich selbst und die Menschheit im Allgemeinen enttäuscht zu sein.

»Hey, Mann, nimm’s nicht so schwer!«, sagte Charlie, um ihn aufzuheitern. Er mochte den Excop trotz aller Unbeholfenheit. Ray war im Grunde ein guter Kerl, warmherzig und loyal, fleißig und pünktlich, aber vor allem fielen Rays Haare schneller aus als Charlies.

Ray seufzte. »Vielleicht sollte ich mir eine andere Website suchen. Welches Wort drückt aus, dass du jemanden suchst, der mehr als nur verzweifelt ist?«

Charlie las etwas weiter unten auf der Seite. »Diese Frau hat ihren Magister in Englischer Literatur in Cambridge gemacht, Ray. Und sieh sie dir an! Sie ist wunderschön. Und neunzehn. Warum ist sie verzweifelt?«

»Hey, warte mal. Einen Magister mit neunzehn. Dieses Mädchen ist zu schlau für mich.«

»Nein, ist sie nicht. Sie lügt.«

Ray kreiselte auf dem Hocker herum, als hätte ihn Charlie mit dem Bleistift ins Ohr gepiekt. »Nein!«

»Ray, guck sie dir an! Sie sieht aus wie eines von diesen Models für Fischbonbons mit Apfelgeschmack.«

»So was gibt es?«

Charlie deutete auf das linke Schaufenster. »Ray, darf ich dir Chinatown vorstellen? Chinatown, das ist Ray – Ray, Chinatown.«

Ray lächelte verlegen. Zwei Blocks weiter gab es einen Laden, der ausschließlich getrocknete Haifischteile verkaufte und in dessen Schaufenster Fotos von anbetungswürdigen Chinesinnen hingen, mit Milz und Augäpfeln von Haien in der Hand, als hätten sie eben einen Oscar bekommen. »Tja, im Profil der letzten Frau, die ich über diese Seite kennen gelernt habe, wurde auch einiges unterschlagen.«

»Zum Beispiel?« Charlie beobachtete die Frau in Tweed, die sich mit dem leuchtenden Frosch in Händen dem Tresen näherte.

»Na ja, sie hat gesagt, sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, einszweiundfünfzig groß und wiegt hundertfünf Pfund, also dachte ich: >Okay, mit einer kleinen Frau kann man auch Spaß haben.< Stellt sich raus, es waren hundertfünf Kilo

»Also nicht das, was du erwartet hattest?«, sagte Charlie. Er lächelte die näher kommende Frau an und spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Sie wollte den Frosch kaufen!

»Einszweiundfünfzig. Sie war gebaut wie ein Briefkasten. Darüber hätte ich noch hinwegkommen können, aber sie war auch nicht dreiundzwanzig, sondern dreiundsechzig. Einer ihrer Enkel wollte sie mir verkaufen.«

»Ma’am, es tut mir leid, aber der ist leider unverkäuflich«, sagte Charlie zu der Frau.

»Diese Wendung hört man oft genug«, fuhr Ray fort. »Aber man trifft kaum jemals einen Menschen, der tatsächlich versucht, seine eigene Großmutter zu verkaufen.«

»Warum nicht?«, fragte die Frau.

»Fünfzig Mücken«, sagte Ray.

»Unerhört«, sagte die Frau. »Er ist mit >Zehn< ausgezeichnet.«

»Nein, fünfzig für die Großmutter, mit der Ray ausgeht«, sagte Charlie. »Der Frosch ist nicht zu verkaufen, Ma’am. Tut mir leid. Er ist fehlerhaft.«

»Warum stellen Sie ihn dann ins Regal? Warum ist er ausgezeichnet? Ich sehe keinen Fehler.«

Offensichtlich konnte sie nicht erkennen, dass der dämliche Porzellanfrosch nicht nur in ihren Händen leuchtete, sondern mittlerweile sogar pulsierte. Charlie beugte sich über den Tresen und nahm ihn ihr weg.

»Er ist radioaktiv, Ma’am. Tut mir leid. Sie können ihn nicht kaufen.«

»Ich bin nicht mit ihr ausgegangen«, sagte Ray. »Ich bin nur auf die Philippinen geflogen, um mich mit ihr zu treffen.«

»Er ist nicht radioaktiv«, sagte die Frau. »Sie wollen nur den Preis in die Höhe treiben. Gut, ich gebe Ihnen zwanzig dafür.«

»Nein, Ma’am. Es ist eine Frage der öffentlichen Sicherheit«, sagte Charlie und versuchte, ein besorgtes Gesicht zu machen, presste den Frosch an seine Brust, als wollte er sie vor gefährlicher Strahlung schützen. »Und außerdem ist er wirklich lächerlich. Ihnen wird aufgefallen sein, dass dieser Frosch ein Banjo mit nur zwei Saiten spielt. Im Grunde ein Hohn. Warum lassen Sie sich nicht von meinem Kollegen einen trommelnden Affen zeigen. Ray, würdest du dieser jungen Dame bitte einen Affen vorführen?« Charlie hoffte, dass er mit der »jungen Dame« Punkte sammeln konnte.

Die Frau trat vom Tresen zurück, hielt ihre Handtasche wie einen Schild vor sich. »Ich weiß gar nicht, ob ich bei zwei Geisteskranken überhaupt etwas kaufen möchte.«

»Hey!«, protestierte Ray, als wollte er sagen, hier gäbe es nur einen Geisteskranken, und er sei es nicht.

Dann tat sie es. Eilig trat sie an ein Schuhregal und nahm ein Paar rote Converse All Stars Größe 43. Auch diese leuchteten. »Die möchte ich.«

»Nein.« Charlie warf den Frosch über seine Schulter hinweg Ray zu, der ihn beinah fallen ließ. »Die sind auch unverkäuflich.«

Die Frau in Tweed steuerte rückwärts die Tür an, hielt die Schuhe hinter ihrem Rücken. Charlie folgte ihr den Gang entlang, versuchte, sich die All Stars zu greifen. »Her damit!«

Als die Frau mit dem Hintern an die Tür stieß und das Glöckchen darüber bimmelte, blickte sie auf, und Charlie legte los, täuschte links an, scherte nach rechts aus, griff um sie herum und bekam die Schnürsenkel zu fassen, dazu eine Handvoll vom breiten Tweedarsch. Eilig zog er sich an den Tresen zurück, warf Ray die Schuhe zu, dann drehte er sich um und ging in Sumo-Stellung, um es mit der Tweed-Frau aufzunehmen.

Sie stand noch immer an der Tür und sah aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie entsetzt oder angewidert sein wollte. »Leute wie Sie gehören eingesperrt. Ich werde Sie beim Verbraucherschutz und bei der Handelskammer melden. Und Sie, Mr. Asher, können Miss Severo sagen, dass ich wiederkommen werde!« Damit war sie draußen und verschwand.

Charlie wandte sich zu Ray um. »Miss Severo? Lily? Sie wollte Lily sprechen?«

»Sozialarbeiterin«, sagte Ray. »Sie war schon ein paarmal da.«

»Du hättest auch was sagen können.«

»Ich wollte ihr doch was verkaufen.«

»Und Lily…«

»Hat sich durch die Hintertür verdrückt, als sie die Frau gesehen hat. Sie wollte auch prüfen, ob die Entschuldigungen für Lilys Fehlen rechtmäßig waren. Ich habe dafür gebürgt.«

»Also: Lily geht ab sofort wieder zur Schule, und von jetzt an komm ich wieder zur Arbeit.«

»Prima. Da kam heute dieser Anruf – ein Nachlass in Pacific Heights. Bergeweise hübsche Frauenkleider.« Ray tippte auf einen Notizzettel auf dem Tresen. »Dafür bin ich nicht wirklich qualifiziert.«

»Ich mach das schon, aber vorher haben wir noch einiges nachzuholen. Häng das >Geschlossen<-Schild raus und schließ die Ladentür ab, okay, Ray?«

Ray rührte sich nicht. »Klar, aber… Charlie, bist du sicher, dass du schon wieder arbeiten kannst?« Ray nickte zu den Schuhen und dem Frosch auf dem Tresen hinüber.

»Ach, die… ich glaube, mit denen stimmt was nicht. Siehst du denn nichts Ungewöhnliches?«

Ray sah noch mal nach. »Nein.«

»Und fandest du es auch nicht merkwürdig, dass sie sich – als ich ihr den Frosch weggenommen hatte – sofort auf ein paar Turnschuhe gestürzt hat, die ganz offensichtlich nicht ihre Größe waren?«

Ray wägte die Wahrheit gegen den hübschen Deal ab, den er hier hatte, mit einer Wohnung, schwarzem Einkommen und einem Boss, der ein echt netter Kerl gewesen war, bevor er irgendwo falsch abgebogen war, und er sagte: »Ja, die war irgendwie schon komisch.«

»Aha!«, sagte Charlie. »Ich wünschte nur, ich wüsste, woher ich einen Geigerzähler nehmen soll.«

»Ich besitze einen Geigerzähler«, sagte Ray.

»Ach, ja?«

»Klar, soll ich ihn holen?«

»Später vielleicht«, sagte Charlie. »Schließ erst mal ab und hilf mir, ein paar Sachen einzusammeln.«

Im Laufe der nächsten Stunde sah Ray zu, wie Charlie scheinbar wahllos Gegenstände aus dem Laden ins Hinterzimmer schaffte, wobei er Ray anwies, sie unter gar keinen Umständen wieder hervorzuholen und nicht zu verkaufen. Dann holte er den Geigerzähler, den er bei einem guten Geschäft gegen einen unbespannten, übergroßen Tennisschläger getauscht hatte, und testete jeden einzelnen Gegenstand so, wie Charlie es ihm aufgetragen hatte. Natürlich waren sie tot wie Lehm.

»Und du siehst auch nicht, dass dieser Haufen leuchtet?«, fragte Charlie.

»Tut mir leid.« Ray schüttelte den Kopf und war etwas verlegen. »War aber ein guter erster Tag wieder bei der Arbeit«, sagte Ray, um ihn zu beruhigen. »Vielleicht solltest du Feierabend machen, nach dem Baby sehen und morgen früh zu dieser Nachlassgeschichte fahren. Ich pack das Zeug hier in eine Kiste und beschrifte sie so, dass Lily nichts davon verkauft.«

»Okay«, sagte Charlie, »aber wirf es auch nicht weg. Ich finde schon noch eine Erklärung.«

»Jede Wette, Boss. Wir sehen uns morgen früh.«

»Ja, danke, Ray. Dann kannst du nach Hause gehen, wenn du fertig bist.«

Charlie kehrte in seine Wohnung zurück und betrachtete auf dem Weg seine Hände, um sicherzugehen, dass dieses rote Leuchten nicht abgefärbt hatte, aber alles schien normal zu sein. Er schickte Jane nach Hause, fütterte und badete Sophie und las ihr zum Einschlafen ein paar Seiten aus Schlachthof5 vor, dann ging er früh zu Bett und schlief unruhig. Am nächsten Morgen kam er wie gerädert zu sich, dann setzte er sich abrupt im Bett auf, mit großen Augen und rasendem Herzen, als er den Zettel auf seinem Nachtschränkchen liegen sah. Schon wieder. Dann fiel ihm auf, dass es gar nicht seine Handschrift war und auf dem Zettel eine Telefonnummer stand, und er seufzte. Es war der Termin für diesen Nachlass, den Ray für ihn vereinbart hatte. Er hatte ihn auf den Nachtschrank gelegt, um ihn nicht zu vergessen. Mr. Michael Mainheart stand da geschrieben, »hochwertige Frauenkleidung und Pelze«, doppelt unterstrichen. Die Telefonnummer hatte eine Vorwahl in der Nähe. Er nahm den Zettel, und darunter lag ein weiteres Blatt Papier, mit demselben Namen in seiner eigenen Handschrift, darunter die Zahl Fünf. Er konnte sich nicht erinnern, irgendwas davon geschrieben zu haben. In diesem Augenblick zog etwas Großes, Dunkles am Schlafzimmerfenster im ersten Stock vorbei, doch als er hinsah, war es nicht mehr da.

Eine Nebeldecke lag über der Bay, und von Pacific Heights aus sah man die großen, orangefarbenen Türme der Golden Gate Bridge aus dem Nebel aufragen wie die Möhrennasen schlafender Zwillingsschneemänner. Auf den Heights hatte die Morgensonne den Himmel bereits aufgebrochen, und überall eilten Arbeiter herum und pflegten Gärten, in denen Villen standen.

Als er Michael Mainhearts Anwesen betrat, fiel Charlie vor allem auf, dass er niemandem auffiel. Zwei Männer arbeiteten im Garten, und Charlie winkte ihnen, aber sie winkten nicht zurück. Dann drängte ihn der Postbote auf seinem Weg von der großen Veranda zur Straße ins taufeuchte Gras ab, ohne sich zu entschuldigen.

»Oh, Verzeihung!«, sagte Charlie sarkastisch, aber der Postbote trug Kopfhörer und hörte irgendwas, das ihn dazu veranlasste, wie eine Taube auf Speed mit dem Kopf zu nicken, und er nickte einfach weiter. Charlie wollte ihm schon etwas atemberaubend Geistreiches nachrufen, überlegte es sich aber anders, denn zwar mochte der letzte Postbotenamoklauf, der ihm zu Ohren gekommen war, schon einige Jahre zurückliegen, doch so lange sich der Begriff »postalisch« noch auf die Wahl eines Versandweges bezog, schien es ihm, als sollte er sein Glück nicht überstrapazieren.

An einem Tag beschimpfte ihn eine wildfremde Frau als »geisteskrank«, am nächsten rempelte ihn ein Staatsdiener vom Gehweg: Langsam wurde diese Stadt zum Dschungel.

Charlie klingelte und wartete neben der vier Meter hohen Bleiglastür. Eine Minute später hörte er leise, schlurfende Schritte, und hinter dem Glas bewegte sich eine kleine Silhouette. Langsam ging die Tür auf.

»Mr. Asher«, sagte Michael Mainheart, »danke, dass Sie kommen konnten.« Der alte Herr versank in einem Hahnentrittanzug, den er wohl vor dreißig Jahren gekauft hatte, als er noch kräftiger gebaut war. Er reichte Charlie die Hand, und sie fühlte sich an wie Pergamentpapier, kühl und etwas staubig. Ein kalter Schauer lief Charlie über den Rücken, als ihn der alte Mann in eine gewaltige, marmorne Rotunde führte, mit Buntglasscheiben, die bis zur gewölbten Decke in fünfzehn Metern Höhe reichten. Eine geschwungene Treppe führte zu den oberen Flügeln des Hauses. Charlie hatte sich schon oft gefragt, wie es war, in einem Haus mit Flügeln zu wohnen. Wie sollte man da je seine Autoschlüssel wiederfinden?

»Kommen Sie hier entlang«, sagte Mainheart. »Ich zeige Ihnen, wo meine Frau ihre Sachen verwahrt hat.«

»Mein Beileid«, sagte Charlie automatisch. Er war schon unzählige Male zu Leuten nach Hause bestellt worden. Man darf nie wie ein Geier wirken, hatte sein Vater immer gesagt. Immer die Ware loben. Sie mag in deinen Augen Plunder sein, aber vielleicht wohnt ihre Seele darin. Lobe, aber zeige dich niemals begehrlich. Auf diese Weise kannst du Gewinn machen und jedermanns Würde wahren.

»Holla!«, sagte Charlie, als er dem Mann in einen begehbaren Schrank folgte, der so groß wie seine ganze Wohnung war. »Ihre Frau hatte einen exquisiten Geschmack, Mr. Mainheart.«

Dort hingen reihenweise Designerkleider erster Güte, alles von Abendgarderobe bis zu mannshohen Regalen voller Strickkostümen, nach Farben und Förmlichkeit geordnet – ein opulenter Regenbogen aus Seide und Leinen und Wolle. Kaschmirpullis, Mäntel, Umhänge, Jacken, Röcke, Blusen, Unterwäsche. Der Schrank war T-förmig, mit großem Frisiertisch samt Spiegel in der Mitte und Accessoires in beiden Flügeln (es gab sogar einen Schrank mit Flügeln!), die Schuhe auf der einen Seite, Gürtel, Schals und Handtaschen auf der anderen. Ein ganzer Flügel voller Schuhe, italienisch und französisch, handgefertigt aus den Häuten von Tieren, die ein glückliches, sorgenfreies Leben gehabt hatten. Riesige Spiegel flankierten den Frisiertisch, und Charlie sah sich selbst und Michael Mainheart darin, er selbst im gebrauchten, grauen Nadelstreif und Mainheart im übergroßen Hahnentritt, Studien in Grau und Schwarz, trist und leblos in diesem blühenden Garten.

Der alte Mann trat an den Stuhl vor dem Frisiertisch und nahm schnaufend Platz. »Ich vermute, Sie werden eine Weile brauchen, um alles einzuschätzen«, sagte er.

Charlie stand mitten im Schrank und sah sich einen Moment lang um, bevor er antwortete. »Es hängt davon ab, was Sie weggeben möchten, Mr. Mainheart.«

»Alles. Einfach alles. Ich ertrage ihre Nähe nicht.« Seine Stimme brach. »Ich kann nicht mehr.« Er wandte sich von Charlie ab,starrte die Schuhe an, versuchte zu verbergen, wie aufgewühlt er war.

»Verstehe«, sagte Charlie und war nicht sicher, was er sagen sollte. Diese Kollektion war einige Nummern zu groß für ihn.

»Nein, Sie verstehen keineswegs, junger Mann. Sie können es gar nicht verstehen. Emily war mein Leben. Ich bin morgens für sie aufgestanden, bin für sie zur Arbeit gegangen, habe für sie ein Unternehmen aufgebaut. Ich konnte es kaum erwarten, abends nach Hause zu kommen, um ihr zu erzählen, wie mein Tag war. Ich bin mit ihr zu Bett gegangen und habe von ihr geträumt, wenn ich schlief. Ihr galt meine ganze Leidenschaft, sie war meine Frau, mein bester Freund, die Liebe meines Lebens. Und eines Tages, völlig überraschend, war sie nicht mehr da, und mein Leben war leer. Das können Sie unmöglich verstehen.«

Doch Charlie verstand. »Haben Sie Kinder, Mr. Mainheart?«

»Zwei Söhne. Sie kamen zur Beerdigung, dann sind sie wieder zu ihren Familien gefahren. Sie haben mir angeboten, alles zu tun, was in ihrer Macht steht, aber…«

»Das können sie nicht«, beendete Charlie den Satz für ihn. »Niemand kann das.«

Jetzt blickte der alte Mann zu ihm auf, mit einer Miene, die so leer und traurig war wie ein mumifizierter Bluthund. »Ich möchte nur noch sterben.«

»Sagen Sie so was nicht«, sagte Charlie, weil man so was sagte. »Das Gefühl geht vorbei.« Was er sagte, weil das alle zu ihm sagten. Er gab nur schwachsinnige Klischees von sich.

»Sie war…« Es klang, als müsste Mainheart gleich schluchzen. Ein starker Mann, von Trauer überwältigt und verlegen, weil man es ihm ansah.

»Ich weiß«, sagte Charlie und dachte, dass in seinem Herzen Rachel diesen Platz einnahm. Wenn er sich in der Küche umdrehte, um ihr etwas zu sagen, und sie war nicht da, dann blieb ihm nach wie vor die Luft weg.

»Sie war…«

»Ich weiß«, unterbrach Charlie, um dem alten Mann beizustehen, denn er wusste, was Mainheart empfand. Sie war ihm Sinn und Licht und Ordnung, und seit sie nicht mehr da ist, lasten Chaos und Finsternis auf ihm wie eine bleierne Wolke.

»Sie war unfassbar dämlich.«

»Wie?« Charlie blickte so abrupt auf, dass ein Halswirbel knackte. Das hatte er nicht kommen sehen.

»Die dusselige Kuh hat Silikongel gegessen«, sagte Mainheart ebenso genervt wie gequält.

»Was?« Charlie schüttelte den Kopf, als hätte er was im Ohr.

»Silikongel.«

»Was?«

»Silikongel, Silikongel, Silikongel! Sie Vollidiot!«

Charlie fühlte sich, als sollte er ihm ebenfalls den Namen von irgendwelchem obskuren Zeugs an den Kopf knallen: Selber Berylliumoxid! Berylliumoxid! Berylliumoxid! Stattdessen sagte er: »Das Zeug, aus dem künstliche Brüste sind? Das hat sie gegessen?« Das Bild einer gut gekleideten, älteren Dame, die an einem Löffel mit schwabbeligem, künstlichem Brustpudding schlürfte, taumelte wie ein stotternder Albtraum durch seine Hirnlappen.

Mainheart kam vor dem Frisiertisch auf die Beine. »Nein, die kleinen Päckchen von diesem Zeug, das elektronischen Geräten und Kameras beiliegt.«

»Das Nicht-zum-Verzehr-geeignet-Zeug?«

»Genau.«

»Aber es steht doch auf der Packung… Sie hat es gegessen?«

»Ja. Der Kürschner hat solche Päckchen zu ihren Pelzen gelegt, als dieser Schrank gebaut wurde.« Mainheart deutete darauf.

Charlie wandte sich um, und hinter der großen Schranktür, durch die sie eingetreten waren, befand sich eine beleuchtete Vitrine – darin hing ein gutes Dutzend Pelzmäntel. Vermutlich besaß diese Vitrine ihre eigene Klimaanlage zur Regelung der Luftfeuchtigkeit, doch das war es nicht, was Charlie auffiel. Selbst im indirekten Neonlicht dieser Vitrine war nicht zu übersehen, dass einer der Mäntel rot leuchtete und pulsierte. Langsam wandte er sich wieder zu Mainheart um, gab sich alle Mühe, nicht hektisch zu reagieren, wusste allerdings nicht so genau, was in diesem Fall wohl eine Überreaktion sein mochte, und so versuchte er, ganz ruhig zu klingen, wollte sich aber auch keinen Scheiß erzählen lassen.

»Mr. Mainheart, ich weiß um Ihren Verlust, aber geht hier noch etwas vor sich, von dem Sie mir nichts erzählen?«

»Tut mir leid, ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ich meine…«, sagte Charlie, »…warum haben Sie von allen Secondhandläden der Bay Area ausgerechnet mich angerufen? Es gibt erheblich qualifiziertere Leute, wenn es um eine Kollektion von solcher Größe und Qualität geht.« Charlie trat an die Pelzvitrine und riss die Tür auf. Sie machte fluuffah, wie die Gummidichtung einer Kühlschranktür. Er nahm die leuchtende Pelzjacke – Fuchs, wie es schien. »Oder ging es eigentlich darum? Hatte Ihr Anruf etwas hiermit zu tun?« Charlie fuchtelte mit der Jacke herum, als hielte er einem Angeklagten die Mordwaffe unter die Nase. Kurz gesagt, hätte Charlie am liebsten hinzugefügt, wollen Sie mich verarschen?

»Sie waren der erste An- und Verkauf im Telefonbuch.«

Charlie ließ die Jacke fallen. »Ashers Secondhand

»Fängt mit A an«, sagte Mainheart langsam, vorsichtig… widerstand offenbar der Versuchung, Charlie noch einmal als Idioten zu beschimpfen.

»Es hat also mit dieser Jacke nichts zu tun?«

»Nun, es hat allerdings etwas mit dieser Jacke zu tun. Sie sollen sie mitnehmen, zusammen mit dem anderen Zeug.«

»Oh«, sagte Charlie, versuchte, wieder zu sich zu kommen. »Mr. Mainheart, ich weiß Ihren Anruf zu schätzen, und das hier ist gewiss eine hübsche Kollektion, wirklich wahr, aber für solches Inventar bin ich nicht richtig ausgestattet. Und ich will ehrlich mit Ihnen sein, obwohl sich mein Vater im Grabe umdrehen wird, weil ich es Ihnen anvertraue, aber in diesem Schrank hängen vermutlich Kleider im Wert von einer Million Dollar. Vielleicht mehr. Und wenn man entsprechend Zeit und Platz investiert, sind sie wohl noch ein Viertel davon wert. So viel Geld besitze ich leider nicht.«

»Wir werden uns schon einig«, sagte Mainheart. »Ich will das Zeug aus dem Haus haben…«

»Ich denke, ich könnte ein paar Sachen auf Kommission nehmen…«

»Fünfhundert Dollar.«

»Was?«

»Geben Sie mir fünfhundert Dollar, schaffen Sie das Zeug bis morgen hier raus, und es gehört ihnen.«

Charlie wollte etwas erwidern, aber er hatte das Gefühl, der Geist seines Vaters würde ihm eins mit dem Spucknapf über den Schädel ziehen, wenn er sich nicht beherrschte. Wir bieten wertvolle Dienste an, mein Sohn. Wir sind wie ein Waisenhaus für Kunst und Handwerk, denn wir sind bereit, mit dem Unerwünschten umzugehen, wir geben ihm Wert.

»Das kann ich nicht machen, Mr. Mainheart. Ich komme mir vor, als würde ich Ihre Trauer ausnutzen.«

Himmelarsch und Zwirn, du elender Verlierer, du bist nicht mein Sohn. Ich habe keinen Sohn. Rasselte der Geist seines Vaters in seinem Kopf schon mit den Ketten? Aber warum hatte er Lilys Stimme und ihr Vokabular? Konnte ein Gewissen raffgierig sein?

»Sie würden mir einen Gefallen tun, Mr. Asher. Einen Riesengefallen. Wenn Sie die Sachen nicht nehmen, rufe ich die Kleiderspende an. Ich habe Emily versprochen, dass ich ihre Sachen nicht einfach verschenken würde, falls ihr jemals etwas zustoßen sollte. Bitte…«

Aus der Stimme dieses Mannes sprach ein solcher Schmerz, dass Charlie sich abwenden musste. Er hatte Mitleid mit dem alten Mann, weil er ihn verstehen konnte. Aber er konnte ihm nicht helfen, konnte nicht sagen: »Es wird schon werden«, was alle Welt ihm sagte, denn es wurde nicht besser. Anders, ja, aber nicht besser. Und dieser Mann hatte noch fünfzig Jahre mehr Hoffnungen – oder in seinem Fall Geschichte – zu verarbeiten.

»Lassen Sie mir etwas Bedenkzeit. Ich muss nach meinem Lager sehen. Wenn ich die Sachen unterbringen kann, rufe ich Sie morgen an. Wäre das in Ordnung?«

»Ich wäre Ihnen dankbar.«

Dann sagte Charlie, ohne zu wissen, wieso eigentlich: »Darf ich diese Jacke mitnehmen? Als Beispiel für die Qualität der Kollektion, für den Fall, dass ich die Ware auf mehrere Händler verteilen muss?«

»Das ist mir nur recht. Ich geleite Sie hinaus.«

Als sie in die Rotunde kamen, zog ein Schatten über die Buntglasscheiben drei Stockwerke über ihnen hinweg. Ein riesiger Schatten. Charlie blieb auf den Stufen stehen und wartete, dass der alte Mann reagierte, doch der schwankte nur die Treppe hinunter und stützte sich auf dem Geländer ab. An der Haustür wandte sich Mainheart zu Charlie um und gab ihm die Hand.

»Tut mir leid, dass ich oben so, nun ja, ausfallend war. Ich kenne mich kaum wieder, seit…«

Als der alte Mann die Tür aufmachen wollte, stürzte draußen der Schatten eines mannsgroßen Vogels herab.

»Nein!« Charlie hechtete vorwärts, stieß den alten Mann beiseite und knallte dem großen Vogel die Tür vor den Kopf, dass sich der schwere, schwarze Schnabel hindurchbohrte. Er klapperte wie eine Heckenschere und stieß den Schirmständer um, verstreute dessen Inhalt auf dem Marmor. Charlies Gesicht war nur Zentimeter vom Auge des Vogels entfernt. Er stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür und versuchte zu verhindern, dass der Schnabel ihm die Hände abhackte. Vogelklauen scharrten übers Glas und zerbrachen eine der dicken Scheiben, als sich das Tier zu befreien versuchte.

Charlie lehnte mit der Hüfte am Türpfosten und hob einen der Regenschirme vom Boden auf. Diesen bohrte er dem Vogel in den Hals, verlor jedoch den Halt am Türrahmen – eine der schwarzen Klauen zwängte sich durch das Loch und harkte über seinen Unterarm, schnitt durch die Jacke, durch sein Hemd bis in die Haut. Charlie schob den Regenschirm so fest er konnte vor und drückte den Vogelkopf durchs Loch hinaus.

Der Rabe stieß ein Kreischen aus und hob mit mächtig rauschenden Flügeln ab. Charlie lag auf dem Rücken, atemlos, starrte die bunten Scheiben an, als sollte der Schatten dieses Riesenraben gleich noch einmal wiederkommen, dann sah er zu Michael Mainheart hinüber, der dort auf der Seite lag, wie eine Marionette ohne Fäden. Neben seinem Kopf lag ein Gehstock mit geschnitztem Elfenbeingriff in Form eines Eisbären. Er war aus dem Schirmständer gekippt und leuchtete mattrot. Der alte Mann atmete nicht mehr.

»Na, das ist jetzt aber richtig scheiße«, sagte Charlie.

6

Jeder so schnell, wie er kann

In der Gasse hinter Ashers Secondhand verfütterte der Kaiser von San Francisco Oliven-Focaccia an seine Truppen und versuchte zu verhindern, dass ihm Hundesabber sein Frühstück vermieste.

»Geduld, Bummer«, sagte der Kaiser zu dem Boston-Terrier, der wie ein behaarter Flummi nach dem trockenen Teigfladen hüpfte, während Lazarus, der ehrwürdige Golden Retriever, daneben stand und auf seinen Anteil wartete. Bummer schnaubte ungeduldig (daher der Hundesabber). Er hatte gewaltigen Hunger, da es heute erst sehr spät Frühstück gab. Der Kaiser hatte auf einer Bank beim Schifffahrtsmuseum geschlafen, und in der Nacht war sein Rheumaknie unter dem Wollmantel hervor in die kalte Luft gerutscht. Dadurch war der Weg nach North Beach zur italienischen Bäckerei, in der sie altes Brot geschenkt bekamen, zu einer langsamen, schmerzhaften Angelegenheit geworden.

Der Kaiser stöhnte und setzte sich auf eine leere Milchkiste. Er war ein großer, schwankender Bär von einem Mann, mit breiten Schultern, etwas gebeugt von der Last der Stadt. Ein weißer Haarschopf mit ebensolchem Bart umrankte sein Gesicht wie eine Wolke. So weit er sich erinnerte, patrouillierte er mit seinen Männern schon seit Ewigkeiten durch die Straßen dieser Stadt, wenn er es jedoch näher bedachte, vielleicht auch erst seit Mittwoch. Da war er nicht ganz sicher.

Der Kaiser beschloss, vor seinen Männern eine Proklamation zur Bedeutung des Mitgefühls angesichts nicht enden wollender Verarscherei und politischer Verschwafelung im benachbarten Königreich der Vereinigten Staaten abzugeben. (Er hatte festgestellt, dass sein Publikum den Proklamationen am aufmerksamsten lauschte, wenn das mit Fleisch gefüllte Focaccia noch in der Speisekammer seines Mantels steckte, und momentan duftete eine Pepperoni-Parmesan-Teigtasche aus wollenen Tiefen hervor, und daher waren die Männer wie gebannt.) Doch als er sich eben räusperte, um zu beginnen, kam ein Lieferwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke, hob halb ab, als er durch eine Reihe von Mülltonnen pflügte, und kam schleudernd etwa fünfzehn Meter entfernt zum Stehen. Die Fahrertür flog auf, und ein dürrer Mann im Anzug sprang heraus, mit einem Spazierstock und einem Pelzjäckchen, und steuerte schnurstracks auf die Hintertür von Ashers zu. Bevor der Mann jedoch zwei Schritte tun konnte, stürzte er auf den Asphalt, als hätte man ihm von hinten einen Schlag versetzt, dann rollte er auf den Rücken und fuchtelte mit Stock und Jacke in der Luft herum. Der Kaiser kannte Gott und die Welt, und vor sich sah er Charlie Asher.

Bummer erlitt eine Kläffattacke, doch der besonnenere Lazarus knurrte nur und lief auf Charlie zu.

»Lazarus!«, rief der Kaiser, doch der Retriever rannte weiter, gefolgt von seinem glubschäugigen Waffenbruder.

Charlie stand wieder auf den Beinen und schwang den Stock, als kämpfte er gegen ein Phantom und die Jacke wäre sein Schild. Da er auf der Straße lebte, hatte der Kaiser schon oft gesehen, dass Leute mit unsichtbaren Dämonen kämpften, aber Charlie Asher landete offenbar einige Treffer. Der Stock knallte richtig,wenn er auf etwas traf, das unsichtbar zu sein schien – oder sah man da so etwas wie einen Schatten?

Der Kaiser kam auf die Beine und hinkte zu dem Kampf hinüber, doch bevor er noch zwei Schritte getan hatte, machte Lazarus einen Satz und schien Charlie anzugreifen, doch er sprang etwas weiter und schnappte nach einer Stelle oberhalb von Charlies Kopf. Dort blieb er hängen, hatte sich an einem unsichtbaren Hals festgebissen.

Charlie nutzte die Ablenkung, trat zurück und schlug mit dem Gehstock über dem schwebenden Retriever zu. Man hörte etwas knacken, und Lazarus ließ los, doch da stürzte sich Bummer auf den unsichtbaren Feind. Er verfehlte sein Ziel und schoss wie eine Hunderakete in den nächsten Müllcontainer.

Wieder rannte Charlie auf die Stahltür seines Ladens zu, doch sie war abgeschlossen, und als er nach seinen Schlüsseln suchte, packte ihn etwas von hinten.

»Lass los, Arschgesicht!«, kreischte der Schatten.

Es schien, als würde die Pelzjacke Charlie aus den Händen gerissen, dann flog sie in die Luft hinauf, über das dreistöckige Haus hinweg, und ward nicht mehr gesehen.

Charlie fuhr herum, hielt den Stock bereit, doch was dort auch gewesen sein mochte: Es war nicht mehr da.

»Solltest du nicht über der Tür hocken und Nimmermehr krächzen und lyrisch sein und so?!!«, schrie er in den Himmel. Dann fügte er hinzu: »Du blöder Pisser!«

Lazarus bellte, dann winselte er. Ein scharfes, metallisches Jaulen ertönte aus Bummers Mülltonne.

»Na, so was sieht man auch nicht alle Tage«, sagte der Kaiser, als er zu Charlie hinüberhinkte.

»Sie konnten es sehen?«

»Nein, eigentlich nicht. Nur einen Schatten, aber ich konnte sehen, dass da was war. Da war doch wirklich was, oder, Charlie?«

Charlie nickte, schnappte nach Luft. »Der kommt bestimmt wieder. Durch die ganze Stadt ist er mir gefolgt.« Er wühlte in seinen Taschen nach den Schlüsseln. »Sie sollten lieber mit in den Laden kommen, Majestät.« Selbstverständlich kannte Charlie den Kaiser. Jeder in San Francisco kannte den Kaiser.

Der Kaiser lächelte. »Das ist sehr freundlich von Euch, aber wir sind gewiss in Sicherheit. Vorerst muss ich meinen Schützling aus seinem galvanisierten Kerker befreien.« Der große Mann kippte den Mülleimer um, und Bummer kam hervor, schnaubend und kopfschüttelnd, als wäre er bereit, jedem in den Arsch zu treten, der dumm genug war, sich mit ihm anzulegen, egal, ob Mensch oder Tier (und das hätte er auch getan, so lange sie kniehoch oder kleiner waren).

Charlie hatte nach wie vor Probleme mit dem Schlüssel. Er wusste, er hätte das Schloss austauschen sollen, aber es funktionierte, wenn man ein bisschen daran herumfummelte, also war es nie so wichtig gewesen. Wer hätte auch gedacht, dass es jemals schnell gehen musste, weil ihn ein Riesenvogel verfolgte? Dann hörte er ein Kreischen, drehte sich um und sah nicht einen, sondern zwei Raben, die hinter dem Dach hervorkamen und sich in die Gasse stürzten. Die Hunde stießen eine manische Bellsalve gegen die fliegenden Eindringlinge aus, und Charlie legte so viel Körpersprache in seine Schlüsselwackelei, dass er spürte, wie in seiner Hüfte ein verkümmerter Tanzmuskel riss.

»Da sind sie wieder. Gib mir Deckung!« Charlie warf dem Kaiser den Spazierstock zu und machte sich für den Aufprall bereit, doch sobald der Stock in den Händen des alten Mannes lag, waren die Vögel verschwunden. Fast konnte man das leise Ploppen hören, als die Luft die Lücke füllte, die sie hinterlassen hatten. Abrupt riss das Gebell der Hunde ab. Bummer win selte.

»Was?«, sagte der Kaiser. »Was?«

»Sie sind weg.«

Der Kaiser blickte zum Himmel auf. »Seid Ihr sicher?«

»Fürs Erste.«

»Ich habe zwei Schatten gesehen. Diesmal habe ich sie tatsächlich gesehen«, sagte der Kaiser.

»Ja, jetzt waren sie zu zweit.«

»Wer sind die?«

»Ich habe keine Ahnung, aber als Sie den Stock genommen haben, also… da sind sie verschwunden. Haben Sie die beiden wirklich gesehen?«

»Ganz sicher. Wie Rauch mit Hintergedanken.«

Schließlich drehte sich der Schlüssel im Schloss, und die Tür zu Ashers Hinterzimmer ließ sich öffnen. »Sie sollten mit reinkommen. Sich ausruhen. Ich bestell uns was zu essen.«

»Nein, nein. Meine Männer und ich, wir müssen auf unsere Runde. Ich habe beschlossen, heute Morgen eine Proklamation abzugeben, und wir müssen zum Copyshop. Das hier werdet Ihr brauchen.« Der Kaiser hielt Charlie den Stock hin, als überreichte er ihm sein Königschwert.

Charlie wollte ihn schon nehmen, dann überlegte er es sich anders. »Majestät, ich glaube, Sie sollten diesen Stock lieber behalten. Es sieht so aus, als könnten Sie ihn brauchen.« Charlie deutete auf das knarrende Knie des Kaisers.

Noch immer hielt ihm der Kaiser den Stock hin. »Wisst Ihr, ich huldige nicht den materiellen Werten.«

»Das weiß ich doch.«

»Dann wisst Ihr auch, dass meiner Überzeugung nach die Begehr fast immer einen Quell menschlichen Leids darstellt. Undnichts ist verabscheuungswürdiger als die Begehr materiellen Vorteils.«

»Ich führe mein Geschäft nach genau denselben Prinzipien. Dennoch bestehe ich darauf, dass Ihr den Stock behaltet. Würdet Ihr mir den Gefallen tun?« Charlie merkte, dass er die förmliche Sprache des Kaisers übernahm, als wäre er irgendwie an einem Königshof gelandet, wo man einen Edelmann an den Brotkrümeln in seinem Bart erkannte und sich die königliche Garde nicht zu schade war, sich die Eier zu lecken.

»Nun, als Gefallen will ich es gern tun. Es ist ein hübsches Stück Handwerkskunst.«

»Vor allem aber ermöglicht es Euch, Eure Runden schneller zu drehen.«

Da gab der Kaiser preis, was in seinem Herzen vor sich ging, denn er zeigte ein breites Grinsen und drückte den Stock an seine Brust. »Er ist wahrlich hübsch. Charlie, ich muss Euch etwas anvertrauen, aber ich bitte Euch, mir die Glaubwürdigkeit eines Mannes zuzugestehen, der eben erst – gemeinsam mit einem Freund – zweier riesenhafter, rabenförmiger Schatten angesichtig wurde.«

»Selbstredend.« Charlie lächelte, obwohl er eben noch geglaubt hatte, sein Lächeln sei in den letzten Monaten irgendwo verloren gegangen.

»Ich hoffe, Ihr werdet mich nicht für gewöhnlich halten, aber im selben Augenblick, in dem ich ihn berührte, kam es mir vor, als hätte ich mein Leben lang darauf gewartet.«

Und ohne erkennbaren Grund sagte Charlie: »Ich weiß.«

Im Laden brütete Lily vor sich hin. Es war nicht ihr übliches Brüten, die Reaktion auf eine Welt, in der alle blöd waren, das Leben nutzlos, das bloße Dasein ohne Sinn und Zweck, vor allem, wenn ihre Mutter vergessen hatte, Kaffee zu kaufen. Es war ein spezifischeres Brüten, das begonnen hatte, als sie zur Arbeit kam und Ray sie darauf hinwies, dass sie an der Reihe war, das Staubsauger-Diadem zu tragen, und darauf bestand, dass sie – wenn sie denn das Diadem trug – auch wirklich den Laden durchsaugte. (Tatsächlich mochte sie das Strass-Diadem, das Charlie in einem unverhohlenen Schachzug bourgeoiser Hintertriebenheit denjenigen tragen ließ, der das tägliche Saugen und Wischen übernahm, und nur dann. Aber sie hatte was gegen das Saugen und Wischen. Sie fühlte sich manipuliert, benutzt und generell übervorteilt, und zwar auf unlustige Weise.) Heute jedoch hatte sie – nachdem Diadem und Staubsauger verstaut waren und sie sich ein paar Tassen Kaffee einverleibt hatte – weiter vor sich hingebrütet, was sich zu einer monumentalen Angstattacke auswuchs, als ihr dämmerte, dass sie diese College-Berufsfindungssache klären musste, denn trotz allem, was im Großen Bunten Buch des Todes geschrieben stand, war sie nicht zur finsteren Vasallin des Untergangs erwählt worden. Mist!

Sie stand im Hinterzimmer und betrachtete die Sachen, die Charlie dort am Tag zuvor gestapelt hatte: Schuhe, Lampen, Schirme, Porzellanfiguren, Spielzeug, ein paar Bücher, ein alter Schwarzweißfernseher und ein Gemälde von einem Clown auf schwarzem Samt.

»Und er sagt, das Zeug leuchtet?«, fragte sie Ray, der in der Tür zum Laden stand.

»Ja. Ich musste alles mit meinem Geigerzähler checken.«

»Scheiße, Ray, wozu hast du einen Geigerzähler?«

»Scheiße, Lily, wozu hast du einen Fledermaus-Nasenstecker?«

Lily ignorierte die Frage und nahm einen Keramikfrosch, an dem ein Zettel mit der Aufschrift Kein Verkauf – Keine Deko klebte, in Charlies penibler Blockbuchstabenschrift. »Der gehört auch dazu? Der hier?«

»Bei dem ist er zuerst ausgeflippt«, sagte Ray. »Diese Sozialarbeiterin wollte ihn kaufen. Damit fing alles an.«

Lily war erschüttert. Sie wich zurück und setzte sich auf den knarrenden Drehstuhl hinter Charlies Schreibtisch. »Hast du gesehen, dass irgendwas davon leuchtet oder pulsiert, Ray? Irgendwann?«

Ray schüttelte den Kopf. »Er steht reichlich unter Stress, seit Rachel nicht mehr da ist und er für das Baby sorgen muss. Vielleicht braucht er Hilfe. Ich weiß, als ich damals aus dem Polizeidienst ausgeschieden bin…« Ray stutzte.

Draußen in der Gasse hinter dem Laden war irgendwas los, Hunde bellten und Leute brüllten, dann machte sich jemand mit einem Schlüssel an der Hintertür zu schaffen. Eine Sekunde später kam Charlie herein, ziemlich außer Atem, hier und da etwas verschmiert, mit zerrissenem, blutigem Ärmel.

»Asher«, sagte Lily, »du bist verletzt.« Eilig machte sie seinen Sessel frei, während Ray ihn bei den Schultern nahm und auf den Stuhl drückte.

»Mir geht’s gut«, sagte Charlie. »Halb so schlimm.«

»Ich hol den Erste-Hilfe-Kasten«, sagte Ray. »Zieh ihm die Jacke aus, Lily.«

»Mir geht’s gut«, sagte Charlie. »Hör auf, von mir zu reden, als wäre ich nicht da.«

»Er phantasiert«, sagte Lily und versuchte, ihn aus seiner Jacke zu bekommen. »Hast du Schmerztabletten, Ray?«

»Ich brauch keine Schmerztabletten«, sagte Charlie.

»Halt die Klappe, Asher. Die sind nicht für dich«, sagte Lily harsch wie immer, dann fiel ihr das Buch ein, Rays Geschichte, die Zettel an den Sachen im Hinterzimmer, und ihr lief ein kalter Schauer über den Rücken. Vielleicht war Charlie Asher gar nicht der hilflose Waschlappen, für den sie ihn immer gehalten hatte. »Entschuldige, Boss, wir wollen dir nur helfen.«

Ray kam mit einem kleinen Erste-Hilfe-Plastikkasten aus dem Laden zurück. Er krempelte Charlies Ärmel auf und begann, die Wunden mit Watte und Alkohol zu reinigen. »Was ist passiert?«

»Nichts«, sagte Charlie. »Ich bin ausgerutscht und auf dem Schotter hingefallen.«

»Die Wunden sind ziemlich sauber. Ohne Steinchen. Das war ja ein seltsamer Sturz.«

»Lange Geschichte«, seufzte Charlie. »Autsch!«

»Was war das denn für ein Lärm da draußen?«, fragte Lily, die dringend eine rauchen musste, sich aber nicht losreißen konnte. Es war ihr unvorstellbar, dass Charlie Asher der Auserwählte sein sollte. Wie konnte das sein? Er war so, so, so… unwürdig. Er verstand den dunklen Unterleib des Lebens nicht wie sie. Und doch sah er die Dinge leuchten. Er war es. Sie war geknickt.

»Das waren nur die kaiserlichen Hunde, die eine Möwe aus dem Müllcontainer gejagt haben. Keine große Sache. Ich bin in Pacific Heights von einer Veranda gefallen.«

»Der Nachlass«, sagte Ray. »Wie ist es gelaufen?«

»Nicht so gut. Der Ehemann war untröstlich und hatte einen Herzinfarkt, während ich dabei war.«

»Soll das ein Witz sein?«

»Nein, der Gedanke an seine Frau hat ihn irgendwie überwältigt, und er ist zusammengebrochen. Ich habe versucht, ihn wiederzubeleben, bis der Notarzt kam und ihn mit ins Krankenhaus genommen hat.«

»Und…«, sagte Lily, »hast du die – äh – hast du was Besonderes bekommen?«

»Wie?« Charlies Augen wurden groß. »Was meinst du? Da gab es nichts Besonderes.«

»Ganz ruhig, Boss. Ich wollte doch nur wissen, ob wir Omas Klamotten kriegen.« Er ist es, dachte Lily.

Charlie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Es ist so absonderlich. Die ganze Sache ist absonderlich.« Er schüttelte sich, als er das sagte.

»Inwiefern absonderlich?«, sagte Lily. »Cool und düster absonderlich oder nur absonderlich, weil du Asher bist und sowieso meistens neben der Spur?«

»Lily!«, fuhr Ray sie an. »Hau ab! Geh Staub wischen!«

»Du bist nicht mein Boss, Ray. Ich äußere nur meine Besorgnis.«

»Ist schon okay, Ray.« Charlie sah aus, als dachte er darüber nach, wie – genau – »absonderlich« zu definieren wäre, ohne dass ihm etwas Sinnvolles einfallen wollte. Schließlich sagte er: »Also, vor allem ist der Nachlass dieser Frau ein paar Nummern zu groß für uns. Er hat gesagt, er hätte angerufen, weil wir im Telefonbuch bei den Secondhandläden ganz oben stehen, aber er schien mir nicht die Sorte Mann zu sein, der so was tun würde.«

»Das ist nicht so absonderlich«, sagte Lily. Gib es doch einfach zu, dachte sie.

»Du hast gesagt, er war untröstlich«, sagte Ray, während er Wundsalbe auf Charlies Verletzungen tupfte. »Vielleicht war er einfach anders.«

»Ja, und außerdem war er wütend auf seine Frau und darauf, wie sie gestorben ist.«

»Wie denn?«, fragte Lily.

»Sie hat Silikongel gegessen«, sagte Charlie.

Lily sah Ray an, suchte nach einer Erklärung, denn Silikongel klang irgendwie nach Pornos, was Rays Spezialgebiet zu sein schien. Ray sagte: »Das ist dieses Trockenmittel, das man elektronischen Geräten und allem beilegt, was auf Feuchtigkeit empfindlich reagiert.«

»Dieses Nicht-zum-Verzehr-geeignet-Zeug?«, sagte Lily. »Oh, mein Gott, ist das blind! Jedes Kind weiß, dass das Nicht-zum-Verzehr-geeignet-Zeug nicht zum Verzehr geeignet ist.«

Charlie sagte: »Mr. Mainheart war am Boden zerstört.«

»Kann ich mir vorstellen«, sagte Lily. »Er hat eine komplette Blödbirne geheiratet.«

Charlie zuckte zusammen. »Lily, das gehört sich nicht.«

Lily zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. Sie konnte es nicht leiden, wenn Charlie in seinen Papa-Modus verfiel. »Okay, okay. Ich geh draußen eine rauchen.«

»Nein!« Charlie sprang von seinem Sessel auf und schob sich zwischen Lily und die Hintertür. »Geh lieber vorn raus. Von jetzt an musst du vorn raus, wenn du rauchen willst.«

»Aber du hast gesagt, ich seh aus wie eine minderjährige Prostituierte, wenn ich vorn rauche.«

»Ich hab noch mal drüber nachgedacht. Inzwischen bist du ja ein großes Mädchen.«

Lily kniff ein Auge zu, um zu sehen, ob sie so besser in seine Seele blicken und herauskriegen konnte, was er in Wahrheit wollte. Sie strich ihren schwarzen Plastikrock glatt, der ein gequältes Quieken von sich gab. »Damit willst du mir sagen, dass ich einen fetten Arsch habe, oder?«

»Das will ich damit absolut überhaupt nicht sagen«, beteuerte Charlie. »Ich sage nur, dass deine Anwesenheit vor dem Laden von Vorteil wäre und vielleicht Touristen vom Cable Car anlocken könnte.«

»Oh. Okay.« Lily schnappte sich ihre Schachtel Nelkenzigaretten vom Schreibtisch und machte sich auf den Weg am Tresen vorbei nach draußen, wo sie vor sich hinbrüten – im Grunde trauern – wollte, denn so sehr sie es sich auch erhofft hatte: Sie war nicht die Sensenfrau. Das Buch gehörte Charlie.

An diesem Abend hütete Charlie den Laden und überlegte gerade, warum er seine Angestellten eigentlich belogen hatte, als er draußen auf der Straße etwas Rotes blitzen sah. Eine Sekunde später kam eine blasse Rothaarige herein. Sie trug ein kurzes, schwarzes Cocktailkleid und schwarze Fickmich-Pumps. Sie steuerte den Tresen an, als wollte sie für ein Musikvideo vorsprechen. Rote Locken wallten über ihre Schultern und den Rücken wie ein rostfarbener Schleier. Ihre Augen waren smaragdgrün, und als sie merkte, wie er sie anstarrte, lächelte sie und blieb stehen, drei Meter vor dem Tresen.

Ein leiser Schmerz durchfuhr Charlie irgendwo in seiner Lendengegend. Eine Sekunde später wurde ihm bewusst, dass es sich um eine autonome Lustreaktion handelte. Dergleichen hatte er nicht mehr empfunden, seit Rachel von ihm gegangen war, und er schämte sich etwas dafür.

Sie musterte ihn, begutachtete ihn wie einen Gebrauchtwagen. Er war sicher, dass er knallrot anlief.

»Hi«, sagte Charlie, »kann ich Ihnen helfen?«

Der Rotschopf lächelte ein wenig und griff in eine kleine, schwarze Tasche, die Charlie bisher gar nicht aufgefallen war. »Das hier habe ich gefunden«, sagte sie und hielt ein silbernes Zigarettenetui hoch. Etwas, das man nicht mehr oft zu sehen bekam. Es leuchtete und pulsierte wie dieses Zeug im Hinterzimmer. »Ich war gerade in der Gegend, und irgendwie dachte ich, das gehört vielleicht hierher.«

Sie trat an den Tresen, stand Charlie gegenüber und legte das Etui vor ihm ab.

Charlie konnte sich kaum rühren. Er starrte sie an, merkte nicht mal, dass er auf ihr Dekolletee starrte. Sie dagegen schien die Gegend um seinen Kopf und seine Schultern im Auge zu behalten, als umschwirrten ihn Insekten.

»Fass mich an«, sagte sie.

»Was?« Er sah auf und merkte, dass es ihr Ernst war. Sie hielt ihm ihre Hand hin, die Fingernägel manikürt und dunkelroter als ihr Lippenstift. Er nahm ihre Hand.

Sobald sie ihn berührte, schreckte sie zurück. »Du bist so warm.«

»Danke.« In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass sie es nicht war. Ihre Finger waren eiskalt.

»Dann bist du keiner von uns?«

Er überlegte, was »uns« bedeuten mochte. Irisch? Niedriger Blutdruck? Nymphoman? Wieso dachte er das überhaupt? »Uns? Wen meinen Sie mit >uns<?«

Sie trat einen Schritt zurück. »Nein. Du holst nicht nur die Schwachen und die Kranken, stimmt’s? Du holst sie alle.«

»Holen? Was meinen Sie mit >holen<?«

»Und du weißt nicht mal was davon, hm?«

»Was weiß ich?« Charlie wurde nervös. Als Betamännchen war es ohnehin schon schwierig genug, im Angesicht einer schönen Frau zu funktionieren, aber die hier war ihm unheimlich. »Moment mal. Können Sie sehen, dass es leuchtet?« Er hielt ihr das Zigarettenetui hin.

»Da leuchtet nichts. Fühlt sich nur so an, als würde es hierher gehören«, sagte sie. »Wie heißt du?«

»Charlie Asher. Das hier ist Ashers

»Okay, Charlie, du scheinst ein netter Kerl zu sein, aber ich weiß nicht genau, was du bist, und du scheinst es selbst nicht zu wissen. Du weißt es doch nicht, oder?«

»Bei mir hat sich einiges verändert«, sagte Charlie und fragte sich, wieso er sich bemüßigt fühlte, ihr etwas anzuvertrauen.

Die Rothaarige nickte, nahm es als Bestätigung. »Okay. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man – also – wenn man sich in einer Situation wiederfindet, in der einen Mächte, auf die man keinen Einfluss hat, in jemanden – in etwas – verwandeln, für das man kein Handbuch besitzt. Ich weiß, was es heißt, nichts zu wissen. Aber irgendwer irgendwo weiß es. Irgendjemand kann dir sagen, was los ist.«

»Wovon reden Sie eigentlich?« Aber er wusste genau, wovon sie redete. Allerdings wusste er nicht, wie sie davon wissen konnte.

»Du lässt Menschen sterben, habe ich Recht, Charlie?« Sie sagte es, als sammelte sie allen Mut zusammen, um ihm anzuvertrauen, dass er Spinat zwischen den Zähnen hatte. Als Gefälligkeit, nicht als Vorwurf.

»Wie können Sie…?« Wie konnte sie…

»Weil ich es tue. Nicht wie du, aber ich tue es auch. Such sie, Charlie. Verfolg die Spur zurück und finde die Leute, die dabei waren, als sich deine Welt verändert hat.«

Charlie sah sie an, dann das Zigarettenetui, dann wieder die Rothaarige, die nicht mehr lächelte, sondern rückwärts die Tür ansteuerte. In seinem Wunsch nach Normalität konzentrierte er sich auf das Etui und sagte: »Ich könnte eine unverbindliche Schätzung vornehmen…«

Er hörte das Glöckchen über der Tür, und als er aufblickte, war sie nicht mehr da.

Weder links, noch rechts vom Schaufenster war etwas von ihr zu sehen. Sie war einfach weg. Er lief nach vorn in den Laden und auf den Bürgersteig hinaus. Das Cable Car erklomm gerade den Hügel oben an der California Street, und er hörte die Glocke. Leichter Nebel trieb von der Bay herauf und umfing die Neonschriften der anderen Läden mit farbenfrohem Heiligenschein, aber von einem hinreißenden Rotschopf war auf der Straße weit und breit nichts zu sehen. Er lief zur Ecke und sah die Vallejo hinunter, doch auch hier kein Rotschopf, nur der Kaiser, der mit seinen Hunden an der Hauswand lehnte.

»Guten Abend, Charlie.«

»Majestät, habt Ihr eben eine rothaarige Frau gesehen?«

»O ja. Hab sogar mit ihr gesprochen. Ich bin nicht sicher, ob Ihr bei ihr landen könnt, Charlie. Ich glaube, sie ist schon vergeben. Und sie hat gesagt, ich soll mich von Euch fern halten.«

»Wieso? Hat sie gesagt, wieso?«

»Sie hat gesagt, Ihr seid der Tod.«

»Bin ich?«, sagte Charlie. »Bin ich?« Ihm stockte der Atem, als der Tag vor seinem inneren Auge ablief. »Was ist, wenn es stimmt?«

»Mein Sohn«, sagte der Kaiser, »ich bin zwar kein Experte für das schöne Geschlecht, aber vielleicht solltet Ihr Euch diese Kunde bis nach dem dritten Stelldichein aufsparen, wenn sie Euch etwas besser kennen.«

7

Thanatoast

Zwar mochte Charlies Betamännchenphantasie ihm oft Angst und sogar Paranoia beschert haben, doch wenn es darum ging, das Inakzeptable zu akzeptieren, diente es ihm wie Toilettenpapier aus Kevlar – kugelsicher, aber etwas unerquicklich in der Anwendung. Etwaiges Unvermögen, das Unglaubliche zu glauben, sollte ihm nicht zum Verhängnis werden. Charlie Asher würde nie ein Käfer sein, der auf der getönten Windschutzscheibe dumpfer Phantasien platzte.

Er wusste, dass alles, was ihm in den letzten vierundzwanzig Stunden zugestoßen war, für die meisten Menschen die Grenzen des Möglichen sprengte, und da sein einziger Zeuge jemand war, der sich für den Kaiser von San Francisco hielt, würde Charlie nie im Leben irgendjemanden davon überzeugen können, dass ihn Riesenraben mit Schnabelgeruch verfolgt und angegriffen hatten und er von einem heißblütigen Orakel in Fickmich-Pumps zum Fremdenführer unerforschter Gefilde erklärt worden war.

Nicht mal Jane würde ihm einen derartigen Vertrauensvorschuss gewähren. Das hätte nur ein einziger Mensch getan oder gekonnt, und zum zehntausendsten Mal spürte er, dass sein Herz kollabierte wie ein Schwarzes Loch, weil ihm Rachel so sehr fehlte. Somit wurde Sophie seine Mitverschwörerin.

Die Kleine saß – im Elmo-Overall mit Baby- Doc Martens (dank Tante Jane) – in ihrem Autositz auf dem Frühstückstresen gleich neben dem Goldfischglas. (Charlie hatte sechs große Goldfische gekauft, als sie anfing, Bewegungen wahrzunehmen. Mädchen brauchten Haustiere. Er hatte die Fische nach Fernsehanwälten benannt. Momentan schwamm Matlock hinter Perry Mason her und schnappte nach der langen Fischwurst, die aus Perrys Pupsloch hing.)

Sophie bekam die ersten dunklen Haare wie ihre Mutter, und wenn Charlie es richtig sah, auch denselben Ausdruck amüsierter Zuneigung ihm gegenüber (plus Sabberfaden).

»Ich bin also der Tod«, sagte Charlie, während er versuchte, ein Thunfisch-Sandwich zu konstruieren. »Daddy ist der Tod, Süße.« Er sah nach dem Toast, traute dem Auswerfmechanismus aber nicht, weil die Toasterleute einen manchmal gern verarschten.

»Der Tod«, sagte Charlie, als der Dosenöffner abrutschte und er mit seiner bandagierten Hand gegen den Tresen schlug. »Verflucht!«

Sophie gluckste und gab ein seliges Babygurgeln von sich, was für Charlie klang wie: »Echt, Daddy? Erzähl noch mehr davon.«

»Ich kann nicht mal mehr rausgehen, weil ich fürchten muss, dass mir jemand tot vor die Füße fällt. Ich bin der Tod, mein Schatz. Klar, lach du nur, aber mit einem Vater, der andere Leute ins Gras beißen lässt, findest du bestimmt nie eine gute Vorschule.«

Sophie blubberte eine Blase des Mitgefühls hervor. Charlie ließ den Toast herausspringen. Die beiden Scheiben waren noch nicht so weit, aber wenn er sie noch mal herunterdrückte, würden sie verbrennen, sofern er sie nicht im Auge behielt und per Hand herausholte. Wahrscheinlich würde er sich jetzt mit irgendwelchen seltenen Labbertoast-Bazillen infizieren. Toasterwahnsinn. Elendes Toasterpack.

»Das hier ist der Toast des Todes, junges Fräulein.« Er zeigte ihr das Brot. »Der Todestoast.«

Er legte die Scheibe hin und machte sich wieder an der Thunfischdose zu schaffen.

»Hat sie vielleicht nur bildlich gesprochen? Ich meine, vielleicht meinte die Rothaarige einfach nur, dass ich – also – tödlich langweilig bin.« Das erklärte selbstverständlich nicht wirklich alles andere, was passiert war. »Was meinst du?«, fragte er Sophie.

Er suchte nach einer Antwort, und die Kleine setzte dieses Racheleske Schlaumeiergrinsen auf (wenn auch ohne Zähne). Sie freute sich an seiner Qual, und seltsamerweise fühlte er sich besser, das zu wissen.

Einmal mehr rutschte der Dosenöffner ab, Thunfischsoße spritzte ihm übers Hemd, und der Toast fiel auf den Boden. Jetzt waren Fusseln daran. Fusseln am Toast! Fusseln am Toast des Todes. Was, zum Teufel, hatte man davon, Herr der Unterwelt zu sein, wenn man Fusseln an seinem Toast hatte? »Blöder Scheißdreck!«

Er hob den Toast vom Boden auf und warf ihn an Sophie vorbei ins Wohnzimmer. Das Baby sah ihn fliegen, dann quiekte sie begeistert und strahlte ihren Vater an, als wollte sie sagen: »Noch mal, Daddy! Noch mal!«

Charlie hob sie aus ihrem Autositz und drückte sie an sich, roch süßsauren Babyduft, und seine Tränen landeten auf ihrem Overall. Er hätte es gekonnt, wenn Rachel da gewesen wäre, aber ohne sie schaffte er es nicht.

Er würde einfach nicht mehr vor die Tür gehen. Das war die Lösung. Die Bürger von San Francisco waren nur sicher, wenner in seiner Wohnung blieb. Also verbrachte er die nächsten vier Tage zu Hause bei Sophie, schickte Mrs. Ling zum Einkaufen. (Und häufte dabei eine gewaltige Sammlung von Gemüsesorten an, die er nicht kannte und auch nicht zubereiten konnte, denn Mrs. Ling kaufte ausschließlich in Chinatown ein, egal, was er ihr auftrug.) Und als nach zwei Tagen ein neuer Name auf dem Notizblock neben seinem Bett auftauchte, versteckte Charlie den Block vorsichtshalber unter dem Telefonbuch in der Küchenschublade.

Es war Tag Fünf, als er den Schatten eines Raben auf einem der gegenüberliegenden Dächer sah. Erst war er nicht sicher, ob es sich um einen Riesenraben oder ein ganz normales Tier handelte, das einen langen Schatten warf, doch als ihm bewusst wurde, dass Mittagszeit war und es kaum Schatten gab, löste sich die Hoffnung auf einen normalen Raben in Wohlgefallen auf. Er zog die Jalousien zu und hockte gemeinsam mit Sophie hinter der verschlossenen Schlafzimmertür, mit einem Karton Pampers, einem Korb Gemüse, je einem Sixpack Säuglingsmilch und gelber Brause und versteckte sich, bis das Telefon klingelte.

»Was machen Sie da eigentlich?«, fragte eine sehr tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung. »Sind Sie verrückt geworden?«

Charlie war wie vor den Kopf gestoßen. Nach der Nummer zu urteilen, hatte sich jemand verwählt. »Ich esse etwas, das entweder Melone oder Kürbis ist.« Er betrachtete das grüne Ding, das nach Melone schmeckte, aber eher wie ein Kürbis aussah – mit Stacheln. (Mrs. Ling nannte es »Mund-halten-und-essen-sein-gesund«.)

Der Mann sagte: »Sie vermasseln noch alles. Sie haben was zu erledigen. Tun Sie, was im Buch steht, sonst wird man Ihnen alles nehmen, was Ihnen etwas bedeutet. Das ist mein Ernst.«

»Welches Buch? Wer spricht da?«, fragte Charlie. Die Stimme kam ihm bekannt vor, und aus irgendeinem Grund versetzte sie ihn in Alarmbereitschaft.

»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Tut mir leid«, sagte der Mann.

»Ihre Nummer erscheint auf meinem Display, Blödmann. Ich weiß, von wo Sie anrufen.«

»Ups«, sagte der Mann.

»Daran hätten Sie denken sollen. Was für eine ominöse, böse Macht wollen Sie sein, wenn Sie nicht mal verhindern können, dass Ihre Nummer auf meinem Display erscheint?«

Sein Telefon zeigte »Fresh Music« und eine Nummer an. Charlie rief die Nummer zurück, doch niemand ging an den Apparat. Er rannte in die Küche, holte das Telefonbuch aus der Schublade und schlug Fresh Music nach. Es war ein Plattenladen irgendwo oben an der Ecke Market und Castro Street.

Das Telefon klingelte, und er riss den Hörer so heftig von der Gabel, dass er sich fast ein Stück vom Zahn abbrach, als er sich meldete.

»Kaltblütiges Dreckschwein!«, brüllte Charlie in den Hörer. »Hast du eigentlich eine Ahnung, was ich durchmache, du herzloses Monster?«

»Leck mich am Arsch, Asher!«, sagte Lily. »Dass ich noch ein Kind bin, bedeutet nicht, dass ich keine Gefühle habe.« Sie legte auf.

Charlie rief zurück.

»Asher’s Secondhand«, meldete sich Lily. »Seit dreißig Jahren im Familienbesitz bourgeoiser Kretins.«

»Lily, tut mir leid. Ich dachte, du wärst jemand anders. Weshalb hast du angerufen?«

»Je?«, sagte Lily. »Je me fou de ta gueule, espèce des gaufres de douche.«

»Lily, hör auf, Französisch zu sprechen. Ich hab doch gesagt, es tut mir leid.«

»Hier unten ist ein Bulle, der dich sprechen will«, sagte sie.

Charlie hatte sich Sophie vor den Bauch geschnallt wie eine Terroristen-Baby-Bombe, als er die Hintertreppe herunterkam. Sie konnte gerade den Kopf hoch halten, weshalb er sie mit dem Gesicht nach vorne trug, damit sie sich umsehen konnte. Ihre Arme und Beine schlackerten herum, wenn Charlie ging, so dass sie aussah wie eine Fallschirmspringerin – mit einem komischen Vogel als Schirm.

Der Cop stand am Tresen, Lily gegenüber, und sah aus wie eine Cognac-Werbung – im italienischen Zweireiher aus blauer Rohseide mit hellbraunem Leinenhemd und gelber Krawatte. Er war um die fünfzig, Latino, schlank, mit scharf geschnittenen Zügen und der Ausstrahlung eines Raubvogels. Sein Haar war zurückgekämmt, und mit den grauen Schläfen sah er aus, als käme er einem entgegen, selbst wenn er still stand.

»Inspector Alphonse Rivera«, sagte der Cop und reichte ihm die Hand. »Danke, dass Sie gekommen sind. Die junge Dame sagte, Sie hätten letzten Montag gearbeitet.«

Montag. Der Tag, an dem er hinter dem Laden mit den Raben gekämpft hatte, der Tag, an dem die blasse Rothaarige da gewesen war.

»Du musst ihm nichts erzählen, Asher«, sagte Lily, die offensichtlich ihre Loyalität zu ihm erneuerte, auch wenn er ein Kretin war.

»Danke, Lily. Wieso machst du nicht kurz Pause und siehst mal nach, was drüben am Höllenschlund so los ist?«

Sie murrte, dann nahm sie etwas aus der Schublade unter der Kasse, vermutlich ihre Zigaretten, und ging zur Hintertür hinaus.

»Wieso ist dieses Kind nicht in der Schule?«, fragte Rivera.

»Die reine Extrawurst«, sagte Charlie. »Sie wissen schon: Privatunterricht.«

»Ist sie deshalb so vergnügt?«

»Diesen Monat studiert sie die Existentialisten. Hat letzte Woche um einen Studientag gebeten, um am Strand einen Araber zu erschießen.«

Rivera lächelte, und Charlie entspannte sich etwas. Er zog ein Foto aus seiner Brusttasche und hielt es Charlie hin. Sophie schien danach greifen zu wollen. Das Foto zeigte einen älteren Herrn im Sonntagsstaat auf den Stufen einer Kirche. Charlie erkannte die Kathedrale von St. Peter amp; Paul, nur ein paar Blocks entfernt am Washington Square.

»Haben Sie diesen Mann am Montagabend gesehen? Er trug einen schwarzgrauen Mantel und einen Hut.«

»Nein, tut mir leid. Hab ich nicht«, sagte Charlie. Und das hatte er auch nicht. »Ich war bis zehn etwa im Laden. Es kamen einige Kunden, aber dieser Mann war nicht dabei.«

»Sind Sie sicher? Er heißt James O’Malley. Es geht ihm nicht gut. Krebs. Seine Frau sagt, er ist Montagabend in der Dämmerung spazieren gegangen und nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Nein, tut mir leid«, sagte Charlie. »Haben Sie den Cable-Car-Schaffner gefragt?«

»Mit den Leuten, die am Abend auf dieser Strecke gefahren sind, habe ich bereits gesprochen. Wir vermuten, er könnte irgendwo zusammengebrochen sein, aber wir haben ihn noch nicht gefunden. Nach so langer Zeit sieht es gar nicht gut aus.«

Charlie nickte, versuchte, einen nachdenklichen Eindruck zu machen. Er war so erleichtert, dass der Cop nicht wegen irgendwas gekommen war, was mit ihm zu tun hatte, dass ihm fast schwindlig wurde. »Vielleicht sollten Sie den Kaiser fragen. Sie wissen, wen ich meine, oder? Er kennt jeden Winkel dieser Stadt und sieht mehr als die meisten von uns.«

Bei der Erwähnung des Kaisers verzog Rivera das Gesicht, doch dann entspannte er sich und lächelte wieder. »Das ist eine gute Idee, Mr. Asher. Mal sehen, ob ich ihn finden kann.« Er reichte Charlie seine Karte. »Wären Sie so freundlich, mich anzurufen, falls Ihnen noch was einfällt?«

»Das werde ich tun. Äh, Inspector?«, sagte Charlie, und Rivera blieb ein paar Schritte vor dem Tresen stehen. »Ist es nicht ungewöhnlich, dass in so einer Routinesache ein Inspector ermittelt?«

»Ja, normalerweise würde sich eine Streife darum kümmern, aber möglicherweise besteht ein Zusammenhang zu etwas, an dem ich arbeite. Deshalb haben Sie mit mir zu tun.«

»Oh, okay«, sagte Charlie. »Schicker Anzug übrigens. Ist mir gleich aufgefallen. Liegt an meiner Branche.«

»Danke«, sagte Rivera und warf einen wehmütigen Blick auf seine Ärmel. »Ich hatte vor einer Weile eine Glückssträhne.«

»Das freut mich für Sie«, sagte Charlie.

»Ging vorbei«, sagte Rivera. »Süßes Baby. Viel Glück Ihnen beiden, hm?« Und schon war er draußen.

Charlie wollte gerade wieder nach oben gehen, als er beinah mit Lily zusammenstieß. Sie hielt ihre Arme unter dem Logo Hell is Other People auf ihrem T-Shirt verschränkt und sah noch kritischer aus als sonst. »Okay, Asher. Hast du mir vielleicht was zu sagen?«

»Lily, ich hab keine Zeit für…«

Sie hielt ihm das silberne Zigarettenetui hin, das er von der Rothaarigen hatte. Es leuchtete noch immer. Sophie griff danach.

»Was?«, sagte Charlie. Konnte Lily es sehen? Hatte sie das mit dem seltsamen Leuchten herausgefunden?

Lily klappte das Etui auf und hielt es Charlie vor die Nase. »Lies die Gravur.«

James OMalley stand da in verschnörkelter Schrift.

Charlie trat einen Schritt zurück. »Lily, ich kann nicht… ich weiß nichts über diesen alten Mann. Hör zu, ich muss Mrs. Ling sagen, dass sie auf Sophie aufpasst, und dann rüber zur Castro Street. Ich erkläre es dir später, okay? Versprochen.«

Sie dachte einen Moment darüber nach, sah ihn vorwurfsvoll an, als hätte sie ihn dabei erwischt, wie er Gummibärchen an ihren Sündenbock verfütterte, dann gab sie nach. »Geh«, sagte sie.

8

Endstation Sinnflucht

Charlie Asher bahnte sich einen Weg ins Castro-Viertel, einen altmodischen Stockdegen neben sich auf dem Beifahrersitz, das Kinn vorgeschoben wie ein Bajonett, mit einer Miene furchteinflößender Entschlossenheit. Einen halben Block, die Hälfte eines Blocks, die Hälfte eines Wohnblocks voraus – ins tiefe Tal der überteuerten Saftbars und haarsträubenden Strähnchenfrisuren – stürmte das rechtschaffene Betamännchen. Und wehe dem ahnungslosen Tunichtgut, der es gewagt hatte, sich mit diesem Secondhand-Todesengel anzulegen, denn bald schon würde er sein zerlumptes Leben auf dem Grabbeltisch wiederfinden. Gleich gibt es einen Showdown in Gay Town, dachte Charlie. Ich schlage mich mit meiner Machete durch den Dschungel der Gerechtigkeit.

Nun, nicht wirklich schlagen, denn er hatte ja einen Stock und keine Machete, eher ein Stochern nach Gerechtigkeit – eine Formulierung, der es jedoch an diesem Racheengel-Unterton mangelte, den er sich wünschte – er war stinksauer und bereit, jemandem gehörig in den Arsch zu treten, nicht mehr und nicht weniger. Noch Fragen? Na, also. (Zufälligerweise war Stochern nach Gerechtigkeit momentan ein beliebter Titel bei Castro Video Rentals, knapp vor A Star is Born – Directors Cut und gleich nach Bullen ohne Hosen, eiergeil an erster Stelle.)

Charlie bog von der Market Street ab, und gleich an der Ecke Noe sah er es: Fresh Music – ein hübsches Schild. Er merkte, wie sich ihm die Haare im Nacken aufstellten und seine Blase drückte. Sein Körper befand sich im Kampf-oder-Flucht-Modus, und zum zweiten Mal in einer Woche handelte er entgegen seiner Betamännchen-Natur und entschied sich für den Kampf. Nun denn, dachte er, so sei es. Er würde seinem Peiniger gegenübertreten und ihn niederwerfen, sobald er einen Parkplatz fand – was nicht der Fall war.

Er kreiste um den Block, kurvte zwischen Cafés und Bars herum, von denen es in diesem Viertel mehr als reichlich gab. Er rollte durch die Seitenstraßen, vorbei an Reihen makellos gepflegter (und exorbitant teurer) Häuser im viktorianischen Stil, fand aber keine Bleibe für sein treues Ross. Nachdem er eine halbe Stunde lang die Nachbarschaft erkundet hatte, kehrte er um und fand einen freien Platz in einem Parkhaus an der Fillmore, dann fuhr er mit der antiken Straßenbahn wieder die Market Street entlang zurück ins Castro-Viertel. Eine süße, kleine, italienische Straßenbahn mit Holzbänken, Messinggeländern und Fensterrahmen aus Mahagoni, einem entzückenden Messingglöckchen und einer Höchstgeschwindigkeit von vierzig Stundenkilometern: So zog Charlie Asher in die Schlacht. Er versuchte, sich Horden von Hunnen vorzustellen, die an den Seiten hingen, böse Klingen schwangen und Pfeile abschossen, während draußen Graffiti vorüberzogen. Oder vielleicht Wikinger, die Schilde an der Bordwand des Waggons, schlugen ihre tiefe Trommel und ruderten heran, um die Antiquitätenläden, Leder-Bars, Sushi-Bars, Leder-Sushi-Bars (will man lieber gar nicht wissen) und Kunstgalerien an der Castro zu plündern. Und hier ließ Charlie sogar seine wunderbare Phantasie im Stich. An der Kreuzung Castro und Market stieg er aus und lief einen Block zurück bis zu Fresh Music, dann blieb er draußen vor dem Laden stehen und fragte sich, was er jetzt eigentlich machen wollte.

Was wäre, wenn der Anrufer das Telefon nur geliehen hatte? Was wäre, wenn Charlie schreiend und drohend hineinstürmte und hinter dem Tresen nur ein gestörter Bengel saß? Doch dann spähte er durch die Tür hinein, und dort stand hinter dem Tresen – ganz allein – ein außergewöhnlich großer, schwarzer Mann, komplett mintgrün gekleidet, und in diesem Moment sah Charlie rot.

»Du hast sie umgebracht!«, schrie Charlie, als er an den CD-Regalen entlang dem grünen Mann entgegenstürmte. Im Laufen zückte er seinen Degen – versuchte es zumindest -, in der Hoffnung, ihn mit einer einzigen, fließenden Bewegung aus dem Stock und Rachels Mörder einmal quer über die Kehle zu ziehen. Leider hatte die Waffe lange hinten in Charlies Laden gelegen, und abgesehen von den drei Malen, die Lilys Freundin Abby damit hatte verschwinden wollen (wobei sie ihn einmal zu kaufen versuchte, was Charlie ihr verweigerte, und ihn zweimal klauen wollte), war der Degen seit Jahren nicht mehr gezückt worden. Der kleine Messingknopf, den man drückte, um die Klinge zu lösen, steckte fest, so dass Charlie – als er dem Mann den Todesstoß versetzte – den ganzen Stock schwang, was schwerer war und langsamer, als der Degen es gewesen wäre. Der Mann in Mint war für seine Größe schnell und duckte sich, und Charlie löschte eine ganze Reihe Judy-Garland-CDs aus, verlor das Gleichgewicht, prallte vom Tresen ab, wirbelte herum und versuchte es noch einmal, wie er es so oft in Samurai-Filmen gesehen hatte. Diesmal löste sich die Klinge aus dem Stock und schlug ihren tödlichen Bogen kaum einen Meter vor dem Mann in Mint, wobei sie sauber eine lebensgroße Pappfigur von Barbra Streisand köpfte.

»Das muss doch nicht sein!«, donnerte der große Mann.

Als Charlie das Gleichgewicht für eine Rückhand wieder fand, sah er etwas Großes, Dunkles auf sich zukommen und erkannte es im allerletzten Augenblick, als ihn die altmodische Registrierkasse am Kopf traf. Es folgte ein Blitz, ein Klingeling, und alles wurde dunkel und klebrig.

Als Charlie zu sich kam, war er an einen Stuhl gefesselt. Er saß im Hinterzimmer des Plattenladens, das dem Hinterzimmer seines eigenen Ladens bemerkenswert ähnlich sah, abgesehen davon, dass sich in den gestapelten Kisten Schallplatten und CDs befanden und nicht gebrauchter Plunder. Der große Schwarze stand über ihn gebeugt, und Charlie dachte erst, er würde sich vielleicht in Rauch auflösen, doch dann merkte er, dass ihm alles vor den Augen verschwamm. Plötzlich blitzte Schmerz in seinem Kopf auf wie ein Stroboskop.

»Autsch.«

»Was macht Ihr Nacken?«, fragte der große Mann. »Fühlt sich der Hals gebrochen an? Spüren Sie Ihre Füße?«

»Mach schon, bring mich um, du beschissener Feigling«, sagte Charlie und zappelte auf dem Stuhl herum, versuchte, sich auf seinen Peiniger zu stürzen, und kam sich vor wie der Schwarze Ritter bei Monty Python, nachdem man ihm Arme und Beine abgehackt hatte. Wenn dieser Typ nur einen Schritt näher kommen würde, könnte Charlie ihm den Schädel in die Eier rammen, ganz bestimmt.

Der große Mann stampfte Charlie auf die Zehen, ein Halbschuh aus weichem Leder, Größe 53, getreten von hundertdreißig Kilo Tod und Plattenhändler.

»Au!« Charlie hüpfte vor Schmerz auf seinem Stuhl im Kreis herum. »Gottverdammt! Aua!«

»Also haben Sie doch Gefühl in Ihrem Herzen?«

»Bring es hinter dich! Fang endlich an!« Charlie machte einen langen Hals, als hielte er ihm die Kehle hin, damit er sie durchschneiden konnte – seine Strategie war, den Peiniger in seine Reichweite zu locken, ihm dann die Oberschenkelarterie aufzubeißen und sich an dem Blut zu ergötzen, das über seine mintgrünen Hosen auf den Boden rann. Lang und düster wollte Charlie lachen, wenn er sah, wie der Scheißkerl sein Leben aushauchte, dann wollte er mit seinem Stuhl vor die Tür und an der Market Street in eine Straßenbahn hüpfen, dann an der Van Ness in den 41er-Bus umsteigen, an der Columbus abspringen und die zwei Blocks nach Hause hoppeln, wo ihn jemand losbinden würde. Er hatte einen Plan – und eine Busfahrkarte, die noch vier Tage gültig war. Der Scheißkerl hatte sich den Falschen ausgesucht, wenn er sich mit ihm anlegen wollte.

»Ich habe nicht die Absicht, Sie zu töten, Charlie«, sagte der große Mann und hielt Sicherheitsabstand. »Tut mir leid, dass ich Sie mit der Kasse niederschlagen musste. Sie haben mir keine Wahl gelassen.«

»Du hättest den tödlichen Stich meiner Klinge kosten können!« Charlie sah sich nach seinem Stockdegen um, für den Fall, dass der Typ das Ding in Reichweite liegen lassen hatte.

»Ja, das stimmt, aber ich dachte, ich verzichte lieber auf die Flecken und die Beerdigung und das alles.«

Charlie stemmte sich gegen seine Fesseln, die – wie er jetzt merkte – aus Plastiktüten bestanden. »Weißt du eigentlich, dass du dich mit dem Tod anlegst? Ich bin der Tod persönlich.«

»Ja, ich weiß.«

»Ach ja?«

»Klar.« Der große Mann drehte einen zweiten Stuhl um, setzte sich falsch herum darauf und sah Charlie an. Seine Knie befanden sich auf Höhe seiner Ellenbogen, und er sah wie ein großer, grüner Baumfrosch aus, der sich jeden Augenblick auf ein Insekt stürzen würde. Zum ersten Mal fiel Charlie auf, dass der Mann goldene Augen hatte, ein greller Kontrast zu seiner dunklen Haut. »Ich auch«, sagte der böse, grüne Froschmann.

»Du? Du bist der Tod?«

»Ein Tod, nicht DER Tod. Ich glaube nicht, dass es DEN Tod gibt. Jedenfalls nicht mehr.«

Charlie konnte es nicht fassen, also kämpfte und ruckelte er, bis der große Mann verhindern musste, dass er umkippte.

»Du hast Rachel umgebracht!«

»Hab ich nicht.«

»Ich hab dich gesehen.«

»Ja, das haben Sie. Das ist das Problem. Wenn Sie bitte damit aufhören könnten, um sich zu schlagen.« Er schüttelte Charlies Stuhl. »Ich war da, aber mit Rachels Tod hatte ich nichts zu tun. So was machen wir nicht, jedenfalls nicht mehr. Haben Sie sich das Buch denn nicht mal angesehen?«

»Welches Buch? Davon haben Sie am Telefon schon gesprochen.«

»Das Große Bunte Buch des Todes. Ich habe es Ihnen in den Laden geschickt. Ich hatte der Frau hinterm Tresen gesagt, dass ich es zur Post bringe, und auch die Bestätigung bekommen, dass es ausgeliefert wurde, also weiß ich, dass es angekommen ist.«

»Welche Frau? Lily? Sie ist keine Frau. Sie ist ein Kind.«

»Nein, es war eine Frau etwa in Ihrem Alter, mit so einer New-Wave-Frisur.«

»Jane? Nein. Die hat nichts gesagt, und ich habe auch kein Buch bekommen.«

»Ach, du Schreck. Das erklärt, wieso die überall auftauchen. Sie wussten nicht mal was davon.«

»Wer? Was? Sie?«

Der mintgrüne Tod seufzte schwer. »Ich schätze, wir werden wohl noch eine Weile hier bleiben. Ich mach uns einen Kaffee. Möchten Sie?«

»Klar, versuch nur, mich einzulullen, damit ich mich in Sicherheit wiege. Und dann fällst du über mich her.«

»Sie sind gefesselt, Mann. Ich muss Sie nicht einlullen. Sie haben sich am Stoff zu schaffen gemacht, aus dem die menschliche Existenz genäht ist, und irgendjemand musste Ihnen den Stecker rausziehen.«

»Na super, komm mir mit der schwarzen Nummer. Spiel die Ethnokarte.«

Mintgrün stand auf und steuerte die Tür zum Laden an. »Nehmen Sie Milch?«

»Und zwei Stücke Zucker bitte«, sagte Charlie.

»Das ist echt cool. Wieso willst du es zurückgeben?«, sagte Abby Normal. Abby war Lilys beste Freundin. Sie saßen auf dem Fußboden im Hinterzimmer von Asher’s Secondhand und blätterten im Großen Bunten Buch des Todes. Abby hieß eigentlich Alison, aber sie war nicht mehr bereit, die Schmach ihres aufgezwungenen »Sklavennamens« zu ertragen. Die Leute waren schnell bereit gewesen, sie bei ihrem neuen Namen zu nennen. Lily hatte es da erheblich schwerer, denn »Darquewillow Elventhing« musste man jedes Mal buchstabieren.

»Leider gehört es Asher«, sagte Lily. »Er wird ganz schön sauer sein, wenn er merkt, dass ich es mir einfach genommen habe. Und da er jetzt der Tod ist, könnte ich echt Ärger kriegen.«

»Willst du ihm sagen, dass du das Buch hattest?« Abby kratzte an der kleinen, silbernen Spinne in ihrer Augenbraue herum. Es war ein nagelneues Piercing und heilte noch. Sie konnte sich einfach nicht beherrschen. Wie Lily war auch Abby ganz in Schwarz gekleidet, von den Stiefeln bis zum Haar. Der einzige Unterschied war die rote Sanduhr einer Schwarzen Witwe vorn auf ihrem T-Shirt, und sie war dünner und wirkte in ihrer gekünstelten Düsternis irgendwie heimatloser.

»Nein, ich sag nur, dass es vergessen wurde. So was kommt hier oft vor.«

»Wie lange hast du geglaubt, dass du es bist?«

»So zwei Monate.«

»Was ist mit den Träumen und den Namen und dem Zeug, von dem die Rede ist? So was hattest du doch gar nicht, oder?«

»Ich dachte, ich wachse in meine Macht hinein. Ich habe einen Haufen Listen von Leuten angelegt, die ich loswerden will.«

»Ja, so was mach ich auch. Und gestern hast du festgestellt, dass Asher es ist?«

»Jep«, sagte Lily.

»Voll scheiße«, sagte Abby.

»Das ganze Leben ist scheiße«, sagte Lily.

»Und was jetzt?«, fragte Abby. »Junior College?«

Beide nickten bestürzt und starrten in die Tiefen ihres jeweiligen Nagellacks, um der Blamage zu entgehen, dass eine von ihnen eben noch eine düstere Halbgöttin gewesen war und jetzt nur noch ein kleines Licht war wie alle anderen auch. Sie lebten ihr Leben in der Hoffnung, dass eines Tages etwas Großartiges, Finsteres, Übernatürliches geschehen würde, und als es dann geschah, hinterließ es weniger Spuren, als gut für sie gewesen wäre. Angst ist schließlich ein Überlebensmechanismus.

»Und diese Gegenstände haben jetzt also eine Seele?«, fragte Abby so unbeschwert, wie es ihre Integrität zuließ. Sie deutete auf das gestapelte Zeug, das Charlie mit »Nicht verkaufen«Schildchen versehen hatte. »Da ist irgendwie die Seele von jemandem drin?«

»So steht’s im Buch«, sagte Lily. »Asher sagt, er kann sie leuchten sehen.«

»Ich mag die roten Converse All Stars

»Nimm sie ruhig«, sagte Lily.

»Wirklich?«

»Klar«, bestätigte Lily. Sie nahm die All Stars vom Regal und reichte sie ihr. »Das merkt er gar nicht.«

»Cool. Ich hab genau die richtigen, roten Netzstrümpfe dafür.«

»Wahrscheinlich steckt die Seele von irgendeinem verschwitzten Jogger da drin«, sagte Lily.

»Er darf sich mir zu Füßen werfen«, sagte Abby, tanzte eine Pirouette und eine Arabesque (wie ihre Essstörungen ein Überbleibsel zehnjährigen Ballettunterrichts).

»Dann bin ich also so was wie der Helfer vom Weihnachtsmann?«, sagte Charlie und schwenkte seine Kaffeetasse. Der große Mann hatte ihm einen Arm losgebunden, damit er seinen Kaffee trinken konnte, und Charlie taufte den Fußboden bei jeder Geste mit Frischgeröstetem. Mr. Fresh runzelte die Stirn.

»Wovon reden Sie eigentlich, Asher?« Fresh hatte ein schlechtes Gewissen, weil er Charlie die Registrierkasse an den Kopf geknallt und ihn gefesselt hatte, und er fragte sich, ob sein Hirn nach dem Schlag vielleicht Schaden genommen hatte.

»Ich rede vom Weihnachtsmann bei Macys, Fresh. Wenn man klein ist und einem irgendwann auffällt, dass der Weihnachtsmann bei Macy’s einen angeklebten Bart hat und auf dem Union Square mindestens sechs Weihnachtsmänner von der Heilsarmee rumstehen, fragt man seine Eltern danach, und die erzählen einem, dass der echte Weihnachtsmann am Nordpol wohnt und viel zu tun hat und dass diese anderen Leute die Helfershelfer vom Weihnachtsmann sind, die ihm bei seiner Arbeit zur Hand gehen. Das wollen Sie mir erzählen? Wir sind die Helfershelfer von Gevatter Tod?«

Mr. Fresh hatte an seinem Schreibtisch gestanden, doch jetzt setzte er sich wieder Charlie gegenüber, um ihm in die Augen sehen zu können. Ganz leise sagte er: »Charlie, Sie wissen doch, dass das nicht stimmt, oder? Ich meine, das mit den Helfern vom Weihnachtsmann und so?«

»Selbstverständlich weiß ich, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Das habe ich doch nur als Beispiel gesagt, du Flachpfeife.«

Mr. Fresh nutzte die Gelegenheit, Charlie von oben eins auf den Kopf zu geben, was er sofort bereute.

»Hey!« Charlie stellte seine Tasse ab und rieb an seiner Geheimratsecke herum, die vom Schlag ganz rot wurde.

»Unflätig«, sagte Mr. Fresh. »Wir wollen doch nicht unflätig werden.«

»Also wollen Sie mir erzählen, dass es den Weihnachtsmann doch gibt?«, sagte Charlie und schreckte in Erwartung eines nächsten Schlages zurück. »O mein Gott, wie weit reicht diese Verschwörung?«

»Nein, verdammt, es gibt keinen Weihnachtsmann. Ich sage nur, dass ich nicht weiß, was wir sind. Ich weiß nicht, ob es den Sensenmann gibt, auch wenn im Buch angedeutet wird, dass es ihn einmal gegeben hat. Ich sage nur, dass es viele von uns gibt. Ein gutes Dutzend kenne ich allein hier in der Stadt. Wir alle sammeln solche Gegenstände – Seelenschiffchen – und sorgen dafür, dass sie in die richtigen Hände gelangen.«

»Je nachdem, wer zufällig in diesen Laden kommt und eineCD kauft?« Plötzlich wurden Charlies Augen groß, als ihm ein Licht aufging. »Rachels Sarah-McLaughlan-CD. Sie haben sie genommen?«

»Ja.« Fresh blickte zu Boden, nicht weil er sich schämte, sondern damit er den Schmerz in Charlie Ashers Augen nicht sehen musste.

»Wo ist sie? Ich will sie sehen«, sagte Charlie.

»Ich habe sie verkauft.«

»An wen? Suchen Sie sie. Ich will meine Rachel wiederhaben.«

»Ich weiß es nicht. An eine Frau. Ich habe sie nicht nach ihrem Namen gefragt, aber ich war mir sicher, dass die CD für sie gedacht war. Irgendwann wissen Sie es einfach.«

»Ach, ja? Wieso das?«, fragte er. »Warum ich? Ich will niemanden umbringen.«

»Wir bringen niemanden um, Mr. Asher. Das ist eine Fehlinterpretation. Wir ermöglichen nur die Weiterreise der Seele.«

»Also, einer ist gestorben, weil ich was zu ihm gesagt habe, und ein anderer hatte einen Herzinfarkt, weil ich was getan habe. Wenn man etwas tut, und daraufhin kommt ein Mensch zu Tode, dann bedeutet es doch mehr oder weniger, dass man ihn ermordet hat, oder nicht? Es sei denn, man wäre Politiker. Warum also ich? Ich bin für solchen Quatsch überhaupt nicht qualifiziert. Warum also?«

Mr. Fresh dachte darüber nach und spürte, wie etwas Finsteres an seinem Rückgrat emporkroch. Er konnte sich nicht erinnern, dass seine Aktivitäten in all den Jahren jemals direkt den Tod eines Menschen zur Folge gehabt hatten, und auch von den anderen Totenboten hatte er so etwas noch nicht gehört. Natürlich tauchte man gelegentlich in dem Moment auf, wenn gerade jemand starb, aber nicht oft, und nie war das der Auslöser.

»Also?«, sagte Charlie.

Mr. Fresh zuckte mit den Schultern. »Weil Sie mich gesehen haben. Sicher ist Ihnen schon aufgefallen, dass man Sie nicht sehen kann, wenn Sie ein Seelenschiffchen holen.«

»Ich habe noch nie ein Seelenschiffchen geholt.«

»Doch, das haben Sie, und Sie werden es auch wieder tun. Jedenfalls sollten Sie das. Sie müssen das Programm fortsetzen, Mr. Asher.«

»Ja, das sagten Sie schon. Also sind Sie – äh – sind wir unsichtbar, wenn wir diese Seelenschiffchen holen?«

»Nicht im eigentlichen Sinne unsichtbar. Es ist nur so, dass uns niemand wahrnimmt. Man kann direkt zu den Leuten ins Haus gehen, und die merken gar nicht, dass man neben ihnen steht, aber spricht man auf der Straße jemanden an, wird man auch gesehen. Kellnerinnen nehmen Bestellungen entgegen, Taxis halten an, wenn man winkt, also, nicht bei mir, ich bin schwarz, aber, Sie wissen schon, im Prinzip ja. Ich glaube, es ist auch eine Willensfrage. Ich habe es getestet. Tiere können uns übrigens sehen. Sie sollten auf Hunde achten, wenn Sie ein Schiffchen holen.«

»Und so wurden Sie also ein… wie nennt man uns?«

»Totenbote.«

»Ist nicht wahr. Wirklich?«

»Das steht nicht im Buch. Es war meine Idee.«

»Sehr cool.«

»Dankeschön.« Mr. Fresh lächelte erleichtert, weil er einen Moment nicht darüber nachdenken musste, dass Charlie auf so ungewöhnliche Weise Totenbote geworden war. »Ich glaube, ich hatte das Wort auf einem Plattencover gelesen.«

»Macht absolut Sinn.«

»Ja, dachte ich auch«, sagte Mr. Fresh. »Noch Kaffee?«

»Bitte.« Charlie hielt ihm die leere Tasse hin. »Sie wurden also gesehen. Und so sind Sie Totenbote geworden?«

»Nein, so sind Sie einer geworden. Ich glaube, es könnte sein, dass Sie, hm…« Fresh wollte den armen Kerl nicht in die Irre führen, aber andererseits wusste er nicht wirklich, was passiert war. »Ich glaube, vielleicht sind Sie nicht so wie wir anderen. Mich hat niemand gesehen. Ich habe in Las Vegas beim Sicherheitsdienst eines Casinos gearbeitet, was irgendwann nicht mehr gut ging. Angeblich habe ich ein Autoritätsproblem. So bin ich nach San Francisco gekommen und habe diesen Laden aufgemacht, hab angefangen, mit gebrauchtem Vinyl und mit CDs zu handeln, anfangs vor allem Jazz. Nach einer Weile ging es los: die leuchtenden Seelenschiffchen. Manchmal kommen Leute damit rein, manchmal findet man sie bei Nachlässen. Ich weiß nicht, wieso und warum, es passierte einfach, und ich habe niemandem was davon gesagt. Dann kam dieses Buch mit der Post.«

»Wieder dieses Buch. Haben Sie nicht irgendwo eine Ausgabe rumliegen?«

»Es gibt nur ein Exemplar. Soweit ich weiß, zumindest.«

»Und das haben Sie einfach so weggeschickt?«

»Ich habe es per Einschreiben geschickt!«, donnerte Fresh. »Irgendwer in Ihrem Laden hat dafür unterschrieben. Ich denke, ich habe alles getan, was in meiner Macht stand.«

»Okay, tut mir leid. Weiter.«

»Jedenfalls, als ich hier ins Viertel kam, war Castro eine traurige Gegend. Auf der Straße sah man nur ganz Alte und ganz Junge, alle dazwischen waren entweder tot oder hatten AIDS, gingen am Stock und zogen Sauerstoffflaschen hinter sich her. Der Tod war allgegenwärtig. Es war, als brauchte man eine Seelenwiegestation, und ich war hier und handelte mit Platten. Zahllose Seelen kamen herein. In den ersten paar Jahren habe ich jeden Tag Seelenschiffchen gesammelt, manchmal zwei oder drei pro Tag. Sie wären überrascht, wie viele schwule Männer mit Seele in der Musikbranche sind.«

»Haben Sie alle verkauft?«

»Nein. Sie kommen und gehen. Ich habe immer welche auf Lager.«

»Aber wie können Sie sicher sein, dass die richtige Person auch die richtige Seele bekommt?«

»Das ist nicht mein Problem, oder?« Mr. Fresh zuckte mit den Schultern. Anfangs hatte er sich Gedanken darum gemacht, aber alles schien so zu laufen, wie es sollte, und er war dazu übergegangen, auf den Mechanismus beziehungsweise die Macht zu vertrauen, die dahinter stand.

»Na, wenn Sie so denken, wieso machen Sie dann überhaupt irgendwas? Ich will diesen Job nicht. Ich habe einen Job… und eine Tochter.«

»Sie müssen es tun. Glauben Sie mir, nachdem ich das Buch bekommen hatte, habe ich auch versucht, es nicht zu tun. Das versuchen alle. Zumindest diejenigen, mit denen ich gesprochen habe. Ich schätze, Sie haben schon gesehen, was passiert, wenn Sie es nicht tun. Erst hören Sie Stimmen, dann kommen die Schatten. Im Buch heißen sie Unterweltler.«

»Die Riesenraben? Oder wer?«

»Es waren nur Schatten und Stimmen, bis Sie aufgetaucht sind. Irgendwas geht vor sich. Es fing mit Ihnen an und geht mit Ihnen weiter. Sie haben denen ein Seelenschiffchen überlassen, stimmt’s?«

»Ich? Sie haben doch gesagt, es gibt einen ganzen Haufen Totenboten.«

»Die anderen würden so was nicht machen. Es können nur Sie gewesen sein. Sie haben es vermasselt. Ich glaube, Anfang der Woche habe ich einen von denen gesehen. Und als ich heute draußen unterwegs war, habe ich überall Stimmen gehört. Grauenvoll. Daraufhin habe ich Sie angerufen. Das waren Sie doch, oder?«

Charlie nickte. »Ich wusste ja nichts davon. Woher auch?«

»Also haben die jetzt eine?«

»Zwei«, sagte Charlie. »Da kam eine Hand aus dem Gully. Das war mein erster Tag.«

»Tja, das war’s denn wohl«, sagte Fresh und hielt mit beiden Händen seinen Kopf. »Wir sind so gut wie geliefert.«

»Das wissen Sie doch gar nicht«, sagte Charlie, der versuchte, das Gute zu sehen. »Wir hätten auch früher schon geliefert sein können. Ich meine, wir verkaufen den Toten Secondhand-Ware. Gelieferter kann man wohl nicht sein.«

Mr. Fresh blickte auf. »Im Buch steht, wenn wir unserer Aufgabe nicht nachgehen, könnte alles schwarz und so was wie die Unterwelt werden. Ich weiß nicht, wie es in der Unterwelt ist, Mr. Asher, aber ich habe schon ein-, zweimal einen kleinen Eindruck davon bekommen, und ich hege keinerlei Interesse, es herauszufinden. Wie steht’s mit Ihnen?«

»Vielleicht ist es Oakland«, sagte Charlie.

»Was ist Oakland?«

»Die Unterwelt.«

»Oakland ist nicht die Unterwelt!« Mr. Fresh sprang auf. Er war kein gewalttätiger Mann, denn wenn man so groß war, musste man das auch nicht sein, aber…

»Das >Tenderloin<?«

»Zwingen Sie mich nicht, Sie zu schlagen. Das wollen wir doch beide nicht, oder, Mr. Asher?«

Charlie schüttelte den Kopf. »Die Raben habe ich gesehen«,sagte Charlie, »aber Stimmen habe ich keine gehört. Was für Stimmen denn?«

»Sie sprechen einen an, draußen auf dem Bürgersteig. Manchmal hört man sie aus einer Lüftung, einem Abflussrohr, einem Gully. Das sind sie. Weibliche Stimmen, höhnisch. Manchmal höre ich sie jahrelang nicht, hab sie fast vergessen, dann will ich ein Schiffchen holen, und eine ruft mich. Früher habe ich die anderen Boten angerufen und nachgefragt, ob sie irgendwas angestellt hatten, aber damit haben wir sofort wieder aufgehört.«

»Wieso?«

»Weil wir zu dem Schluss kamen, dass sie deshalb überhaupt nur auftauchen. Wir dürfen untereinander keinen Kontakt haben. Es hat eine Weile gedauert, bis uns das klar wurde. Damals kannte ich erst sechs Boten in der Stadt, und wir gingen ein Mal die Woche zusammen essen, haben uns gegenseitig erzählt, was wir wussten, Notizen verglichen… da tauchten die ersten Schatten auf. Zur Sicherheit werden auch wir beide in Zukunft keinen Kontakt mehr haben.« Mr. Fresh zuckte mit den Schultern und begann, Charlies Fesseln aufzuknoten, wobei er dachte: Alles hat sich an diesem Tag im Krankenhaus verändert. Dieser Typ hat alles verändert, und ich schicke ihn vor die Tür wie ein Lamm zur Schlachtbank – oder vielleicht ist er ja auch selbst der Schlachter. Es könnte sein, dass er derjenige welcher ist

»Moment, ich hab doch überhaupt keine Ahnung«, flehte Charlie. »Sie können mich nicht losschicken, solange ich nicht mehr darüber weiß. Was ist mit meiner Tochter? Woher soll ich wissen, wem ich die Seelen verkaufen soll?« Charlie war in Panik und versuchte, alle Fragen zu stellen, bevor er losgebunden war. »Was bedeuten die Ziffern auf den Zetteln? Sind das die Namen der Leute? Wie lange muss ich das machen, bis ich in Pension gehen kann? Warum haben Sie immer mintgrüne Sachen an?«

Während Mr. Fresh einen Knöchel losband, versuchte Charlie, den anderen wieder am Stuhl festzuknoten. »Mein Name«, sagte Mr. Fresh. »Bitte?« Charlie hörte auf, sich zu fesseln. »Ich trage Mint, weil das mein Vorname ist. Minty.« Charlie vergaß völlig, worüber er sich Sorgen machte. »Minty? Sie heißen Minty Fresh?« Es schien, als wollte Charlie ein Niesen unterdrücken, dann prustete er vor Lachen laut los. Dann duckte er sich.

9

Der Drache, der Bär und der Fisch

Auf dem Flur im zweiten Stock von Charlies Haus kam es zu einer Konfrontation der Asiatischen Großmächte: Mrs. Ling und Mrs. Korjew. Da Mrs. Ling Sophie auf dem Arm hielt, lag der strategische Vorteil auf ihrer Seite, während Mrs. Korjew, die doppelt so groß war wie Mrs. Ling, die Drohung eines massiven Gegenschlags ausstrahlte. Gemeinsam war ihnen – abgesehen davon, dass sie beide Witwen und Einwanderer waren – ihre glühende Liebe für die kleine Sophie, eine eher instabile Handhabung der englischen Sprache und ein leidenschaftlicher Mangel an Zutrauen in Charlie Ashers Fähigkeit, seine Tochter allein aufziehen zu können.

»Er war gewesen böse, als er heute gegangen ist. Wie Bär«, sagte Mrs. Korjew, die geradezu von einem atavistischen Zwang zu Bärenvergleichen besessen war.

»Er sagen kein Schwan«, sagte Mrs. Ling, die sich auf die Präsensform der Verben beschränkte, aus Ergebenheit ihrem buddhistischen Glauben gegenüber. Zumindest behauptete sie das. »Wer geben Baby schon Schwan?«

»Schwein ist gut für Kind. Macht groß und stark«, sagte Mrs. Korjew, um dann eilig hinzuzufügen: »Wie Bär.«

»Er sagen, es machen sie zu shih tzu. Shih tzu sein Hund. Was für Vater wollen machen Hund aus kleine Mädchen?« Mrs. Ling war besonders fürsorglich, wenn es um kleine Mädchen ging, da sie in einer chinesischen Provinz aufgewachsen war, in der jeden Morgen ein Karren kam, um die Leichen kleiner Mädchen einzusammeln, die in der Nacht zur Welt gekommen waren und nun im Rinnstein lagen. Sie selbst hatte Glück gehabt, dass ihre Mutter sich mit ihr auf den Feldern versteckt hatte und erst wieder nach Hause kommen wollte, wenn ihre Familie die kleine Tochter akzeptierte.

»Nicht shih tzu«, korrigierte Mrs. Korjew, »Schickse

»Okay, Schickse. Hund sein Hund«, sagte Mrs. Ling. »Sein unvertretbar.« Der Buchstabe »r« kam in Mrs. Lings Aussprache des Wortes »unvertretbar« überhaupt nicht vor.

»Ist Jiddisch für nicht jüdische Mädchen. Rachel war gewesen Jüdin, ja?« Im Gegensatz zu den meisten russischen Einwanderern, die es in der Nachbarschaft noch gab, war Mrs. Korjew keine Jüdin. Ihre Familie kam aus der russischen Steppe, und sie waren Kosaken gewesen, nicht eben für ihre Hebräerfreundlichkeit bekannt. Sie büßte für die Sünden ihrer Vorfahren, indem sie ihren ausgeprägten Beschützerinstinkt (einer Bärenmutter nicht unähnlich) erst Rachel und jetzt Sophie angedeihen ließ.

»Die Blumen brauchen heute Wasser«, sagte Mrs. Korjew.

Am Ende des Korridors gab es ein großes Erkerfenster, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf das Haus gegenüber hatte, auf einen Blumenkasten mit roten Geranien. Nachmittags standen die Asiatischen Großmächte im Flur, bewunderten die Blumen, unterhielten sich darüber, was alles so kostete und dass ihre Schuhe immer unbequemer wurden. Keine von beiden wagte, selbst einen Blumenkasten mit Geranien anzulegen, aus Angst, es könnte danach aussehen, als hätte sie die Idee von gegenüber entliehen, was ohne Zweifel ein eskalierendes Blumenkastenwettrüsten auslösen würde, was am Ende doch nur Blutvergießen mit sich brachte. Sie einigten sich stillschweigend darauf, die roten Blumen zu bewundern, ohne sie zu begehren.

Mrs. Korjew mochte das knallige Rot. Schon immer hatte sie sich maßlos darüber geärgert, dass die Kommunisten diese Farbe einfach annektiert hatten. Andererseits war die russische Seele – in tausend Jahren der Angst konditioniert – nicht wirklich für ungehemmtes Glücksgefühl gemacht, und deshalb war es vielleicht das Beste so.

Auch Mrs. Ling war vom Rot der Geranien ausgesprochen angetan, denn in ihrer Kosmologie repräsentierte diese Farbe Glück, Wohlstand und ein langes Leben. Sogar die Pforten der Tempel waren rot, und somit stellten die roten Blumen einen der zahllosen Wege zu wu dar – Ewigkeit, Erleuchtung, das ganze Universum in einer Blume. Außerdem war sie überzeugt davon, dass man daraus eine gute Suppe kochen konnte.

Sophie hatte die Farben kürzlich erst entdeckt, und die roten Kleckse vor der grauen Mauer trieben ihr ein zahnloses Lächeln auf das kleine Gesicht.

Die drei waren also gerade damit beschäftigt, sich an den roten Blumen zu ergötzen, als der schwarze Vogel ans Fenster schlug, was die Scheibe mit einem Spinnennetz aus Sprüngen überzog. Statt jedoch abzuprallen, schien der Vogel durch das Netz zu sickern und sich – wie schwarze Tinte – über das Fenster und die Wände des Korridors auszubreiten.

Die Asiatischen Großmächte flüchteten zur Treppe.

Charlie rieb sein linkes Handgelenk, das mit der Plastiktüte gefesselt gewesen war. »Wie? Ihre Mutter hat Sie nach einer Mundspülung genannt?«

Mr. Fresh, der für einen Mann seiner Größe irgendwie dünnhäutig wirkte, sagte: »Zahnpasta, eigentlich.«

»Tatsächlich?«

»Ja.«

»Tut mir leid, das wusste ich nicht«, sagte Charlie. »Sie hätten den Namen ändern können, oder?«

»Mr. Asher, man kann sich nicht ewig dem verweigern, was man ist. Am Ende bleibt einem doch nur, sich seinem Schicksal zu fügen. Für mich gehört dazu, schwarz und zwei Meter zehn groß zu sein, ohne in der NBA zu spielen, Minty Fresh zu heißen und als Totenbote rekrutiert worden zu sein.« Er zog die Augenbrauen hoch, als wollte er Charlie einen Vorwurf machen. »Ich habe gelernt, das alles hinzunehmen.«

»Ich dachte, Sie wollten >schwul< sagen«, sagte Charlie.

»Was? Man muss nicht schwul sein, um Mintgrün zu tragen.«

Charlie betrachtete Mr. Freshs grünen Anzug – aus Krepp und viel zu leicht für diese Jahreszeit – und fühlte sich dem Totenboten mit dem erfrischenden Namen auf sonderbare Weise verbunden. Ohne es zu wissen, erkannte Charlie die Merkmale eines anderen Betamännchens. (Selbstverständlich gibt es schwule Betamännchen: Der Betamännchenfreund wird in der schwulen Gemeinde hoch gehandelt, weil man ihm beibringen kann, wie man sich kleidet, und doch relativ sicher sein darf, dass er niemals einen Sinn für Mode entwickelt und aufsehenerregender wird als man selbst.) Charlie sagte: »Vermutlich haben Sie Recht, Mr. Fresh. Tut mir leid, wenn ich voreilige Schlüsse gezogen habe. Ich bitte um Verzeihung.«

»Ist schon okay«, sagte Mr. Fresh. »Aber Sie sollten jetzt lieber gehen.«

»Nein, eines verstehe ich immer noch nicht: Woher weiß ich, wer die Seelen haben soll? Ich meine, nachdem das alles passiertwar, hatte ich alle möglichen Seelenschiffchen in meinem Laden, von denen ich gar nichts wusste. Woher weiß ich, dass ich das Zeug nicht jemandem verkauft habe, der schon eines hatte? Was ist, wenn jemand eine ganze Sammlung hat?«

»Das kann nicht passieren. Aller Erfahrung nach zumindest. Sie werden es schon wissen. Glauben Sie mir. Wenn Menschen bereit sind, eine Seele entgegenzunehmen, bekommen sie sie auch. Haben Sie sich schon mal mit einer östlichen Religion befasst?«

»Ich wohne in Chinatown«, sagte Charlie, und obwohl es technisch im Grunde mehr oder weniger stimmte, beherrschte er genau drei Sätze Mandarin: Guten Tag, Leicht gestärkt bitte und Ich bin ein ahnungsloser weißer Teufel, die ihm allesamt Mrs. Ling beigebracht hatte. Er glaubte, Letzteres hieße »Möge sich die Morgenröte in Euren Augen spiegeln«.

»Dann lassen Sie es mich anders formulieren«, sagte Mr. Fresh. »Haben Sie sich schon mal mit einer östlichen Religion befasst?«

»Ach, östliche Religion…«, sagte Charlie und tat, als hätte er die Frage nur falsch verstanden. »Nur was im Fernsehen so läuft… Sie wissen schon: Buddha, Shiva, Gandalf – was man so kennt.«

»Begreifen Sie das Konzept des Karmas? Dass einem ungelöste Probleme in einem anderen Leben erneut präsentiert werden?«

»Ja, natürlich. Also wirklich…« Charlie verdrehte die Augen.

»Nun, sehen Sie sich als Seelenzuteilungsbeamter. Wir sind Agenten des Karma.«

»Geheimagenten«, sagte Charlie wehmütig.

»Also, ich denke, ich muss wohl nicht erst betonen, dass Sie niemandem erzählen dürfen, was Sie sind«, sagte Mr. Fresh.

»Also: Ja, ich denke, wir sind Karmas Geheimagenten. Wir verwahren eine Seele, bis ein Mensch bereit ist, sie in Empfang zu nehmen.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Wenn also jemand in meinen Laden kommt und ein Seelenschiffchen kauft, ist er bis dahin ohne Seele durchs Leben gegangen? Das ist ja schrecklich.«

»Wirklich?«, sagte Mr. Fresh. »Wissen Sie, ob Sie eine Seele haben?«

»Natürlich habe ich eine.«

»Warum sagen Sie das?«

»Weil ich ich bin.« Charlie tippte an seine Brust. »Hier bin ich.«

»Das ist nur Persönlichkeit«, sagte Minty. »Wenn überhaupt. Sie könnten leer sein und würden den Unterschied nicht merken. Vielleicht haben Sie den Punkt im Leben noch gar nicht erreicht, an dem Sie bereit sind, eine Seele zu empfangen.«

»Hm?«

»Vielleicht ist Ihre Seele weiter entwickelt, als Sie es selbst gerade sind. Wenn ein Kind die zehnte Klasse nicht schafft: Lässt man es dann alle Klassen vom Kindergarten bis zur Neunten wiederholen?«

»Nein, wohl nicht.«

»Nein, man lässt es die Zehnte noch mal machen. Nun, nicht anders ist es bei den Seelen. Sie steigen nur auf. Man bekommt eine Seele, wenn man sie auf die nächsthöhere Ebene befördern kann und wenn man bereit ist, die nächste Lektion zu lernen.«

»Wenn ich also jemandem einen dieser leuchtenden Gegenstände verkaufe, ist er bis dahin ohne Seele durchs Leben gegangen?«

»Das ist meine Theorie«, sagte Minty Fresh. »Ich habe im Laufe der Jahre viel über dieses Thema gelesen. Texte aus allenKulturen und Religionen, und das erklärt es besser als alles andere, was mir so einfällt.«

»Dann steht in dem Buch, das Sie mir geschickt haben, gar nicht alles drin…?«

»Das sind nur die praktischen Anweisungen. Erklärungen gibt es keine. Es ist kinderleicht. Da steht, man soll sich einen Kalender besorgen und neben sein Bett legen. Dann kommen die Namen von selbst. Er sagt einem weder, wie man die Leute findet, noch was der Gegenstand ist, nur dass man es tun soll. Besorgen Sie sich einen Tagesplaner. So einen benutze ich auch.«

»Aber was ist mit dieser Zahl? Wenn ich einen Namen gefunden habe, stand immer eine Zahl daneben.«

Mr. Fresh nickte und grinste etwas verschlagen. »Das sind die Tage, die einem bleiben, das Seelenschiffchen wieder zu beschaffen.«

»Wie lange es noch dauert, bis jemand stirbt? Das will ich gar nicht wissen.«

»Nein, nicht wie lange es dauert, bis jemand stirbt, sondern wie viel Zeit Ihnen bleibt, das Schiffchen zu beschaffen, wie viele Tage Sie noch zur Verfügung haben. Ich sehe mir das Ganze jetzt schon lange an, und die Zahl ist nie größer als Neunundvierzig. Ich dachte, es könnte vielleicht von Bedeutung sein, also habe ich mich in der Literatur zu Tod und Sterben umgesehen. Neunundvierzig entspricht zufällig genau den Tagen des bardo – ein Begriff, der im Tibetischen Totenbuch den Übergang zwischen Leben und Tod beschreibt. In gewisser Weise sind wir Totenboten die Mittler, die diese Seelen befördern, aber wir müssen es innerhalb von diesen neunundvierzig Tagen schaffen. Das ist jedenfalls meine Theorie. Wundern Sie sich nicht, wenn jemand schon seit Wochen tot ist, wenn Sie seinen Namen bekommen. Ihnen bleiben immer noch die restlichen Tage des bardo, um das Seelenschiffchen zu besorgen.«

»Und wenn ich es nicht in der Zeit schaffe?«, fragte Charlie.

Bekümmert schüttelte Minty Fresh den Kopf. »Schatten, Raben, finstere Scheiße quillt aus der Unterwelt… wer weiß? Die Sache ist: Man muss es rechtzeitig finden. Das werden Sie schon schaffen.«

»Wie denn, wenn es weder eine Adresse, noch Anweisungen gibt? So was wie >Liegt unter der Matte<.«

»Manchmal – meistens eigentlich – kommen sie zu Ihnen. Umstände fügen sich.«

Charlie dachte an die atemberaubende Rothaarige, die ihm das silberne Zigarettenetui gebracht hatte. »Sie sagten: Manchmal…«

Fresh zuckte mit den Schultern. »Manchmal muss man richtig suchen, um den Entsprechenden aufzustöbern – einmal habe ich sogar einen Detektiv angeheuert, um jemanden zu finden, aber da kamen wieder diese Stimmen. Man merkt, ob man auf dem richtigen Weg ist, wenn man darauf achtet, ob die Leute einen sehen können.«

»Aber ich muss doch meinen Lebensunterhalt verdienen. Ich habe ein Kind…«

»Sie werden es schon schaffen, Charlie. Das Geld kommt von allein. Sie werden es sehen.«

Charlie sah es. Er hatte es längst gesehen: Die Kleider aus dem Mainheart-Nachlass. Er würde Zehntausende daran verdienen, falls er ihn bekam.

»Jetzt müssen Sie aber gehen«, sagte Minty Fresh. Er reichte ihm die Hand und grinste wie eine Mondsichel am nächtlichen Himmel. Charlie schüttelte dem großen Mann die Hand, wobei seine eigene in der Pranke des Totenboten fast verschwand.

»Ich habe bestimmt noch Fragen. Kann ich Sie anrufen?«

»Nein«, sagte der Mintige.

»Okay, dann geh ich jetzt«, sagte Charlie, ohne sich zu bewegen. »Auf Gedeih und Verderb der Gnade der Unterwelt ausgeliefert.«

»Passen Sie auf sich auf«, sagte Minty Fresh.

»Keine Ahnung, wie das geht«, erwiderte Charlie und machte zögerliche, kleine Schritte zur Tür. »Die Last der ganzen Menschheit liegt auf meinen Schultern.«

»Ja, vergessen Sie nicht, sich morgens ordentlich zu strecken.«

»Übrigens…«, sagte Charlie, was gar nicht zu seinem Jammern passte, »sind Sie jetzt schwul oder nicht?«

»Was ich bin«, antwortete Minty Fresh, »ist… allein. Vollkommen und absolut.«

»Okay«, sagte Charlie, »tut mir leid.«

»Schon okay. Mir tut es leid, dass ich Ihnen eine Kopfnuss verpasst habe.«

Charlie nickte, holte seinen Stockdegen hinter dem Tresen hervor, verließ Fresh Music und trat hinaus in einen grauen Tag.

Nun, er war nicht wirklich der Tod, aber er war auch nicht der Helfer vom Weihnachtsmann. Es machte im Grunde keinen Unterschied, dass ihm niemand glauben würde, wenn er es erzählte. »Totenbote« schien ihm doch etwas unheilvoll, aber ihm gefiel die Vorstellung, Geheimagent zu sein. Agent bei K.A.R.M.A. – Karma Abholung Rückführung Mord und Allerlei. Okay, am Akronym konnte er später noch feilen, aber nichtsdestotrotz war er Geheimagent.

Tatsächlich eignete sich Charlie, auch wenn er es nicht wusste, sehr gut zum Geheimagenten. Da sie außerhalb der Reichweite des Radars arbeiten, sind Betamännchen ausgezeichnete Spione. Kein James-Bondmäßiger Spion mit raketenbestücktem Aston Martin, der die schöne, russische Raketenwissenschaftlerin auf einem Hermelinfell vögelt, eher so ein schlecht frisierter, gut getarnter Bürokrat, der verklebte Dokumente aus Mülleimern fischt. Seine offensichtliche Harmlosigkeit ermöglicht ihm den Zugang zu Orten und Menschen, die einem Alphamännchen, dem das Testosteron aus den Ohren quillt, verschlossen bleiben. Das Betamännchen kann tatsächlich eine echte Gefahr darstellen, nicht wie Jet Li, dessen ganzer Körper eine todbringende Waffe ist, eher wie ein betrunkener Rasenmäherfahrer, der eine Luke-Skywalker-Attacke auf den Geräteschuppen reitet.

Als Charlie also die Cable-Car-Haltestelle auf der Market Street ansteuerte, probte er im Geiste seine neue Rolle als Geheimagent und fühlte sich ziemlich gut dabei, als er an einem Gully vorbeikam und eine weibliche Stimme hörte, die ihm harsch etwas zuraunte: »Wir holen uns die Kleine. Du wirst schon sehen, Frischfleisch. Bald holen wir sie uns.«

Als Charlie seinen Laden betrat, kam Lily ins Hinterzimmer gelaufen, um ihn in Empfang zu nehmen.

»Dieser Bulle war schon wieder da. Der Typ ist tot. Hast du ihn umgebracht?« Nachdem sie die Neuigkeiten heruntergerattert hatte, fügte sie hinzu: »Äh, Sir?« Dann salutierte sie, machte einen Knicks, faltete die Hände und verneigte sich wie eine Japanerin.

Das Ganze brachte Charlie völlig durcheinander, zumal er sich gerade panische Sorgen um seine Tochter machte und wie ein Irrer quer durch die Stadt gerast war. Bestimmt waren diese Gesten des Respekts nur Tarnung für eine Gefälligkeit oder eine Missetat, oder dieser Teenager machte sich – wie so oft -nur über ihn lustig. Also setzte er sich auf einen der Stühle am Schreibtisch und sagte: »Bulle? Typ? Versteh kein Wort. Ich habe niemanden umgebracht.«

Lily atmete tief durch. »Dieser Bulle, der dich neulich sprechen wollte, war schon wieder da. Der Typ, den du letztens in Pacific Heights besucht hast« – sie betrachtete etwas, das sie sich mit roter Tinte auf den Arm geschrieben hatte – »dieser Michael Mainheart, hat Selbstmord begangen. Und er hat dir eine Nachricht hinterlassen. Er schreibt, dass du seine Sachen und die von seiner Frau abholen und verkaufen sollst. Und dann stand da noch« – wieder las sie von ihrem vollgekritzelten Arm ab – »ist >Ich will sterben< irgendwie missverständlich?« Lily blickte auf.

»Das hat er gesagt, nachdem ich ihn wiederbelebt hatte«, sagte Charlie.

»Also: Hast du ihn umgebracht? Oder nenn es meinetwegen, wie du willst. Darfst du mir davon erzählen?« Wieder machte sie einen Hofknicks, was Charlie mehr als alles andere beunruhigte. Schon vor langer Zeit hatte er sich damit abgefunden, dass seine Beziehung zu Lily auf einem festen Fundament inniger Geringschätzung fußte, und das hier warf alles über den Haufen.

»Nein, ich habe ihn nicht umgebracht. Was ist das für eine Frage?«

»Und hast du den Mann mit dem Zigarettenetui umgebracht?«

»Nein! Den hab ich nicht mal gesehen.«

»Du weißt, dass ich deine getreue Dienerin bin«, sagte Lily und verneigte sich diesmal.

»Lily, was, zum Teufel, ist eigentlich los mit dir?«

»Nichts. Mit mir ist überhaupt nichts los, Mr. Asher – äh, Charles. Was ist dir lieber: Charles oder Charlie?«

»Fragst du das im Ernst? Was hat der Cop gesagt?«

»Er wollte dich sprechen. Anscheinend trug dieser Mainheart die Kleider seiner Frau, als man ihn fand. Er war kaum eine Stunde aus dem Krankenhaus, da hat er die Krankenschwester weggeschickt, sich als Frau verkleidet und Tabletten geschluckt.«

Charlie nickte und dachte daran, wie hartnäckig Mainheart darauf bestanden hatte, die Kleider seiner Frau loszuwerden. Er nutzte jede Möglichkeit, ihr nah zu sein, aber es funktionierte nicht. Und als er ihr in den Frauenkleidern auch nicht näher kommen konnte, hatte er das Einzige getan, was ihm noch einfiel, und war ihr in den Tod gefolgt. Charlie verstand ihn gut. Wäre da nicht Sophie gewesen, hätte er vielleicht auch versucht, Rachel zu folgen.

»Ganz schön abartig, oder?«, sagte Lily.

»Nein«, knurrte Charlie, »nein, ist es nicht, Lily. Überhaupt nicht. So solltest du nicht denken. Mr. Mainheart ist vor Kummer gestorben. Es mag nach etwas anderem aussehen, aber es war Kummer und nichts anderes.«

»Entschuldige«, sagte Lily, »du bist der Experte.«

Charlie starrte zu Boden, versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, überlegte, ob sich das Paar – weil er Mr. Mainhearts Seelenschiffchen verloren hatte – vielleicht nie wiedersehen würde. Seinetwegen.

»Ach, ja«, fügte Lily hinzu, »Mrs. Ling hat angerufen und ist völlig ausgeflippt und hat irgendwas von einem schwarzen Vogel geschrien, der die Scheiben eingeschlagen…«

Charlie sprang vom Hocker und hetzte die Treppe hinauf, nahm immer zwei Stufen auf einmal.

»Sie ist in deiner Wohnung!«, rief Lily ihm noch nach.

Im Goldfischglas trieb ein orangefarbener Teppich aus Fernsehanwälten, als Charlie seine Wohnung betrat. Die Asiatischen Großmächte standen in der Küche. Mrs. Korjew drückte Sophie fest an ihre Brust, und das Kind war sozusagen am Rudern und versuchte, der tiefen, weichen Schlucht zwischen den beiden massiven Kosakenzipfeln zu entkommen. Charlie griff sich seine Tochter, als sie zum dritten Mal im Dekolletee versank, und schloss sie in die Arme.

»Was ist passiert?«, fragte er.

Was folgte, war ein Sperrfeuer aus Chinesisch und Russisch, gespickt mit dem einen oder anderen englischen Wort: Vogel, Fenster, kaputt, schwarz und machen in Hose.

»Halt!« Charlie hob seine freie Hand. »Mrs. Ling, was ist passiert?«

Mrs. Ling hatte sich davon erholt, dass der Vogel ans Fenster geflogen und sie wie wahnsinnig den Flur entlanggerannt war, doch nun legte sie eine eher untypische Schüchternheit an den Tag, da sie fürchtete, Charlie könne vielleicht den feuchten Fleck in ihrer Kitteltasche bemerken, in welcher der jüngst verblichene Perry Mason darauf wartete, einigem Wantan, Frühlingszwiebeln, einer Auswahl von fünf Gewürzen und ihrem Suppentopf vorgestellt zu werden. »Fisch ist Fisch«, sagte sie sich, als sie den Schlingel eilig in ihre Tasche stopfte. Schließlich waren da noch fünf weitere Anwälte im Glas. Wer würde den einen schon vermissen?

»Ach, nichts«, sagte Mrs. Ling. »Vogel fliegen in Scheibe und machen uns Schreck. Nicht schlimm.«

Charlie sah Mrs. Korjew an. »Wo?«

»Auf unserer Etage. Wir stehen in Flur. Unterhalten uns, was für Sophie das Beste, als – bumm – ein Vogel an die Scheibe knallt und schwarze Tinte durch das Fenster sickert. Wir waren gelaufen hierher und schließen Tür ab.« Beide Witwen hatten Schlüssel zu Charlies Wohnung.

»Ich lass das Fenster morgen reparieren«, sagte Charlie. »Aber das war alles? Nichts… niemand ist reingekommen?«

»Ist zweiter Stock. Da kommt keiner rein.«

Charlie warf einen Blick auf das Goldfischglas. »Was ist denn da passiert?«

Mrs. Ling machte große Augen. »Ich müssen los. Sein Mah-Jongg-Abend in Tempel.«

»Wir kommen rein und machen Tür zu«, erklärte Mrs. Korjew. »Fische geht’s gut. Sophie kommt in Autositz, wie immer, dann wir gehen in Flur, sehen, ob Luft rein ist. Als Mrs. Ling wieder hinsieht, sind Fische tot.«

»Nicht ich! Russin sehen tote Fisch«, sagte Mrs. Ling.

»Schon okay«, sagte Charlie. »Haben Sie irgendwelche Vögel gesehen, irgendwas Dunkles in der Wohnung?«

Die beiden Frauen schüttelten ihre Köpfe. »Nur oben«, sagte Mrs. Ling.

»Sehen wir mal nach«, sagte Charlie, schob sich Sophie auf die Hüfte und nahm seinen Stockdegen. Er ging zum kleinen Fahrstuhl voraus, schätzte kurz Mrs. Korjews Größe im Verhältnis zum zulässigen Gesamtgewicht und nahm die Treppe. Als er das kaputte Erkerfenster sah, wurde ihm ein wenig weich in den Knien. Was nicht so sehr am Fenster lag, als an dem, was sich auf dem Dach gegenüber befand. Durch das Netz des geborstenen Sicherheitsglases sah man tausendfach den Schatten einer Frau drüben auf dem Haus. Er reichte Mrs. Korjew das Baby, trat ans Fenster und schlug ein Loch ins Glas, damit er besser sehen konnte. Als er es tat, glitt der Schatten am Gebäude herab und über den Bürgersteig hinweg in einen Gully, direkt neben einem Dutzend Touristen, die eben aus dem Cable Car gestiegen waren. Niemand schien etwas davon zu sehen. Es war kurz nach eins, und die Sonne warf fast keine Schatten. Er drehte sich zu den beiden Witwen um.

»Haben Sie das gesehen?«

»Sie meinen kaputte Scheibe?«, sagte Mrs. Ling, trat langsam ans Fenster und lugte durch das Loch, das Charlie gemacht hatte. »O nein!«

»Was? Was?«

Mrs. Ling sah sich nach Mrs. Korjew um. »Sie haben Recht. Blumen brauchen Wasser.«

Charlie spähte durch das Loch und sah, dass Mrs. Ling einen Blumenkasten voll toter, schwarzer Geranien meinte.

»Schutzgitter vor alle Fenster. Morgen«, sagte Charlie.

In direkter Vogelflugluftlinie unter der Columbus Avenue, wo sich große Rohre kreuzten, lief Orcus, der Alte, auf und ab, gebückt wie ein Buckliger, ließ seine schweren Stacheln über die Wände scharren, dass Funken stoben und es nach schwelendem Torf roch.

»Du wirst dir noch deine Stacheln kaputtmachen, wenn du weiter so rumrennst«, sagte Babd.

Sie hockte etwas abseits in einem der kleineren Rohre, neben ihren Schwestern Nemain und Macha. Von Nemain abgesehen, an deren Leib sich ein blauschwarzes Relief aus Vogelfedern bildete, besaßen sie keinerlei Tiefe. Sie waren ein bloßer Mangel an Licht, tiefes Schwarz selbst im Dunkel, das durch die Gullygitter drang. Schatten, Silhouetten – die finsteren Vorfahren der Schattenrissfiguren. Düsternis: zart und wild und feminin.

»Setz dich. Iss was. Was nützt es, ins Oben zu steigen, wenn man hinterher so fertig aussieht?«

Orcus knurrte und fuhr zu den drei Morrigan herum. »Zu lange nicht mehr in der Luft! Viel zu lange!« Aus dem Korb an seinem Gürtel nahm er einen Menschenschädel, warf ihn sich in den Mund und zerbiss ihn knirschend.

Die Morrigan lachten, was wie Wind in den Röhren klang, freuten sich, dass ihm die kleine Gabe schmeckte. Sie hatten den größten Teil des Tages unter den Friedhöfen von San Francisco zugebracht und Schädel ausgegraben (Orcus mochte sie koffeinfrei). Dann hatten sie den Dreck wegpoliert, bis die Schädel schimmerten wie feinstes Porzellan.

»Wir sind geflogen«, sagte Nemain. Sie gönnte sich einen Moment, um ihr blauschwarzes Federmuster zu bewundern. »Im Oben«, fügte sie unnötigerweise hinzu. »Sie sind überall und warten nur darauf, geklaut zu werden, wie Kirschen.«

»Nicht geklaut«, sagte Orcus. »Du denkst wie eine Krähe. Sie warten nur auf uns.«

»Ach ja? Und wo warst du? Ich hab diese hier.« Mit der einen Hand hielt die Schattenfrau William Creeks Regenschirm in die Luft, mit der anderen die Pelzjacke, die sie Charlie Asher weggenommen hatte. Beides leuchtete noch immer rot, wurde jedoch stetig matter. »Deshalb war ich oben. Bin geflogen.« Als niemand reagierte, fügte Nemain hinzu: »Oben.«

»Ich bin auch geflogen«, sagte Babd ängstlich. »Ein bisschen.« Sie war etwas verlegen, weil sie kein Federmuster hatte und eher eindimensional war.

Orcus ließ den großen Kopf hängen. Die Morrigan kamen zu ihm und begannen, die langen Stacheln zu streicheln, die einstmals Flügel gewesen waren. »Wir alle werden bald schon im Oben sein«, sagte Macha. »Dieser Neue weiß nicht, was er tut. Er wird schon dafür sorgen, dass wir bald alle im Oben sein können. Sieh dir an, wie weit wir schon gekommen sind! Wir stehen so kurz davor. Zwei im Oben, nach so kurzer Zeit. Frischfleisch, dieser Ahnungslose… vielleicht ist er genau das, was uns gefehlt hat.«

Orcus hob seinen Stierschädel, grinste und entblößte ein Sägewerk von Zähnen. »Wir werden sie pflücken. Wie Obst.«

»Siehst du«, sagte Nemain, »genau wie ich gesagt habe. Wusstest du, dass man im Oben so richtig weit sehen kann? Meilenweit. Und die wundervollen Düfte. Mir war nie klar, wie feucht und muffig es hier unten ist. Spricht eigentlich irgendwas dagegen, hier ein Fenster einzubauen?«

»Schnauze!«, knurrte Orcus.

»Meine Güte, beiß mir doch gleich den Kopf ab…«

»Bring mich nicht auf dumme Ideen«, sagte der stierköpfige Tod. Er stand auf und ging dem dreifachen Tod – der Morrigan – voraus das Rohr entlang in Richtung Bankenviertel, zu dem vergrabenen Goldrauschschiff, in dem sie sich häuslich niedergelassen hatten.

ZWEITER TEIL

Seelen aus zweiter Hand

»Sucht nicht den Tod.

Der Tod wird Euch schon finden.

Aber sucht den Weg,

der aus dem Tod Erfüllung werden lässt.«

Dag Hammarskjöld

10

Der Tod auf Wanderschaft

Morgens ging Charlie wandern. Gegen sechs Uhr, nach einem frühen Frühstück, überließ er Sophie der Obhut Mrs. Korjews oder Mrs. Lings (je nachdem, wer dran war) und wanderte los. Im Grunde ging er eher spazieren, schlenderte durch die Stadt, mit seinem Stockdegen in der Hand, der mittlerweile zu seinen Alltagsinsignien gehörte, trug weiche, schwarze Lederschuhe und einen teuren, gebrauchten Anzug, den er sich in seiner Reinigung in Chinatown hatte ändern lassen. Zwar tat er, als verfolgte er ein Ziel, doch Charlie wanderte herum, um Zeit zum Nachdenken zu haben, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er der Tod war, und um sich die Leute anzusehen, die morgens unterwegs waren. Er fragte sich, ob wohl das Mädchen am Blumenstand, bei der er oft eine Nelke für sein Knopfloch kaufte, eine Seele hatte oder ihre aufgeben würde, wenn er sie sterben sah. Er beobachtete den Mann in North Beach, der Gesichter oder Farne in den Schaum der Cappuccinos malte, und fragte sich, ob so etwas wohl ohne Seele überhaupt möglich war – oder setzte seine Seele bereits in Charlies Hinterzimmer Staub an? Es gab viel zu beobachten und viel nachzudenken.

Wenn er sah, wie die Menschen dieser Stadt wach wurden, den Tag begrüßten, sich bereit machten, entwickelte er langsam nicht nur ein Gefühl für die Verantwortung seiner neuen Aufgabe, sondern auch für die Macht und nicht zuletzt die Herausgehobenheit. Es machte nichts, dass er keine Ahnung hatte, was er tat, oder dass er die Liebe seines Lebens dafür verloren hatte: Er war ein Auserwählter. Als ihm dies bewusst geworden war, gab er eines Tages – während er über die California Street den Nob Hill hinunter ins Bankenviertel lief – das Schlendern auf und begann zu stolzieren. Stets hatte er sich minderwertig und weltfremd gefühlt, wenn die Broker und Banker ihn umtänzelten und in ihre Handys bellten, Hong Kong oder London oder New York am Apparat, und hatte niemals Blickkontakt gesucht. An jenem Tag stieg Charlie Asher zum ersten Mal seit seiner Kindheit ins California Street Cable Car, beugte sich weit über das Geländer auf die Straße hinaus, hielt seinen Stock wie bei einer Attacke, während Hondas und Mercedes neben ihm die Straße entlangrasten, kaum eine Hand breit unter seiner Achsel. An der Endstation stieg er aus, kaufte das Wall Street Journal aus einem Kasten, dann trat er an den nächstbesten Gully, breitete die Zeitung aus, um sich nicht einzusauen, sank auf alle viere und schrie hinein: »Ich bin auserwählt, also verarscht mich nicht!« Als er wieder auf die Beine kam, stand ein ganzer Pulk von Leuten an der roten Ampel. Alle starrten ihn an.

»Musste sein«, sagte Charlie, entschuldigte sich nicht, erklärte nur.

Die Banker und die Broker, die Geschäftsführungsassistenten, die wandelnde Personaldecke und auch die Frau, die in der Bäckerei Muschelsuppe in Sauerteig servierte, sie alle nickten, ohne genau zu wissen, wieso eigentlich, abgesehen davon, dass sie im Bankenviertel arbeiteten und ganz genau wussten, was es hieß, verarscht zu werden. Im Grunde ihrer Seele – wenn nicht ihres Verstandes – wussten sie, dass Charlie Recht hatte. Er faltete seine Zeitung zusammen, klemmte sie sich unter den Arm, dann machte er kehrt und ging mit ihnen über die Straße, als die Ampel auf Grün umschaltete.

Manchmal lief Charlie ganze Blocks weit und dachte nur an Rachel, war so vertieft in die Erinnerung an ihre Augen, ihr Lächeln, ihre Berührung, dass er mit Leuten zusammenstieß. Dann wieder rempelte man ihn an, ohne seine Brieftasche zu klauen oder sich auch nur zu entschuldigen, was in New York normal sein mochte, in San Francisco jedoch bedeutete, dass er sich einem Seelenschiffchen näherte, das abgeholt werden musste. Er fand eines – einen bronzenen Feuerhaken, der auf dem Russian Hill im Müll am Bordstein lag. Bei einem anderen, einer Vase, die er im Erkerfenster eines viktorianischen Hauses in North Beach fand, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und klopfte an die Tür, und als eine junge Frau auf die Veranda trat, um nachzuschauen, wer sie besuchen wollte, verdutzt, weil sie niemanden sehen konnte, stahl sich Charlie an ihr vorbei, schnappte sich die Vase und war schon zur Hintertür hinaus, bevor sie wieder hereinkam. Sein Herz hämmerte wie eine Kriegstrommel, und das Adrenalin rauschte durch seine Adern wie in einem hormonellen Teilchenbeschleuniger. Als er an diesem Morgen wieder in den Laden kam, wurde ihm bewusst, dass er sich – seit er der Tod war – absurderweise so lebendig fühlte wie noch nie.

Charlie versuchte, jeden Morgen in eine andere Richtung zu spazieren. An Montagen lief er durch Chinatown, noch im Morgengrauen, wenn die Lieferungen kamen – kistenweise Möhren, Broccoli, Salat, Melonen und Blumenkohl, produziert von Latinos im Central Valley und konsumiert von Chinesen in Chinatown, nachdem das Gemüse gerade lange genug in angelsächsischen Händen war, dass die das nahrhafte Geld extrahieren konnten. Montags lieferten die Fischfirmen ihren frischen Fang – üblicherweise kräftige Italiener, deren Familien seit fünf Generationen in der Branche waren und ihren Fang an undurchschaubare, chinesische Händler weitergaben, deren Vorfahren schon vor hundert Jahren Fisch direkt von den Pferdegespannen der Italiener gekauft hatten. Alle möglichen Sorten lebender und jüngst noch lebender Fische wurden über den Bürgersteig geschleppt: Schnapper und Heilbutt und Makrele, Barsch und Kabeljau und Thunfisch, scherenloser Pazifik-Hummer, Taschenkrebse, gruseliger Anglerfisch mit langen Säbelzähnen und einem Stachel am Kopf, an dem ein leuchtender Köder hing, mit dem er seine Beute lockte, so tief im Meer, wo die Sonne nie schien. Charlie war fasziniert von den Kreaturen der Tiefsee, dem glubschäugigen Tintenfisch, Kopffüßern, den blinden Haien, die ihre Beute mit Hilfe elektromagnetischer Impulse orteten – Wesen, die nie das Licht sahen. Sie erinnerten ihn daran, was ihm aus der Unterwelt drohte, denn obwohl er mit einer gewissen Regelmäßigkeit neben seinem Bett Namen und an allen nur erdenklichen Orten Seelenschiffchen fand und obwohl die Raben und Schatten nicht mehr so oft auftauchten, spürte er sie doch unter der Straße, wenn er an einem Gully vorüberkam. Manchmal hörte man sie miteinander flüstern, aber sie schwiegen schnell, wenn es auf der Straße einmal still war, was selten vorkam.

Im Morgengrauen durch Chinatown zu spazieren war oft genug ein gefährlicher Tanz, denn hier gab es keine Hintertüren und keine Gassen zum Entladen. Sämtliche Waren mussten über den Bürgersteig transportiert werden, und obwohl Charlie bisher weder Freude an der Gefahr noch am Tanzen gehabt hatte, versuchte er sich nun als Tanzpartner zahlloser chinesischer Großmütter mit schwarzen Slippern oder marmeladenfarbenen Plastiklatschen, die von Händler zu Händler huschten. Sie drückten und schnüffelten und klopften, stets auf der Suche nach dem Frischesten und Besten für ihre Familie, näselten Fragen und Ermahnungen auf Mandarin, kaum eine Sekunde oder einen Fehltritt davon entfernt, von Rinderhälften, riesigen Gestellen mit frischen Enten oder Handwagen überrollt zu werden, auf denen sich Kisten mit lebenden Tauben stapelten. Noch hatte Charlie auf seinen Spaziergängen durch Chinatown kein Seelenschiffchen aufgetrieben, aber er war bereit, denn in diesem Strudel aus Zeit und Eile schien alles darauf hinzudeuten, dass irgendeine Oma eines kühlen Morgens aus ihren Klapperlatschen kippen würde.

An einem dieser Montage schnappte sich Charlie aus Spaß eine Aubergine, auf die es eine atemberaubend verschrumpelte Oma abgesehen hatte, doch statt sie ihm mit einem mystischen Kung-Fu-Tritt aus der Hand zu schlagen, wie er erwartet hatte, sah sie ihm nur in die Augen und schüttelte den Kopf – im Grunde kaum wahrzunehmen -, es hätte auch ein zuckendes Lid sein können, und doch war es eine denkbar eloquente Geste. Charlie verstand sie als: »Oh, du weißer Teufel, du solltest die Finger von dieser violetten Frucht lassen, denn ich habe dir viertausend Jahre Vorfahren und Zivilisation voraus. Meine Großeltern haben die Eisenbahn gebaut und die Silberminen gegraben, und meine Eltern haben das Erdbeben, das Feuer und eine Gesellschaft überlebt, in der es verboten war, Chinese zu sein. Ich habe ein Dutzend Kinder, einhundert Enkel und Heerscharen von Urenkeln. Ich habe Kinder geboren und die Toten gewaschen. Ich bin Geschichte und Leid und Weisheit. Ich bin ein Buddha und ein Drache. Also nimm deine stinkende Hand von meiner Aubergine, bevor du gleich keine Hand mehr hast.«

Und Charlie ließ los.

Und sie grinste, nur ganz wenig. Drei Zähne.

Und er fragte sich, ob er – sollte ihm je die Aufgabe zufallen, das Seelenschiffchen einer dieser Kronen des Kronos zu beschaffen – sie überhaupt heben konnte. Und er grinste zurück.

Und bat um ihre Telefonnummer, die er dann an Ray weiterreichte. »Sie machte einen netten Eindruck«, erklärte Charlie. »Reif.«

Manchmal führten Charlies Spaziergänge auch durch Japantown, wo er am rätselhaftesten Laden der ganzen Stadt vorüberkam. Auf dem Schild stand Unsichtbare Schuhreparatur. Eines Tages wollte er nachsehen, was es damit auf sich hatte, aber noch war er viel zu sehr damit beschäftigt, sich an Riesenraben und Widersacher aus der Unterwelt zu gewöhnen – und daran, ein Totenbote zu sein. Er war nicht sicher, ob er unsichtbaren Schuhen gewachsen war, ganz zu schweigen von unsichtbaren Schuhen, die repariert werden mussten! Oft versuchte er, im Vorübergehen zwischen den japanischen Buchstaben ins Schaufenster zu spähen, aber er konnte nichts erkennen, was natürlich nichts zu bedeuten hatte. Er war einfach dafür noch nicht bereit. Aber in Japantown gab es ein Tiergeschäft (Haus von Hübsche Fisch und Wüstenrennmaus), in dem er Sophies Fische gekauft hatte und in das er zurückgekehrt war, um die Fernsehanwälte durch sechs Fernsehdetektive zu ersetzen, die ebenfalls eine Woche später in die Ewigen Jagdgründe eingingen. Charlie war schier ausgeflippt, als er sah, dass seine Tochter sabbernd vor einem Goldfischglas hockte, in dem mehr tote Detektive dümpelten als auf einem Film-Noir-Festival, und nachdem er alle sechs auf einmal weggespült hatte und Magnum und Mannix mit der Gummisaugglocke freibekommen musste, schwor er sich, beim nächsten Mal robustere Spielgefährten für sein kleines Mädchen aufzutreiben. Eines Nachmittags verließ er die Zoohandlung mit einem Pärchen stämmiger Hamster im Karton, als er Lily traf, die gerade auf dem Weg zu einem Coffeeshop oben an der Van Ness war, wo sie sich mit ihrer Freundin Abby zum Extrem-Grübeln bei einem Schälchen Caffelatte treffen wollte.

»Hey, Lily, wie geht’s?« Charlie versuchte, sachlich zu klingen, musste aber feststellen, dass es die Unbeholfenheit, die seit ein paar Monaten zwischen ihm und Lily herrschte, keineswegs linderte, wenn sie ihn mit Nagetieren in einer Plastikkiste auf der Straße antraf.

»Hübsche Rennmäuse«, sagte Lily. Sie trug einen karierten Rock, wie er ihn von katholischen Schulmädchen kannte, mit schwarzer Strumpfhose und Doc Martens, dazu ein enges, schwarzes PVC-Bustier, aus dem oben blasse Lilienknospen zu quellen drohten, wie eine Brötchenteigdose, die man am Küchentresen aufgeschlagen hatte. Die Haarfarbe du jour war »Fuchsie« mit violettem Lidschatten, passend zu ihren violetten, ellenbogenlangen Spitzenhandschuhen. Sie drehte sich auf der Straße um, und als sie niemanden sah, den sie kannte, spazierte sie ein Stück mit Charlie.

»Es sind keine Mäuse, es sind Hamster«, sagte Charlie.

»Asher, könnte es sein, dass du mir was verheimlichst?« Sie neigte ihren Kopf ein wenig, ohne ihn anzusehen, und starrte immer stur geradeaus. Hätte jemand sie Seite an Seite mit Charlie gesehen, wäre sie gezwungen gewesen, Harakiri zu begehen.

»Meine Güte, Lily, die sind für Sophie!«, sagte Charlie. »Ihre Fische sind tot, also bringe ich ihr ein paar neue Haustiere mit. Außerdem ist diese Sache mit den Wüstenrennmäusen doch wohl eher einer dieser urbanen Mythen…«

»Ich meinte, dass du der Tod bist«, sagte Lily.

Fast ließ Charlie seine Hamster fallen. »Bitte?«

»Es ist so ungerecht…«, fuhr Lily fort und lief weiter, obwohl Charlie stehen geblieben war, so dass er jetzt rennen musste, um sie einzuholen. »…so ungerecht, dass du auserwählt wurdest. Von allen Enttäuschungen des Lebens ist das wohl die Krönung.«

»Du bist sechzehn«, sagte Charlie, der fast ins Stolpern kam, als er hörte, wie nüchtern sie darüber sprach.

»Komm mir bloß nicht damit, Asher. Ich bin nur noch zwei Monate sechzehn. Und dann? Ein Augenzwinkern später ist meine Schönheit nur noch Futter für die Würmer, und ich bin nicht mehr als ein vergessener Seufzer in einem Meer aus Nichts.«

»Du hast in zwei Monaten Geburtstag? Da müssen wir dir einen hübschen Kuchen besorgen«, sagte Charlie.

»Wechsel nicht das Thema, Asher. Ich weiß alles über dich und das, was du mit dem Tod zu tun hast.«

Wieder blieb Charlie stehen und starrte sie an. Diesmal blieb auch sie stehen. »Lily, ich weiß, ich benehme mich etwas sonderbar, seit Rachel tot ist, und es tut mir leid, dass du meinetwegen in der Schule Ärger hast, aber es liegt nur daran, dass ich mit allem fertig werden muss, mit dem Baby, mit dem Laden. Der Stress macht mich völlig…«

»Ich habe Das Große Bunte Buch des Todes«, sagte Lily. Sie fing Charlies Hamster auf, als sie ihm entglitten. »Ich weiß über die Seelenschiffchen Bescheid, über die finsteren Mächte, die aus der Tiefe kommen, wenn du es vermasselst, das ganze Zeug… alles. Ich glaube, ich weiß es schon länger als du.«

Charlie wusste nicht, was er sagen sollte. Er spürte gleichzeitig Panik und Erleichterung – Panik, weil Lily Bescheid wusste,aber auch Erleichterung darüber, dass wenigstens irgendjemand es wusste und es glaubte und das Buch tatsächlich gesehen hatte. Das Buch!

»Lily, hast du das Buch noch?«

»Es liegt im Laden. Ich habe es hinten im Glasschrank versteckt, wo du die wertvollen Sachen aufbewahrst, die kein Mensch kaufen will.«

»Niemand wirft je einen Blick in diesen Schrank.«

»Ob ich es vielleicht deshalb dahin gelegt habe? Ich dachte, wenn du es irgendwann findest, sage ich, dass es schon immer da war.«

»Ich muss los.« Er drehte sich um, merkte aber, dass sie bereits in die richtige Richtung nach Hause gelaufen waren, und kehrte wieder um. »Wo willst du hin?«

»Kaffee trinken.«

»Ich bring dich.«

»Das wirst du nicht tun.« Lily sah sich wieder um, fürchtete, jemand könnte sie sehen.

»Aber, Lily, ich bin der Tod. Da müsste ich doch wenigstens ansatzweise cool sein.«

»Ja, sollte man meinen, aber dann stellt sich raus, dass du es fertig gebracht hast, alles Coole aus dem Tod zu lutschen.«

»Wow, das ist bitter.«

»Willkommen in meiner Welt, Asher.«

»Du darfst es niemandem erzählen. Das weißt du, oder?«

»Als würde es jemanden interessieren, was du mit deinen Mäusen anstellst.«

»Hamster! Das ist nicht…«

»Ganz ruhig, Asher.« Lily kicherte. »Ich weiß, was du meinst. Ich sag niemandem was davon. Nur Abby weiß Bescheid, aber ihr ist es egal. Sie sagt, sie hat ihren Dunklen Lord getroffen. Sieist in diesem Stadium, in dem sie meint, ein Schwanz ist etwas Mystisches – wie ein Zauberstab.«

Verlegen rückte Charlie die Hamsterkiste zurecht. »So eine Phase machen Mädchen durch?« Wieso hörte er erst jetzt davon? Selbst die Hamster wirkten verlegen.

Lily machte auf dem Absatz kehrt und lief die Straße hinauf. »Darüber rede ich mit dir nicht.«

Charlie stand da, sah ihr nach, balancierte die Hamster und den nutzlosen Stockdegen, während er versuchte, sein Handy aus der Jackentasche zu fischen. Er musste dieses Buch sehen, und zwar nicht erst in einer Stunde, wenn er zu Fuß zu Hause ankam. »Lily, warte!«, rief er. »Ich ruf uns ein Taxi. Ich nehm dich ein Stück mit.«

Sie winkte ab, ohne sich umzusehen, und stapfte weiter. Während er darauf wartete, dass sich die Taxizentrale meldete, hörte er sie, diese Stimmen, und merkte, dass er direkt über einem Gully stand. Es war schon einen Monat her, seit er sie zuletzt gehört hatte – und er hatte so gehofft, sie wären nicht mehr da. »Die holen wir uns auch noch, Frischfleisch. Sie gehört uns.«

Er merkte, dass ihm die Angst wie Galle in der Kehle hochstieg. Er klappte sein Telefon zu und hetzte Lily nach, mit klapperndem Stock und baumelnden Hamstern. »Lily, warte! Warte!«

Sie fuhr herum, wobei ihre Fuchsia-Perücke statt der halben Drehung nur einen Teil davon vollführte, so dass ihr die Haare vor den Augen hingen, als sie sagte: »Eine von diesen Eistorten von Moögen Dasz, okay? Danach Ödnis und Verzweiflung.«

»Das schreiben wir auf die Torte«, sagte Charlie.

11

Manchmal sind Mädchen etwas finster

Das Große Bunte Buch des Todes war, wie sich herausstellte, gar nicht so groß und vor allem nicht sonderlich umfassend. Charlie las es ein Dutzend Mal, machte sich Notizen, fertigte Kopien an, suchte nach Erklärungen für das, was darin behandelt wurde, aber der Inhalt der achtundzwanzig üppig illustrierten Seiten ließ sich auf Folgendes zusammendampfen:

1. Herzlichen Glückwunsch, Sie wurden auserwählt, als Tod zu agieren. Das ist ein mieser Job, aber irgendjemand muss ihn tun. Ihre Aufgabe besteht darin, Seelenträger – sogenannte Seelenschiffchen – von Toten und Sterbenden zu beschaffen und sie dem nächsten Leib zuzuführen. Sollte es fehlschlagen, wird Finsternis über die Welt kommen und das Chaos regieren.

2. Seit einer Weile existiert der Luminatus, der Große Tod, nicht mehr, der das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel wahrte. Seither versuchen die Mächte der Finsternis, aus der Tiefe aufzusteigen. Nur Sie allein stehen noch zwischen diesen Mächten und dem Untergang der kollektiven Menschenseele.

3. Um die Mächte der Finsternis aufzuhalten, brauchen Sie einen harten Bleistift und einen Kalender, vorzugsweise einen mit kleinen Kätzchen.

4. Namen und Zahlen kommen von allein. Die Zahl zeigt an, wie viele Tage Ihnen noch bleiben, um die Seelenschiffchen zu beschaffen. Die Schiffchen erkennen Sie am roten Leuchten.

5. Erzählen Sie niemandem, was Sie tun, und auch nicht von den finsteren Mächten etc. pp.

6. Möglicherweise sind Sie nicht zu sehen, wenn Sie Ihren Pflichten nachgehen, also passen Sie auf, wenn Sie eine Straße überqueren. Sie sind nicht unsterblich.

7. Suchen Sie keine Mitstreiter. Zaudern Sie nicht, was Ihre Pflichten angeht, sonst vernichten die Mächte der Finsternis alles, was Ihnen am Herzen liegt.

8. Sie bringen niemandem den Tod, Sie verhindern nicht den Tod, Sie sind ein Diener des Schicksals, nicht sein Agent. Bleiben Sie auf dem Teppich.

9. Lassen Sie unter keinen Umständen ein Seelenschiffchen in die Hände der Unterwelt fallen – denn das wäre von Übel.

Ein paar Monate vergingen, bis Charlie wieder mal allein mit Lily im Laden stand. Sie fragte ihn: »Und, hast du dir einen harten Bleistift besorgt?«

»Nein, ich habe mir einen extraharten Bleistift besorgt.« »Schlaumeier! Asher, hallo, Mächte der Finsternis…« »Wenn die Welt ohne diesen Luminatus so schlecht aus balanciert ist, dass wir alle in den Abgrund stürzen, nur weil ich mir einen härteren Bleistift kaufe, dann wird es vielleicht auch Zeit.«

»Ho, ho, ho, ho, ho!«, machte Lily, als wollte sie ein verschrecktes Pferd bändigen. »Es geht völlig in Ordnung, wenn ichnihilistisch auftrete, denn für mich ist es ein Fashion Statement. Ich habe schließlich das Outfit dafür. Man kann einfach nicht geil auf den Tod sein und bescheuerte Savile-Row-Anzüge tragen.«

Charlie war stolz auf sie, weil sie gemerkt hatte, dass er einen seiner teuren Secondhand-Savile-Rows trug. Sie lernte den Beruf von selbst.

»Ich will keine Angst mehr haben«, sagte er. »Ich habe mit diesen Mächten der Finsternis zu tun gehabt, Lily, und weißt du, was? Ich bin ihnen gewachsen.«

»Solltest du mir das erzählen? Ich meine, im Buch stand…«

»Ich glaube, ich bin nicht so, wie es im Buch steht, Lily. Im Buch steht, ich bringe niemandem den Tod, aber bis jetzt gab es schon zwei Leute, die mehr oder weniger meinetwegen gestorben sind.«

»Und – ich wiederhole – solltest du mir das erzählen? Wie du schon mehrfach erwähntest, bin ich noch ein Kind und zutiefst verantwortungslos. Deine Formulierung war doch zutiefst verantwortungslos, oder? Ich hör nie so genau hin.«

»Du bist die Einzige, die davon weiß«, sagte Charlie. »Und du bist jetzt siebzehn, kein Kind mehr. Du bist eine junge Frau.«

»Verarsch mich nicht, Asher. Wenn du weiter so redest, lass ich mir noch ein Piercing machen, nehm Ecstasy, bis ich dehydriert bin wie ’ne Mumie, quatsch am Telefon, bis der Akku alle ist, dann such ich mir einen dürren, blassen Typen und blas ihm einen, bis er heult.«

»Wie an jedem stinknormalen Freitag?«, sagte Charlie.

»Was ich mit meinen Wochenenden anfange, ist meine Sache.«

»Als wenn ich das nicht wüsste!«

»Na, dann halt die Klappe!«

»Ich will keine Angst mehr haben, Lily!«

»Na, dann hör doch auf, Angst zu haben, Charlie!«

Beide wandten sich ab, verlegen. Lily tat so, als blätterte sie die Quittungen des Tages durch, während Charlie so tat, als suchte er etwas in dem Ding, das er selbst als Wanderbeutel bezeichnete, Jane aber als Herrenhandtäschchen.

»Tut mir leid«, sagte Lily, ohne von den Quittungen aufzublicken.

»Schon okay«, sagte Charlie, »mir auch.«

Immer noch ohne aufzublicken, fuhr Lily fort: »Aber echt jetzt: Solltest du mir irgendwas davon erzählen?«

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Charlie. »Es ist irgendwie eine ganz schöne Bürde. Irgendwie…«

»Ein mieser Job?« Lily blickte auf und grinste.

»Ja.« Charlie lächelte erleichtert. »Ich fang nicht wieder davon an.«

»Schon okay. Ist irgendwie ganz cool.«

»Wirklich?« Charlie konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemals irgendwer als cool bezeichnet hätte. Er war gerührt.

»Nicht du. Die ganze Sache mit dem Tod.«

»Ach so, ja«, sagte Charlie. Ja! Er war immer noch unschlagbar, wenn es darum ging, uncool zu sein. »Aber du hast Recht, es ist gefährlich. Kein Wort mehr über meine – äh – Berufung.«

»Und ich nenn dich auch nie wieder >Charlie<«, sagte Lily. »Niemals.«

»Das wäre nett«, sagte Charlie. »Wir tun so, als wäre nichts gewesen. Ausgezeichnet. Gutes Gespräch. Mach wieder mit deiner schlecht verhüllten Abscheu weiter.«

»Leck mich, Asher.«

»Braves Mädchen.«

Am nächsten Morgen warteten sie auf ihn, als er seinen Spaziergang machte. Er hatte es sich schon gedacht und war auch nicht enttäuscht. Er war kurz im Laden gewesen, um einen italienischen Anzug zu holen, den er gerade hereinbekommen hatte, außerdem einen Zigarrenanzünder, der seit zwei Jahren hinten in einer Kuriositätenkiste lag. Er steckte ihn in seine Tasche zu einem leuchtenden Porzellanbären, dem Seelenschiffchen von jemandem, der schon vor langer Zeit gestorben war. Dann trat er vor die Tür und stand direkt über einem Gully – winkte den Touristen im vorüberrasselnden Cable Car zu.

»Guten Morgen«, rief er fröhlich. Wer ihn beobachtete, konnte denken, dass er den Tag begrüßte, denn da war sonst niemand.

»Wir hacken ihr die Augen aus, als wären es reife Pflaumen«, fauchte eine weibliche Stimme aus dem Abfluss. »Hol uns rauf, Frischfleisch. Hol uns rauf, damit wir dein Blut aus der klaffenden Wunde lecken können, dir wir in deine Brust reißen.«

»Wir zerkauen deine Knochen wie Bonbons«, fügte eine andere Stimme hinzu, ebenfalls weiblich.

»Yeah«, stimmt die erste Stimme zu, »wie Bonbons.«

»Yeah«, sagte eine dritte Stimme.

Charlie spürte, wie er am ganzen Körper Gänsehaut bekam, aber er ignorierte sie und bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen.

»Nun, heute wäre ein guter Tag dafür«, sagte Charlie. »Ich bin ausgeruht, hab in meinem weichen, kuscheligen Bett geschlafen. Besser als die Nacht in einem Abflussrohr oder so was zu verbringen.«

»Arschloch!« Ein fauchender Frauenchor.

»Tja, wir sprechen uns an der nächsten Kreuzung.«

Er spazierte den Block hinauf nach Chinatown, schrittschwungvoll, den Stock in der Hand, den Bürgersteig entlang, hatte sich den Anzug im leichten Kleidersack über die Schulter geworfen. Er versuchte, zu pfeifen, wollte es aber nicht übertreiben. Sie waren bereits unter der nächsten Ecke, als er ankam.

»Ich werde deinem Baby die Seele rauslutschen, wo es am weichsten ist, und dich zwingen, zuzusehen, Frischfleisch.«

»Ach, wie nett!«, sagte Charlie, biss die Zähne zusammen und gab sich alle Mühe, nicht so entsetzt zu klingen, wie er war. »Sie kann schon ganz gut krabbeln, also denk daran, dass du morgens auch ordentlich frühstückst, denn wahrscheinlich wird sie dir ihren kleinen Gummilöffel in den Arsch schieben.«

Man hörte böses Kreischen aus dem Gully, dann harsches, fauchendes Geplapper. »Das darf er doch nicht sagen, oder? Darf er so was sagen? Weiß er, wer wir sind?«

»Am Ende vom Block bieg ich links ab. Wir sehen uns.«

Ein junger Chinese im Hip-Hop-Outfit starrte Charlie an und trat eilig beiseite, um sich nicht mit dem Wahnsinn anzustecken, der diesen gut gekleidete Lo pak ergriffen hatte. Charlie tippte an sein Ohr und sagte: »Handy-Headset.«

Der Hiphopper nickte kurz, als wüsste er Bescheid, und auch wenn es anders aussah, war er keineswegs angetörnt, hatte allerdings voll cool wie ein fettes Faultier abgehangen, also geh mir aus der Sonne, Bleichgesicht! Er ging bei Rot über die Straße und lahmte etwas unter der Last des Subtextes.

Charlie betrat die chemische Reinigung Golden Dragon, und der Mann hinter dem Tresen, Mr. Hu, den Charlie kannte, seit er acht Jahre alt war, begrüßte ihn mit überschwänglichem, warmherzigem Zucken seiner linken Augenbraue, was seine übliche Begrüßung und für Charlie ein guter Indikator dafür war, dass der alte Mann noch lebte. Es qualmte am Ende einer langen, schwarzen Zigarettenspitze, die zwischen Mr. Hus Zahnprothesen klemmte.

»Guten Morgen, Mr. Hu«, sagte Charlie. »Schöner Tag, was?«

»Anzug?«, sagte Mr. Hu mit Blick auf den Anzug, der über Charlies Schulter hing.

»Ja, heute nur der eine hier«, sagte Charlie. Bessere Ware brachte er immer zum Reinigen ins Golden Dragon, und in den letzten Monaten hatte er für Mr. Hu reichlich zu tun gehabt, bei den vielen Kleidern, die er aus Nachlässen hereinbekam. Er ließ auch seine Änderungen dort vornehmen, denn Mr. Hu galt als bester dreifingriger Schneider der Westküste, wenn nicht der ganzen Welt. In Chinatown war er als Drei-Finger-Hu bekannt, obwohl er eigentlich acht Finger hatte und ihm nur die beiden Kleineren an der rechten Hand fehlten.

»Schneider?«, fragte Hu.

»Nein, vielen Dank«, sagte Charlie. »Der ist zum Verkauf, nicht für mich.«

Hu nahm Charlie den Anzug aus der Hand, versah ihn mit einem Schildchen, dann rief er: »Ein Anzug für den Weißen Teufel!« auf Mandarin, und eine seiner Enkelinnen kam von hinten angelaufen, schnappte sich den Anzug und war durch den Vorhang verschwunden, bevor er ihr Gesicht sehen konnte. »Ein Anzug für den Weißen Teufel«, wiederholte sie für jemanden dort hinten.

»Mittwoch«, sagte Drei-Finger-Hu. Er händigte Charlie den Zettel aus.

»Noch was«, sagte Charlie.

»Okay, Dienstag«, sagte Hu, »aber kein Rabatt.«

»Nein, Mr. Hu. Ich weiß, es ist schon lange her, seit ich deshalb bei Ihnen war, aber ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Ihr anderes Geschäft auch noch betreiben…«

Mr. Hu kniff ein Auge zu und sah Charlie eine volle Minute lang an, bis er antwortete. Als er es tat, sagte er: »Komm«, dann verschwand er hinter dem Vorhang und ließ eine Wolke von Zigarettenqualm zurück.

Charlie folgte ihm nach hinten, durch eine lärmende, dampfende Hölle aus Chemikalien, Bügeleisen und einem Dutzend huschender Angestellter in ein winziges Büro aus Sperrholzwänden, dessen Tür Hu hinter sich verriegelte, damit sie ihr Geschäft abwickeln konnten, wie zuletzt vor zwanzig Jahren.

Als Drei-Finger-Hu Charlie Asher zum ersten Mal durch die Hinterzimmerhölle des Golden Dragon geführt hatte, war das zehnjährige Betamännchen davon überzeugt gewesen, dass es gekidnappt und in die Reinigungssklaverei verkauft oder geschlachtet und zu Dim Sum verarbeitet werden sollte. Oder man wollte ihn zum Opiumrauchen zwingen und dann im Pyjama gegen fünfzig Kung-Fu-Kämpfer antreten lassen (Charlie hatte im Alter von zehn Jahren nur eine flüchtige Ahnung von der Kultur seiner Nachbarn). Trotz aller Furcht jedoch trieb ihn eine Leidenschaft, die seit Jahrmillionen in seinen Genen verwurzelt war: das Streben nach Feuer. Ja, es war ein umtriebiges Betamännchen, welches das Feuer entdeckt hatte, wenn auch stimmen mag, dass es ihm gleich darauf von einem Alphamännchen weggenommen wurde. (Den Alphas entging die Entdeckung des Feuers, doch da sie nicht begriffen, dass man vom heißen, roten Ende des Stocks lieber die Finger lassen sollte, muss man ihnen wohl die Erfindung der Verbrennungen Dritten Grades zugute halten.) Noch heute glüht der ursprüngliche Funke in den Adern eines jeden Betamännchens. Während Alpha-Jungen längst zu Mädchen und Sport übergegangen sind, sind Betas noch bis weit in die Pubertät und manchmal sogar darüber hinaus wie gebannt von der Pyrotechnik. Alphamännchen mögen die Armeen dieser Welt anführen, aber es sind die Betas, die den Laden in die Luft sprengen.

Und was könnte besser von einem Feuerwerksliebhaber zeugen als das Fehlen der entscheidenden Finger? Als Drei-Fin-ger-Hu seinen dreistöckigen Kasten über den Schreibtisch schob und seine Waren feilbot, schien es dem jungen Charlie, als wäre er durchs Fegefeuer gegangen und endlich im Paradies angekommen. Selig überreichte er ihm sein Bündel zerknitterter, verschwitzter Dollarscheine. Und während lange, silbrige Asche wie todbringender Schnee auf die Zündschnüre rieselte, suchte sich Charlie aus, was er haben wollte. Er war so aufgeregt, dass er sich fast in die Hosen machte.

Dem Totenboten-Charlie, der an diesem Morgen aus der Reinigung Golden Dragon mit einem kleinen Päckchen unter dem Arm auf die Straße trat, war ganz ähnlich zumute, denn so sehr es seinem Wesen widersprechen mochte, stürzte er sich noch einmal in die Bresche. Er steuerte auf das Gullygitter zu, winkte mit dem leuchtenden Porzellanbären aus seiner Tasche und rief: »Hey, Tussis! Ich geh einen Block rüber und vier rauf. Kommt ihr mit?«

»Der Weiße Teufel hat endgültig den Verstand verloren«, sagte Drei-Finger-Hus elfte Enkelin Cindy Lou Hu, die neben ihrem ehrwürdigen und unterfingerten Vorfahren am Tresen stand.

»Sein Geld sein nicht verrückt«, sagte Drei.

Charlie hatte die kleine Gasse bei einem seiner Spaziergänge ins Bankenviertel entdeckt. Sie lag zwischen Montgomery und Kearny Street und hatte alles, was eine gute Gasse haben sollte: Feuertreppen, Abfallcontainer, diverse Stahltüren voller Graffiti, eine Ratte, zwei Möwen, Müll, jemanden, der bewusstlos unter einem Stück Pappe lag, und ein halbes Dutzend Parkverbotsschilder, drei davon mit Einschusslöchern. Es war das platonische Ideal einer Gasse, doch was sie von anderen Gassen in der Gegend unterschied, waren die beiden Zugänge zum Abwassersystem, kaum fünfzig Meter auseinander, einer an der Straße und einer in der Mitte, versteckt zwischen zwei Müllcontainern. Nachdem er in jüngster Zeit einen Blick für Gullys entwickelt hatte, war dies Charlie unwillkürlich aufgefallen.

Er wählte den Gully, der von der Straße aus nicht zu sehen war, ging etwa einen Meter davor in die Hocke und öffnete das Päckchen von Drei-Finger-Hu. Er nahm drei M-80er heraus und kappte die fünf Zentimeter langen, wasserabweisenden Lunten mit dem Nagelknipser an seinem Schlüsselring bis auf einen Zentimeter. (Ein M-80er ist ein sehr großer China-Böller, der angeblich die Sprengkraft einer Viertel Dynamitstange besitzt. Landkinder jagen damit Briefkästen oder Schultoiletten in die Luft, aber in der Großstadt wurden sie meist von der 9-mm-Glock-Pistole verdrängt, die mittlerweile das bevorzugte Instrument boshaften Vergnügens darstellt.)

»Mädels!«, rief Charlie in den Gully. »Könnt ihr mich hören? Tut mir leid, ich hab eure Namen nicht mitbekommen!« Charlie zog den Degen aus dem Stock und legte ihn neben sein Knie, dann holte er den Porzellanbären aus der Tasche und stellte ihn neben seinem anderen Knie ab. »Holt ihn euch!«, rief er.

Ein böses Fauchen drang aus dem Gully, und obwohl es da unten schon absolut finster war, wurde es jetzt noch finsterer. Er sah silberne Scheibchen, die sich durchs Schwarz bewegten wie Münzen im tiefen Meer, wenn auch pärchenweise – Augen.

»Gib her, Frischfleisch, gib her«, fauchte eine weibliche Stimme.

»Komm und hol’s dir«, sagte Charlie und kämpfte mit dem schlimmsten Fall von Gänsehaut, den er je gehabt hatte. Es war, als legte ihm jemand Trockeneis aufs Rückgrat und er konnte gerade noch verhindern, dass er mit den Zähnen klapperte.

Der Schatten aus dem Gully sickerte über den Bürgersteig, zentimeterweise, aber er konnte ihn sehen, als hätten sich die Lichtverhältnisse geändert. Was nicht der Fall war. Der Schatten nahm die Form einer weiblichen Hand an und schob sich weitere zehn Zentimeter auf den leuchtenden Bären zu. In diesem Moment packte Charlie den Degen und schlug damit auf den Schatten ein. Er traf nicht den Gehweg, sondern etwas Weicheres, und ohrenbetäubendes Kreischen ertönte.

»Scheißkerl!«, keifte die Stimme – vor Wut, nicht vor Schmerz. »Du nutzloser, kleiner… du…«

»Zu langsam…«, sagte Charlie. »Viel zu langsam. Kommt schon, versucht es doch noch mal.«

Ein handförmiger Schatten schlängelte sich links aus dem Gully, dann ein anderer rechts. Charlie stieß den Bären weg vom Gully und holte den Zigarrenanzünder aus seiner Tasche. Er steckte die kurzen Lunten der vier M-80er an und warf sie in den Gully, aus dem die Schatten drängten.

»Was war das?«

»Was hat er geworfen?«

»Geh zur Seite, ich kann nicht…«

Charlie hielt sich die Ohren zu. Die M-80er explodierten, und Charlie grinste. Er steckte den Degen weg, sammelte sein Zeug ein und rannte zum anderen Gully. In einem abgeschlossenen Raum wäre der Lärm fürchterlich, brutal geradezu. Er grinste immer noch.

Er hörte einen Chor von Kreischen und Flüchen in einem halben Dutzend toter Sprachen, einige davon gingen in andere über, als verdrehte jemand den Sender an einem Kurzwellenradio, das Zeit und Raum umspannte. Er sank auf die Knie und lauschte am Gully, passte allerdings auf, dass er nicht näher als auf Armeslänge herankam. Er hörte sie kommen, hörte, dass sie ihm unter der Straße folgten. Er hoffte, dass sie tatsächlich nicht herauskommen konnten, aber selbst wenn sie es konnten, hatte er noch den Degen, und das Sonnenlicht war sein Revier. Er zündete vier weitere M-80er, diesmal mit längeren Lunten, und warf einen nach dem anderen in den Gully.

»Wer ist jetzt Frischfleisch?«, fragte er.

»Was? Was hat er gesagt?«, sagte eine Gullystimme.

»Ich hör nichts mehr.«

Charlie schwenkte den Porzellanbären vor dem Gully. »Wollt ihr den hier haben?« Er warf noch einen M-80er hinein.

»Na, gefällt euch das?«, rief Charlie und warf den dritten Böller. »Das habt ihr nun davon, auf meinen Arm einzuhacken, verfluchte Hexen!«

»Mr. Asher«, hörte er eine Stimme hinter sich.

Charlie drehte sich um und sah Inspector Alphonse Rivera, der sich über ihn beugte.

»Oh, hallo«, sagte Charlie, und als er merkte, dass er einen brennenden M-80er in der Hand hielt, sagte er: »Sekunde mal.« Er warf den Feuerwerkskörper in den Gully. In diesem Moment gingen sie alle gleichzeitig los.

Rivera war ein paar Schritte zurückgewichen, seine Hand in der Jacke, vermutlich an der Waffe. Charlie steckte den Porzellanbären ein und stand auf. Er hörte, wie die Stimmen kreischten, ihn verfluchten.

»Du beschissener Verlierer!«, schrie eine der Dunklen. »Ich flechte mir einen Korb aus deinen Eingeweiden und trag deinen abgeschlagenen Schädel darin herum.«

»Ja«, sagte eine andere Stimme, »einen Korb.«

»Ich glaube, damit hast du ihm schon mal gedroht«, sagte eine dritte Stimme.

»Hab ich nicht«, sagte die Erste.

»Schnauze!«, brüllte Charlie in den Gully, dann sah er Rivera an, der seine Waffe gezogen hatte und sie bereithielt.

»Also…«, sagte Rivera, »Probleme mit jemandem im – äh – Gully?«

Charlie lächelte. »Sie können sie nicht hören, oder?« Das Fluchen ging immer weiter, wenn auch jetzt in einer Sprache, die klang, als bräuchte man reichlich Schleim, um sie richtig zu sprechen, Gälisch oder Deutsch oder so was.

»Ich höre ganz deutlich ein Klingeln in den Ohren, Mr. Asher, vom Knall Ihrer illegalen Feuerwerkskörper, aber abgesehen davon nichts, nein.«

»Ratten«, sagte Charlie und zog unwillkürlich eine Augenbraue hoch, als wollte er sagen: Und glauben Sie mir den Quatsch? »Ich hasse Ratten.«

»Hm-hm«, machte Rivera nur. »Die Ratten haben mit dem Schnabel auf Ihren Arm eingehackt, und offenbar gehen Sie davon aus, dass sie insgeheim für billige Tierfiguren schwärmen?«

»Das haben Sie also gehört?«, fragte Charlie.

»Jep.«

»Da werden Sie sich wohl fragen, was es bedeutet, hm?«

»Jep«, sagte der Cop. »Aber schicker Anzug. Armani?«

»Eigentlich Canali«, sagte Charlie. »Aber danke.«

»So was würde ich vielleicht nicht anziehen, wenn ich die Kanalisation in die Luft sprengen wollte, aber jeder wie er mag.« Rivera rührte sich nicht. Er stand am Bordstein, etwa drei Meter von Charlie entfernt, hielt seine Waffe immer noch bereit. Ein Jogger kam vorbei und nutzte die Gelegenheit, etwas schnellerzu rennen. Charlie und Rivera nickten beide höflich, als er weiterlief.

»Also«, sagte Charlie, »Sie als Profi: Welchen Reim würden Sie sich darauf machen?«

Rivera zuckte mit den Schultern. »Sie sind doch nicht auf verschreibungspflichtigen Medikamenten und haben zu viel davon genommen, oder?«

»Schön wär’s«, sagte Charlie.

»Die Nacht durchgesoffen, zu Hause rausgeflogen, wie wahnsinnig vor Reue?«

»Meine Frau ist tot.«

»Das tut mir leid. Wie lange schon?«

»Fast ein Jahr jetzt.«

»Tja, das wird nicht klappen«, sagte Rivera. »Haben Sie schon mal Probleme mit Ihrem Geisteszustand gehabt?«

»Nein.«

»Na, dann haben Sie sie jetzt. Glückwunsch, Mr. Asher. Das können Sie beim nächsten Mal anführen.«

»Muss ich mich auch der Presse stellen?«, fragte Charlie und überlegte, wie er das dem Jugendamt erklären sollte. Arme Sophie, ihr Dad – ein Exsträfling und der Tod. Sie würde es in der Schule nicht leicht haben. »Dieses Jackett ist maßgeschneidert. Ich glaube nicht, dass ich es über den Kopf gezogen kriege, um unerkannt zu bleiben. Komm ich ins Gefängnis?«

»Meinetwegen nicht. Meinen Sie, ich könnte das hier besser erklären? Ich bin Inspector, ich verhafte keine Leute, die mit Sylvesterkrachern um sich werfen und in Gullys brüllen.«

»Warum haben Sie dann Ihre Waffe in der Hand?«

»Gibt mir ein sicheres Gefühl.«

»Das kann ich verstehen«, sagte Charlie. »Wahrscheinlich habe ich einen etwas instabilen Eindruck gemacht.«

»Meinen Sie?«

»Und was machen wir jetzt?«

»Ist das der Rest von Ihrem Vorrat?« Rivera deutete auf die Tüte unter Charlies Arm.

Charlie nickte.

»Wie wär’s, wenn Sie das Zeug in den Gully werfen, und wir verlieren kein Wort mehr darüber?«

»Unmöglich. Ich habe keine Ahnung, was die anstellen, wenn sie Feuerwerkskörper in die Finger kriegen.«

Jetzt war Rivera an der Reihe, die Stirn zu runzeln. »Die Ratten?«

Charlie warf die Papiertüte in den Gully. Er hörte ein Flüstern von dort unten, versuchte aber, sich nicht anmerken zu lassen, dass er lauschte.

Rivera verstaute seine Waffe im Holster und knöpfte sein Jackett zu. »Und kriegen Sie in Ihrem Laden oft solche Anzüge rein?«, fragte er.

»Mehr als früher. Ich habe einige Nachlässe bearbeitet«, sagte Charlie.

»Sie haben ja meine Karte. Rufen Sie mich an, wenn Sie was Interessantes reinbekommen. Alles Italienische, mittlere bis leichte Wolle, oh – oder auch Rohseide.«

»Ja, Seide ist bei dem Wetter ideal. Klar, ich leg Ihnen gern was zurück. Übrigens, Inspector… was machen Sie eigentlich in so einer kleinen Gasse, abseits aller Straßen, an einem ganz normalen Dienstagvormittag?«

»Das muss ich Ihnen nicht verraten«, sagte Rivera lächelnd.

»Nicht?«

»Nein. Schönen Tag noch, Mr. Asher.«

»Danke gleichfalls«, sagte Charlie. Folgte man ihm jetzt schon auf und unter der Straße? Was sonst sollte ein Detective von der Mordkommission hier wollen? Weder Das Große Bunte Buch des Todes noch Minty Fresh hatten irgendwas von Polizei gesagt. Wie sollte man diese ganze Sache mit dem Totenboten geheim halten, wenn einen die Polizei im Auge hatte? Seine Begeisterung darüber, den Feind angegriffen zu haben, was seinem Wesen zutiefst widersprach, verflog. Er wusste nicht genau wieso, aber irgendetwas sagte ihm, dass er es gerade vermasselt hatte.

Unter der Straße sahen sich die Morrigan sprachlos an.

»Er weiß von nichts«, sagte Macha mit Blick auf ihre Klauen, die im trüben Licht von oben schimmerten wie gebürsteter Stahl. Langsam zeichnete sich das blaugraue Relief der Federn auf ihrem Leib ab, und ihre Augen waren nicht mehr nur Silberscheibchen, sondern aus ihnen sprach die Wachsamkeit eines Raubvogels. Einst war sie über die Schlachtfelder des Nordens geflogen, war auf den Soldaten gelandet, während diese noch im Sterben lagen, und hatte ihnen in ihrer Gestalt als Nebelkrähe die Seelen ausgehackt. Die Kelten hatten die abgeschlagenen Köpfe ihrer Feinde »Machas Eichelernte« genannt, ohne zu ahnen, dass sie sich weder für den Tribut, noch für ihre Sippe interessierte, sondern allein für Blut und Seelen. Tausend Jahre waren vergangen, seit sie ihre Frauenklauen zuletzt so gesehen hatte.

»Ich kann immer noch nichts hören«, sagte ihre Schwester Nemain, die ihre blauschwarzen Federn kämmte und vor Vergnügen fauchte, wenn sie mit den dolchspitzen Klauen über ihre Brust strich. Sie hatte sogar Reißzähne bekommen, die gegen ihre zarten, schwarzen Lippen drückten. Ihre Aufgabe war es gewesen, Gift auf jene zu tropfen, die sie zum Tod verdammte. Es gab keinen wilderen Krieger als einen, den Nemains Gift berührte, denn da sie nichts mehr zu verlieren hatten, stürzten sie sich furchtlos in die Schlacht, in einem Wahn, der ihnen die Kraft von zehn Männern verlieh – und rissen andere mit sich ins Verderben.

Babd scharrte mit ihren Klauen über die Wand des Abwasserkanals und schnitt tiefe Rillen in den Beton. »Die find ich toll. Hatte schon ganz vergessen, dass ich sie überhaupt habe. Ich wette, wir könnten ins Oben gehen. Wollt ihr ins Oben? Ich habe das Gefühl, ich könnte ins Oben gehen. Heute Abend können wir ins Oben. Wir könnten ihm die Beine ausreißen und zusehen, wie er sich in seinem eigenen Blut wälzt. Das wäre lustig.« Babd war die Sirene – ihr Kreischen auf dem Schlachtfeld schlug angeblich ganze Armeen in die Flucht, Hundertschaften starben vor Angst. Sie war unendlich böse, wild und nicht besonders schlau.

»Frischfleisch weiß von nichts«, wiederholte Macha. »Warum sollten wir unseren Vorteil mit einer übereilten Attacke verspielen?«

»Weil es Spaß machen würde«, sagte Babd. »Oben? Spaß? Es muss ja kein Korb sein… du könntest dir auch aus seinen Eingeweiden einen Hut flechten.«

Nemain verspritzte Gift von ihren Klauen, das dampfend über den Beton strich. »Wir sollten es Orcus sagen. Er hat bestimmt einen Plan.«

»Von wegen dem Hut?«, fragte Babd. »Du musst ihm sagen, dass es meine Idee war. Er mag Hüte.«

»Wir müssen ihm sagen, dass Frischfleisch keine Ahnung hat.«

Die drei schwebten wie Rauch durch die Rohre zum großen Schiff hinüber, um die Neuigkeit zu überbringen, dass ihr neuester Feind nicht wusste, was er war und was er der Welt angetan hatte.

12

Das Bay-City-Buch der Toten

Charlie hatte die Hamster auf die Namen Parmesan und Romano (oder kurz Parm und Romy) getauft, denn als der Moment kam, in dem er sich Namen ausdenken sollte, las er zufällig gerade den Aufkleber an einem Glas Tomatensoße. Mehr Aufmerksamkeit widmete er dem Thema nicht, und es reichte auch. Tatsächlich schien es Charlie, als hätte er es sogar übertrieben, angesichts der Tatsache, dass er – als er am Tag des großen Chinaböller-Gully-Debakels nach Hause kam – feststellte, dass seine Tochter freudestrahlend mit einem leblosen Hamster auf das Tablett ihres Kinderstuhls einhämmerte.

Romano war der Gehämmerte, was Charlie so genau sagen konnte, weil er ihm einen Nagellackpunkt zwischen die kleinen Ohren gemalt hatte, um ihn von seinem Kumpel Parmesan unterscheiden zu können, der nicht minder starr im Hamsterkäfig lag. Am Boden des Laufrades. Sport ist Mord.

»Mrs. Ling!«, rief Charlie. Er befreite den abgelaufenen Nager aus den Händen seiner geliebten Tochter und legte ihn in den Käfig.

»Ist Wladlena, Mr. Asher«, dröhnte eine mächtige Stimme aus dem Badezimmer. Man hörte die Spülung, und Mrs. Korjew kam heraus, riss an den Verschlüssen ihres Overalls. »Tut mirleid, ich muss kacken wie Bär. Sophie war gewesen sicher in Stuhl.«

»Sie hat mit einem toten Hamster gespielt, Mrs. Korjew.«

Mrs. Korjew betrachtete die beiden Hamster in der Plastikbox – klopfte leicht dagegen, schüttelte sie hin und her. »Die schlafen.«

»Sie schlafen nicht. Sie sind tot.«

»Ging ihnen gut, als ich war gewesen in Badezimmer. Spielen, laufen im Rad, haben ihren Spaß.«

»Sie hatten keinen Spaß. Sie waren tot. Sophie hielt einen von den beiden in der Hand.« Charlie sah sich den Nager genauer an, den Sophie weich geklopft hatte. Der Kopf sah reichlich feucht aus. »Im Mund. Sie hatte ihn im Mund!« Charlie riss ein Stück Papier von der Haushaltsrolle auf dem Tresen und begann, Sophies Mund auszuwischen. Sie gab La-la-la-Laute von sich, während sie versuchte, das Papier zu essen, weil sie dachte, es gehörte zum Spiel.

»Wo ist Mrs. Ling eigentlich?«

»Sie muss Rezept abholen, deshalb ich hüte Sophie. Und kleine Bären waren glücklich, als ich war gewesen in Badezimmer.«

»Hamster, Mrs. Korjew, nicht Bären. Wie lange waren Sie da drinnen?«

»Fünf Minuten? Ich glaube, ich habe gedrückt so fest, dass ich mir habe gezerrt das Dickdarm.«

»Aiiiieeeee«, hörte man von der Tür, als Mrs. Ling hereinkam und zu Sophie lief. »Müssen schon lange Schläfchen machen«, fuhr Mrs. Ling Mrs. Korjew an.

»Jetzt bin ich ja da«, sagte Charlie. »Eine von Ihnen bleibt hier, während ich die H-A-M-S-T-E-R wegschaffe.«

»Er meint die kleinen Bären«, sagte Mrs. Korjew.

»Ich schon machen, Mr. Asher«, sagte Mrs. Ling. »Kein Problem. Was sein los mit denen?«

»Schlafen«, sagte Mrs. Korjew.

»Ladys, gehen Sie. Bitte. Eine von Ihnen sehe ich morgen früh.«

»Ist meine Reihe«, sagte Mrs. Korjew traurig. »Bin ich gebannt? Keine Sophie mehr für Wladlena, ja?«

»Nein. Äh, ja. Alles ist gut, Mrs. Korjew. Wir sehen uns morgen früh.«

Mrs. Ling schüttelte den Hamsterkäfig. Die hatten einen wirklich gesunden Schlaf, diese Hamster. Sahen lecker aus. »Ich mich kümmern«, sagte sie. Sie klemmte sich den Käfig unter den Arm und steuerte winkend rückwärts die Tür an. »Bye bye, Sophie. Bye bye.«

»Bye bye, Bubala«, sagte Mrs. Korjew.

»Bye bye«, sagte Sophie mit einem Babywinken.

»Seit wann kannst du >Bye bye< sagen?«, fragte Charlie seine Tochter. »Keine Sekunde kann man dich allein lassen.«

Am nächsten Tag aber ließ er sie doch allein, um Ersatz für die Hamster zu beschaffen. Diesmal fuhr er mit dem Lieferwagen zur Tierhandlung. Alles, was er an Mut und Selbstüberschätzung gesammelt hatte, um die Gullyhexen anzugreifen, war verflogen, und er wagte sich nicht mal mehr in die Nähe eines Gullys. In der Tierhandlung entschied er sich für zwei Zierschildkröten, klein und rund wie Mayonnaisedeckel. Er kaufte ihnen eine große, nierenförmige Schale mit einer kleinen Insel, einer Palme, ein paar Wasserpflanzen und einer Schnecke. Die Schnecke im Grunde nur, um die Selbstachtung der Schildkröten zu fördern: »Ihr findet uns langsam? Dann seht euch den mal an!« Um auch der Schnecke Mut zu machen, gab es einen kleinen Felsen. Man ist glücklicher, wenn man jemanden hat, auf den man herabblicken kann – und auch jemanden, zu dem man aufblicken kann, besonders wenn man beide nicht mag. Das ist nicht nur Betamännchen-Überlebensstrategie, sondern die Basis für Kapitalismus, Demokratie und die meisten Religionen.

Nachdem er den Verkäufer eine Viertelstunde lang in die Zange genommen hatte, was die Lebenstüchtigkeit der Schildkröten anging, und man ihm versichert hatte, dass sie vermutlich einen Atomschlag überleben würden, so lange noch ein paar fressbare Käfer übrig waren, schrieb Charlie einen Scheck aus und brach über seinen Schildkröten zusammen.

»Ist alles okay, Mr. Asher?«, fragte der Tierverkäufer.

»Entschuldigung«, sagte Charlie, »aber es ist der letzte Eintrag in meinem Scheckheft.«

»Und Ihre Bank hat Ihnen kein neues Heft gegeben?«

»Nein, ich hab ja ein neues, aber das hier ist der letzte Scheck aus dem Heft, das meine Frau noch mitbenutzt hat. Ich werde ihre Schrift wohl nie wieder in so einem Scheckheft sehen.«

»Das tut mir leid«, sagte der Tierverkäufer, der bis eben noch gedacht hatte, der Tiefpunkt dieses Tages wäre gewesen, jemanden wegen zwei toter Hamster trösten zu müssen.

»Na ja, Sie haben sicher Ihre eigenen Probleme«, sagte Charlie. »Ich werde einfach meine Schildkröten nehmen und gehen.«

Was er auch tat, wobei er das leere Scheckheft, während er fuhr, in der Hand hielt und dabei zerknüllte. Sie entglitt ihm täglich etwas mehr.

Vor einer Woche war Jane nach unten gekommen, um etwas Honig zu borgen, und hatte das Pflaumenmus, das Rachel so gern mochte, hinten im Kühlschrank gefunden, mit grünem Pelz darauf.

»Kleiner Bruder, das muss in den Müll«, sagte Jane und verzog ihr Gesicht.

»Nein, das war Rachels.«

»Ich weiß, Kleiner. Und sie wird es nicht mehr brauchen. Was hast du sonst noch… oh, mein Gott!« Sie wich vor dem Kühlschrank zurück. »Was war das?«

»Lasagne. Hat Rachel gemacht.«

»Die ist schon über ein Jahr hier drin?«

»Ich hab es nicht fertig gebracht, sie wegzuwerfen.«

»Pass auf, Samstag komm ich und bring deine Wohnung auf Vordermann. Ich werde alles von Rachel wegwerfen, was du nicht mehr haben willst.«

»Ich will aber alles behalten.«

Sie schwieg kurz, während sie die grünlich-violette Lasagne zum Mülleimer manövrierte, inklusive Auflaufform. »Nein, das willst du nicht, Charlie. Dieses Zeug hilft dir nicht, dich an Rachel zu erinnern. Es tut nur weh. Du musst dich auf Sophie und den Rest eures Lebens konzentrieren. Du bist noch jung, du darfst nicht aufgeben. Wir alle haben Rachel geliebt, aber du musst mit deinem Leben weitermachen, vielleicht sogar mal ausgehen…«

»So weit bin ich noch nicht. Und du kannst am Samstag nicht kommen. Da bin ich doch immer im Laden.«

»Ich weiß«, sagte Jane. »Es ist besser, wenn du nicht dabei bist.«

»Aber dir kann man doch nicht trauen, Jane«, sagte Charlie, als wäre es so offensichtlich wie der Umstand, dass Jane nervte. »Bestimmt wirfst du alles weg, was Rachel gehört hat, und klaust mir meine Sachen.« Tatsächlich hatte Jane mit schöner Regelmäßigkeit Charlies Anzüge mitgehen lassen, seit sie sich etwas mondäner kleidete. Sie trug ein maßgeschneidertes, zweireihiges Jackett, das er erst vor ein paar Tagen von Drei-Finger-Hu zurückbekommen hatte. Charlie hatte es noch nicht ein Mal getragen. »Wieso trägst du eigentlich überhaupt noch Anzüge? Ist deine neue Freundin nicht Yogalehrerin? Solltest du nicht auch diese Sackhosen aus Hanf- und Tofufasern tragen? Du siehst aus wie David Bowie, Jane. Okay, jetzt ist es raus. Tut mir leid, aber es musste gesagt werden.«

Jane legte ihm einen Arm um die Schultern und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist so süß. Bowie ist der einzige Mann, den ich je attraktiv fand. Lass mich deine Wohnung putzen. Ich pass auf Sophie auf und lass den beiden Witwen einen Tag, sich drüben im 99-Cent-Laden zu bekriegen.«

»Okay, aber nur Kleider und so Zeug. Keine Bilder. Und pack sie nur unten im Keller in Kisten. Nichts wegwerfen.«

»Auch die Lebensmittel? Chuck, die Lasagne, ich meine…«

»Okay, Lebensmittel können weg. Aber nicht, dass Sophie mitbekommt, was du da treibst. Und lass Rachels Parfüm und ihre Haarbürste da. Ich möchte, dass Sophie weiß, wie ihre Mutter gerochen hat.«

Als er an dem entsprechenden Abend im Laden fertig war, stieg er in den Keller und stattete den Kisten einen Besuch ab, in denen Jane Rachels Sachen verstaut hatte. Als das nichts brachte, klappte er sie auf und nahm von jedem einzelnen Ding Abschied – von jedem noch so kleinen Teil Rachels. Das machte er in letzter Zeit ständig.

Auf seinem Heimweg von der Tierhandlung war er bei Ein hübscher, heller Ort für Bücher eingekehrt, denn auch das war ein Teil von Rachel, und er brauchte einen Prüfstein, aber auch, weil er Recherchen anstellen musste. Er hatte das Internet nach Informationen zum Tod durchforstet und festgestellt, dass es zwar eine Menge Leute gab, die sich gern kleideten wie der Tod und sich in Gesellschaft Toter am liebsten nackt auszogen, Bilder von Nackten und Toten betrachteten oder Pillen verkauften, die Toten eine Erektion ermöglichen sollten, aber nirgends stand etwas darüber, was man machen sollte, wenn man tot – oder der Tod war. Niemand hatte je etwas von Totenboten oder Gullyhexen oder so was Ähnlichem gehört. Er kam mit einem mächtigen Stapel von Büchern über Tod und Sterben aus dem Laden, da er sich – typisch für ein Betamännchen – dachte, er sollte lieber herausfinden, mit wem er es zu tun hatte, bevor er erneut gegen den Feind in die Schlacht zog.

An diesem Abend machte er es sich auf dem Sofa neben seiner kleinen Tochter bequem und las, während die neuen Schildkröten – Bruiser und Jeep (in der Hoffnung getauft, ihnen damit Haltbarkeit einzuflößen) – gefriergetrocknete Insekten knabberten und sich über Kabel CSI Safaripark ansahen.

»Also, gut: Nach Kübler-Ross zu urteilen sind die fünf Stadien des Sterbens: Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression und Zustimmung. Tja, diese Stadien haben wir schon durchgemacht, als wir Mama verloren haben.«

»Mama«, sagte Sophie.

Als sie zum ersten Mal »Mama« gesagt hatte, waren Charlie die Tränen gekommen. Er hatte über ihre kleine Schulter hinweg ein Foto von Rachel betrachtet. Als sie es zum zweiten Mal gesagt hatte, war es nicht mehr ganz so emotional. Sie saß in ihrem hohen Kinderstuhl am Frühstückstresen und sprach mit dem Toaster.

»Das ist nicht Mama, Soph. Das ist der Toaster.«

»Mama«, beharrte Sophie und zeigte auf den Toaster.

»Du willst mich verarschen, oder?«, sagte Charlie.

»Mama«, sagte Sophie zum Kühlschrank.

»Na, super«, sagte Charlie.

Er las weiter und begriff, dass Dr. Kübler-Ross absolut Recht hatte. Jeden Morgen, wenn er aufwachte und einen neuen Namen samt Zahl auf dem Tagesplaner neben seinem Bett vorfand, durchlitt er beim Frühstück alle fünf Schritte dieses Vorgangs. Und da er sie nun benennen konnte, erkannte er die einzelnen Schritte auch in den Familienmitgliedern seiner Klienten. So bezeichnete er die Leute, deren Seelen er abholte: Klienten.

Dann las er ein Buch mit dem Titel »Die letzte Tüte«, in dem es darum ging, wie man sich mit einem Plastikbeutel umbrachte, aber es schien kein besonders wirkungsvolles Buch zu sein, denn auf der Rückseite stand, dass es noch zwei Fortsetzungen gab. Er stellte sich die Fanpost vor: »Lieber Autor: Ich war fast tot, aber dann ist meine Tüte von innen beschlagen und ich konnte den Fernseher nicht mehr erkennen und hab ein Guckloch reingepiekst. Wenn alles gut geht, versuche ich es mit Ihrem nächsten Buch noch mal.« Das Buch half Charlie nicht besonders, verstärkte nur seine Plastiktütenparanoia.

Im Laufe der folgenden Monate las er: Das Ägyptische Totenbuch, aus dem er lernte, wie man jemandem das Gehirn mit einem Haken aus der Nase zog, was er sicher eines Tages mal brauchen konnte; ein Dutzend Bücher über den Umgang mit Tod, Trauer, Bestattungsriten und Mythen der Unterwelt, aus denen er lernte, dass es seit Anbeginn der Zeit Personifizierungen des Todes gegeben hatte und keine davon aussah wie er; und Das Tibetische Totenbuch, aus dem er erfuhr, dass »Bardo«, der Übergang von einem Leben zum nächsten, neunundvierzig Tage dauerte und einem dabei etwa dreißigtausend Dämonen begegneten. Diese wurden in allen Details beschrieben, aber kein Einziger sah wie eine Gullyhexe aus, so dass man sie allesamt einfach ignorieren konnte. Die Seelen mussten keine Dämonen fürchten, denn diese waren nicht real, da sie der materiellen Welt entstammten.

»Komisch«, sagte Charlie zu Sophie, »in diesen Büchern heißt es, die materielle Welt sei unbedeutend, und doch hole ich Seelen zurück, die an ein materielles Objekt gebunden sind. Es macht den Eindruck, als wüsste die linke Hand des Todes nicht, was die rechte tut. Findest du nicht auch?«

»Nein«, sagte Sophie.

Mit ihren achtzehn Monaten beantwortete Sophie sämtliche Fragen entweder mit »Nein«, »Keks« oder »wie Bär«, wobei Charlie Letzteres dem Umstand zuschrieb, dass er Sophie zu oft Mrs. Korjews Obhut überließ. Nachdem die Schildkröten, zwei weitere Hamster, ein Einsiedlerkrebs, ein Leguan und zwei Breitmaulfrösche in den großen Wok im Himmel (genauer gesagt: im zweiten Stock) eingegangen waren, brachte Charlie schließlich eine acht Zentimeter lange Madagaskar-Fauchschabe mit nach Hause, der er den Namen »Bär« gab, damit seine Tochter auf ihrem bevorstehenden Lebensweg nicht ausschließlich Blödsinn redete.

»Wie Bär«, sagte Sophie.

»Sie meint die Kakerlake«, sagte Charlie.

»Sie meint nicht die Kakerlake«, sagte Jane. »Welcher Vater kauft seiner kleinen Tochter Ungeziefer? Das ist ja ekelhaft.«

»Angeblich sind sie nicht umzubringen. Es gibt sie schon seit hundert Millionen Jahren. Oder war es der weiße Hai? Jedenfalls sollen sie schwer zu halten sein.«

»Wieso gibst du es nicht auf, Charlie? Schenk ihr doch Stofftiere.«

»Kleine Kinder sollten ein Haustier haben. Vor allem kleine Stadtkinder.«

»Wir waren Stadtkinder, und wir hatten auch keine Haustiere.«

»Ich weiß, und sieh dir an, was aus uns geworden ist…«, sagte Charlie und zeigte zwischen ihnen beiden hin und her, zwischen ihm, dem Boten des Todes, der eine Riesenschabe namens Bär besaß, und ihr, die schon ihre dritte Yogalehrerin in sechs Monaten hatte und seinen neuesten Tweed-Anzug trug.

»Wir haben uns prima entwickelt, zumindest einer von uns beiden«, sagte Jane und deutete dabei auf ihren schmucken Anzug wie ein Game-Show-Model, das den großen Preis bei WER WIRD ANDROGYN? vorführt. »Du solltest etwas zulegen. Das Ding spannt am Po«, sagte sie, wie eh und je besessen von sich selbst. »Arsch frisst Hose?«

»Das will ich überhaupt nicht wissen«, sagte Charlie.

»Sie bräuchte keine Haustiere, wenn sie mal vor die Tür käme«, sagte Jane und zupfte am Zwickel ihrer Hose herum. »Geh mit ihr in den Zoo, Charlie. Zeig ihr mal was anderes als immer nur diese Wohnung. Nimm sie mit.«

»Mach ich. Morgen. Ich nehm sie mit vor die Tür und zeige ihr die Stadt«, sagte Charlie. Und das hätte er auch getan, aber auf seinem Tagesplaner stand der Name Madeline Alby und daneben eine Eins.

Ach ja, und der Kakerlak war tot.

»Ich nehm dich mit, meine Süße«, sagte Charlie, als er Sophie zum Frühstück in ihren hohen Kinderstuhl setzte. »Ganz bestimmt. Versprochen. Kannst du glauben, dass man mir nur einen Tag Zeit lässt?«

»Nein«, sagte Sophie. »Saft«, fügte sie hinzu, denn sie saß in ihrem Stuhl, und es war Saftzeit.

»Das mit Archie tut mir leid, Kleine«, sagte Charlie, strich ihrHaar in eine Richtung, dann in die andere, dann gab er es auf. »Er war ein guter Käfer, aber er ist nicht mehr. Mrs. Ling will ihn begraben. Langsam wird es eng in ihrem Blumenkasten.« Charlie konnte sich nicht erinnern, ob vor Mrs. Lings Fenster tatsächlich ein Blumenkasten hing, aber wollte er an ihr zweifeln?

Charlie klappte das Telefonbuch auf und fand einen M. Alby mit einer Adresse auf dem Telegraph Hill, keine zehn Minuten zu Fuß. So nah war ihm noch kein Klient gewesen, und nachdem die Gullyhexen seit fast sechs Monaten keinen Piep mehr von sich gegeben und auch keinen Schatten hatten blicken lassen, bekam er langsam das Gefühl, als hätte er die ganze Sache mit dem Totenboten gut im Griff. Er war sogar die meisten Seelenschiffchen wieder losgeworden, die er gesammelt hatte. Aber dieser kurzfristige Termin war kein gutes Zeichen, ganz und gar nicht.

Das Haus war ein neobarocker Bau oben auf dem Hügel, gleich unterhalb vom Coit Tower, dem großen Granitturm, errichtet zu Ehren der Feuerwehrmänner von San Francisco, die ihr Leben im Dienst verloren hatten. Obwohl der Turm angeblich der Düse eines Feuerwehrschlauches nachempfunden sein sollte, konnte so gut wie niemand dem Drang widerstehen, auf die Ähnlichkeit mit einem Riesenpenis hinzuweisen. Madeline Albys Haus war ein weißes Rechteck mit flachem Dach, reich verschnörkelter Bordüre und einem krönenden Sims aus gemeißelten Putten. Es sah aus wie eine Hochzeitstorte auf dem Skrotum des Towers.

Als Charlie nun also hinauf zum Hodensack von San Francisco stapfte, fragte er sich, wie er eigentlich ins Haus gelangen wollte. Normalerweise hatte er Zeit, konnte warten, jemandem folgen oder eine List anwenden, um sich Einlass zu verschaffen, doch diesmal blieb ihm nur ein einziger Tag, um hineinzukommen, das Seelenschiffchen aufzutreiben und wieder zu verschwinden. Er hoffte, dass Madeline Alby bereits tot war. Er hatte nicht gern kranke Menschen um sich. Als er den Wagen mit dem grünen Hospiz-Aufkleber vor der Tür sah, zerplatzten seine Hoffnungen auf eine tote Klientin wie ein Blaubeermuffin unterm Vorschlaghammer.

Er nahm die Stufen links am Haus und wartete bei der Tür. Konnte er sie selbst aufmachen? Würde man es sehen können, oder wirkte sich seine spezielle »Unbemerkbarkeit« auch auf Dinge aus, die er bewegte? Das glaubte er nicht. Doch dann öffnete sich die Tür, und eine Frau, etwa in Charlies Alter, trat heraus auf die Veranda. »Ich geh eine rauchen«, rief sie ins Haus, und bevor sie die Tür hinter sich schließen konnte, war Charlie schon hineingeschlüpft.

Die Haustür führte in ein Foyer. Rechts sah Charlie, wo sich früher der Salon befunden hatte, als das Haus erbaut worden war. Vor ihm lag eine Treppe, dahinter eine Tür, die vermutlich in die Küche führte. Er hörte Stimmen im Salon und spähte um die Ecke, wo er fünf ältere Damen sah, die einander auf zwei Sofas gegenübersaßen. Sie trugen Kleider und Hüte, als kämen sie eben aus der Kirche, aber Charlie nahm an, dass sie ihrer Freundin die letzte Ehre erweisen wollten.

»Man sollte meinen, dass sie das Rauchen aufgibt, da ihre Mutter oben liegt und an Krebs stirbt«, sagte eine der Damen, die ein graues Kostüm mit passendem Hut trug, dazu eine große, emaillierte Brosche in Form einer gefleckten Kuh.

»Tja, sie war schon immer ein halsstarriges Mädchen«, sagte eine andere, die ein Kleid trug, das aus demselben Blumenstoff geschneidert zu sein schien wie die Couch. »Ihr wisst, dass sie sich mit meinem Sohn Jimmy dauernd oben im Pioneer Park getroffen hat, als sie klein waren.«

»Sie wollte ihn immer heiraten«, sagte eine andere Frau, die wie die Schwester der ersten aussah.

Die Damen lachten, und Heiterkeit und Trauer mischten sich in ihren Stimmen.

»Also, ich weiß gar nicht, was sie sich vorgestellt hat. Er ist so unstet, wie man nur sein kann«, sagte Mom.

»Ja, und er hat einen Hirnschaden«, fügte die Schwester hinzu.

»Na ja, jetzt schon.«

»Seit er von diesem Auto überfahren wurde«, sagte die Schwester.

»Ist er nicht direkt vors Auto gelaufen?«, fragte eine der Damen, die bisher noch nichts gesagt hatte.

»Nein, er ist dagegengelaufen«, sagte Mom. »Er stand unter Drogen.« Sie seufzte. »Ich habe schon immer gesagt, ich habe von allem etwas: einen Jungen, ein Mädchen und einen Jimmy.«

Alle nickten. Charlie vermutete, dass sie nicht zum ersten Mal gemeinsam nickten. Sie waren von der Sorte, die Beileidskarten bündelweise kauften und sich jedes Mal, wenn sie einen Krankenwagen hörten, vornahmen, das schwarze Kleid aus der Reinigung zu holen.

»Ich finde, Maddy sah schlecht aus«, sagte die Dame in Grau.

»Nun, sie liegt im Sterben, Liebes. So ist es eben.«

»Stimmt wohl.« Noch ein Seufzen.

Das Klirren von Eis im Glas.

Sie alle hielten hübsche, kleine Cocktailgläser in den Händen. Charlie vermutete, dass die Frau, die draußen rauchte, die Cocktails gemixt hatte. Er sah sich im Zimmer nach etwas Leuchtendem um. In der Ecke stand ein Rollschreibtisch, in den er gern einen Blick geworfen hätte, doch das würde bis später warten müssen. Er schlich zur Tür hinaus und in die Küche, wo zwei Männer von Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig an einem Eichentisch saßen und Scrabble spielten.

»Kommt Jenny wieder rein? Sie ist dran.«

»Könnte sein, dass sie mit einer der Damen nach oben gegangen ist, um nach Mom zu sehen. Die Schwester lässt sie nur einzeln rein.«

»Ich wünschte, es wäre vorbei. Dieses Warten ist nicht auszuhalten. Und langsam muss ich zu meiner Familie zurück. Es ist zum aus der Haut fahren.«

Der Ältere der beiden beugte sich über den Tisch und legte zwei kleine, blaue Pillen neben die Spielsteine seines Bruders.

»Die helfen.«

»Was ist das?«

»Retardiertes Morphin.«

»Wirklich?« Der jüngere Bruder sah besorgt aus.

»Man merkt sie kaum. Sie machen nur irgendwie alles leichter. Jenny nimmt sie seit zwei Wochen.«

»Deshalb nehmt ihr alles so leicht, und ich bin ein Wrack? Ihr seid breit von Moms Schmerzmitteln?«

»Jep.«

»Ich nehme keine Drogen. Das sind Drogen. Man nimmt keine Drogen.«

Der ältere Bruder lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Schmerzmittel, Bill. Wie fühlst du dich?«

»Nein, ich werde nicht Moms Schmerztabletten nehmen.«

»Wie du willst.«

»Was ist, wenn sie sie braucht?«

»In diesem Zimmer ist so viel Morphium, dass man damit einen Braunbär umhauen könnte, und wenn sie mehr braucht, bringt das Hospiz Nachschub.«

Am liebsten hätte Charlie den jüngeren Bruder geschüttelt und geschrien: »Nimm die Drogen, du Idiot!« Vielleicht war dies der Vorteil von Erfahrung, da er diese Situation nun immer wieder erlebt hatte, Familien am Totenbett, halb verrückt vor Trauer und Erschöpfung, Freunde kommen und gehen wie Gespenster, nehmen Abschied oder wollen nur auf Nummer sicher gehen, damit sie sagen können, sie seien da gewesen, damit sie eines Tages nicht allein sterben müssen. Wieso stand nichts davon in den Totenbüchern? Wieso stand in den Anweisungen nichts vom Schmerz und der Hilflosigkeit, die er erleben würde?

»Ich geh und such Jenny«, sagte der ältere Bruder. »Mal sehen, ob sie was zu essen holen will. Wir können später weiterspielen, wenn du möchtest.«

»Ist schon okay, ich hätte sowieso verloren.« Der jüngere Bruder sammelte die Steine ein und stellte das Brett weg. »Ich geh rauf und versuch, ein wenig zu schlafen. Heute Nacht sitz ich an Moms Bett.«

Charlie sah, wie der jüngere Bruder die blauen Pillen in seine Hemdtasche steckte und die Küche verließ, so dass Charlie die Speisekammer und die Schränke nach dem Seelenschiffchen durchwühlen konnte. Aber er wusste schon vorher, dass es nicht da war. Charlie würde nach oben gehen müssen.

Er hatte wirklich, wirklich nicht gern kranke Menschen um sich.

Madeline Alby lag im Bett, die Decke bis zum Hals hochgezogen. Sie war so zierlich, dass sie sich unter der Decke kaum abzeichnete. Sie konnte nicht mehr als fünfunddreißig oder vierzig Kilo wiegen. Ihr Gesicht war ausgezehrt, und er sah ihre Augenhöhlen, den Unterkieferknochen, die gelbe Haut. Charlie tippte auf Leberkrebs. Eine ihrer Freundinnen saß am Bett, die Hospizschwester, eine große Frau im Kittel, hielt sich etwas abseits und las. Ein kleiner Hund, wohl ein Yorkshire-Terrier, lag eingerollt an ihrer Schulter und schlief.

Als Charlie eintrat, sagte Madeline. »Hallo, mein Junge.«

Abrupt blieb er stehen. Sie sah ihn an, mit kristallblauen Augen und einem Lächeln im Gesicht. Hatte der Boden geknarrt? War er irgendwo angestoßen?

»Was machst du denn da, Junge?« Sie kicherte.

»Wen siehst du, Maddy?«, fragte die Freundin. Sie folgte Madelines Blick, sah jedoch durch Charlie hindurch.

»Einen Jungen. Da drüben.«

»Okay, Maddy. Möchtest du etwas Wasser?« Die Freundin nahm eine Schnabeltasse vom Nachtschränkchen.

»Nein. Aber sag ihm, er soll herkommen. Komm doch rein, Junge.« Madeline schob ihre Arme unter der Decke hervor und bewegte ihre Hände, als nähte sie, als stickte sie etwas in der Luft.

»Ich sollte lieber gehen«, sagte die Freundin, »damit du dich ausruhen kannst.« Sie sah zu der Schwester hinüber, die über ihre Lesebrille blickte und sanft lächelte. Die einzige Expertin im Haus erteilte Erlaubnis.

Die Freundin stand auf und gab Madeline Alby einen Kuss auf die Stirn. Madeline hörte einen Moment lang auf zu sticken, schloss die Augen und beugte sich dem Kuss entgegen wie ein junges Mädchen. Die Freundin drückte ihre Hand und sagte: »Auf Wiedersehen, Maddy.«

Charlie trat zur Seite und ließ die Frau vorbei. Dass sie schluchzte, sah er an ihren Schultern, als sie hinausging.

»Hey, Junge«, sagte Madeline, »komm her und setz dich.« Sie unterbrach ihre Stickerei, um Charlie in die Augen zu sehen. Ihm standen die Haare zu Berge. Er sah zu der Schwester hinüber, die von ihrem Buch aufblickte und dann weiterlas. Charlie deutete auf sich selbst.

»Ja, du«, sagte Madeline.

Charlie war in Panik. Sie konnte ihn sehen, die Schwester aber nicht – so zumindest schien es.

Die Armbanduhr der Schwester piepte, und Madeline nahm den kleinen Hund und hielt ihn an ihr Ohr. »Hallo? Hi, wie geht es dir?« Sie sah Charlie an. »Es ist meine älteste Tochter.« Auch der kleine Hund sah zu Charlie auf, mit deutlichem »Rette mich«-Blick in den Augen.

»Es wird Zeit, für Ihre Medikamente, Madeline«, sagte die Schwester.

»Ich bin am Telefon«, sagte Madeline. »Moment mal eben.«

»Okay, ich warte«, sagte die Schwester. Sie nahm ein braunes Fläschchen, füllte die Pipette, prüfte die Dosis und wartete.

»Wiedersehen. Ich hab dich auch lieb«, sagte Madeline. Sie hielt Charlie den kleinen Hund hin. »Wären Sie wohl so freundlich, für mich aufzulegen?« Die Schwester nahm den Hund und setzte ihn neben Madeline aufs Bett.

»Mund auf, Madeline!«, sagte die Schwester. Madeline machte weit auf, und die Schwester tropfte der alten Frau das Medikament in den Mund.

»Hmmmm, Erdbeere«, sagte Madeline.

»Stimmt genau, Erdbeere. Möchten Sie es gern mit etwas Wasser hinunterspülen?« Die Schwester hielt ihr die Schnabeltasse hin.

»Nein, Käse. Ich möchte Käse.«

»Ich könnte Ihnen etwas Käse holen«, sagte die Schwester.

»Cheddarkäse.«

»Dann also Cheddar«, sagte die Schwester. »Ich bin gleich wieder da.« Sie stopfte die Decke um Madeline fest und ging hinaus.

Die alte Frau sah Charlie an. »Kannst du sprechen, jetzt, wo sie draußen ist?«

Charlie zuckte mit den Schultern und sah sich in alle Richtungen um, die Hand vor dem Mund wie jemand, der nicht wusste, wohin er einen ganzen Mund voll verdorbener Meeresfrüchte spucken sollte.

»Kasper nicht so herum, Junge«, sagte Madeline. »Das tut man doch nicht.«

Charlie seufzte schwer. Was hatte er noch zu verlieren? Sie konnte ihn sehen. »Hallo, Madeline. Ich bin Charlie.«

»Den Namen >Charlie< mochte ich schon immer«, sagte Madeline. »Wie kommt es, dass Sally dich nicht sehen kann?«

»Sie sind momentan die Einzige, die mich sieht«, sagte Charlie.

»Weil ich im Sterben liege?«

»Ich glaube schon.«

»Okay. Du bist ein hübscher Bengel, weißt du das?«

»Danke. Sie sind aber auch nicht übel.«

»Ich habe Angst, Charlie. Es tut nicht weh. Früher hatte ich Angst, dass es wehtun würde, aber jetzt fürchte ich mich vor dem, was kommt.«

Charlie setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Bett. »Ich glaube, deshalb bin ich hier, Madeline. Sie brauchen keine Angst zu haben.«

»Ich habe viel Brandy getrunken, Charlie. Deshalb ist es so weit gekommen.«

»Maddy… darf ich Sie Maddy nennen?«

»Aber ja, Kleiner. Wir sind doch Freunde.«

»Ja, das sind wir. Maddy, es wäre so oder so passiert. Sie haben keine Schuld daran.«

»Das ist gut.«

»Maddy, haben Sie was für mich?«

»So etwas wie ein Geschenk?«

»So was wie ein Geschenk, das Sie sich selbst machen würden. Etwas, das ich für Sie aufbewahren und Ihnen wiedergeben könnte, um Sie damit zu überraschen?«

»Mein Nadelkissen«, sagte Madeline. »Das würde ich dir gern geben. Es hat meiner Großmutter gehört.«

»Es wäre mir eine Ehre, es für Sie aufzubewahren, Maddy. Wo finde ich es?«

»In meinem Nähkästchen auf dem obersten Regal im Schrank da drüben.« Sie deutete auf einen altmodischen Kasten in der anderen Ecke. »Oh, entschuldige. Telefon.«

Madeline unterhielt sich am Rand der Daunendecke mit ihrer ältesten Tochter, während Charlie das Nähkästchen vom obersten Regal im Schrank nahm. Es war aus Korb, und Charlie sah das rote Leuchten des Seelenschiffchens darin. Er nahm ein Nadelkissen aus rotem Samt heraus, mit echtem Silberfaden eingefasst, und zeigte es Madeline. Sie lächelte und hob beide Daumen, in dem Moment, als die Schwester einen kleinen Teller mit Käse und Kräckern brachte.

»Meine älteste Tochter ist dran«, erklärte Madeline der Schwester, drückte die Decke an ihre Brust, damit ihre Tochter sie nicht hörte. »Oh, ist das Käse?«

Die Schwester nickte. »Und Kräcker.«

»Ich ruf dich zurück, Liebes. Sally hat Käse mitgebracht, und ich möchte nicht unhöflich sein.« Sie legte die Decke auf und ließ sich von Sally mit kleinen Bissen aus Käse und Kräckern füttern.

»Ich glaube, das ist der beste Käse, den ich je gekostet habe«, sagte Madeline.

An ihrem Gesichtsausdruck sah Charlie, dass es tatsächlich der beste Käse war, den sie je gekostet hatte. Mit jeder Faser ihres Körpers genoss sie diese Cheddarscheiben und seufzte beim Kauen leise vor Vergnügen.

»Möchtest du etwas Käse, Charlie?«, fragte Madeline, wobei sie die Schwester mit Kräckerkrümeln vollspuckte. Die Frau drehte sich um und betrachtete die Ecke, in der Charlie mit dem Nadelkissen in der Jackentasche stand.

»Oh, Sie können ihn nicht sehen, Sally«, sagte Madeline und tätschelte die Hand der Schwester. »Aber er ist ein hübscher, kleiner Schlingel. Etwas mager vielleicht.« Dann, zu Sally gewandt, aber übermäßig laut, damit Charlie sie auch hören konnte. »Der kleine Scheißer könnte etwas Käse brauchen.« Dann prustete sie und ließ Krümel auf die Schwester regnen, die lachen musste und sich alle Mühe gab, nicht den Teller fallen zu lassen.

»Was hat sie gesagt?«, hörte man eine Stimme aus dem Flur. Dann kamen die beiden Söhne und die Schwester herein, anfangs besorgt, weil sie laute Stimmen gehört hatten, doch dann stimmten sie in das Gelächter der Krankenschwester und ihrer Mutter mit ein. »Ich habe gesagt: Käse ist gut!«, sagte Madeline.

»Ja, Mom, das ist er«, sagte die Tochter.

Charlie stand in der Ecke, sah ihnen zu, wie sie Käse aßen, lachte und dachte: Das hätte in dem Buch stehen sollen. Er sah, wie man ihr mit der Bettpfanne half, wie man ihr Wasser zu trinken gab und das Gesicht mit einem feuchten Tuch abwischte… sah, wie sie in den Stoff biss, genau wie Sophie, wenn er ihr Gesicht wusch. Die älteste Tochter, die – wie Charlie merkte – schon eine Weile tot war, rief noch dreimal an, einmal über den Hund und zweimal übers Kissen. Gegen Mittag wurde Madeline müde und schlief ein. Nach etwa einer halben Stunde fing sie an zu keuchen, dann hörte sie auf, dann atmete sie eine volle Minute nicht, dann atmete sie tief durch, dann gar nicht mehr.

Und Charlie schlich zur Tür hinaus, ihre Seele in der Tasche.

13

Mord rufen und den Hunddes Krieges entfesseln

Madeline Alby beim Sterben zuzusehen hatte Charlie erschüttert. Es war nicht so sehr der Tod, es war das Leben, das er in ihr gesehen hatte, kurz bevor sie starb. Er dachte: Wenn man dem Tod ins Auge blicken musste, um dem Leben die besten Augenblicke abzuringen – wer konnte das besser als der Mann, der dem Tod den Schrecken nahm?

»Käse stand nicht im Buch«, sagte Charlie zu Sophie, als er sie in ihrer neuen Joggerkarre aus dem Laden schob, die aussah, als hätte jemand ein Kohlefaserfahrrad mit einem Kinderwagen gekreuzt und ein Fahrzeug herausbekommen, mit dem man einen Tagestrip zum Thunderdome in Florida unternehmen konnte – aber sie war stabil, leicht zu schieben und schützte Sophie mit einem Aluminiumrahmen. Wegen des Käses zwang er sie nicht, ihren Helm zu tragen. Sie sollte sich umsehen können, die Welt um sie herum betrachten und mittendrin sein. Als er gesehen hatte, wie Madeline Alby mit solcher Inbrunst Käse aß, als wäre es das erste und beste Mal in ihrem Leben, war ihm bewusst geworden, dass er noch nie wirklich Käse so genossen hatte, und auch keine Kräcker, und auch nicht das Leben. Und er wollte nicht, dass seine Tochter so lebte. Am Abend vorher hatte sie ihr eigenes Zimmer bekommen, das Schlafzimmer, in dem Rachel Wolken und einen lustigen Ballon an die Decke gemalt hatte, der eine lachende Bande von tierischen Freunden in seinem Korb über den Himmel trug. Er hatte nicht gut geschlafen und war in der Nacht fünfmal aufgestanden, um nach ihr zu sehen. Sie schlief ruhig und friedlich, aber er konnte auf ein wenig Schlaf verzichten, wenn Sophie dafür ohne Ängste durchs Leben gehen konnte. Er wollte, dass sie den glorreichen Käse des Lebens kostete.

Sie schlenderten durch North Beach. Er machte Halt und kaufte einen Kaffee für sich und Apfelsaft für Sophie. Sie teilten sich einen gewaltig großen Erdnussbutterkeks, so dass ihnen ein Schwarm von Tauben den Bürgersteig entlang folgte und sich über die Krümelspur freute, die aus Sophies Karre rieselte. In den Fernsehern der Bars und Cafés lief das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft, und die Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen bis zur Straße hin, sahen sich das Spiel an, jubelten, johlten, lagen einander in den Armen, fluchten und ritten abwechselnd auf Wogen der Begeisterung und des Entsetzens in der Gesellschaft neuer Freunde aus der ganzen Welt. Sophie jubelte mit den Fußballfans und quiekte vor Freude, wenn sie glücklich waren. Wurden sie enttäuscht – ein Schuss abgeblockt, Chancen vergeben -, war Sophie geradezu erschüttert und suchte ihren Daddy, der alles in Ordnung bringen und die Menschen wieder glücklich machen sollte. Was Daddy auch tat, denn schon Sekunden später jubelte die Menge wieder. Ein großer Deutscher brachte Sophie bei, wie man »Toooooooooooooooooooor!« sang, genauso wie der Ansager, und übte mit ihr, bis sie volle fünf Sekunden halten konnte. Drei Blocks weiter übte sie noch immer, während Charlie den Blicken verdutzter Passanten schulterzuckend begegnete, als wollte er sagen: »Das Kind ist Fußballfan. Was soll man machen?«

Als es Zeit fürs Mittagsschläfchen wurde, spazierte Charlie durch sein Viertel zum Washington Square Park hinüber, wo die Leute lasen oder einfach im Schatten lagen. Einer spielte Gitarre und sang Bob-Dylan-Songs, sammelte Kleingeld, zwei weiße Rastajungs kickten einen Hacky-Sack herum, und die Menschen erfreuten sich an einem angenehmen, windstillen Sommertag. Charlie sah ein schwarzes Kätzchen, das an der belebten Columbus Avenue aus einer Hecke schlich, offenbar einer wildgewordenen McMuffin-Verpackung auf den Fersen, und zeigte sie Sophie.

»Guck mal, Sophie, eine Mietzekatze.« Charlie hatte ein schlechtes Gewissen wegen Archie, der Kakerlake. Vielleicht würde er am Nachmittag zur Tierhandlung gehen und Sophie einen neuen Freund besorgen.

Sophie quietschte vor Freude und zeigte auf die kleine Katze.

»Kannst du >Mietzi< sagen?«, fragte Charlie.

Sophie deutete hinüber und grinste sabbernd.

»Möchtest du ein Mietzekätzchen? Kannst du >Mietzi< sagen, Sophie?«

Sophie zeigte auf die Katze. »Mietzi«, sagte sie.

Das Kätzchen kippte um. Tot.

»Fresh Music«, meldete sich Minty Fresh am Telefon, mit einer Stimme wie ein Baritonsax bei Cool-Jazz-Impressionen.

»Was soll der Scheiß? Davon haben Sie mir nichts gesagt. Im Buch steht kein Wort davon. Was ist hier eigentlich los?«

»Sie suchen sicher eine Bücherei oder eine Kirche«, sagte Minty. »Das hier ist ein Plattenladen. Wir beantworten keine philosophischen Fragen.«

»Hier spricht Charlie Asher. Was haben Sie getan? Was haben Sie mit meiner kleinen Tochter gemacht?«

Minty runzelte die Stirn und fuhr mit der Hand über seine Kopfhaut. Er hatte am Morgen vergessen, sich zu rasieren. Er hätte wissen sollen, dass irgendwas schief gehen würde. »Charlie, Sie dürfen mich nicht anrufen. Das habe ich Ihnen doch gesagt. Es tut mir leid, wenn Ihrer kleinen Tochter etwas zugestoßen sein sollte, aber ich kann Ihnen versichern…«

»Sie hat auf ein Kätzchen gezeigt, >Mietzi< gesagt, und das Tier ist umgefallen. Mausetot.«

»Nun, das ist ein unglücklicher Zufall, Charlie, aber kleine Katzen haben eine ziemlich hohe Sterblichkeitsrate.«

»Ja, aber dann hat sie auf einen alten Mann gezeigt, der beim Taubenfüttern war, hat >Mietzi< gesagt, und der ist auch tot umgefallen.«

Minty Fresh war froh, dass im Moment niemand im Laden war, der seinen Gesichtsausdruck sehen konnte, denn er war überzeugt davon, dass das volle Ausmaß der kalten Schauer, die ihm am Rücken rauf und runter liefen, seine Aura unerschütterlicher Gelassenheit ruinierte. »Dieses Kind hat einen Sprachfehler, Charlie. Das sollte sich mal jemand näher ansehen.«

»Einen Sprachfehler! Einen Sprachfehler! Liebenswertes Lispeln ist ein Sprachfehler. Meine Tochter tötet Menschen mit dem Wort >Mietzi<. Auf dem ganzen Weg nach Hause musste ich ihr den Mund zuhalten. Wahrscheinlich sieht man es irgendwo auf einem Video. Die Leute haben mich angestarrt, als hätte ich mein Kind in aller Öffentlichkeit geohrfeigt.«

»Seien Sie nicht albern, Charlie. Die Menschen mögen Eltern, die ihre Kinder in aller Öffentlichkeit ohrfeigen. Unbeliebt sind Leute, die zulassen, dass sich ihre Kinder wie Rabauken benehmen.«

»Könnten wir bitte beim Thema bleiben? Was wissen Sie darüber? Was haben Sie in all den Jahren als Totenbote rausgefunden?«

Minty Fresh setzte sich auf den Hocker hinterm Tresen und starrte der Pappfigur von Cher in die Augen, in der Hoffnung, dort Antworten zu finden. Die blöde Kuh schwieg sich aus. »Charlie, ich habe keine Ahnung. Die Kleine war mit im Krankenzimmer, als Sie mich erwischt haben, und Sie wissen ja selbst, welche Auswirkungen es auf Sie hatte. Wer weiß, wie es sich auf das Kind auswirkt. Ich habe Ihnen doch gesagt, ich glaube, Sie spielen in einer anderen Liga als wir anderen. Vielleicht ist die Kleine ja auch was Besonderes. Ich habe noch nie von einem Totenboten gehört, der jemanden zu Tode mietzen oder sonst wie seinem Ableben auf die Sprünge helfen konnte. Haben Sie es mit anderen Worten versucht? Wauwau vielleicht?«

»Ja, das hatte ich vor, aber ich dachte, es könnte die Immobilienpreise drücken, wenn in meiner Nachbarschaft plötzlich alle tot umfallen! Nein, ich habe keine anderen Wörter ausprobiert. Ich trau mich nicht mal, ihr Brechbohnen vorzusetzen, weil ich Angst habe, dass sie mich mietzt.«

»Ich bin mir sicher, dass Sie eine gewisse Immunität genießen.«

»Im Großen Buch steht, dass wir selbst keineswegs immun gegen den Tod sind. Ich würde sagen, wenn im Discovery Channel das nächste Mal ein Kätzchen auftaucht, kann meine Schwester schon mal meinen Sarg aussuchen.«

»Tut mir leid, Charlie. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Ich werde mal in meiner Bibliothek zu Hause nachsehen, aber es klingt, als wäre die Kleine den Darstellungen des Schnitters um einiges ähnlicher als Sie und ich. Aber alles hat zwei Seiten, vielleicht bewirkt ihre – äh – Störung auch etwas Positives.

Fahren Sie rüber nach Berkeley und sehen Sie nach, ob Sie in der Bibliothek was finden. Es ist ein Riesenarchiv – jedes Buch, das gedruckt wird, landet dort.«

»Haben Sie es da noch nicht versucht?«

»Doch, aber ich habe nicht so gezielt gesucht. Hören Sie, seien Sie nur vorsichtig, wenn Sie rüberfahren. Nehmen Sie nicht die U-Bahn.«

»Glauben Sie, die Gullyhexen sitzen im U-Bahn-Tunnel?«, fragte Charlie.

»Gullyhexen? Wer ist das?«

»So nenne ich sie«, sagte Charlie. »Also, so würde ich sie nennen, wenn ich darüber sprechen dürfte.«

»Oh. Ich weiß nicht, er liegt unter der Erde, und ich hab mal in einem Zug gesessen, als der Strom ausfiel. Sie sollten es lieber nicht riskieren. Das ist deren Revier. Apropos: Es kommt mir vor, als wären sie seit einem halben Jahr verdächtig still. Funkstille.«

»Ging mir genauso«, sagte Charlie. »Aber ich schätze, das könnte sich durch diesen Anruf ändern, oder?«

»Gut möglich. Wenn ich den Zustand Ihrer Tochter bedenke, könnte es allerdings auch sein, dass die Karten neu gemischt sind. Passen Sie auf sich auf, Charlie Asher.«

»Sie auch, Minty.«

»Mr. Fresh.«

»Ich meinte: Mr. Fresh.«

»Leben Sie wohl, Charlie.«

In seiner Kabine auf dem großen Schiff stocherte Orcus mit dem gesplitterten Oberschenkelknochen eines Kindes zwischen seinen Zähnen herum. Babd kämmte seine schwarze Mähne mit ihren Klauen, während der stierköpfige Tod darüber nachdachte, was die Morrigan von den Gullys an der Columbus Avenue aus gesehen hatten: Charlie und Sophie im Park.

»Ist es an der Zeit?«, fragte Nemain. »Haben wir lange genug gewartet?« Sie klackte mit den Klauen wie mit Kastagnetten und verspritzte Gift über Wände und Boden.

»Wenn du vielleicht etwas vorsichtiger sein könntest«, sagte Macha. »Das Zeug macht Flecken. Ich habe gerade einen neuen Teppich verlegt.«

Nemain streckte ihr die schwarze Zunge heraus. »Waschweib«, sagte sie.

»Hure«, erwiderte Macha.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Orcus. »Dieses Kind stört mich.«

»Nemain hat Recht. Sieh dir an, wie stark wir schon geworden sind«, sagte Babd und strich über das Netz, das zwischen den Stacheln an Orcus’ Schultern wuchs – es sah aus, als trüge er dort Fächer wie die verzierte Rüstung eines Samurai. »Lass uns hingehen. Vielleicht bekommst du durch das Opfer des Kindes deine Flügel zurück.«

»Meinst du, ihr könnt?«

»Wir können, sobald es dunkel wird«, sagte Macha. »Wir sind so stark, wie wir es seit tausend Jahren nicht mehr waren.«

»Nur eine von euch sollte gehen, und zwar im Verborgenen«, sagte Orcus. »Ihre Gabe ist sehr alt, selbst im neuen Leib. Wenn sie ihrer Gabe Herr wird, können wir unsere Hoffnungen für die nächsten tausend Jahre vielleicht begraben. Töte das Kind und bring mir seinen Leichnam. Pass auf, dass es dich nicht sieht, bevor du zuschlägst.«

»Und der Vater? Soll ich ihn auch töten?«

»So stark bist du nicht. Aber wenn er merkt, dass sein Kind tot ist, wird ihn die Trauer vielleicht töten.«

»Du weißt überhaupt nicht, was du da treibst, oder?«, sagte Nemain.

»Du bleibst heute Abend hier«, sagte Orcus.

»Verflucht«, keifte Nemain und spritzte Gift über die Wand. »Oh, verzeiht, dass ich den Erhabenen in Frage stelle. Hey, Ochsenkopf. Horch, was kommt da hinten raus?«

»Ha«, sagte Babd, »ha, der war gut.«

»Und ist dein Hirn auch schön gefiedert?«, fragte Orcus.

»Oh. Jetzt hat er dich, Nemain. Denk immer daran, wenn ich heute Nacht das Kind ermorde.«

»Dich habe ich gemeint«, sagte Orcus. »Macha wird gehen.«

Sie stieg durchs Dach ein, brach das Oberlicht oben im dritten Stock auf und sprang hinunter in den Flur. Leise wie ein Schatten schlich sie zur Treppe, dann schien sie abwärts zu schweben, berührte mit den Füßen kaum die Stufen. Im ersten Stock blieb sie an der Tür stehen und betrachtete die Schlösser. Es gab zwei stabile Riegel, zusätzlich zu dem eigentlichen Türschloss. Sie blickte auf und sah ein Fenster aus buntem Glas über der Tür, das mit einem winzigen Messinghaken verriegelt war. Eilig glitt eine Kralle durch den Spalt, und mit einer kurzen Drehung des Handgelenks klickte der Messingriegel auf und fiel drinnen klappernd aufs Parkett. Sie glitt aufwärts, dann durchs Türfenster, presste sich drinnen an den Boden und wartete wie eine Schattenlache.

Sie witterte das Kind, hörte leises Schnarchen vom anderen Ende der Wohnung. Mitten im großen Raum blieb sie stehen und wartete. Frischfleisch war auch da, sie spürte ihn, er schlief im Zimmer gegenüber. Sollte er sich einmischen, würde sie ihm den Kopf abreißen, um ihn Orcus mitzubringen, als Beweis dafür, dass man sie niemals unterschätzen durfte. Am liebsten hätte sieden Kopf auf alle Fälle abgerissen, aber erst, wenn sie das Kind hatte.

Ein Nachtlämpchen am Bett der Kleinen warf sein weiches, rosiges Licht bis ins Wohnzimmer. Macha winkte kurz mit ihrer Klauenhand, und das Licht erlosch. Leise schnurrte sie vor Selbstzufriedenheit. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie ein Menschenleben auf diese Weise auslöschen konnte, und vielleicht würden diese Zeiten einmal wiederkehren.

Sie schob sich ins Zimmer der Kleinen und hielt inne. Im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, sah sie das Kind eingerollt in seinem Bettchen liegen, mit einem Plüschhasen im Arm. Nur in den Zimmerecken konnte sie nichts erkennen, weil der Schatten dort so leer und dunkel war, dass sie ihn selbst mit ihren Augen einer Kreatur der Nacht nicht durchdringen konnte. Sie trat ans Kinderbett und beugte sich darüber. Das Kind schlief mit offenem Mund. Macha beschloss, ihm eine einzelne Kralle durch den Gaumen ins Gehirn zu treiben. Das wäre lautlos, der Vater würde reichlich Blut vorfinden, und so konnte sie die Leiche transportieren, am Haken wie ein Fisch auf dem Weg zum Markt. Langsam beugte sie sich vor und lehnte sich übers Bettchen, um die größtmögliche Hebelkraft zu erreichen. Mondlicht glitzerte auf der sieben Zentimeter langen Kralle, und sie wich zurück, einen Augenblick lang abgelenkt vom hübschen Schimmer, als sich die Zähne um ihren Arm schlossen.

»Verflu…«, kreischte sie, als sie herumgerissen und an die Wand geschlagen wurde. Die nächsten Zähne packten sie beim Knöchel. Sie verdrehte sich zu einem halben Dutzend Formen, ohne jede Wirkung, und flog herum wie eine Lumpenpuppe, gegen die Kommode, gegen das Bettchen und wieder an die Wand. Mit ihren Klauen hackte sie auf den Angreifer ein, traf etwas, dann fühlte es sich an, als würden ihr die Klauen an den Wurzeln herausgerissen, und sie ließ los. Sie konnte nichts erkennen, nur wilde, wirbelnde Bewegung, dann schlug sie hart auf. Sie trat nach dem, was ihren Knöchel hielt, und es ließ sie los, doch das, was ihren Arm umklammert hielt, schleuderte sie zum Fenster und draußen an die Gitterstäbe. Sie hörte, wie das Glas unten auf der Straße landete, presste sich mit aller Kraft dagegen, änderte in panischer Eile ihre Gestalt, bis sie sich durch die Stäbe gezwängt hatte und der Straße entgegenstürzte.

»Autsch! Scheißdreck!«, hörte man unten von der Straße, eine weibliche Stimme. »Aua-aua-aua.«

Charlie knipste das Licht an und sah Sophie in ihrem Bett sitzen, mit ihrem Häschen im Arm, lachend. Das Fenster hinter ihr war kaputt, die Scheibe fehlte. Sämtliche Möbel – abgesehen vom Kinderbett – waren umgekippt, und im Putz zweier Wände sah man basketballgroße Löcher, das hölzerne Lattenwerk dahinter war gesplittert. Überall am Boden lagen schwarze Federn und etwas, das wie Blut aussah, doch noch während Charlie die Federn betrachtete, begannen sie, sich in Rauch aufzulösen.

»Wauwi, Daddy«, sagte Sophie. »Wauwi.« Und kicherte.

Sophie schlief den Rest der Nacht in Daddys Bett, während Daddy neben ihr auf einem Stuhl saß, mit Blick auf die verschlossene Tür, den Stockdegen an seiner Seite. Charlies Schlafzimmer hatte keine Fenster, so dass man nur durch die Tür hinein oder hinaus gelangen konnte. Als Sophie am Morgen aufwachte, schälte Charlie sie aus ihren Sachen, badete sie und zog ihr was Frisches an. Dann bat er Jane, ihr Frühstück zu machen, während er die Scherben und den Putz in Sophies Zimmer zusammenfegte und nach unten ging, um eine Sperrholzplatte aufzutreiben, die er vor das kaputte Fenster nageln konnte.

Es quälte ihn, dass er nicht bei der Polizei anrufen konnte, dass er niemanden anrufen konnte, aber wenn ein einziges Telefonat mit einem Totenboten solche Konsequenzen hatte, durfte er es nicht riskieren. Und außerdem: Was würde die Polizei zu Blut und schwarzen Federn sagen, die sich in Rauch auflösten, wenn man sie sich näher ansah?

»Irgendjemand hat gestern Abend einen Stein in Sophies Fenster geworfen«, erklärte er Jane.

»Wow, und das im ersten Stock. Ich dachte, du hast sie nicht mehr alle, als du das Haus bis oben hin mit Schutzgittern verbarrikadiert hast, aber jetzt denke ich das nicht mehr. Du solltest überall verdrahtetes Glas einsetzen, zur Sicherheit.«

»Hab ich vor«, sagte Charlie. Sicherheit? Er hatte keine Ahnung, was in Sophies Zimmer vorgefallen war, aber der Umstand, dass sie inmitten der Verwüstung unangetastet bleiben konnte, jagte ihm einen Heidenschrecken ein. Er würde eine neue Scheibe einsetzen, aber die Kleine schlief von jetzt an in seinem Zimmer – bis sie dreißig war und verheiratet mit einem Hünen, der Karate konnte.

Als Charlie mit der Sperrholzplatte samt Hammer und Nägeln aus dem Keller wiederkam, saß Jane am Frühstückstresen und rauchte eine Zigarette.

»Jane, ich dachte, du hast aufgehört.«

»Hab ich auch. Vor fünf Jahren.«

»Wieso rauchst du in meiner Wohnung?«

»Ich war in Sophies Zimmer, um ihr Häschen zu holen.«

»Ja? Wo ist Sophie? Da könnten immer noch Scherben am Boden liegen…«

»Ja, sie ist da drinnen. Und das Ganze ist überhaupt nicht komisch, Asher. Dein Haustierspleen geht endgültig zu weit. Ich werde drei Yogastunden brauchen, mich kneten lassen undeinen Joint rauchen müssen, so groß wie eine Thermosflasche, um meinen Adrenalinspiegel wieder in den Griff zu bekommen. Die beiden haben mir einen solchen Schrecken eingejagt, dass ich mir ein kleines bisschen in die Hosen gemacht hab.«

»Wovon, zum Teufel, redest du, Jane?«

»Witzig«, sagte sie und verzog das Gesicht. »Wirklich witzig. Ich rede von den Wauwis, Daddy.«

Charlie zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Könntest du dich vielleicht noch etwas undeutlicher oder unverständlicher ausdrücken? – eine Geste, die er im Laufe von zweiunddreißig Jahren perfektioniert hatte, dann rannte er zu Sophies Zimmer und riss die Tür auf.

Dort lagen – links und rechts von seiner Tochter – die beiden größten, schwärzesten Hunde, die er je gesehen hatte. Sophie saß an den einen gelehnt und schlug dem anderen ihr Häschen auf den Kopf. Charlie tat einen Schritt, um Sophie zu retten, doch einer der Hunde sprang auf, kam durchs Zimmer gerannt, riss Charlie zu Boden und setzte sich auf ihn. Der andere stellte sich zwischen Charlie und das Baby.

»Sophie, Daddy kommt und holt dich. Du musst keine Angst haben!« Charlie versuchte, sich unter dem Hund herauszuwinden, doch der senkte nur seinen Kopf und knurrte ihn an. Das Tier bewegte sich nicht von der Stelle. Charlie schätzte, dass es ihm wohl mit einem Biss beide Beine und einen Teil des Oberkörpers abbeißen konnte. Sein Kopf war größer als der vom Königstiger im Zoo von San Francisco.

»Jane, hilf mir! Schaff mir dieses Vieh vom Leib!«

Der große Hund blickte auf, ließ seine Pfoten aber auf Charlies Schultern.

Jane drehte sich auf ihrem Hocker um und nahm einen Zugvon ihrer Zigarette. »Nein, ich glaube nicht, Brüderchen. Nach der Nummer musst du selbst sehen, wie du damit fertig wirst.«

»Ich hab überhaupt nichts gemacht. Diese Biester habe ich noch nie gesehen. So was hat bestimmt noch nie jemand gesehen.«

»Weißt du, es stimmt schon: Wir Lesben haben ein gewisses Faible für Hunde, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, so was zu tun. Also, dann werde ich euch mal allein lassen«, sagte Jane, nahm ihr Portemonnaie und die Schlüssel vom Tresen. »Viel Spaß mit deinen kleinen Hundefreunden. Ich ruf bei der Arbeit an und sag, ich bin verrückt geworden.«

»Jane, warte!«

Aber sie war schon weg. Er hörte die Wohnungstür knallen.

Es schien, als wollte der große Hund Charlie nicht fressen, nur festhalten. Jedes Mal, wenn er versuchte, sich unter ihm herauszuzwängen, knurrte das Vieh und drückte fester zu.

»Ab! Bei Fuß! Runter!« Charlie versuchte es mit Kommandos, die er von Hundetrainern im Fernsehen kannte. »Fass! Roll ab! Geh endlich runter, blöde Töle!« (Letzteres hatte er improvisiert.)

Das Tier bellte Charlie so laut ins Ohr, dass es auf der einen Seite nur noch klingelte. Er hörte ein Kleinmädchenkichern vom anderen Ende des Zimmers.

»Sophie, mein Schatz. Es ist alles okay.«

»Wauwi, Daddy«, sagte Sophie. »Wauwi.« Sie stolperte heran und sah Charlie an. Der große Hund leckte ihr das Gesicht und warf sie fast um. (Mit ihren anderthalb Jahren bewegte sich Sophie meistens wie eine kleine Zecherin.) »Wauwi«, sagte Sophie wieder. Sie packte den Riesenhund bei den Ohren und zerrte ihn von Charlie herunter. Oder besser gesagt: Er ließ sich von ihr an den Ohren führen. Charlie sprang auf und wollte nach Sophie greifen, doch der andere Hund sprang ihm vor die Füße und knurrte. Der Kopf von diesem Vieh reichte Charlie bis zur Brust, selbst wenn es mit allen vieren auf dem Boden stand.

Er schätzte, dass diese Hunde pro Nase bestimmt zwischen zweihundert, zweihundertfünfzig Kilo wogen. Sie waren ohne weiteres doppelt so groß wie der größte Hund, dem er je begegnet war, ein Neufundländer, den er im Aquatic Park unten am Schifffahrtsmuseum hatte schwimmen sehen. Sie hatten das kurze Fell eines Dobermanns, die breiten Schultern und den Brustkorb eines Rottweilers, aber den großen, eckigen Kopf und die stehenden Ohren einer Dänischen Dogge. Sie waren so schwarz, dass es schien, als absorbierten sie das Licht, und Charlie hatte erst ein einziges Wesen gesehen, das so etwas konnte: Die Raben der Unterwelt. Es war klar, dass diese Hunde- woher sie auch kommen mochten – nicht aus dieser Gegend stammten. Aber es war auch klar, dass sie nicht hier waren, um Sophie weh zu tun. Für ein Tier dieser Größe wäre sie nicht mal eine ordentliche Mahlzeit, und zweifellos hätten sie die Kleine längst in der Mitte durchbeißen können, wenn sie ihr schaden wollten.

Was in der letzten Nacht in Sophies Zimmer vorgefallen war, mochte von den Hunden herrühren, aber die Aggressoren waren sie nicht gewesen. Irgendetwas war gekommen, um ihr etwas anzutun, und die beiden Tiere hatten sie beschützt, genau wie jetzt. Es war Charlie ganz egal, wieso, er war nur froh, dass sie auf ihrer Seite standen. Wo sie sich versteckt hatten, als er in Sophies Zimmer gekommen war, wusste er nicht, aber anscheinend wollten sie bleiben.

»Okay, ich tu ihr nichts«, sagte Charlie. Der Hund entspannte sich und wich ein paar Schritte zurück. »Sie muss bestimmt aufs Töpfchen«, sagte Charlie und kam sich etwas dämlich vor. Eben war ihm aufgefallen, dass die beiden breite, silberne Halsbänder trugen, was ihn seltsamerweise noch mehr verunsicherte als ihre Größe. Nachdem seine Betamännchenphantasie in den vergangenen anderthalb Jahren eine ordentliche Dehnung erfahren hatte, akzeptierte er problemlos den Umstand, dass im Schlafzimmer seiner kleinen Tochter zwei Riesenhunde saßen, aber die Vorstellung, dass ihnen jemand Halsbänder umgelegt hatte, warf ihn aus der Bahn.

Es klopfte an der Tür, und Charlie schlich rückwärts hinaus. »Daddy kommt gleich wieder, Schätzchen.«

14

Schaum vorm Maul

Charlie machte die Tür auf, und Lily schneite herein. »Jane sagt, du hast zwei riesengroße, schwarze Hunde hier oben. Die muss ich sehen!«

»Lily, warte!«, rief Charlie, aber sie war schon in Sophies Zimmer gelaufen, bevor er sie aufhalten konnte. Lautes Knurren war zu hören, und sie kam rückwärts wieder heraus.

»Mann, das ist ja wohl der absolute Hammer!«, sagte sie mit breitem Grinsen. »Die sind ja so was von cool! Wo hast du die denn her?«

»Ich hab sie nirgendwo her. Sie waren einfach da.«

Charlie trat neben Lily vor die Tür von Sophies Zimmer. Sie hakte sich bei ihm ein. »Sind das irgendwie Werkzeuge deiner Totenboterei, oder was?«

»Lily, ich dachte, wir waren uns einig, dass wir nicht mehr darüber sprechen wollten.«

Das waren sie. Und Lily hatte sich auch daran gehalten. Seit sie wusste, dass er Totenbote war, hatte sie das Thema nie wieder angesprochen. Darüber hinaus hatte sie ohne schwerwiegendere Vorstrafen ihre Highschool abgeschlossen und sich am Culinary Institute eingeschrieben, was mit sich brachte, dass sie allen Ernstes im weißen Kochkittel, karierten Hosen und Gum- mischuhen zur Arbeit erschien, was Haar und Makeup etwas sanfter machte, obwohl sie damit nach wie vor ernst, düster und ein wenig angsteinflößend wirkte.

Sophie kicherte und rollte gegen einen der Hunde. Die beiden hatten sie von oben bis unten abgeschleckt, und sie war voll mit Höllenhundsabber. Sie hatten ihr das Haar zu einem Dutzend kleiner spitzer Stacheln verkleistert, so dass sie ein wenig wie eine dieser glubschäugigen Zeichentrickfiguren aussah.

Sophie sah Lily in der Tür stehen und winkte. »Wauwi, Illy. Wauwi«, sagte sie.

»Hi, Sophie. Ja, das sind hübsche Wauwaus«, sagte Lily, dann zu Charlie: »Was hast du vor?«

»Keine Ahnung. Die beiden lassen mich nicht in ihre Nähe.«

»Das ist doch gut so. Sie wollen sie beschützen.«

Charlie nickte. »Davon gehe ich aus. Irgendwas ist gestern Nacht passiert. Du weißt, dass im Großen Buch von den Anderen die Rede ist, oder? Ich glaube, von denen war gestern Nacht einer hier, und deshalb sind die beiden aufgetaucht.«

»Ich bin beeindruckt. Ich hätte gedacht, dass du bei so was komplett ausrastest.«

Charlie wollte ihr nicht erklären, dass er vom gestrigen Ausrasten noch fix und fertig war, nachdem sein kleines Mädchen einen alten Mann mit dem Wort »Mietzi« ermordet hatte. Lily wusste schon jetzt zu viel, und die Gefahr war nun endgültig nicht mehr zu übersehen. »Vielleicht sollte ich ausrasten, aber die beiden wollen ihr ja nichts tun. Ich muss rüber nach Berkeley in die Bibliothek und nachsehen, ob ich was über diese Hunde finde. Und ich muss Sophie von den beiden wegbekommen.«

Lily lachte. »Genau. Viel Spaß dabei. Hör zu, heute muss ich arbeiten und zur Schule, aber morgen könnte ich für dichrecherchieren. Bis dahin könntest du versuchen, dich mit ihnen anzufreunden.«

»Ich möchte mich nicht mit ihnen anfreunden.«

Lily sah sich die Hunde an, während Sophie freudestrahlend mit ihren kleinen Fäusten auf dem einen herumtrommelte, dann drehte sie sich zu Charlie um. »Doch, möchtest du.«

»Ja, wahrscheinlich hast du Recht«, sagte Charlie. »Hast du schon mal so einen großen Hund gesehen?«

»Es gibt keine Hunde, die so groß werden.«

»Als was würdest du sie denn bezeichnen?«

»Das sind keine Hunde. Es sind Höllenhunde

»Woher weißt du das?«

»Bevor diese Sache mit den Kräutern und Soßen und so weiter losging, habe ich in meiner Freizeit alles über die Welt der Finsternis gelesen, und diese Typen kommen immer wieder mal nach oben.«

»Wenn wir es wissen, was willst du dann noch recherchieren?«

»Ich will rausfinden, wieso sie raufkommen.« Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich muss los, den Laden aufschließen. Und du sei lieb zu den Wauwis.«

»Womit soll ich sie füttern?«

»Chappi für den Höllenhund.«

»So was gibt es?«

»Was glaubst du?«

»Auch wieder wahr«, sagte Charlie.

Es dauerte zwei Stunden, aber nachdem Sophie wie eine Überraschungswindel roch, stupste sie einer der Riesenhunde in Charlies Richtung, als wollte er sagen: »Mach sie sauber und bring sie wieder.« Charlie spürte, dass sie ihn beobachteten, während er seiner Tochter die Windel wechselte, wobei er froh war, dass man für Wegwerfwindeln keine Nadeln brauchte. Hätte er Sophie versehentlich gepiekst, hätte ihm einer der Höllenhunde bestimmt den Kopf abgebissen. Sie behielten ihn aufmerksam im Auge, als er Sophie zum Frühstückstresen trug, und saßen links und rechts vom Kinderstuhl, als er seine Tochter fütterte.

Zur Probe toastete er eine Extrascheibe und warf sie einem der beiden Hunde zu. Dieser schnappte sie aus der Luft und leckte seine Lefzen, mit starrem Blick auf Charlie und die Packung mit dem Brot. Also warf Charlie noch vier Scheiben, die beide Hunde abwechselnd dermaßen schnell aus der Luft schnappten, dass es Charlie vorkam, als dampften die Kiefer beim Zuklappen.

»Also, ihr seid Höllenviecher aus einer anderen Dimension, und ihr mögt Toast. Okay.«

Dann, als Charlie noch vier Scheiben Toast einwarf, stutzte er plötzlich, kam sich blöd vor. »Eigentlich ist es euch egal, ob das Brot getoastet ist, oder?« Er warf einem der beiden Hunde eine Scheibe zu, die dieser aus der Luft schnappte. »Okay, das beschleunigt die Sache.« Charlie fütterte sie mit dem restlichen Brot. Ein paar Scheiben bestrich er dick mit Erdnussbutter, was nichts änderte, dann bestrich er ein halbes Dutzend Scheiben mit Geschirrspülmittel, was keine negativen Auswirkungen zeigte, abgesehen davon, dass sie hübsche, aquamarinfarbene Blasen rülpsten.

»Rausgehen, Daddy«, sagte Sophie.

»Heute nicht, Süße. Ich denke, wir bleiben einfach hier in der Wohnung und versuchen, mit unseren neuen Freunden klarzukommen.«

Charlie hob Sophie aus ihrem Stuhl, wischte ihr die Marmelade vom Gesicht und aus den Haaren, dann nahm er sie mit auf die Couch, um ihr die Kleinanzeigen im Chronicle vorzulesen, über die er einen Großteil seiner Geschäfte abwickelte, neben der Sache mit dem Tod. Kaum aber hatte er richtig losgelegt, als einer der Höllenhunde kam, Charlies Arm ins Maul nahm und ihn ins Schlafzimmer zerrte, obwohl er heftig protestierte, fluchte und ihm die Messinglampe vom Beistelltischchen an den Schädel schlug. Der große Hund ließ los, dann stand er da und starrte Charlies Tageskalender an, als wäre er mit Bratensoße vollgekleckert.

»Was?«, fragte Charlie, doch dann sah er es. Irgendwie hatte er in der Aufregung den neuen Namen im Kalender übersehen. »Guck doch, die Zahl ist dreißig. Ich hab noch einen ganzen Monat Zeit, es aufzutreiben. Lass mich in Ruhe.« Im Vorübergehen fiel Charlie außerdem auf, dass im großen Silberhalsband des Höllenhundes der Name ALVINeingraviert war.

»Alvin? Das ist der bescheuertste Name, den ich je gehört habe.«

Charlie wollte zur Couch zurück, doch der Hund zerrte ihn wieder ins Schlafzimmer, diesmal am Fuß. Als sie durch die Tür kamen, griff sich Charlie seinen Stockdegen. Als Alvin sein Bein losließ, sprang Charlie auf und zog die Klinge. Der große Hund rollte auf den Rücken und winselte. Sein Kumpel tauchte in der Tür auf, hechelnd. Charlie bedachte seine Möglichkeiten. Er hatte seinen Stockdegen stets für eine formidable Waffe gehalten und war sogar willens gewesen, mit ihr gegen die Gullyhexen anzutreten, aber ihm fiel ein, dass diese Tiere offenbar mit einer Kreatur der Finsternis den Boden aufgewischt hatten und schon eine Stunde später dasaßen und problemlos eine Packung Seifentoast fraßen. Kurz gesagt: Die waren ein paar Nummern zu groß für ihn. Wenn sie wollten, dass er das Seelenschiffchenholte, würde er das Seelenschiffchen holen. Aber nie im Leben würde er seine Tochter mit ihnen allein lassen. »Außerdem ist Alvin echt ein bescheuerter Name«, sagte er und schob seinen Degen in den Stock zurück.

Als Mrs. Korjew kam, hatte Charlie Sophie hingelegt, und ein düsteres Knäuel aus Höllenhunden schlummerte neben ihrem Bettchen und schnarchte große Wolken von zitrusfrischem Hundeatem in die Luft. Wahrscheinlich lag es an Charlies aufkeimendem Galgenhumor, denn er ließ Mrs. Korjew in Sophies Zimmer spazieren, ohne sie davor zu warnen, dass die Kleine zwei neue Haustiere hatte. Er schluckte sein Kichern herunter, als die Kosakenoma russisch fluchend rückwärts wieder aus dem Zimmer kam.

»Da sind große Hunde drinnen.«

»Ja, stimmt.«

»Aber nicht wie normale Riesenhunde. Die sind extra große, schwarze Tiere, die sind…«

»Wie Bär?«, soufflierte Charlie.

»Nein, >Bär< wollte ich nicht sagen, Mister Schlauberger. Nicht wie Bär. Wie Wolf, nur größer, kräftiger…«

»Wie Bär?«, meinte Charlie.

»Sie machen Ihrer Mutter Schande, wenn Sie so gemein sind, Charlie Asher.«

»Nicht wie Bär?«, fragte Charlie.

»Ist nicht wichtig jetzt. Ich bin nur überrascht. Wladlena ist alte Frau mit schwache Herz, aber lachen Sie nur. Ich werde mich setzen zu Sophie und große Hunde.«

»Danke, Mrs. Korjew. Die beiden heißen Alvin und Mohammed. Es steht auf ihren Halsbändern.«

»Haben wir Futter?«

»Da sind ein paar Steaks im Tiefkühler. Geben Sie einfach beiden eins und treten Sie einen Schritt zurück.«

»Wie mögen sie ihre Steaks?«

»Ich glaube, tiefgekühlt ist schon okay. Sie fressen wie…«

Warnend hob Mrs. Korjew ihren Zeigefinger, brachte ihn auf eine Linie mit dem Leberfleck an ihrer Wange, als nähme sie ihn ins Visier.

»…wie Pferde. Sie fressen wie Pferde«, sagte Charlie.

Mrs. Ling nahm ihre erste Begegnung mit Alvin und Mohammed keineswegs so gefasst wie ihre russische Nachbarin. »Aiiiiieeeeeeeeee! Riesenschicksen scheißen«, kreischte Mrs. Ling, während sie Charlie durch den Flur nachlief. »Bleiben stehen! Schicksen scheißen!«

Und als Charlie wieder in die Wohnung kam, lagen tatsächlich überall im Wohnzimmer große, dampfende Fladen herum. Alvin und Mohammed flankierten die Tür zu Sophies Zimmer wie massive chinesische Tempelhunde, auch wenn sie weniger furchteinflößend als eher kleinlaut und zerknirscht aussahen.

»Böse Hunde!«, sagte Charlie. »Mrs. Ling so zu erschrecken. Böse Hunde!« Einen Moment dachte Charlie daran, ihnen den Haufen des Anstoßes unter die Nase zu reiben, aber da er keinen Bagger hatte, um sie daran festzubinden, war er nicht sicher, wie er das machen sollte. »Ja, euch beide meine ich!«, fügte er mit besonders ernster Stimme hinzu.

»Tut mir leid, Mrs. Ling«, sagte Charlie zu der kleinwüchsigen Matrone. »Das sind Alvin und Mohammed. Ich hätte mich präziser ausdrücken sollen, als ich sagte, ich hätte zwei neue Haustiere für Sophie.« In Wahrheit hatte sich Charlie absichtlich vage ausgedrückt und eine hysterische Reaktion erhofft. Nicht dass er der alten Dame tatsächlich Angst einjagen wollte, aber Betamännchen sind nur selten in der Lage, andere Menschen physisch zu bedrohen, und wenn sie dann mal Gelegenheit dazu bekommen, büßen sie bisweilen ihre Urteilsfähigkeit ein.

»Sein okay«, sagte Mrs. Ling mit starrem Blick auf die Höllenhunde. Sie wirkte geistesabwesend, vermutlich weil sie es auch war. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, machte sie sich ans Kopfrechnen – ein Schnellfeuer-Abakus, der Gewicht und Volumen der beiden ponygroßen Hunde kalkulierte und sie in Koteletts, Steaks, Rippchen und Geschnetzeltes aufteilte.

»Sie kommen also zurecht?«, fragte Charlie.

»Nicht verspäten heute, okay?«, sagte Mrs. Ling. »Ich wollen zu Sears und mir ansehen eine Tiefkühltruh. Können Sie mir leihen eine Motorsäge?«

»Eine Motorsäge? Hm, nein, aber Ray vielleicht. In zwei Stunden bin ich wieder da«, sagte Charlie. »Aber lassen Sie mich erst das hier wegmachen.« Er ging in den Keller, um die Kohlenschaufel zu suchen, die sein Vater früher dort aufbewahrte.

Als sich ihre Wege an diesem Tag trennten, verließen sich Charlie und Mrs. Ling darauf, dass die hohe Haustiersterblichkeit in Sophies Umgebung bald schon sowohl das Hundehaufen-, als auch das Suppenproblem lösen würde. Was allerdings nicht der Fall sein sollte.

Nachdem mehrere Wochen ohne negative Folgen für die Höllenhunde verstrichen waren, fand sich Charlie mit dem Gedanken ab, dass die beiden möglicherweise wirklich die einzigen Haustiere waren, die Sophies Zuneigung überlebten. Oft genug fühlte er sich versucht, Minty Fresh anzurufen und ihn um Rat zu bitten, doch nachdem sein letzter Anruf unter Umständen überhaupt erst dafür gesorgt hatte, dass die Höllenhunde aufgetaucht waren, widerstand er dem Drang. Auch Lilys Recherchen brachten kaum Neues.

»Überall ist von ihnen die Rede«, erklärte Lily, als sie mit ihrem Handy aus der Bibliothek von Berkeley anrief. »Meistens geht es darum, dass sie Bluessängern auf den Fersen sind, und offenbar gibt es ein deutsches Roboterfußballteam mit dem Namen Hellhounds, aber das ist wohl eher nebensächlich. Allerdings taucht in mindestens einem Dutzend Kulturen der Hinweis auf, dass sie das Tor zwischen Leben und Tod bewachen.«

»Na, das macht doch Sinn«, sagte Charlie. »Mehr oder weniger. Da steht nicht zufällig, wo sich dieses Tor befindet, oder? Welche U-Bahn-Station?«

»Nein, Asher, das steht da nicht. Aber ich habe das Buch einer Nonne gefunden, die in den 1890er Jahren exkommuniziert wurde… total cool. Diese Bibliothek ist der Hammer. Neun Millionen Bücher oder so.«

»Ja, das ist toll, Lily. Und was erzählt die Exnonne?«

»Sie hatte diese ganzen Hinweise auf Höllenhunde zusammengetragen, und man war sich wohl einig, dass die Tiere dem Herrscher der Unterwelt direkt unterstellt sind.«

»Sie war Katholikin und glaubte an die Unterwelt?«

»Na ja, man hat sie aus der Kirche geworfen, nachdem sie dieses Buch geschrieben hatte, aber – ja – das hat sie gesagt.«

»Sie hat nicht zufällig eine Nummer hinterlassen, wo man die Tiere abgeben kann, oder?«

»Ich investiere hier meinen freien Tag, Asher. Ich tu dir einen Gefallen. Willst du weiter dumme Sprüche klopfen?«

»Nein, entschuldige, Lily. Erzähl.«

»Das war es schon. Es gibt keinen Ratgeber, was Pflege undFütterung angeht. Vor allem haben die Recherchen ergeben, dass es von Übel ist, Höllenhunde im Haus zu haben.«

»Wie heißt das Buch? Umfassende Einführung ins Offensichtliche

»Du weißt, dass du mich dafür bezahlst, oder? Zeit und Spesen.«

»Entschuldige. Ja. Ich sollte also versuchen, sie loszuwerden.«

»Sie fressen Menschen, Asher. Und was sagst du jetzt?«

In diesem Moment beschloss Charlie, dass er aktiver darauf hinarbeiten sollte, die monströsen Köter aus dem Haus zu schaffen.

Da er sich bei den Höllenhunden nur einer Sache sicher sein konnte, nämlich dass sie überall sein wollten, wo Sophie war, nahm er sie mit in den Zoo von San Francisco, sperrte sie im Lieferwagen ein und ließ den Motor laufen – nachdem er einen Staubsaugerschlauch vom Auspuff direkt zur Lüftung verlegt hatte. Nach einem – wie er fand – außergewöhnlich befriedigenden Rundgang durch den Zoo, bei dem kein einziges Tier unter den begeisterten Blicken seiner Tochter ins Gras gebissen hatte, kehrte Charlie zum Lieferwagen zurück und fand zwei komplett bekiffte, ansonsten aber unversehrte Höllenhunde vor, die versengten Plastikdampf ausrülpsten, nachdem sie seine Sitzbezüge aufgefressen hatten.

Diverse Experimente erbrachten, dass Alvin und Mohammed nicht nur den meisten Giften gegenüber immun waren, sondern dass sie geradezu süchtig waren nach dem Geschmack von Insektenspray. In der Woche, nachdem der Kammerjäger seine Quartalsreinigung vorgenommen hatte, leckten sie die Farbe von den Fußleisten in Charlies Wohnung.

Im Laufe der Zeit versuchte Charlie, die Gefahr, die von den Riesenhunden drohte, gegen den Schaden abzuwägen, den Sophies Psyche nehmen würde, wenn sie Zeugin deren Ablebens werden sollte, da sie die beiden offensichtlich in ihr Herz geschlossen hatte, also nahm er Abstand von direkteren Attacken und hörte auf, Cocktailwürstchen vor den 90er Schnellbus zu werfen. (Die Entscheidung wurde ihm dadurch erleichtert, dass die Stadt San Francisco Charlie mit einer Klage drohte, falls seine Hunde noch mal einen Totalschaden an einem der Busse verursachen sollten.)

Direkte Attacken waren Charlie ohnehin von jeher schwer gefallen (zumal die einzige Betamännchenkampfkunst gänzlich auf dem Entgegenkommen Fremder beruht), und somit brachte er das beängstigende Betamännchen-Kung-Fu passiver Aggressionen gegen die Höllenhunde zum Einsatz.

Er begann konservativ, fuhr mit ihnen im Lieferwagen hinüber zur East Bay, lockte sie mit einer Rinderhälfte ins Watt von Oakland und fuhr schnell weg, nur um sie dann zu Hause wieder anzutreffen, wo sie schon auf ihn warteten, nachdem sie das komplette Wohnzimmer mit einer Patina aus trocknendem Schlick überzogen hatten. Daraufhin verfolgte er eine indirektere Taktik, sperrte die Hunde in Kisten und schickte sie per Luftfracht nach Korea, in der Hoffnung, dass sie sich in einer Mahlzeit wiederfinden würden, nur um dann feststellen zu müssen, dass sie tatsächlich schon wieder im Laden hockten, bevor er die Hundehaare aus der Wohnung hatte fegen können.

Er dachte, er sollte vielleicht ihre ureigenen, natürlichen Instinkte nutzen, um sie zu vertreiben, und las im Internet, dass Leute eine Essenz aus Pumapisse auf Büsche und Blumen sprenkelten, damit die Hunde nicht darauf urinierten. Nach ausgiebiger Lektüre des Telefonbuchs fand er schließlich im Süden von San Francisco einen Outdoorladen, der ein anerkannter Berglöwenurinhändler war.

»Selbstverständlich führen wir Pumaharn«, sagte der Mann. Er klang, als trüge er eine Wildlederjacke und einen langen Bart, aber vielleicht war das auch nur Charlies Projektion.

»Und der vertreibt Hunde?«, fragte Charlie.

»Klappt wie geschmiert. Hunde, Rehe und Kaninchen. Wie viel brauchen Sie?«

»Ich weiß nicht. Fünfzig Liter vielleicht.«

Es folgte eine Pause, und Charlie war sicher, dass er hören konnte, wie der Mann Reste von Elchfleisch aus seinem Bart zupfte. »Wir haben Ein-, Zwei- und Fünf-Unzen- Fläschchen im Angebot.«

»Das wird nicht reichen«, sagte Charlie. »Können Sie mir nicht so was wie eine extragroße Sparpackung besorgen – vorzugsweise von einem Puma, der zwei Monate nur mit Hunden gefüttert wurde? Ich schätze, bei Ihnen dürfte es wohl domestizierte Pumapisse geben, oder? Ich meine, Sie gehen doch nicht raus in die Wildnis und sammeln sie selbst?«

»Nein, Sir. Ich glaube, man holt sie aus Zoos.«

»Das wilde Zeug ist wahrscheinlich besser, nicht?«, fragte Charlie. »Ich meine, sofern es zu beschaffen ist. Ich meine nicht von Ihnen persönlich. Ich wollte damit nicht andeuten, dass Sie da draußen in der Wildnis einem Berglöwen mit einem Messbecher in der Hand nachlaufen. Ich meinte einen professionellen… hallo?« Der bärtige Wildledermann hatte aufgelegt.

Also schickte Charlie Ray mit dem Lieferwagen in den Süden von San Francisco, um alles an Berglöwenharn zu kaufen, was man auf Lager hatte, aber am Ende hatte dies nur zur Folge, dass es im ganzen ersten Stock von Charlie Haus roch wie in einem Katzenklo.

Als klar wurde, dass nicht einmal die allerpassivsten Versuche Wirkung zeigen wollten, zog sich Charlie auf die ultimative Betamännchenattacke zurück, was bedeutete, dass er Alvins und Mohammeds Anwesenheit hinnahm, sie jedoch denkbar verächtlich behandelte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit schnippische Bemerkungen fallen ließ.

Die Höllenhunde zu füttern, das war, als schaufelte man Kohlen in zwei ausgehungerte Dampfmaschinen. Alle zwei Tage ließ Charlie fünfundzwanzig Kilo Hundefutter liefern, die sie in dicke Kacktorpedos verwandelten und draußen auf den Wegen um Ashers Secondhand fallen ließen, als wollten sie ihren eigenen Hundeblitzkrieg gegen die Nachbarschaft anzetteln.

Der Vorteil war, dass Charlie monatelang weder ein Fauchen aus den Gullys hörte, noch ominöse Rabenschatten an den Wänden sah, wenn er ein Seelenschiffchen holte. Und auch in dieser Hinsicht, der Totenboterei, dienten die Hunde ihrem Zweck, denn jedes Mal, wenn ein neuer Name auftauchte, zerrten sie Charlie zum Kalender, bis er das Seelending nach Hause brachte, so dass er zwei Jahre lang keinen Auftrag versäumte und nie zu spät kam, um eine Seele abzuholen. Natürlich begleiteten die großen Hunde Charlie und Sophie auf ihren Spaziergängen, die sie wieder aufgenommen hatten, nachdem Charlie sicher sein konnte, dass Sophie ihre spezielle »Sprachbegabung« unter Kontrolle hatte. Zwar mochten Alvin und Mohammed die größten Hunde sein, die man je gesehen hatte, aber sie waren wiederum nicht so groß, dass es nicht sein konnte, und überall fragte man Charlie, was für eine Rasse sie waren. Da er keine Lust auf ständige Erklärungen hatte, sagte er nur: »Es sind Höllenhunde«, und auf die Frage, woher er sie hatte, antwortete er: »Eines Tages saßen sie plötzlich im Kinderzimmer meiner Tochter und wollten nicht mehr weggehen«, woraufhin ihn die Leute nicht nur für einen Lügner, sondern auch noch für ein Arschloch hielten. Also modifizierte er seine Antwort zu: »Es sind Irische Höllenhunde«, was die Leute aus irgendeinem Grund kommentarlos akzeptierten (außer einem irischen Fußballfan in North Beach, der sagte: »Ich bin Ire, und die Scheißviecher sind nie im Leben irisch.« Woraufhin Charlie antwortete: »Halbiren.« Der Fußballfan nickte, als hätte er das längst gewusst, und fügte hinzu: »Krieg ich jetzt noch’n Bier, oder muss ich hier verwelken, Mädel?«)

Nach einer Weile hatte Charlie sogar seinen Spaß daran, der schräge Vogel mit dem süßen, kleinen Mädchen und den beiden Riesenhunden zu sein. Wenn man seine Identität geheim halten muss, weiß man ein wenig öffentliche Aufmerksamkeit zu schätzen. Was Charlie auch tat, bis zu jenem Tag, an dem er mit Sophie in einer Seitenstraße auf dem Russian Hill von einem bärtigen Mann mit langem Wollkaftan und Strickmütze angehalten wurde. Sophie war inzwischen alt genug, dass sie auch schon allein laufen konnte, obwohl Charlie eine Huckepack-Trageschlinge bei sich hatte, damit er sie auf den Rücken nehmen konnte, wenn sie müde wurde (meistens aber half er ihr nur, das Gleichgewicht zu halten, während sie auf dem Rücken von Alvin oder Mohammed ritt).

Der bärtige Mann kam Sophie etwas zu nah, woraufhin Mohammed knurrte und sich zwischen dem Mann und dem Kind aufbaute.

»Bei Fuß, Mohammed!«, sagte Charlie. Es hatte sich herausgestellt, dass Höllenhunde tatsächlich abzurichten waren, vor allem, wenn man ihnen etwas auftrug, was sie sowieso vorhatten. (»Friss, Alvin. Braver Hund. Mach dein Geschäft! Ausgezeichnet.«)

»Warum nennen Sie Ihren Hund Mohammed?«, fragte der Bärtige.

»Weil er so heißt.«

»Sie hätten Ihrem Hund nicht den Namen Mohammed geben sollen.«

»Ich habe dem Hund nicht den Namen Mohammed gegeben«, sagte Charlie. »Er hieß schon Mohammed, als ich ihn bekommen habe.«

»Es ist Gotteslästerung, einen Hund Mohammed zu nennen.«

»Ich habe versucht, ihm einen anderen Namen zu geben, aber er hört nicht. Hier: Steve, beiß dem Mann ins Bein! Sehen Sie? Nichts. Spot, reiss dem Mann das Bein aus! Nichts. Ich könnte ebenso gut Altpersisch sprechen. Sehen Sie, wie weit ich damit komme?«

»Nun, ich habe meinen Hund >Jesus< genannt. Wie finden Sie das?«

»Oh, das tut mir aber leid. Ich wusste ja nicht, dass Ihnen der Hund weggelaufen ist.«

»Mein Hund ist nicht weggelaufen.«

»Aber überall in der Stadt hängen diese Zettel, auf denen steht Haben Sie Jesus gefunden? Dann muss es wohl ein anderer Hund sein, der Jesus heißt. Hatten Sie eine Belohnung ausgesetzt? Eine Belohnung hilft, wissen Sie?« Charlie fiel auf, dass er in letzter Zeit zunehmend schwerer dem Drang widerstehen konnte, Leute zu verarschen, besonders wenn sie darauf bestanden, sich wie Idioten zu benehmen.

»Ich besitze gar keinen Hund, der Jesus heißt, aber das ist Ihnen ohnehin egal, denn Sie sind ein gottloser Ungläubiger.«

»Nein, ehrlich, Sie dürfen Ihren Hund nicht nennen, wie Sie wollen. Aber es stimmt: Ich bin ein gottloser Ungläubiger. So habe ich jedenfalls bei der letzten Wahl gestimmt.« Charlie grinste ihn an.

»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«, krähte derBärtige als Reaktion auf Charlies unwiderstehlichen Charme. Er tanzte herum und schüttelte die Faust vor dem Gesicht des Totenboten, was Sophie solche Angst einjagte, dass sie sich die Augen zuhielt und weinte.

»Hören Sie auf damit! Sie machen meiner Tochter Angst.«

»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«

Mohammed und Alvin hatten bald genug von diesem Tanz, setzten sich hin und warteten darauf, dass ihnen jemand sagte, sie sollten den Burschen im Nachthemd fressen.

»Es ist mein Ernst«, sagte Charlie. »Hören Sie auf damit!« Er sah sich um, peinlich berührt, aber es war sonst niemand auf der Straße.

»Tod den Ungläubigen. Tod den Ungläubigen«, leierte der Bärtige.

»Haben Sie eigentlich gesehen, wie groß diese Hunde sind, Mohammed?«

»Tod den… Hey, woher wissen Sie, dass ich Mohammed heiße? Egal. Macht auch nichts. Tod den Ungläubigen, Tod den…«

»Wow, Sie sind wirklich mutig«, sagte Charlie. »Aber Sophie ist ein kleines Mädchen, und sie machen ihr Angst. Sie sollten damit sofort aufhören.«

»Tod den Ungläubigen! Tod den Ungläubigen!«

»Mietzi«, sagte Sophie, nahm die Hände von den Augen und zeigte auf den Mann.

»Ach, Süße«, sagte Charlie, »ich dachte, das wollten wir nicht mehr tun.«

Charlie hob Sophie auf seine Schultern und ging weiter, führte die Höllenhunde fort von dem toten Bärtigen, der friedlich auf dem Gehweg lag. Er hatte die kleine Strickmütze des Mannes eingesteckt. Sie leuchtete mattrot. Seltsamerweise tauchte derName des Mannes am nächsten Morgen nicht in seinem Tagesplaner auf.

»Siehst du? Sinn für Humor ist wichtig«, sagte Charlie, schnitt eine Grimasse und drehte sich zu seiner Tochter um.

»Daddy spinnt«, sagte Sophie.

Später hatte Charlie ein schlechtes Gewissen, dass seine Tochter das »Mietzi«-Wort benutzte, und er bekam so ein Gefühl, als würde ein anständiger Vater diesem Erlebnis eine Art Bedeutung verleihen und ihr eine Lektion erteilen. Also hockte er sich mit Sophie zwischen ihre Teddybären – mit ein paar Tässchen unsichtbarem Tee, unsichtbaren Keksen und zwei Riesenhunden aus der Hölle – und führte mit ihr sein erstes offenes und ehrliches Vater-Tochter-Gespräch.

»Süße, du verstehst doch, warum Daddy dir gesagt hat, dass du das nie wieder tun sollst, oder? Warum die Leute nicht wissen dürfen, dass du es kannst…?«

»Wir sind anders als andere Leute?«, sagte Sophie.

»Stimmt genau, Süße, weil wir anders sind als andere Leute«, sagte er zu dem klügsten, hübschesten kleinen Mädchen auf der ganzen Welt. »Und du weißt auch, warum das so ist, stimmt’s?«

»Weil wir Chinesen sind und man den weißen Teufeln nicht trauen kann?«

»Nein, nicht weil wir Chinesen sind.«

»Weil wir Russen und unsere Herzen voller Trauer sind?«

»Nein, unsere Herzen sind nicht voller Trauer.«

»Weil wir stark sind wie Bär?«

»Ja, mein Schatz, das ist es. Wir sind anders, weil wir stark sind wie Bär.«

»Ich wusste es. Noch Tee, Daddy?«

»Ja, ich hätte gern noch etwas Tee, Sophie.«

»So«, sagte der Kaiser, »wie ich sehe, erfreut Ihr Euch der mannigfaltigen Annehmlichkeiten, mit denen Hunde das Leben eines Menschen bereichern können.«

Charlie saß auf der Hintertreppe seines Ladens, holte ganze Tiefkühlhühnchen aus einer Kiste und warf eines nach dem anderen Alvin und Mohammed zu. Die beiden schnappten so heftig danach, dass sowohl der Kaiser, als auch Bummer und Lazarus, die auf der anderen Straßenseite kauerten und die Höllenhunde misstrauisch beäugten, zusammenzuckten, als feuerte jemand eine Pistole ab.

»Mannigfaltige Annehmlichkeiten«, sagte Charlie und warf das nächste Hühnchen. »Genau so würde ich es nennen.«

»Es gibt keinen besseren, keinen treueren Freund als einen guten Hund«, sagte der Kaiser.

Charlie stutzte, denn er hatte kein Hühnchen aus der Kiste geholt, sondern einen Handmixer. »Ein wahrer Freund«, sagte Charlie. »Ein wahrer Freund.« Mohammed schnappte nach dem Mixer und würgte ihn hinunter, ohne zu kauen. Ein halber Meter Kabel hing aus seinem Maul.

»Schadet ihm das nicht?«, fragte der Kaiser.

»Ballaststoffe«, erklärte Charlie und warf Mohammed zur Verdauung ein kleines Hühnchen zu, das dieser mit dem Rest des Mixerkabels verschlang. »Es sind nicht wirklich meine Hunde. Sie gehören Sophie.«

»Ein Kind braucht ein Tier«, sagte der Kaiser, »einen Gefährten, mit dem es aufwachsen kann, obwohl ich nicht glaube, dass diese Burschen noch viel größer werden.«

Charlie nickte und warf Alvin die Lichtmaschine eines ’83er Buick in den Rachen. Man hörte ein Scheppern, und der Hund rülpste, aber sein Schwanz schlug wedelnd an den Müllcontainer, wollte mehr. »Die beiden sind immer bei ihr«, sagte Charlie. »Inzwischen haben wir sie wenigstens so weit abgerichtet, dass sie auch mal draußen vor der Tür warten. Eine Weile sind sie nicht von ihrer Seite gewichen. Der Badetag war eine echte Herausforderung.«

Der Kaiser sagte: »Ich glaube, es war der Dichter Billy Collins, der sagte: Niemand hier mag nasse Hunde.«

»Ja, und wahrscheinlich musste er auch nie ein zappelndes Kleinkind und Zweihundert-Kilo-Hunde aus dem Schaumbad heben.«

»Aber Ihr sagt, sie seien zahmer geworden?«

»Das mussten sie auch. Sophie geht jetzt zur Vorschule. Die Lehrerin hatte was gegen Monsterhunde in der Klasse.« Charlie warf Alvin einen Anrufbeantworter zu, und das Vieh zerkaute ihn wie einen Hundekuchen. Vollgesabberte Plastiksplitter rieselten aus seinem Maul.

»Was habt Ihr unternommen?«

»Es dauerte ein paar Tage, und ich musste einiges erklären, aber dann habe ich sie dazu gebracht, dass sie draußen vor dem Eingang sitzen bleiben.«

»Und der Lehrkörper hat eingewilligt?«

»Na ja, ich sprühe sie jeden Morgen mit Granitstruktur-Farb-spray ein und sage ihnen, sie sollen sich links und rechts der Tür hinsetzen. Sie scheinen niemandem aufzufallen.«

»Und sie gehorchen? Den ganzen Tag?«

»Es ist ja nur ein halber Tag. Sie ist erst im Kindergarten. Und man muss ihnen einen Keks versprechen.«

»Alles hat seinen Preis. Darf ich?« Der Kaiser nahm ein Tiefkühlhühnchen aus der Kiste.

»Bitte.« Charlie machte eine Geste.

Der Kaiser warf das Hühnchen Mohammed zu, der es mit einem einzigen Bissen hinunterschlang.

»Junge, das macht Spaß!«, sagte der Kaiser.

»Das ist noch gar nichts«, sagte Charlie. »Wenn man sie mit kleinen Gaszylindern füttert, spucken sie Feuer.«

15

Lockruf des Leibes

»Fickpuppen«, sagte Ray aus heiterem Himmel.

Er war auf dem Stepper neben Charlie, und beide schwitzten und starrten sechs wohlgeformte Frauenhintern auf den Geräten gegenüber an.

»Wie bitte?«, sagte Charlie.

»Fickpuppen«, sagte Ray. »Nicht mehr und nicht weniger.«

Ray hatte Charlie überredet, ihn in seinen Fitnessclub zu begleiten, unter dem Vorwand, ihn ans Single-Dasein zu gewöhnen. Als Excop beobachtete Ray die Menschen eingehender, als gut für ihn war. Er hatte zu viel Freizeit und kam nicht oft vor die Tür, und so nahm er Charlie in Wahrheit mit zum Sport, um ihn außerhalb des Ladens besser kennen zu lernen. Ihm war aufgefallen, dass sich seltsame Dinge ereigneten, seit Rachel tot war, dass Gegenstände auftauchten, kurz nachdem Leute gestorben waren, und da Charlie nichts dazu sagte und ein Geheimnis darum machte, was er so trieb, wenn er nicht im Laden war – ganz zu schweigen von den vielen kleinen Tieren, die in Charlies Wohnung zu Tode kamen -, hegte Ray den Verdacht, er könne ein Serienkiller sein.

»Nicht so laut, Ray«, sagte Charlie. »Meine Güte…« Da Ray seinen Kopf nicht drehen konnte, sprach er die Frauen direkt an.

»Die können mich nicht hören. Sie haben alle Headsets auf.« Er hatte Recht. Alle telefonierten mit ihren Handys. »Für die sind wir doch sowieso unsichtbar.«

Da er tatsächlich schon unsichtbar gewesen war, zumindest mehr oder weniger, musste Charlie zweimal hinsehen. Es war Vormittag, und im Fitnessclub drängten sich magere Mittzwanzigerinnen in Aerobicanzügen, allesamt mit überproportional großen Brüsten, makelloser Haut und kostspieligen Frisuren. Sie schienen ihn überhaupt nicht zu sehen, genau wie die Leute, bei denen er Seelenschiffchen abholte. Als Charlie in den Fitnessclub gekommen war, hatte er sich allen Ernstes erst mal umgesehen, ob er etwas Rotleuchtendes fand, denn er dachte, er hätte vielleicht am Morgen einen Namen im Kalender übersehen.

»Nach meiner Verwundung war ich eine Weile mit einer Physiotherapeutin zusammen, die hier gearbeitet hat«, sagte Ray. »Die hat sie immer so genannt. Deren Wohnungen werden allesamt von irgendwelchen älteren Vorstandsmitgliedern bezahlt – genauso wie die Mitgliedschaft im Fitnessclub und die falschen Titten. Ihre Tage verbringen sie mit Gesichtsmasken und Maniküren und ihre Nächte mit Geschäftsleuten auf Abwegen.«

Charlie fühlte sich bei Rays Erläuterungen ausgesprochen unwohl, zumal er über Frauen sprach, die kaum einen Meter entfernt waren. Wie alle Betamännchen fühlte er sich in Gegenwart so vieler schöner Frauen ohnehin unwohl, doch das machte alles nur noch schlimmer.

»Also sind sie wie Vorzeigefrauen?«, sagte Charlie.

»Hm-hm, eher Möchtegern-Vorzeigefrauen. Sie kriegen weder den Mann, noch das Haus oder sonst was. Sie existieren nur, um ihm ein hübscher Arsch zu sein.«

»Fickpuppen?«, sagte Charlie.

»Fickpuppen«, sagte Ray. »Vergiss es. Ihretwegen sind wir nicht hier.«

Da hatte Ray natürlich Recht. Ihretwegen war Charlie nicht dort. Seit Rachels Tod waren fünf Jahre vergangen, und alle hatten ihm gesagt, er müsse sich wieder ins Leben stürzen, aber deshalb hatte er sich nicht darauf eingelassen, mit dem Excop in einen Fitnessclub zu gehen. Da Charlie zu viel Zeit allein verbrachte, besonders seit Sophie zur Schule ging, und da er eine geheime Identität zu verbergen hatte, verdächtigte er jedermann, ebenfalls eine zu haben. Und da Ray für sich blieb, viel über Leute redete, die im Viertel gestorben waren, und da er – abgesehen von den Filipinas, mit denen er online verkehrte – kein Privatleben zu haben schien, verdächtigte er Ray, ein Serienkiller zu sein. Charlie dachte, er sollte sich Ray mal näher ansehen. Vielleicht konnte er was rausfinden.

»Also sind sie Mätressen?«, sagte Charlie. »Wie in Europa?«

»Könnte sein«, sagte Ray. »Aber hattest du je den Eindruck, dass Mätressen so hart daran arbeiten, gut auszusehen? Ich finde >Fickpuppen< zutreffender, denn wenn sie so alt werden, dass ihr Geliebter sie verschmäht, läuft für sie nichts mehr. Sie sind am Ende wie Marionetten, mit denen keiner spielt.«

»Meine Güte, Ray… das ist bitter.« Vielleicht stellt Ray einer dieser Frauen nach, dachte Charlie.

Ray zuckte mit den Schultern.

Charlie sah sich die Reihe adretter Hinterteile an, dann spürte er die Last seiner einsamen Jahre in Gesellschaft eines Kindes und zweier Riesenhunde, und sagte: »Ich will eine Fickpuppe.«

Aha! dachte Ray. Er sucht sich ein Opfer. »Ich auch«, sagte er. »Aber Männer wie wir kriegen keine Fickpuppen, Charlie. Die ignorieren uns einfach.«

Aha! dachte Charlie, da kommt der bittere Soziopath zum Vorschein. »Hast du mich hergeschleift, damit ich vor bildschönen Frauen, die mich nicht wahrnehmen, zeigen kann, dass ich nicht gut in Form bin?«

»Nein, die Fickpuppen sind hübsch anzuschauen, aber es kommen auch ganz normale Frauen hierher.« Die ebenso wenig mit mir reden wollen, dachte Ray.

»Die ebenso wenig mit dir reden wollen«, sagte Charlie. Weil sie merken, dass du ein Psychokiller bist.

»Das sehen wir nach dem Training in der Saftbar«, sagte Ray. Wo ich mich so platzieren werde, dass ich mitbekomme, wie du dir dein Opfer suchst.

Du krankes Schwein, dachten beide.

Als Charlie aufwachte, fand er nicht nur einen Namen, sondern gleich drei auf seinem Kalender vor, und bei dem letzten, einer gewissen Madison McKerny, blieben ihm nur drei Tage Zeit, ihr Seelenschiffchen abzuholen. Charlie hatte einen ganzen Stapel Zeitungen im Haus und suchte den letzten Monat nach einer Todesanzeige dieser Klientin ab. Meist – wenn ihn die Höllenhunde in Ruhe ließen – wartete er einfach, bis der Name in den Anzeigen auftauchte, dann machte er sich auf die Suche nach dem Seelenschiffchen, wenn er problemlos mit den Trauernden oder einem Immobilienmakler ins Haus gelangen konnte. Aber ihm blieben nur drei Tage, und Madison McKerny war in den Todesanzeigen nicht aufgetaucht, was bedeutete, dass sie noch lebte, und im Telefonbuch konnte er sie auch nicht finden, also würde er sich beeilen müssen. Mrs. Ling und Mrs. Korjew erledigten samstags ihre Einkäufe, und deshalb rief er seine Schwester Jane an, damit sie auf Sophie aufpasste.

»Ich möchte einen kleinen Bruder«, verkündete Sophie ihrer Tante Jane.

»Oh, Liebes, das tut mir leid. Du wirst keinen kleinen Bruder bekommen, weil es bedeuten würde, dass dein Daddy Sex haben müsste, und das wird nicht wieder vorkommen.«

»Jane, rede nicht so mit ihr«, sagte Charlie. Er machte ihnen Sandwiches und fragte sich, wieso er das eigentlich immer machen musste. Zu Sophie sagte er: »Süße, warum gehst du nicht in dein Zimmer und spielst mit Alvin und Mohammed, hm? Daddy muss mal mit Tante Jane sprechen.«

»Okay«, sagte Sophie und hüpfte los.

»Und zieh dir nicht schon wieder was anderes an. Deine Sachen sind gut so«, sagte Charlie. »Heute hat sie sich schon viermal umgezogen«, sagte er zu Jane. »Sie wechselt ihre Kleidung wie du deine Freundinnen.«

»Danke. Sei nett und freundlich, Chuck. Ich bin sensibel, und ich könnte dir immer noch in den Arsch treten.«

Charlie klatschte Mayonnaise auf eine Scheibe Weißbrot. »Jane, ich bin mir nicht sicher, ob es gut für sie ist, so viele verschiedene Tanten um sich zu haben. Es war für sie schon schwer genug, ihre Mutter zu verlieren, und jetzt bist du auch noch weggezogen – ich bin der Meinung, sie sollte sich gar nicht erst an Frauen gewöhnen, die dann doch aus ihrem Leben gerissen werden. Sie braucht einen dauerhaften, weiblichen Einfluss.«

»Erstens bin ich nicht weggezogen. Ich wohne in der Nähe, und ich sehe sie noch genauso oft wie früher. Zweitens ist es nicht so, als würde ich häufig meine Partnerinnen wechseln. Ich bin bloß unfähig, was Beziehungen angeht. Und drittens bin ich jetzt drei Monate mit Cassie zusammen, und bis jetzt verstehen wir uns gut. Und viertens hat Sophie ihre Mutter nicht verloren. Sie hatte nie eine Mutter, sie hatte dich, und wenn du ein anständiges menschliches Wesen werden willst, solltest du endlich mal wieder eine Nummer schieben.«

»Genau das meinte ich. So kannst du nicht reden, wenn Sophie dabei ist.«

»Charlie, es stimmt doch! Sogar Sophie merkt es. Sie weiß nicht mal, was es ist, und kann dir trotzdem sagen, dass du es nicht kriegst.«

Charlie hörte auf, Sandwiches zu basteln, und kam an den Tresen. »Es ist nicht der Sex, Jane, es ist der menschliche Kontakt. Neulich habe ich mir die Haare schneiden lassen. Als die Friseuse ihre Brust an meine Schulter gedrückt hat, bin ich fast gekommen. Danach habe ich fast geheult.«

»Klingt für mich nach Sex, kleiner Bruder. Warst du mit jemandem zusammen, seit Rachel tot ist?«

»Das weißt du ganz genau.«

»Es ist nicht richtig. Rachel würde es so nicht wollen. Das musst du doch wissen. Ich meine, sie hatte Mitleid mit dir und hat sich auf dich eingelassen, und das wird nicht leicht für sie gewesen sein, denn sie wusste ja, dass sie es besser hätte treffen können.«

»Sie hatte Mitleid mit mir?«

»Sag ich doch. Sie war ein Schatz, und du bist jetzt um einiges jämmerlicher als damals. Du hattest mehr Haare, du hattest kein Kind und keine zwei Volvo-großen Hunde. Gott im Himmel, wahrscheinlich gibt es irgendwo ein Kloster mit Nonnen, die es dir machen würden – als Akt der Gnade. Oder der Buße.«

»Hör auf damit, Jane.«

»Die Schwestern vom Immerwährenden Pimperlosen Leiden.«

»So schlimm bin ich nicht«, sagte Charlie.

»Der Orden vom Heiligen Ständer, dem Schutzheiligen der unverbesserlichen Onanisten.«

»Okay, Jane. Es tut mir leid, dass ich gesagt habe, du würdest deine Freundinnen zu oft wechseln. Das war anmaßend.«

Jane lehnte sich auf ihrem Barhocker zurück und verschränkte die Arme, schien zufrieden, aber skeptisch. »Es ändert nichts an dem Problem.«

»Mir geht es gut. Ich habe Sophie und den Laden. Ich brauche keine Freundin.«

»Eine Freundin? Eine Freundin ist ein zu ehrgeiziges Ziel für dich. Du brauchst nur jemanden, mit dem du Sex haben kannst.«

»Tu ich nicht.«

»Tust du wohl.«

»Tu ich wohl«, sagte Charlie und gab sich geschlagen. »Aber ich muss los. Ist es okay, wenn du auf Sophie aufpasst?«

»Klar, ich nehm sie mit zu mir. Da gibt es einen ekelhaften Nachbarn oben an der Straße, dem ich gern mal die beiden Welpen vorstellen möchte. Scheißen die eigentlich auch auf Kommando?«

»Wenn Sophie es ihnen sagt…«

»Perfekt. Wir sehen uns heute Abend. Versprich mir, dass du eine ansprichst und fragst, ob sie mit dir ausgeht, oder dass du dich zumindest nach einer umsiehst, die du fragen könntest, ob sie mit dir ausgehen würde.«

»Versprochen.«

»Gut, hast du diesen neuen Nadelstreifenanzug schon ändern lassen?«

»Finger weg von meinem Schrank.«

»Musst du nicht los?«

Ray vermutete, dass es mit dem Mord an den Kleintieren losgegangen war, die Charlie seiner Tochter mitgebracht hatte. Vielleicht waren die großen, schwarzen Hunde nur ein Hilfeschrei – Tiere, bei denen man es wirklich merken würde, wenn sie nicht mehr da wären. Nach den Kinofilmen zu urteilen, fingen sie alle so an – mit kleinen Tieren, bis sie sich bald zu Tramperinnen und Prostituierten hochgearbeitet hatten, und über kurz oder lang mumifizierten sie eine ganze Mannschaft von Betreuern in einem abgelegenen Sommercamp und setzten die luftgetrockneten Überreste in einer Berghöhle um einen Spieltisch. Die Berghöhle passte nicht zu Charlies Profil, weil er Allergiker war, aber vielleicht deutete es auch nur auf sein diabolisches Genie hin. (Ray war Streifenpolizist gewesen und nicht für Täterprofile ausgebildet, so dass seine Theorien meist etwas zu farbenfroh gerieten, ein Nebeneffekt der Betamännchenphantasie und seiner umfangreichen DVD-Sammlung.)

Allerdings hatte Charlie Ray ein halbes Dutzend Mal gebeten, seine Kontakte bei Polizei und Verkehrsbehörde zu nutzen, um Leute aufzutreiben, die dann eine Woche später tot aufgefunden wurden. Nur handelte es sich nicht um Morde. In den letzten Jahren waren im Laden oft genug Dinge aufgetaucht, die kürzlich Verstorbenen gehört hatten, von denen jedoch niemand ermordet worden war (ein gutes Dutzend dieser Gegenstände besaß eingeätzte Registriernummern, und Ray hatte sie an einen Freund bei der Polizei weitergegeben). Es gab ein paar Unfälle, vor allem aber natürliche Todesursachen. Entweder war Charlie außergewöhnlich durchtrieben, oder Ray hatte den Verstand verloren, eine Möglichkeit, die nicht gänzlich auszuschließen war, und sei es nur, weil er drei Exfrauen hatte, die das sicher bestätigt hätten. Deshalb hatte er sich die List mit dem Training ausgedacht, um Charlie aus der Reserve zu locken. Andererseits hatte Charlie ihn immer gut behandelt, und falls es keine Berghöhle voller Betreuer gab, sollte Ray sich schämen, dass er ihn hintergangen hatte.

Was wäre, wenn mit Charlie alles in Ordnung war und er nur mal wieder einen wegstecken musste?

Ray chattete gerade mit Eduardo, seiner neuen Freundin bei Desperate Filipinas Dot Com, als Charlie die Hintertreppe herunterkam.

»Ray, du musst jemanden für mich suchen.«

»Moment mal eben. Ich muss mich kurz verabschieden. Guck mal, Charlie: meine neue Flamme.« Ray klickte das Foto einer heftig geschminkten, aber attraktiven Asiatin auf den Bildschirm.

»Sie ist hübsch, Ray. Leider kann ich dich im Moment nicht auf die Philippinen fliegen lassen. Vorher brauchen wir jemanden, der Lilys Schichten übernimmt.« Charlie ging näher an den Bildschirm. »Mein Freund… sie heißt Eduardo.«

»Ich weiß. Typisch Filipino – wie Edwina.«

»Sie hat einen Bartschatten.«

»Das ist rassistisch. Manche Rassen haben eben mehr Gesichtsbehaarung als andere. Das ist mir egal. Ich suche jemanden, der ehrlich und liebevoll und attraktiv ist.«

»Sie hat einen Adamsapfel.«

Ray sah sich den Bildschirm noch mal genauer an, dann schaltete er den Monitor aus und rotierte auf seinem Hocker herum. »Wen soll ich also für dich suchen?«

»Ist schon okay, Ray«, sagte Charlie. »Ein Adamsapfel muss nicht heißen, dass jemand nicht ehrlich, liebevoll und attraktiv sein kann. Es ist nur weniger wahrscheinlich.«

»Stimmt. Ich glaube, das Foto war nur schlecht ausgeleuchtet. Egal, wen musst du finden?«

»Ich weiß nur den Namen: Madison McKerny. Ich weiß, dass er oder sie in unserer Stadt wohnt, aber das ist auch schon alles.«

»Es ist eine sie

»Bitte?«

»Madison. Das ist ein Strippername.«

Charlie schüttelte den Kopf. »Du kennst die Frau?«

»Der Name kommt mir bekannt vor, aber… nein. Madison ist ein Strippername der neuen Generation. Wie Reagan und Morgan.«

»Keine Ahnung, Ray.«

»Ich hab viel Zeit in Stripläden verbracht, Charlie. Ich bin nicht stolz darauf, aber so lebt man nun mal als Bulle. Und man schnappt auf, woher die Strippernamen kommen.«

»Das wusste ich nicht.«

»Ja, und da gibt es eine gewisse Entwicklung, die sich bis in die Fünfziger zurückverfolgen lässt. Aus Bubbles, Boom Boom und Blaze wurden Bambi, Candy und Jewel, dann Sunshine, Brandy und Cinnamon, dann Amber, Brittany und Brie, dann Reagan, Morgan und Madison. Madison ist ein Strippername.«

»Ray, in den Fünfzigern warst du noch gar nicht auf der Welt.«

»Nein. Und ich war auch in den Vierzigern noch nicht auf der Welt, und trotzdem kenne mich mit dem Zweiten Weltkrieg und den Big Bands aus. Ich steh auf Geschichte.«

»Gut. Ich suche also nach einer Stripperin? Das hilft mir auch nicht weiter. Wo soll ich anfangen?«

»Lass mich beim Verkehrsamt fragen und die Akten beim Finanzamt durchsehen. Wenn sie hier in der Stadt wohnt, haben wir ihre Adresse heute Nachmittag. Was willst du von ihr?«

Eine Pause entstand, in der Charlie so tat, als hätte er auf dem gläsernen Tresen einen Fleck entdeckt. Er wischte daran herum und sagte dann: »Äh, es geht um eine Erbschaft. Bei einem der Nachlässe, die wir vor kurzem bekommen haben, waren ein paar Sachen, die ihr gehören.«

»Sollte sich darum nicht der Testamentsvollstrecker kümmern? Oder ein Anwalt?«

»Es sind Kleinigkeiten, im Testament nicht aufgeführt. Der Testamentsvollstrecker hat gefragt, ob ich mich darum kümmern könnte. Für dich sind fünfzig Dollar drin.«

Ray grinste. »Ist schon okay. Ich wollte dir sowieso helfen, aber wenn sie wirklich eine Stripperin ist, komm ich mit, okay?«

»Abgemacht«, sagte Charlie.

Drei Stunden später gab Ray Charlie die Adresse und beobachtete, wie sein Chef aus dem Laden rannte und sich ein Taxi heranwinkte. Wozu ein Taxi? Wieso nahm er nicht den Lieferwagen? Ray wollte ihm folgen, musste ihm folgen, aber erst musste er jemanden finden, der sich um den Laden kümmerte. Er hätte es kommen sehen können, aber er war abgelenkt gewesen.

Den ganzen Nachmittag war Ray schon abgelenkt gewesen, nicht nur von der Suche nach Madison McKerny, sondern auch, weil er krampfhaft überlegte, wie er »Hast du einen Penis?« beiläufig ins Gespräch mit seiner angebeteten Eduardo einflechten konnte. Nach ein paar neckischen E-Mails hielt er es nicht länger aus und tippte einfach: »Eduardo, nicht dass es von Bedeutung wäre, aber ich würde Dir gern eine Freude machen und etwas sexy Unterwäsche schicken, und da habe ich mich gefragt, ob das Höschen einen zusätzlichen Stauraum haben sollte.«

Dann wartete er. Und wartete. Zugegeben, in Manila war es fünf Uhr morgens, aber im Nachhinein machte er sich doch Vorwürfe. Hatte er sich zu vage ausgedrückt – oder nicht vage genug? Und jetzt konnte er nicht mehr warten. Er wusste, wohin Charlie fuhr, aber er musste dort sein, bevor irgendwas passierte. Er rief Lilys Handy an, in der Hoffnung, dass sie nicht bei ihrem anderen Job arbeitete und ihm einen Gefallen tun würde.

»Sprich, Undankbarer.«

»Woher wusstest du, dass ich es bin?«, fragte Ray.

»Ray?«

»Ja, woher wusstest du, dass ich es bin?«

»Wusste ich nicht«, sagte Lily. »Was willst du?«

»Könntest du für ein paar Stunden rüber in den Laden kommen?« Dann, als er hörte, wie sie tief Luft holte, und ziemlich sicher war, dass sie ihn gleich beschimpfen würde, fügte er hinzu: »Fünfzig Dollar sind für dich drin.« Ray hörte sie ausatmen. Ja! Nach ihrem Abschluss am Culinary Institute hatte Lily einen Job als stellvertretende Küchenchefin in einem Bistro in North Beach gefunden, aber noch verdiente sie nicht genug, dass sie bei ihrer Mutter ausziehen konnte, und deshalb hatte Charlie sie überreden können, ein paar Schichten in Ashers Secondhand einzuschieben, wenigstens bis Ersatz gefunden war.

»Okay, Ray, ich pass ein paar Stunden auf, aber um fünf muss ich im Restaurant sein, also komm nicht wieder zu spät, sonst schließ ich den Laden ab.«

»Danke, Lily.«

Charlie hoffte ehrlich, dass Ray kein Serienkiller war, trotz aller gegenteiligen Indizien. Ohne Rays Polizeikontakte hätte er diese Frau nie gefunden, und was sollte er in Zukunft machen, wenn er jemanden suchte und Ray im Gefängnis saß? Andererseits lag es vielleicht an Rays Erfahrung als Polizist, dass es keine Beweise gab. Warum allerdings sollte er im Internet philippinische Frauen suchen, wenn er jemanden umbringen wollte? Hatte er es vielleicht getan, als er auf die Philippinen geflogen war, um angeblich seine Geliebte zu besuchen? Hatte er verzweifelte Filipinas ermordet? Vielleicht war Ray ein touristischer Serienmörder. Darum kümmerst du dich später, dachte Charlie. Vorerst musste er ein Seelenschiffchen holen.

Charlies Taxi hielt vor dem Fontana, einem Apartmentkomplex, einen Block vom Ghirardelli Square entfernt, dieser alten Schokoladenfabrik unten am Hafen, die man zur Touristenmeile umgebaut hatte. Das Fontana war ein mächtiger, geschwungener Bau aus Glas und Beton, über den die Bewohner San Franciscos schon lästerten, seit er in den Sechzigerjahren errichtet worden war. Es lag nicht daran, dass er hässlich war, obwohl dem niemand widersprochen hätte, aber umzingelt von viktorianischen und edwardianischen Häusern wirkte er wie eine monströse Klimaanlage aus dem All, die in einem historischen Stadtviertel notgelandet war. Allerdings boten die Wohnungen einen wunderbaren Ausblick, es gab einen Portier, eine Tiefgarage und einen Pool auf dem Dach, so dass es – wenn man mit dem Stigma leben konnte, in einem architektonischen Sonderling zu wohnen – großartige Wohnqualität zu bieten hatte.

Die Adresse, die ihm Ray für diese Madison genannt hatte, befand sich im einundzwanzigsten Stock, wie auch – vermutlich – ihr Seelenschiffchen. Charlie war nicht sicher, wie weit seine Unbemerkbarkeit reichte (er wollte sie nicht als Unsichtbarkeit betrachten, denn das war sie nicht), hoffte aber, sie reichte einundzwanzig Stockwerke hoch. Er würde am Portier vorbeigehen müssen, wenn er zum Fahrstuhl wollte, und konnte sich nicht als Nachlasskäufer ausgeben.

Tja, wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wenn man ihn schnappte, musste er sich eben was anderes einfallen lassen. Er wartete vor der Tür, bis eine junge Frau im eleganten Hosenanzug hineinging, dann folgte er ihr durch die Tür in die Lobby. Der Portier würdigte ihn keines Blickes.

Ray sah, wie Charlie aus dem Taxi stieg, und ließ seinen Fahrer am nächsten Block halten. Dort sprang er auf den Gehweg, warf dem Mann einen Fünfer zu, sagte ihm, er solle den Rest behalten, dann suchte er in seinen Taschen nach dem Geld, das noch fehlte, während der Fahrer ungeduldig auf sein Lenkrad eintrommelte und ihn leise auf Urdu verfluchte.

»Tut mir leid. Bin wohl schon lange nicht mehr Taxi gefahren«, sagte Ray. Er besaß ein Auto, einen schmucken, kleinen Toyota, aber der einzige freie Parkplatz weit und breit befand sich acht Blocks entfernt von seiner Wohnung, auf dem Hof eines Hotels, das ein Freund von ihm leitete, und wer in San Francisco einen Parkplatz gefunden hatte, behielt ihn, so dass sich Ray meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln vorwärts bewegte und das Auto nur an seinen freien Tagen nahm, um die Batterie aufzuladen. Draußen vor Charlies Laden war er in ein Taxi gesprungen und hatte laut gerufen: »Folgen Sie diesem Wagen!«, was der japanischen Familie im Fond einen ordentlichen Schrecken einjagte.

»’Tschuldigung«, sagte Ray. »Konichiwa. Bin wohl schon lange nicht mehr Taxi gefahren.« Dann stieg er wieder aus und nahm ein Taxi, das noch keinen Fahrgast hatte.

Eilig lief er die Straße hinauf, huschte vom Laternenpfahl zum Zeitungskasten, dann zur Bank an der Bushaltestelle, duckte sich jedes Mal dahinter und lief gebückt weiter, was rein gar nichts brachte, abgesehen davon, dass er sich vor dem Jungen, der auf der anderen Straßenseite auf den Bus wartete, zum Vollidioten machte. Er kam zur Einfahrt der Tiefgarage vom Fontana, als Charlie eben die Tür ansteuerte. Ray kauerte hinter dem Pfeiler bei der Schranke.

Er war nicht sicher, was er tun sollte, wenn Charlie ins Gebäude ging. Glücklicherweise hatte er sich Madison McKernys Telefonnummer eingeprägt und konnte sie warnen, dass Charlie unterwegs war. Im Taxi auf dem Weg hierher war ihm eingefallen, wo er ihren Namen schon mal gesehen hatte: auf der Namensliste in seinem Fitnessclub. Madison McKerny war eine der morgendlichen Fickpuppen aus dem Club, und genau wie Ray vermutet hatte, stellte Charlie ihr nach.

Er sah, dass Charlie einer jungen Frau im grauen Kostüm folgte, die auf den Eingang zum Fontana zusteuerte, dann war Charlie weg. Einfach weg.

Ray trat ein Stück auf den Bürgersteig hinaus, um besser sehen zu können. Die Frau war noch da, hatte erst ein paar Schritte zurückgelegt, nur war von Charlie nichts zu sehen. Es gab keine Büsche, keine Mauern, die verdammte Lobby bestand komplett aus Glas. Was war mit ihm passiert? Ray war sicher, dass er sich nicht abgewendet hatte, konnte sich nicht mal erinnern, geblinzelt zu haben, und ihm wäre kein Haken entgangen, den Charlie möglicherweise geschlagen haben mochte.

Als er der Neigung des Betamännchens nachgab, stets sich selbst die Schuld zu geben, überlegte Ray, ob er vielleicht einen epileptischen Anfall erlitten hatte und eine Sekunde weggetreten war. Egal, in jedem Fall musste er Madison McKerny warnen. Er griff nach seinem Gürtel und ertastete den leeren Handy-Clip, dann fiel ihm ein, dass er sein Telefon unter den Tresen gelegt hatte, als er am Morgen zur Arbeit gekommen war.

Charlie fand die richtige Wohnung und klingelte. Wenn er Madison McKerny dazu bewegen konnte, auf den Flur herauszutreten, wollte er sich an ihr vorbeischieben und die Wohnung nach ihrem Seelenschiffchen durchsuchen. Am Ende des Korridors stand ein Tisch mit einem Plastikblumenstrauß. Er hatte ihn umgekippt, in der Hoffnung, sie wäre neurotisch oder neugierig genug, ihre Wohnung zu verlassen, um es sich genauer anzusehen. Falls sie nicht zu Hause war, musste er einbrechen. Die Chancen standen gut, dass sie – da es unten einen Portier gab – keine Alarmanlage hatte. Doch was war, wenn sie ihn sehen konnte? Manchmal konnten sie es, die Klienten. Nicht oft, aber es kam vor und…

Sie öffnete die Tür.

Charlie hielt die Luft an. Sie war atemberaubend. Charlie erstarrte und glotzte ihre Brüste an.

Es lag nicht daran, dass sie eine junge, hinreißende Brünette mit wunderschönem Haar und wunderschöner Haut war, und auch nicht daran, dass sie einen dünnen, weißen Seidenmantel trug, der ihre blendende Bikini-Figur kaum verbergen konnte. Ebenso wenig lag es daran, dass sie überproportional große, muntere Brüste besaß, die dem Seidenmantel zu entkommen suchten und aus dem tiefen Dekolletee lugten, als sie sich in der Tür nach vorn beugte, obwohl das allein schon genügt hätte, dem glücklosen Betamännchen den Atem zu rauben. Es lag daran, dass ihre Brüste rot leuchteten, durch den Seidenstoff hindurch, wie zwei aufgehende Sonnen, pulsierend wie die Glühbirnenbrüste einer kitschigen, hawaiischen Hulamädchenlampe. Madison McKernys Seele residierte in ihren Brustimplantaten.

»Wie soll ich da denn rankommen?«, sagte Charlie, der vergessen hatte, dass er nicht allein war und nicht nur mit sich selbst sprach.

In diesem Augenblick merkte Madison McKerny, dass sie nicht allein war, und das Geschrei ging los.

16

Lockruf des Leibes II: Requiem für eine Fickpuppe

Ray riss die Tür mit solchem Schwung auf, dass das kleine Glöckchen aus der Halterung flog und quer über den Boden bimmelte.

»O mein Gott!«, rief Ray. »Du wirst es nicht glauben. Ich kann es selbst nicht fassen.«

Lily sah Ray über ihre Lesebrille hinweg an und legte das französische Kochbuch weg, in dem sie gerade blätterte. Im Grunde brauchte sie gar keine Brille, aber darüber hinwegzublicken strahlte so etwas Herablassendes, Verächtliches aus, was ihr – wie sie fand – gut zu Gesicht stand.

»Ich hab dir auch was zu erzählen«, sagte Lily.

»Nein!«, sagte Ray und sah sich im Laden um, weil er sichergehen wollte, dass sie allein waren. »Was ich dir zu sagen habe, ist wirklich dringend.«

»Okay«, sagte Lily, »meines ist mir nicht so wichtig. Mach du erst.«

»Okay.« Ray holte tief Luft und legte los. »Ich glaube, es könnte sein, dass Charlie ein Serienkiller mit Ninja-Kräften ist.«

»Wow, nicht schlecht«, sagte Lily. »Okay, jetzt ich. Eine gewisse Miss Me-So-Horny hat für dich angerufen. Sie wollte dirmitteilen, dass sie mit zwanzig Zentimeter lüsternem Gemächte ausgestattet ist.« Lily hielt Rays Handy hoch, das er unter dem Tresen liegen gelassen hatte.

»O mein Gott. Nicht schon wieder!« Ray schlug die Hände vors Gesicht und sank gegen den Tresen.

»Sie hat gesagt, sie kann es kaum erwarten, dich daran teilhaben zu lassen.« Lily betrachtete ihre Fingernägel. »Und Asher ist also ein Ninja?«

Ray blickte auf. »Ja, und er stellt einer Fickpuppe aus meinem Fitnessclub nach.«

»Findest du deine Phantasie eigentlich blühend genug, Ray?«

»Halt die Klappe, Lily. Das Ganze ist eine Katastrophe. Mein Job und meine Wohnung hängen von Charlie ab, ganz zu schweigen davon, dass er ein Kind hat und der neue Sonnenschein in meinem Leben ein Kerl ist.«

»Nein, ist er nicht.« Lily staunte selbst, dass sie so schnell aufgab. Ray zu quälen, machte ihr nicht mehr solch großen Spaß wie früher.

»Bitte wie?«

»Ich verarsch dich nur, Ray. Sie hat nicht angerufen. Ich hab deine E-Mails gelesen.«

»Die sind privat!«

»Und deshalb hast du alles hier auf dem Geschäftscomputer?«

»Ich bin viel hier, und bei dem Zeitunterschied…«

»Da wir gerade von Privatsphäre sprechen: Wie war das eben? Asher ist ein Ninja und ein Serienkiller? Beides gleichzeitig?«

Ray trat näher heran und nuschelte in seinen Kragen, als verriete er eine gewaltige Verschwörung. »Ich habe ihn beobachtet. Charlie kriegt ’ne Menge Zeug von toten Leuten rein. Das geht schon seit Jahren so. Und dauernd haut er plötzlich ab, und ich muss seine Schichten übernehmen, aber er sagt nie, wohin er geht. Und kurz danach tauchen im Laden jedes Mal Sachen von toten Leuten auf. Heute bin ich ihm gefolgt, und er war hinter einer Frau her, die in meinem Fitnessclub ist. Dort könnte er sie neulich gesehen haben.«

Lily trat einen Schritt zurück, verschränkte ihre Arme und zog ein Gesicht, als verachtete sie Ray, was ihr relativ leicht fiel, nach der jahrelangen Übung. »Ray, ist dir schon mal aufgefallen, dass Asher mit Nachlässen zu tun hat und unsere Geschäfte erheblich besser laufen, seit er mehr Nachlässe übernimmt? Dass die Ware qualitativ erheblich besser ist? Vermutlich, weil er früher hingeht?«

»Ich weiß, aber das ist es nicht. Du bist nicht so oft da wie ich, Lily. Ich war früher Polizist. Mir fällt so was auf. Weißt du zum Beispiel, dass ein Detective von der Mordkommission Charlie auf den Fersen ist? Allerdings. Er hat mir seine Karte gegeben und gesagt, ich soll ihn anrufen, wenn was Ungewöhnliches passiert.«

»Ray, du hast doch wohl nicht…«

»Charlie ist verschwunden, Lily. Ich habe ihn beobachtet, und er hat sich einfach in Luft aufgelöst, direkt vor meinen Augen. Und zuletzt habe ich ihn gesehen, als er in das Haus von dieser Fickpuppe gegangen ist.«

Am liebsten hätte Lily den Tacker vom Tresen genommen und Ray mal kurz hundert Klammern in die verschwitzte Stirn getackert. »Du undankbares Arschloch! Hetzt du Asher die Bullen auf den Hals? Dem Mann, der dir – wann, vor zehn Jahren? – einen Job und ein Dach über dem Kopf gegeben hat?«

»Ich hab nicht beim Revier angerufen, nur diesen Inspector Rivera. Denn kenne ich noch aus der Zeit, als ich bei der Truppe war. Er hängt es bestimmt nicht an die große Glocke.«

»Geh, hol dein Scheckheft und dein Auto!«, bellte Lily. »Wir zahlen die Kaution und holen ihn da raus.«

»Wahrscheinlich ist er noch nicht mal erkennungsdienstlich erfasst worden«, sagte Ray.

»Ray, du bist ein armseliger Wicht. Geh. Ich schließ den Laden ab und warte vor der Tür.«

»Lily, so kannst du nicht mit mir reden. Das muss ich mir nicht bieten lassen.«

Da er jedoch einen steifen Hals hatte, konnte Ray den ersten beiden Klammern nicht entgehen, die ihm Lily an die Stirn tackerte, doch da hatte er bereits beschlossen, dass es das Beste war, sein Scheckheft und das Auto zu holen.

»Was ist überhaupt eine >Fickpuppe<?«, rief Lily ihm nach, während sie sich selbst über ihre Loyalität zu Charlie wunderte.

Die Polizeibeamtin nahm Charlies Fingerabdrücke neunmal, dann sah sie Inspector Alphonse Rivera an und sagte: »Der Mistkerl hat keine Fingerabdrücke.«

Rivera nahm Charlies Hand, drehte die Innenfläche nach oben und sah sich die Finger an. »Ich kann Rillen erkennen, da oben. Er hat ganz normale Finger.«

»Na, dann machen Sie es doch«, sagte die Frau. »Ich krieg nur Kleckse auf die Karte.«

»Gut«, sagte Rivera, »dann kommen Sie mal mit.«

Er führte Charlie zu einer Wand, an die ein großes Metermaß gemalt war, und wies ihn an, in die Kamera zu blicken.

»Wie sehen meine Haare aus?«, sagte Charlie.

»Nicht lächeln.«

Charlie runzelte die Stirn.

»Kein Gesicht ziehen. Sehen Sie einfach geradeaus und… Ihre Haare sind okay, aber ich glaube, Sie haben jetzt Tinte an der Stirn. Es ist nicht so schwierig, Mr. Asher. Kriminelle machen das ständig.«

»Ich bin aber nicht kriminell«, sagte Charlie.

»Sie sind in ein gesichertes Gebäude eingebrochen und haben eine junge Frau belästigt. Somit sind Sie kriminell.«

»Ich bin nirgendwo eingebrochen und habe auch niemanden belästigt.«

»Das werden wir noch sehen. Miss McKerny sagt, Sie hätten sie bedroht. Sie wird bestimmt Anzeige erstatten, und wenn Sie mich fragen, hatten Sie beide Glück, dass ich im richtigen Moment aufgetaucht bin.«

Charlie hatte sich schon gewundert. Die Fickpuppe hatte angefangen zu schreien und sich rückwärts in die Wohnung zurückgezogen, und er war der halbnackten Frau gefolgt, versuchte zu erklären, überlegte, wie er das machen sollte, wobei er ihren Brüsten viel zu viel Aufmerksamkeit widmete.

»Ich habe sie nicht bedroht.«

»Sie haben zu ihr gesagt, dass sie sterben wird. Heute.«

Tja, da hatten sie ihn. In dem ganzen Tohuwabohu hatte er erwähnt, er müsse Hand an ihre Brüste legen, weil sie heute sterben würde. Im Nachhinein war er der Ansicht, er hätte diese Information lieber für sich behalten sollen.

Rivera führte ihn nach oben in einen kleinen Raum mit einem Tisch und zwei Stühlen. Wie im Fernsehen stand Charlie da und sah sich nach einem Einwegspiegel um, musste zu seiner Enttäuschung jedoch feststellen, dass er nur moosgrün lackierte Betonwände fand. Rivera ließ ihn sich setzen, doch ging er dann zur Tür.

»Ich werde Sie hier einen Moment allein lassen, bis Miss McKerny da ist, um Anzeige zu erstatten. Hier ist es gemütlicher als in der Zelle. Möchten Sie was trinken?«

Charlie schüttelte den Kopf. »Sollte ich meinen Anwalt anrufen?«

»Das bleibt Ihnen überlassen, Mr. Asher. Es ist Ihr gutes Recht, aber ich darf Ihnen weder den einen noch den anderen Rat geben. In fünf Minuten bin ich wieder da. Dann können Sie anrufen, wen Sie wollen.«

Rivera ging hinaus, und Charlie sah den Partner des Inspectors, einen bärbeißigen, kahlen Stier von einem Mann, der auf den Namen Cavuto hörte und draußen vor der Tür wartete. Der Mann machte Charlie Angst. Nicht so wie die Aussicht darauf, Madison McKernys Brustimplantate holen zu müssen, oder darauf, was passieren würde, falls er es nicht täte, aber trotzdem.

»Lass ihn gehen«, sagte Cavuto.

»Wie? Lass ihn gehen? Ich bin gerade mit ihm fertig, und diese McKerny…«

»Ist tot. Von ihrem Freund erschossen. Und als unsere Jungs hinkamen, weil jemand Schüsse gemeldet hatte, hat er sich selbst die Kugel gegeben.«

»Was?«

»Der Freund war verheiratet, McKerny wollte mehr und hat gedroht, seiner Frau alles zu erzählen. Da ist er durchgedreht.«

»Das weißt du jetzt schon?«

»Ihre Nachbarin hat den Kollegen gleich die ganze Geschichte erzählt. Komm schon, es ist unser Fall. Wir müssen los. Lass den Vogel laufen. Ray Macy und irgend so eine Gruftiköchin warten unten schon auf ihn.«

»Ray Macy hat mich angerufen, weil er dachte, Asher wollte die Frau ermorden.«

»Ich weiß. Richtiges Verbrechen, falscher Mann. Gehen wir.«

»Wir hätten immer noch die Sache mit der versteckten Waffe.«

»Ein Stock mit einer Klinge drin? Willst du dich vor den Richter hinstellen und erklären, du hättest diesen Burschen unter dem Verdacht verhaftet, ein Serienkiller zu sein, aber dann hat er dich runtergehandelt, und jetzt ist er nur noch ein komischer Kauz?«

»Okay, ich lass ihn gehen, aber eines sag ich dir, Nick: Dieser Bursche hat der Frau gesagt, dass sie heute sterben wird. Da ist irgendwas Schräges im Busch.«

»Und es gibt noch nicht genug Schräges in den Büschen, um das wir uns kümmern müssten?«

»Auch wieder wahr«, sagte Rivera.

In ihrem beigefarbenen Seidenkleid sah Madison McKerny wunderschön aus. Haar und Makeup waren perfekt wie immer, die diamantenen Ohrstecker und ihre Platin-Diamant-Kette passten gut zu den silbernen Griffen an ihrem Sarg aus Walnussholz. Für jemanden, der nicht mehr atmete, war sie buchstäblich atemberaubend, besonders für Charlie, denn er war der Einzige, der sehen konnte, dass ihre Brüste im Sarg rot leuchteten.

Charlie hatte noch nicht an vielen Beerdigungen teilgenommen, aber Madison McKernys Feier schien ihm nett und auch ganz gut besucht zu sein für eine Frau, die gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt geworden war. Es stellte sich heraus, dass Madison im Mill Valley vor den Toren San Franciscos aufgewachsen war und deshalb so viele Leute kannte. Offenbar hatten die meisten – außer ihrer Familie – den Kontakt verloren und waren ziemlich überrascht, dass sie von ihrem verheirateten Liebhaber erschossen worden war, der ihr ein teures Apartment in der Stadt bezahlt hatte.

»Das stand wohl kaum als >Zukunftsperspektive< im Jahrbuch«, sagte Charlie, als er versuchte, mit einem ihrer Klassenkameraden Konversation zu treiben, einem Mann, neben dem er am Pinkelbecken in der Herrentoilette stand.

»Woher kannten Sie Madison?«, fragte der Mann herablassend. Er sah aus, als stünde unter seinem Bild im Jahrbuch: »Er wird die Welt mit seinem Geld und seiner Frisur nerven.«

»Oh, ich? Freund des Bräutigams«, sagte Charlie. Er zog seinen Reißverschluss hoch und ging zum Waschbecken, bevor dem Mann mit der komischen Frisur eine Antwort einfiel.

Charlie staunte, wie viele Leute er bei der Beerdigung traf, die er kannte, und jedes Mal, wenn er jemanden hinter sich zurückließ, stieß er mit dem Nächsten zusammen.

Erst Inspector Rivera, der log. »Musste kommen. Ist unser Fall. Hab die Familie ein bisschen kennen gelernt.«

Dann Ray, der log. »Sie war in meinem Fitnessclub. Ich dachte, ich sollte ihr die letzte Ehre erweisen.«

Dann Riveras Partner Cavuto, der nicht log. »Ich glaube immer noch, dass Sie ein komischer Kauz sind, und das gilt auch für Ihren Freund, den Excop.«

Und Lily, die ebenfalls ehrlich war. »Ich wollte mir mal eine tote Fickpuppe ansehen.«

»Wer kümmert sich um den Laden?«, fragte Charlie.

»Geschlossen. Todesfall in der Familie. Du weißt, dass Ray dir die Bullen auf den Hals gehetzt hat, oder?«

Seit Charlie wieder frei war, hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, miteinander zu sprechen. »Hätte ich mir denken können«, sagte Charlie.

»Er sagt, er hat gesehen, wie du ins Haus von dieser toten Tussi gegangen bist und plötzlich weg warst. Er glaubt, du hast Ninja-Kräfte. Gehört das dazu?« Sie wackelte mit den Augenbrauen, verschwörerisch wie Groucho Marx, was in seiner Wirkung ein wenig durch den Umstand gedämpft wurde, dass ihre Augenbrauen bleistiftdünn und blutrot nachgezogen waren.

»Ja, das gehört wohl irgendwie dazu. Ray hat aber keinen Verdacht, oder?«

»Nein, ich hab dich gedeckt. Aber er hält dich immer noch für einen potentiellen Serienkiller.«

»Ich dachte, er wäre vielleicht ein Serienkiller.«

Lily lief es eiskalt über den Rücken. »Gott im Himmel, ihr zwei müsst echt dringend mal einen wegstecken.«

»Wohl wahr, aber im Moment bin ich hier, um das Ding wegen dem Dings zu drehen.«

»Du hast ihr Dingsding immer noch nicht?«

»Ich weiß noch nicht mal, wie ich rankommen soll. Ihr Dings ist noch im Dingens.« Er nickte zum Sarg hinüber.

»Da bist du wohl gearscht«, sagte Lily.

»Wir müssen uns jetzt hinsetzen«, erwiderte Charlie. Er führte sie in die Kapelle, wo der Gottesdienst begann.

Hinter ihm steuerte Nick Cavuto, der einen Meter entfernt mit dem Rücken zu den beiden gestanden hatte, schnurstracks auf seinen Partner zu und sagte: »Können wir diesen Asher bitte erschießen und uns hinterher einen Grund ausdenken? Ich bin mir sicher, dass der Penner es verdient hat.«

Charlie wusste nicht, was er machen sollte, wie er die Seelenimplantate an sich nehmen konnte, aber er war überzeugt davon, dass ihm noch etwas einfallen würde. In letzter Sekunde würde sich irgendeine übernatürliche Fähigkeit einstellen. Das dachte er während der gesamten Trauerfeier. Er dachte es, als der Sarg geschlossen wurde, während des Leichenzugs zum Friedhof und während der Zeremonie am Grab. Seine Hoffnung begann zu schwinden, als sich die Trauergemeinde zerstreute und der Sarg ins Grab gelassen wurde, und als dann das Bodenpersonal mit einem Bagger Erde ins Loch schaufelte, glaubte er nicht mehr so recht daran, dass ihm etwas einfallen würde.

Es gab noch die Möglichkeit der Grabräuberei, aber das war im Grunde eigentlich keine Idee, oder? Und selbst nach jahrelanger Erfahrung mit der Totenboterei war Charlie nicht scharf darauf, in einen Friedhof einzubrechen, die halbe Nacht lang einen Sarg auszugraben und dann Implantate aus einer Frauenleiche herauszuschneiden. Das war was völlig anderes als eine Vase vom Kaminsims mitzunehmen. Wieso konnte Madison McKernys Seele nicht in einer Vase auf dem Kaminsims stecken?

»Dann haben Sie das Ding also doch nicht bekommen«, sagte eine Stimme neben ihm.

Charlie wandte sich um und sah Inspector Rivera, der keinen halben Meter neben ihm stand. Er hatte den Mann nicht mehr gesehen, seit sie aus der Leichenhalle gekommen waren.

»Welches Ding?«

»Ja, welches Ding?«, sagte Rivera. »Man hat sie doch nicht mit ihren Diamanten begraben, was?«

»Das wäre eine Schande«, sagte Charlie.

»Die Schwestern haben sie bekommen«, sagte Rivera. »Wissen Sie, Charlie, die meisten Leute bleiben nicht, bis der Sarg geschlossen wird.«

»Tatsächlich?«, sagte Charlie. »Ich war nur neugierig. Wollte sehen, ob sie Schaufeln benutzen oder was. Und Sie?«

»Ich? Ich beobachte Sie. Haben Sie die Sache mit den Gullys eigentlich überwunden?«

»Ach, das! Ich musste nur meine Medikamentierung etwas umstellen.« Es war eine Formulierung, die Charlie von Jane übernommen hatte, und bei ihr schien die Ausrede gut zu funktionieren.

»Nun, dann behalten Sie sie im Auge, Charlie. Und ich behalte Sie im Auge. Adios.« Rivera ging davon.

»Adios, Inspector«, sagte Charlie. »Hey, schicker Anzug übrigens.«

»Danke. Ich habe ihn in Ihrem Laden gekauft«, sagte Rivera, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Wann war er in meinem Laden? dachte Charlie.

In den folgenden zwei Wochen fühlte sich Charlie, als hätte jemand sein Nervensystem auf die falsche Voltzahl eingestellt, und er vibrierte förmlich vor Unruhe. Er dachte, er sollte vielleicht Minty Fresh anrufen, ihn warnen, dass er Madison McKernys Seelenschiffchen nicht hatte holen können, aber wenn die Gullyhexen nicht deswegen aus ihren Löchern kamen, dann vielleicht, weil er Kontakt zu einem anderen Totenboten aufnahm. Stattdessen behielt er Sophie zu Hause und passte auf, dass die Höllenhunde sie nicht aus den Augen ließen. Die meiste Zeit sperrte er die Hunde sogar in ihrem Zimmer ein, weil sie ihn sonst nur zu seinem Tagesplaner gezerrt hätten, auf dem keine neuen Namen erschienen. Nur die überfällige Madison McKerny und die beiden Frauen, Esther Johnson und Irena Posokowanowich, die am selben Tag aufgetaucht waren, aber noch Zeit hatten, bis ihr Haltbarkeitsdatum abgelaufen war – oder wie man es nennen wollte.

Also nahm er seine Spaziergänge wieder auf, lauschte, wenn er an Gullys oder Kanaldeckeln vorüberkam, doch schien die Finsternis daraus nicht aufzusteigen.

Charlie fühlte sich nackt, so ohne seinen Stockdegen, den Rivera einbehalten hatte, also machte er sich daran, einen neuen zu beschaffen, und stieß dabei auf zwei weitere Totenboten. Den Ersten fand er im Mission District, in einem Antiquariat namens Bookem Danno. Also, eigentlich war es kein richtiges Antiquariat mehr. Es gab zwar noch ein paar Bücherregale, aber der Rest des Ladens war mit Krimskrams vollgestopft, vom Klempnerzubehör bis hin zu Footballhelmen. Charlie wusste genau, wie es so weit kommen konnte. Man begann mit einer Buchhandlung, dann machte man ein einziges, harmloses Geschäft, vielleicht ein Paar Bücherstützen für eine Erstausgabe, dann das Nächste, man nahm wegen eines einziges Gegenstands eine ganze Gerümpelkiste vom Flohmarkt mit, und bald schon hatte man ein Riesensortiment unterschiedlich großer Krücken und veralteter Radioröhren und konnte sich beim besten Willen nicht mehr erinnern, woher man diese Bärenfalle hatte, und doch lag sie da, neben dem hellgrünen Ballettröckchen und der Armadrillo Penispumpe. Zweite Hand außer Rand und Band. Hinten im Laden, beim Tresen, stand ein Bücherregal, in dem jeder Band mattrot pulsierte.

Charlie stolperte über einen Spucknapf und fand Halt an einem Elchgeweih-Garderobenständer.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Besitzer und blickte von seinem Buch auf. Er war um die sechzig, die Haut fleckig von zu viel Sonne, die er jedoch seit einer Weile nicht mehr gesehen hatte, denn jetzt war er käsig. Er hatte langes, dünnes, graues Haar und trug eine überdimensionierte Lesebrille, mit der er wie eine gelehrte Schildkröte aussah.

»Geht schon«, sagte Charlie und riss sich von den Seelenschiffchenbüchern los.

»Ich weiß, es ist ein bisschen rummelig da hinten«, sagte der Schildkrötenmann. »Ich wollte es ausräumen, aber andererseits will ich schon seit dreißig Jahren alles ausräumen und bin noch nicht dazu gekommen.«

»Schon okay. Ich mag Ihren Laden«, sagte Charlie. »Tolle Sammlung.«

Der Besitzer musterte Charlies teuren Mantel und die Schuhe und blinzelte. Es war klar, dass er den Wert der Kleidung erkannte und Charlie für einen reichen Sammler oder Antiquitätenjäger hielt. »Suchen Sie was Bestimmtes?«, fragte er.

»Stockdegen«, sagte Charlie, »muss nicht antik sein.« Am liebsten hätte er dem Mann einen Kaffee spendiert und sich mit ihm Anekdoten vom Seelensammeln erzählt, von der Konfrontation mit den Unterweltlern, vom Dasein als Totenbote. Dieser Mann war ein Gleichgesinnter, und der Größe seiner Sammlung an Seelenobjekten nach zu urteilen – allesamt Bücher – war er länger dabei als Minty Fresh.

Schildkröte schüttelte den Kopf. »Hab seit Jahren keinen mehr gesehen. Wenn Sie mir Ihre Karte geben wollen, könnte ich meine Fühler für Sie ausstrecken.«

»Danke«, sagte Charlie, »ich suche weiter. Das ist doch der Spaß dabei.« Schon wollte er sich rückwärts durch den Gang zurückziehen, aber er konnte nicht gehen, ohne noch etwas zu sagen. »Wie läuft’s denn so hier in der Gegend?«

»Besser als früher«, sagte der Mann. »Die meisten Banden haben sich zur Ruhe gesetzt. Dieser Teil von Mission hat sich in ein Schickimicki-Künstlerviertel verwandelt. Das war gut fürs Geschäft. Sind Sie hier aus der Stadt?«

»Geboren und aufgewachsen«, sagte Charlie. »Bin nur nie viel in diese Gegend gekommen. War hier in den letzten zwei Wochen draußen auf der Straße irgendwas los?«

Jetzt sah der Schildkrötenmann Charlie offen an, nahm sogar seine Riesenbrille ab. »Abgesehen von den wummernden Hifi-Anlagen, die dauernd vorbeifahren, war es mucksmäuschenstill. Wie heißen Sie?«

»Charlie. Charlie Asher. Ich wohne drüben in der Nähe von Chinatown, North Beach, die Gegend.«

»Ich bin Anton, Charlie. Anton Dubois. Nett, Sie kennen zu lernen.«

»Okay«, sagte Charlie, »ich muss los.«

»Charlie. Es gibt da eine Pfandleihe an der Fillmore Street. Fulton, Ecke Fillmore, glaube ich. Die haben einen Haufen Hiebund Stichwaffen. Da könnten Sie Ihren Degen finden.«

»Danke«, sagte Charlie. »Passen Sie gut auf sich auf, Anton. Okay?«

»Mach ich immer«, sagte Anton Dubois und widmete sich wieder seinem Buch.

Als Charlie den Laden verließ, war er noch unruhiger als vorher, fühlte sich aber nicht mehr so allein wie noch vor fünf Minuten. Am nächsten Tag fand er einen neuen Stockdegen in der Pfandleihe an der Fillmore, und außerdem fand er eine Schachtel mit Besteck und Küchenutensilien, aus denen rotes Licht pulsierte. Die Besitzerin war jünger als Anton Dubois, Ende dreißig vielleicht, und sie trug einen .38er Revolver im Schulterholster, was Charlie weniger schockierte als der Umstand, dass sie eine Frau war.

Er hatte geglaubt, alle Totenboten seien Männer, aber natürlich gab es keinen Grund zu dieser Annahme. Sie trug Jeans und ein schlichtes Hemd, war jedoch unpassenderweise mit Schmuck behängt, den sie sich vermutlich gönnte, weil er in ihrer Branche eben einfach da war, genauso wie er seine teuren Anzüge rechtfertigte. Sie war hübsch, lächelte wie eine freundliche Polizistin, und Charlie merkte, dass er überlegte, ob er mit ihr ausgehen sollte, dann explodierte die Blase egodestruktiver Blödheit in seinem Kopf. Klar: Abendessen und ins Kino, dann die Mächte der Finsternis auf die Welt loslassen. Tolles erstes Date. Die Leute hatten Recht: Er musste dringend einen wegstecken.

Er bezahlte den Stockdegen ohne Widerrede und in bar und verließ den Laden, ohne die Besitzerin in ein Gespräch zu verstricken, aber als er ging, nahm er eine Visitenkarte aus dem Halter auf dem Tresen. Sie hieß Carrie Lang. Er hätte sie gern gewarnt, hätte ihr gesagt, dass sie aufpassen sollte, weil da manches aus der Tiefe drohte, doch ihm wurde klar, dass die Gefahr mit jeder Sekunde, die er dort blieb, immer größer wurde.

Pass auf dich auf, Carrie, flüsterte er leise vor sich hin, als er ging.

An diesem Abend beschloss er, etwas zu unternehmen, um seine inneren Spannungen loszuwerden. Besser gesagt: Ihm wurde die Entscheidung abgenommen, als Jane und ihre Freundin Cassandra vor der Tür standen und anboten, auf Sophie aufzupassen.

»Geh und such dir eine Frau«, sagte Jane. »Ich nehm das Kind.«

»Das geht nicht«, sagte Charlie. »Ich war den ganzen Tag unterwegs und hab überhaupt noch keinen schönen Moment Papazeit mit meiner Tochter verbracht.«

Jane und Cassandra – eine athletischattraktive, rothaarige Mittdreißigerin, mit der sich Charlie am liebsten verabredet hätte, wäre sie nicht mit seiner Schwester zusammen gewesen – schoben ihn zur Tür hinaus, knallten sie ihm vor der Nase zu und drehten den Schlüssel um.

»Komm erst wieder, wenn du jemanden gefunden hast«, rief Jane durch das Türfenster.

»Klappt das bei dir?«, rief Charlie zurück. »Man sucht sich einfach irgendjemanden, der es einem macht wie ein Allesfresser?«

»Hier sind fünfhundert Dollar. Mit fünfhundert Dollar klappt es immer.« Ein Bündel Geldscheine kam durchs Türfenster geflogen, gefolgt von seinem Stock, einem Jackett und seiner Brieftasche.

»Das ist mein eigenes Geld, oder?«, rief Charlie.

»Du bist derjenige, der hier einen wegstecken muss«, rief Jane zurück. »Geh! Komm erst wieder, wenn du das Tier mit den zwei Rücken gemacht hast.«

»Ich könnte lügen.«

»Nein, könntest du nicht«, sagte Cassie. Sie hatte eine süße Stimme, der man am liebsten eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. »Man würde die Verzweiflung in deinen Augen sehen. Und das meine ich nicht unfreundlich, Charlie.«

»Klar, wie sollte ich es auch sonst verstehen?«

»Bye, Daddy«, sagte Sophie hinter der Tür. »Viel Spaß.«

»Jane!«

»Entspann dich. Sie ist eben erst reingekommen. Geh!«

Und so nahm Charlie, nachdem ihn die eigene Schwester aus seiner Wohnung geworfen hatte, Abschied von seiner geliebten Tochter und machte sich auf die Suche nach irgendeiner Fremden, um mit ihr intim zu sein.

»Nur eine Massage«, sagte Charlie.

»Okay«, sagte das Mädchen, während sie Öle und Lotionen auf einem Regal arrangierte. Sie war Asiatin, aber Charlie konnte nicht sagen, woher, vielleicht Thailand. Sie war zierlich, mit schwarzem Haar, das bis über ihre Hüften reichte. Sie trug einen roten Seidenkimono mit Chrysanthemenmuster und sah ihm kein einziges Mal in die Augen.

»Wirklich, ich bin nur verspannt. Ich möchte nur eine absolut moralisch einwandfreie, hygienische Massage, genau wie esdraußen auf dem Schild steht.« Charlie stand in einer engen Zelle, voll bekleidet, neben ihm auf der einen Seite ein Massagetisch, auf der anderen die Masseuse und ihr Regal mit Ölen.

»Okay«, sagte das Mädchen.

Charlie sah sie an und wusste nicht, was er jetzt machen sollte.

»Ausziehen«, sagte das Mädchen. Sie breitete ein sauberes, weißes Handtuch auf dem Massagetisch aus, nickte, dann drehte sie sich um. »Okay?«

»Okay«, sagte Charlie, der dachte, wenn er schon mal hier war, sollte er es auch hinter sich bringen. Er hatte der Frau an der Tür fünfzig Dollar für die Massage gegeben, woraufhin sie ihn ein Formular unterschreiben ließ, auf dem stand, dass er nur eine Massage bekäme, dass Trinkgeld erwünscht sei, was jedoch auf keinerlei Dienste hindeute, die über eine Massage hinausgingen, und wenn er glaube, er bekäme mehr als eine Massage, müsse man den Weißen Teufel wohl enttäuschen. Sie ließ ihn alle sechs Sprachen unterschreiben, in denen das Formular gedruckt war, dann zwinkerte sie ihm zu, ein langes, langsames Zwinkern, das durch die falschen Wimpern etwas übertrieben wirkte, und machte das international anerkannte Zeichen für einen Blowjob, mit gespitzten Lippen und der Zunge, die rhythmisch gegen ihre Wange drückte. »Lotosblüte machen sehl entspannt, Mistel Macy.«

Charlie hatte mit Rays Namen unterschrieben, nicht so sehr aus Rache, weil der ihm die Cops auf den Hals gehetzt hatte, sondern weil er dachte, die Besitzerin kannte Ray vielleicht und würde ihm einen Rabatt einräumen.

Er ließ seine Boxershorts an und kletterte auf den Tisch, doch Lotosblüte riss sie ihm mit einem Ruck herunter, wie ein Zauberer, der ein Seidentuch aus seinem Ärmel zieht. Sie breitete ein Handtuch über seinem Hintern aus und ließ ihren Kimono fallen. Charlie sah es und drehte sich um, sah eine winzig kleine, halbnackte Frau, die ihre Hände mit Öl einrieb, um sie aufzuwärmen. Er wandte sich ab und schlug mit der Stirn mehrmals auf den Tisch, während er spürte, wie seine Erektion unter ihm ins Freie drängte.

»Meine Schwester hat mich hergeschickt«, sagte er. »Ich wollte überhaupt nicht.«

»Okay«, sagte sie.

Sie verrieb Öl auf seinen Schultern. Es roch nach Mandel und Sandelholz. Es schien Menthol oder Lavendel oder so etwas darin zu sein, denn er spürte, wie es auf der Haut prickelte. Überall, wo sie ihn berührte, tat es ihm weh. Als hätte er gestern einen Kanal nach Ecuador gegraben oder eigenhändig einen Frachtkahn am Seil über die Bay geschleppt. Sie schien besondere sensorische Kräfte zu besitzen, denn sie fand genau die Stellen, wo seine Schmerzen saßen, berührte und löste sie. Er stöhnte leise auf.

»Sehl velspannt«, sagte sie und arbeitete sich mit den Fingern an seiner Wirbelsäule hinauf.

»Hab in den letzten zwei Wochen nicht gut geschlafen«, sagte er.

»Schön.« Sie beugte sich vor, um seine Schultern zu bearbeiten, und er fühlte, wie sich ihre kleinen Brüste an seinen Rücken schmiegten. Einen Moment hielt er die Luft an, und sie kicherte.

»Sehl velspannt«, sagte sie.

»Mir ist bei der Arbeit was passiert. Also, nicht bei der Arbeit eigentlich, aber ich fürchte, ich hab was getan, das alle, die ich kenne, in Gefahr bringen könnte, und ich kann mich nicht dazu bewegen, zu tun, was getan werden müsste, um es zu verhindern. Vielleicht muss jemand sterben.«

»Ist schön«, sagte Lotosblüte und knetete seinen Bizeps.

»Du sprichst kein Englisch, oder?«

»Oh, bisschen. Kein Sorge. Du wollen Happy End?«

Charlie lächelte. »Könntest du einfach weiterkneten?«

»Kein Happy End? Okay. Viertelstunde zwanzig Dollar.«

Also bezahlte Charlie sie und sprach mit ihr, und sie knetete ihm den Rücken, und er bezahlte sie noch mal und erzählte ihr alles, was er keinem anderen anvertrauen konnte: alle Sorgen, alle Nöte, alles, was ihm leid tat. Er erzählte ihr, wie sehr ihm Rachel fehlte und dass er dennoch manchmal fast vergaß, wie sie aussah und dann mitten in der Nacht zu seiner Kommode lief, um sich ihr Foto anzusehen. Er bezahlte sie für zwei Stunden im Voraus und döste ein, spürte ihre Hände auf seiner Haut und träumte von Rachel und Sex, und als er aufwachte, massierte Lotosblüte seine Schläfen, und Tränen liefen ihm in die Ohren. Er erklärte ihr, es liege am Menthol im Öl, doch es war die Einsamkeit, die in ihm aufstieg wie der Schmerz im Rücken, von dem er gar nichts gewusst hatte, bis sie ihn berührt hatte.

Sie massierte seine Brust, beugte sich über seinen Kopf hinweg und hielt ihm dabei ihre Brüste vors Gesicht, und als er sich wieder unter seinem Handtuch regte, fragte sie: »Jetzt du wollen Happy End?«

»Nein, nein«, sagte er. »Happy Ends sind mir zu Hollywood.« Dann nahm er ihre Handgelenke, küsste ihre Hände und bedankte sich. Er gab ihr hundert Dollar Trinkgeld. Sie lächelte, zog ihren Kimono über und ging hinaus.

Charlie zog sich an und verließ den Happy Relax Good Time Massagesalon, an dem er in seinem Leben schon tausendmal vorbeigekommen war und sich gefragt hatte, was wohl hinter der roten Tür mit dem Packpapier an der Scheibe vor sich gehen mochte. Jetzt wusste er es: das jämmerliche Häufchen frustrierter Einsamkeit, das Charlie Asher hieß und für das es kein Happy End geben würde.

Er machte sich auf den Weg zum Broadway und stapfte den Hügel nach North Beach hinauf. Er hatte nur noch ein paar Blocks bis nach Hause, als er spürte, dass jemand hinter ihm lief. Er drehte sich um, entdeckte aber nur einen Mann, der zwei Blocks weiter eine Zeitung aus dem Kasten nahm. Er ging noch einen halben Block weiter und sah die belebte Straße: Touristen beim Schlendern, beim Warten auf Tische in italienischen Restaurants, Animateure versuchten, Touristen in Stripläden zu locken, Matrosen taumelten von einer Bar zur nächsten, Hipster rauchten draußen vor dem City-Lights-Buchladen, sahen cool und literarisch aus, kurz vor dem nächsten Poetry-Slam in der Bar gegenüber.

»Hey, Soldat«, sagte eine Stimme neben ihm. Die Stimme einer Frau, sanft und sexy. Charlie drehte sich um und warf einen Blick in die kleine Gasse, an der er gerade vorüberkam. Er konnte eine Frau erkennen, die dort im Schatten stand und sich an die Mauer lehnte. Sie trug einen schillernden Body oder so was in der Art, und quecksilbriges Licht am anderen Ende der Gasse ließ ihre Silhouette flimmern. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf, aber er spürte auch ein Zucken in den Lenden. Er war in seinem Viertel, und die Nutten hatten ihn angesprochen, seit er zwölf Jahre alt war, aber jetzt war er zum ersten Mal stehen geblieben und widmete einer von ihnen mehr als nur ein Winken und ein Lächeln.

»Hey«, sagte Charlie. Er fühlte sich benebelt – wie betrunken oder bekifft. Vielleicht hatte die lange Massage sämtliche körpereigenen Drogen losgetreten. Jedenfalls musste er sich auf seinem Stock abstützen.

Sie stieß sich von der Wand ab, und das Licht umfing sie und hob ihre exotischen Kurven hervor. Charlie merkte, dass er mit den Zähnen knirschte und seine rechte Kniescheibe zuckte. Das war nicht die straßenerprobte Erscheinung eines Junkies – eher eine Tänzerin, eine Göttin.

»Manchmal«, sagte sie und fauchte das ch, »ist ein grober Fick in einer dunklen Gasse die beste Medizin für einen müden Krieger.«

Charlie sah sich um: ein paar Leute einen Block voraus, ein Mann, der unter der Laterne seine Zeitung las, zwei Blocks hinter ihm. Niemand in der Gasse, der ihn überfallen konnte.

»Wie viel?«, fragte er. Er wusste nicht mal mehr, wie sich Sex anfühlte, konnte aber im Moment nur noch an Erlösung denken – ein grober Fick in einer dunklen Gasse mit dieser… dieser Göttin. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur die Linie eines Wangenknochens, doch der war exquisit.

»Das Vergnügen deiner Gesellschaft«, sagte sie.

»Warum ich?«, sagte Charlie unwillkürlich – das war sein Betamännchen-Wesen.

»Komm und finde es heraus«, sagte sie. Sie hielt ihre Brüste mit beiden Händen, sank rückwärts an die Wand und winkelte ein Bein an. »Komm.«

Er trat in die Gasse und lehnte seinen Stock gegen die Mauer, dann nahm er ihr angewinkeltes Knie in die eine Hand, in die andere eine Brust, und zog sie an sich, um sie zu küssen. Sie fühlte sich an wie Samt, ihre Lippen waren warm und schmeckten nach Wild, wie Rehfleisch oder Leber. Er merkte nicht einmal, wie sie seine Jeans aufmachte, spürte nur eine forsche Hand an seiner Erektion.

»Ah, kräftiges Fleisch«, zischte sie.

»Danke, ich geh ins Fitnessstudio.«

Sie biss fest in seinen Hals, und er massierte ihre Brust und drückte sich an ihre Hand. Sie umschlang ihn mit dem Bein und zog ihn an sich. Er spürte etwas Spitzes, das sich ihm schmerzlich in die Hoden bohrte, und versuchte, sich zurückzuziehen. Sie zog ihn mit ihrem Bein noch fester an sich. Sie war unglaublich stark.

»Frischfleisch«, sagte sie, »wehr dich nicht, sonst reiß ich sie dir ab.«

Charlie spürte die Krallen an seinen Eiern und den Atem an seiner Kehle. Ihr Gesicht war jetzt direkt vor seinem, doch er sah nur ein schimmerndes Schwarz, auf dem das Licht der Straßenlaterne reflektierte.

Sie hob ihre freie Hand vor sein Gesicht, und er sah, wie aus ihren Fingerspitzen Krallen wuchsen, blitzend wie gebürsteter Chrom, bis sie fast zehn Zentimeter lang waren. Sie richtete die Krallen auf seine Augen, und er tastete nach seinem Stockdegen an der Wand. Den schlug sie weg, und schon waren ihre Krallen wieder direkt vor seinen Augen.

»O nein, Freundchen. Diesmal nicht.« Sie hakte sich mit ihrer Kralle in einem seiner Nasenlöcher fest. »Soll ich sie dir wie einen Nagel ins Gehirn treiben? Es wäre das Schnellste, aber ich will es nicht schnell. Ich warte schon so lange.«

Sie lockerte den Druck an seinen Eiern, und entsetzt musste er feststellen, dass er noch immer hart war. Langsam rieb sie seine Erektion, während sie ihm die Kralle immer tiefer in die Nase trieb, um ihn aufrecht zu halten. »Ich weiß, ich weiß… wenn du kommst, steck ich sie dir ins Ohr und reiß daran. So hab ich schon mal jemandem den halben Kopf abgerissen. Es wird dir gefallen. Du hast Glück. Wäre Nemain geschickt worden, wärst du schon tot.«

»Biest!«, stieß Charlie hervor.

Sie rieb ihn fester, und er verfluchte seinen Körper dafür, dass er ihn verriet. Er versuchte, sich loszumachen, doch ihr Bein schlang sich um ihn und nahm ihm die Luft. »Nein, erst kommst du, dann bring ich dich um.«

Sie zog die Kralle aus seiner Nase und hielt sie an sein Ohr. »Lass mich nicht unbefriedigt gehen, mein Freund«, sagte sie, doch in diesem Augenblick berührte ihre Kralle seine Kopfhaut, und er schlug ihr – so fest er konnte – mit beiden Fäusten in die Rippen.

»Du Arschgeburt!«, kreischte sie. Sie ließ ihr Bein sinken, riss ihn am Schwanz zur Seite und wich zurück, um ihm die Krallen mit voller Wucht über den Schädel zu ziehen. Charlie wollte seinen Arm heben, um den Schlag abzuwehren, doch dann gab es eine Explosion, und ein Teil ihrer Schulter spritzte an die Mauer, was sie herumriss.

Charlie spürte, dass sie seinen Schwanz losließ, und er warf sich auf die Erde. Sie prallte von der Mauer ab, zielte mit beiden Klauen auf sein Gesicht. Wieder gab es eine Explosion, und wieder flog sie rückwärts. Als sie diesmal hochkam, war sie der Straße zugewandt, doch bevor sie zum Sprung bereit war, trafen sie zwei weitere Schüsse in die Brust, und sie kreischte wie tausend brennende Raben.

Fünf Schüsse nacheinander, und sie taumelte rückwärts, wobei sie sich bereits veränderte, ihre Arme länger wurden, ihre Schultern runder. Noch zwei Schüsse, und der nächste Schrei war kaum noch menschlich, eher der eines Riesenraben. Sie erhob sich in die Nacht und ließ Federn hinter sich zurück, verlor eine Flüssigkeit, bei der es sich um Blut handeln mochte, nur dass sie schwarz war.

Charlie kam auf die Beine und torkelte aus der Gasse, dorthin, wo Inspector Alphonse Rivera nach wie vor breitbeinig stand, mit einer 9mm-Beretta in Händen, die in den dunklen Himmel zielte.

»Will ich eigentlich wirklich wissen, was das da eben war?«, sagte Rivera.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte Charlie.

»Binden Sie sich Ihre Jacke um die Hüften«, sagte der Cop.

Charlie sah an sich herab und merkte, dass seine Jeans völlig zerfetzt war, wie von Rasierklingen.

»Danke«, sagte Charlie.

»Wissen Sie«, sagte Rivera, »das alles wäre zu vermeiden gewesen, wenn Sie – wie alle anderen auch – das Happy End genommen hätten.«

17

War es schön für dich?

Am nächsten Morgen hörte Janes Freundin Cassie jemanden draußen auf dem Flur und ging zur Tür. Dort stand Charlie, blutverschmiert, voll schwarzem Glibber, und er roch nach Sandelholz und Mandelöl. Er hatte einen Schnitt über dem Ohr, eine blutige Kruste in der Nase, seine Hosen waren vorn zerfetzt, und alles war voll schwarzer Federn.

»Aber Charlie«, sagte sie einigermaßen überrascht, »mir scheint, ich habe dich doch unterschätzt. Wenn du erst mal loslegst, bleibt wohl kein Auge trocken, was?«

»Duschen«, sagte Charlie.

»Daddy!«, rief Sophie aus dem Kinderzimmer. Mit ausgebreiteten Armen kam sie angelaufen, gefolgt von zwei Riesenhunden und einer lesbischen Tante im Herrenanzug. Auf halbem Weg durchs Wohnzimmer sah sie ihren Vater, machte kehrt und rannte heulend vor Entsetzen wieder weg.

Jane blieb am Sofa stehen und starrte ihn an. »Meine Fresse, Chuck! Was hast du denn angestellt? Wolltest du einen Leoparden ficken?«

»So ähnlich«, sagte Charlie. Er taumelte an ihr vorbei durchs Schlafzimmer und direkt ins Bad.

Jane sah Cassandra an, die sich große Mühe gab, dass ausihrem Lächeln kein Gelächter wurde. »Du wolltest, dass er vor die Tür geht.«

»Hast du ihm das von Mom erzählt?«, fragte Jane.

»Ich dachte, das sollte lieber von dir kommen«, sagte Cassandra.

»Mann, Schießeisen sind so was von scheiße, das kann ich euch sagen«, meinte Babd, die jüngst ihren Auftritt als Todesdiva im Oben gehabt hatte. »Klar, von hier unten sehen sie gut aus, aber aus der Nähe – laut, unpersönlich – ich würde immer eine Streitaxt oder einen Knüppel vorziehen.«

»Ich steh auch auf Knüppel«, sagte Macha, deren Klauen in Madison McKernys Kopf steckten, so dass sie den Mund wie bei einer Handpuppe bewegen konnte.

»Du bist selbst schuld«, schimpfte Nemain. In der Hand hielt sie eines von Madison McKernys Silikonimplantaten, an dem noch Fickpuppenblut klebte, und hielt es an Babds Wunden, um sie damit zu heilen. Während das schwarze Fleisch regenerierte, wurde das rote Leuchten des Implantates immer matter. »Wir vergeuden die Kräfte, die darin stecken. Und das, wo wir Jahre auf eine Seele gewartet haben…«

Babd seufzte. »Wahrscheinlich war es im Nachhinein keine so tolle Idee, ihm einen runterzuholen.«

»Wahrscheinlich war es im Nachhinein keine so tolle Idee, ihm einen runterzuholen«, äffte Machas Handpuppe sie nach.

»Das habe ich auf den Schlachtfeldern des Nordens bestimmt zehntausend Mal gemacht«, sagte Babd. »Ein letzter Wichs für den sterbenden Krieger schien mir einfach das Mindeste zu sein, was ich für ihn tun konnte. Und ich kann es besonders gut. Man braucht eine kräftige Hand, damit ein Soldat hart bleibt, wenn ihm die Eingeweide durch die Finger rinnen.«

»Sie ist wirklich gut«, sagte Orcus. »Dafür kann ich mich verbürgen.« Er lehnte sich auf seinem Thron zurück und präsentierte eine meterlange, schwarze Todeslatte, um seine Begeisterung zu zeigen.

»Nicht jetzt. Ich hab gerade meinen Lippenstift nachgezogen«, mimte Macha mit Madisons Kopf, wobei sie die Augen mit ihren Klauen herausdrückte, so dass es aussah, als staunte das tote Mädchen über Orcus’ außerordentliches Gerät.

Alle lachten gackernd. Den ganzen Morgen schon brachte sie Orcus und ihre Morrigan-Schwestern mit der Puppenshow zum Lachen, legte die Implantate auf ein Regal und hielt den Kopf darüber. »Selbstverständlich sind sie echt, schließlich hat er ja auch in echt dafür bezahlt, oder?«

Sie waren ausgelassen, seit sie die beiden Seelenschiffchen aus dem Grab der Fickpuppe geholt hatten, und dieser Sieg überstrahlte selbst Babds Versagen, was den Totenboten anging. Als jedoch das Licht der Implantate langsam erlosch, verfinsterte sich ihre Laune. Nemain schleuderte das nutzlose Ding ans Schott des Schiffes, so dass es platzte und überall im Raum durchsichtigen Glibber verspritzte.

»Was für eine Verschwendung«, knurrte sie. »Wir werden das Oben erobern, und ich werde seine Leber verspeisen und ihn dabei zusehen lassen.«

»Was hast du bloß immer mit >Leber essen<?«, sagte Babd. »Ich kann Leber nicht ausstehen.«

»Geduld, Prinzessinnen«, sagte Orcus und wog das verbliebene Implantat in seiner Klaue. »Tausend Jahre haben wir gebraucht, um es bis hierher zu schaffen, zu dieser Schlacht, und wenn wir noch ein paar Seelen brauchen, um unsere Kräfte zu sammeln, wird der Sieg nur umso süßer sein.« Er riss Macha den Kopf aus der Hand und biss davon ab, als wäre es eine frische, knackige Pflaume. »Diesmal hättest du wirklich darauf verzichten können, ihm einen runterzuholen«, sagte er, wobei er Hirnfetzen in Babds Richtung spuckte.

»Ich habe uns einen Flug nach Phoenix gebucht. Um zwei«, sagte Jane. »Da steigen wir in einen Pendlerzug und sind zum Abendessen in Sedona.«

Charlie war eben erst aus der Dusche gekommen und trug nur eine frische Jeans. Er rubbelte sein Haar mit einem beigefarbenen Handtuch trocken, was Blutflecken hinterließ, und sank aufs Bett.

»Warte, warte, warte. Wie lange weiß sie es?«

»Die Diagnose wurde vor einem halben Jahr gestellt. Es war schon vom Dickdarm auf andere Organe übergegangen.«

»Und sie hat bis jetzt damit gewartet, uns was davon zu erzählen.«

»Wir wissen es nicht von ihr. Ein gewisser Buddy hat angerufen. Offenbar leben die beiden zusammen. Er sagt, sie wollte nicht, dass wir uns Sorgen machen. Er hat am Telefon geweint.«

»Mom lebt mit einem Mann zusammen?« Charlie starrte die roten Flecken im Handtuch an. Er war die ganze Nacht wach geblieben, hatte versucht, Inspector Rivera zu erklären, was in dieser Gasse vorgefallen war, ohne ihm wirklich etwas zu erzählen. Er blutete, war übel zugerichtet, erschöpft, und seine Mutter lag im Sterben. »Ich kann es nicht fassen. Sie ist ausgeflippt, als Rachel bei mir eingezogen ist, bevor wir verheiratet waren.«

»Ja, nun. Heute Abend kannst du sie als Heuchlerin beschimpfen, wenn du willst.«

»Ich kann nicht mitkommen, Jane. Ich habe ein Geschäft, und Sophie – sie ist für so was noch zu klein.«

»Ich habe Ray und Lily angerufen. Die beiden kümmern sichum den Laden. Cassandra passt über Nacht auf Sophie auf, und unsere Ostblockdamen können sie dann übernehmen, bis Cassie von der Arbeit kommt.«

»Cassie will nicht mit?«

»Charlie. Mom nennt mich noch immer ihren kleinen >Wildfang<.«

»Ach ja, entschuldige.« Charlie seufzte. Er sehnte sich nach der Zeit zurück, in der Jane der Familienfreak gewesen war – und er der Normale. »Willst du versuchen, dich mit ihr zu versöhnen?«

»Ich weiß noch nicht. Ich habe keinen Plan. Wir wissen ja nicht mal, ob sie bei sich ist. Ich bin wie ferngesteuert, seit ich es weiß. Hab nur darauf gewartet, dass du nach Hause kommst, damit ich endlich zusammenbrechen kann.«

Charlie stand auf, ging zu seiner Schwester und nahm sie in die Arme. »Du hast dich gut gehalten. Ich bin jetzt wieder da. Von hier an übernehme ich. Was brauchst du?«

Sie drückte ihn an sich, dann machte sie sich los, Tränen in den Augen. »Ich muss nach Hause und packen. Ich komm gegen Mittag mit einem Taxi und hol dich ab, okay?«

»Ich warte auf dich.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass Mom mit einem Mann zusammenlebt.«

»Mit einem Mann, der Buddy heißt«, sagte Jane.

»Die Schlampe«, sagte Charlie.

Jane lachte, was genau das war, was Charlie in diesem Moment brauchte.

Lois Asher schlief, als Charlie und Jane in Sedona ankamen. Ein Mann mit Sonnenbrand und Bierbauch in Bermudashorts und Safarihemd machte ihnen auf: Buddy. Er saß mit Charlie und Jane am Küchentisch und bekundete seine Liebe zu ihrer Mutter, erzählte von seinem Leben als Flugzeugmechaniker in Illinois, bevor er in Rente gegangen war, dann spulte er ab, was seit Lois’ Diagnose passiert war. Drei Chemotherapien hatte sie mitgemacht und dann – krank und haarlos – aufgegeben. Charlie und Jane sahen sich an und fühlten sich schuldig, weil sie nicht da gewesen waren, um ihr zu helfen.

»Sie wollte ihre Kinder nicht belasten«, sagte Buddy. »Sie hat so getan, als wenn das Sterben etwas wäre, was sie in ihrer Freizeit macht, zwischen zwei Friseurterminen.«

Charlie spitzte die Ohren. So was ähnliches hatte er selbst schon gedacht, wenn er ein Seelenschiffchen holte und Leute sah, die das, was mit ihnen passieren würde, so weit verdrängten, dass sie sich einen neuen Fünf-Jahres-Kalender kauften.

»Frauen… was soll man machen?«, sagte Buddy und zwinkerte Jane zu.

Plötzlich spürte Charlie, wie ihn eine mächtige Woge der Zuneigung für diesen kleinen, sonnenverbrannten, kahlen Mann ergriff, der bei seiner Mutter hauste.

»Wir möchten Ihnen dafür danken, dass Sie hier bei ihr sind, Buddy.«

»Ja.« Jane nickte, sah noch immer etwas benommen aus.

»Tja. Ich kann bleiben und mich um alles kümmern, wenn Sie wollen.«

»Danke«, sagte Charlie, »das wollen wir.« Und das wollten sie, denn Charlie war klar, dass sich Buddy nur so lange auf den Beinen halten würde, wie er gebraucht wurde.

»Buddy«, sagte eine weibliche Stimme hinter Charlie. Er drehte sich um und sah eine groß gewachsene Mittdreißigerin im Kittel: auch hier eine Hospizschwester, auch hier eine dieser bemerkenswerten Frauen, die Charlie aus den Häusern der Sterbenden kannte, die ihnen in die nächste Welt halfen, mit allem Trost, aller Würde und sogar Freude, die sie hatten… gütige Walküren, Hebammen am anderen Ende des Lebens, das waren sie – und nie hatte Charlie erlebt, dass sie sich von ihrer Arbeit distanziert hätten oder herzlos geworden wären. Auf jeden Patienten, jede Familie ließen sie sich ein. Sie waren da. Er hatte sie mit hundert Familien trauern sehen, wie sie bereitwillig mitfühlten, was die meisten Menschen im Leben nur einige Male erleiden mussten. Sie über die Jahre so zu beobachten, hatte in Charlie eine gewisse Demut gegenüber seiner Aufgabe als Totenbote geweckt. Sie mochte ein Fluch sein, der auf ihm lastete, doch im Grunde ging es nicht um ihn, es ging darum, zu dienen – und um die Erfüllung, die in diesem Dienen lag. Das hatte er von den Hospizschwestern gelernt.

Auf dem Namensschild der Frau stand GRACE. Charlie lächelte.

»Buddy«, sagte sie, »sie ist wach und fragt nach Ihnen.«

Charlie stand auf. »Grace, ich bin Charlie, Lois’ Sohn. Das ist meine Schwester Jane.«

»Oh, sie spricht die ganze Zeit von Ihnen beiden.«

»Tut sie?«, sagte Jane ein wenig überrascht.

»Oh, ja. Sie hat mir erzählt, dass Sie ein tüchtiger Wildfang waren«, sagte Grace. »Und Sie«, sagte sie zu Charlie, »Sie waren früher ein lieber Junge, aber dann ist irgendwas passiert.«

»Ich habe sprechen gelernt«, sagte Charlie.

»Danach mochte ich ihn nicht mehr«, sagte Jane.

Lois Asher saß aufrecht in einem Nest aus Kissen und trug eine graue Perücke, die ihrem echten Haar ganz ähnlich war, dazu eine silberne Indianerkette mit passenden Ringen und Ohrringen, ein rosenrotes Seidenhemd, das so gut zur Einrichtung des Schlafzimmers passte, dass es schien, als wollte Lois mit ihrer Umgebung eins werden. Die Perücke war etwas zu groß, ihr Nachthemd wirkte leer, die Ringe lagen wie Armreifen um ihre Finger. Charlie war klar, dass seine Mutter nicht wirklich geschlafen hatte, als sie angekommen waren, sondern dass sie Buddy vorgeschickt hatte, damit Grace etwas Zeit bekam, sie anzuziehen und herzurichten, damit sie sich ihren Kindern präsentieren konnte.

Charlie fiel auf, dass die indianische Halskette auf Lois’ Nachthemd mattrot leuchtete, und ein langsamer, trauriger Seufzer stieg in seiner Brust auf. Er umarmte seine Mutter und konnte die Knochen am Rücken und an den Schultern fühlen, zerbrechlich wie ein kleiner Vogel. Jane gab sich alle Mühe, ihr Schluchzen zu unterdrücken, als sie ihre Mutter sah, und gab etwas von sich, das wie ein gequältes Schnauben klang. Am Bett der Mutter sank sie auf die Knie.

Charlie wusste, dass es vielleicht die dümmste Frage war, die man Sterbenden stellen konnte, und doch fragte er: »Wie geht es dir, Mom?«

Sie streichelte seine Hand. »Ich könnte einen Old-Fashioned vertragen. Buddy will mir keinen Alkohol geben, weil ich ihn nicht bei mir behalten kann. Habt ihr Buddy kennen gelernt?«

»Er scheint ein netter Mann zu sein«, sagte Jane.

»Oh, das ist er. Er war immer gut zu mir. Wir sind nur Freunde, wisst ihr?«

Charlie sah Jane an, die ihm gegenübersaß und ihre Augenbrauen in die Höhe zog.

»Ist schon okay. Wir wissen, dass ihr zwei zusammenlebt«, sagte Charlie.

»Zusammen? Wir? Wofür haltet ihr mich?«

»Vergiss es, Mom.«

Seine Mutter verscheuchte den Gedanken wie eine Fliege.

»Und wie geht es deinem kleinen, jüdischen Mädchen, Charlie?«

»Sophie? Sie macht sich wunderbar, Mom.«

»Nein, nicht die.«

»Wen meinst du?«

»Sie hieß nicht Sophie. Sie hieß irgendwie anders. Hübsches Mädchen – eigentlich zu gut für dich.«

»Du meinst Rachel, Mom. Sie ist vor fünf Jahren von uns gegangen. Erinnerst du dich?«

»Na, da kann man ihr wohl keinen Vorwurf machen, was? Du warst so ein süßer, kleiner Junge. Ich weiß gar nicht, was dann mit dir passiert ist. Kannst du dich erinnern?«

»Ja, Mom. Ich war süß.«

Lois sah ihre Tochter an. »Und was ist mit dir, Jane? Hast du einen netten Mann gefunden? Ich hoffe, du bist nicht allein.«

»Immer noch auf der Suche nach Mister Right«, sagte Jane und zeigte Charlie mit einer Kopfbewegung, die sie seit ihrem achten Lebensjahr praktizierte, dass sie sich dringend mal mit ihm draußen vor der Tür unterhalten musste.

»Mom, Jane und ich kommen gleich wieder. Nachher können wir Sophie anrufen und mit ihr sprechen, okay?«

»Wer ist Sophie?«, fragte Lois.

»Deine Enkelin, Mom. Erinnerst du dich noch an die süße, kleine Sophie?«

»Sei nicht albern, Charles. Ich bin noch nicht so alt, dass ich Großmutter sein könnte.«

Draußen vor dem Schlafzimmer fummelte Jane in ihrer Handtasche herum und holte ein Päckchen Zigaretten hervor, konnte sich aber nicht entscheiden, ob sie sie rauchen sollte oder nicht. »Heilige Mutter Motown. Was geht hier eigentlich vor?«

»Sie hat reichlich Morphium bekommen, Jane. Ist dir dieserbeißende Gestank nicht aufgefallen? Ihre Schweißdrüsen wollen das Gift aus dem Körper ausscheiden, das normalerweise von Nieren und Leber gefiltert wird. Ihre Organe schalten sich langsam ab, was bedeutet, dass haufenweise Toxine in ihr Hirn gelangen.«

»Woher weißt du das?«

»Hab ich gelesen. Du weißt doch, dass sie nie wirklich in der Realität gelebt hat, oder? Sie hat den Laden und Dads Arbeit gehasst, selbst wenn er ihre Lebensgrundlage war. Sie hat seine Sammelwut gehasst, auch wenn sie nicht viel besser war. Und die Sache mit Buddy, dass er nicht hier wohnt – sie versucht, die Frau, für die sie sich immer gehalten hat, mit der Frau in Einklang zu bringen, die sie tatsächlich ist.«

»Und deswegen würde ich ihr immer noch am liebsten eine reinhauen?«, sagte Jane. »So darf man doch nicht denken, oder?«

»Na ja, wahrscheinlich…«

»Ich bin ein schrecklicher Mensch. Meine Mutter stirbt an Krebs, und ich würde ihr am liebsten eine reinhauen.«

Charlie nahm seine Schwester in den Arm und führte sie zur Haustür, damit sie draußen eine rauchen konnte. »Sei nicht so streng mit dir selbst«, sagte er. »Du machst gerade genau dasselbe. Du versuchst, alle Mütter in Einklang zu bringen, die Mom je war – die Mutter, die du haben wolltest, die Mutter, die du brauchtest, die für dich da war, und die Mutter, die dich nicht verstanden hat. Die meisten von uns begegnen der Welt nicht mit einem einheitlichen Ich. Wir sind ein ganzes Bündel von Ichs. Wenn jemand stirbt, kommen sie alle in der Seele zusammen – die Essenz dessen, was wir sind, jenseits der verschiedenen Gesichter, die wir in unserem Leben aufsetzen. Du verachtest nur die Ichs, die du immer schon verachtet hast, und liebst diejenigen, die du schon immer geliebt hast. Und das wird dich eines Tages kaputt machen.«

Jane blieb stehen und trat einen Schritt von ihm zurück. »Und wie kommt es dann, dass es dich nicht kaputt macht?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht wegen dem, was ich nach Rachels Tod aushalten musste.«

»Du meinst also, wenn jemand so plötzlich stirbt, kommt es zu dieser Sache mit dem Gesichter-Einklang?«

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich ist es gar kein bewusster Vorgang. Für dich vielleicht noch eher als für Mom. Weißt du, was ich meine? Du hast das Gefühl, als müsstest du alles richtig stellen, weil sie bald nicht mehr da ist, und das kann sehr frustrierend sein.«

»Und was passiert, wenn sie das alles nicht zusammenbringt, bevor sie stirbt? Was passiert, wenn ich es nicht tue?«

»Ich glaube, du bekommst eine zweite Chance.«

»Ach, ja? Reinkarnation? Wie bei Jesus und so?«

»Ich glaube, es gibt so einiges, was nicht im Buch der Bücher steht. In keinem Buch.«

»Woher kommt das alles? Ich hatte nie den Eindruck, als wärst du spirituell. Du wolltest ja nicht mal Yoga mit mir machen.«

»Yoga wollte ich mit dir nicht machen, weil ich so ungelenkig bin – nicht, weil ich nicht spirituell wäre.«

Sie waren bei der Tür angekommen, und als Charlie sie öffnete, seufzte sie wie ein Kühlschrank. Als sie dann hinaus auf die Veranda traten, merkte er, wieso, denn eine Woge von vierundvierzig Grad Hitze schlug ihnen entgegen.

»Meine Fresse, hast du aus Versehen die Tür zur Hölle aufgemacht?«, sagte Jane. »So dringend muss ich gar nicht rauchen. Geh rein, geh rein, geh rein!« Sie schob ihn ins Haus zurück und machte die Tür zu. »Das ist ja scheußlich. Warum sollte irgendwer in diesem Klima leben wollen?«

»Ich bin verwirrt«, sagte Charlie. »Hast du jetzt wieder angefangen zu rauchen oder nicht?«

»Eigentlich nicht«, sagte Jane. »Ich rauch nur manchmal eine, wenn ich gestresst bin. Als würde ich dem Tod die lange Nase zeigen. Ist dir nicht auch mal danach zumute gewesen?«

»Wenn du wüsstest«, sagte Charlie.

Da Charlie und Jane im Haus waren, schickten sie die Hospizschwester über Nacht nach Hause und wechselten sich in Vier-Stunden-Schichten an Lois’ Bett ab. Charlie gab seiner Mutter die Medikamente, wischte ihr den Mund ab, fütterte sie mit dem Wenigen, was sie zu sich nehmen wollte, meist nur schlückchenweise Wasser oder Apfelsaft, und hörte ihr zu, wie sie darüber klagte, dass sie nicht mehr so hübsch aussah wie früher, da sie sich als große Schönheit in Erinnerung hatte, die Ballkönigin, bevor er überhaupt geboren war, ein Objekt der Begierde, was ihr deutlich besser gefiel als Ehefrau oder Mutter oder irgendeins der vielen anderen Gesichter, die sie in ihrem Leben getragen hatte. Manchmal jedoch wandte sie ihre Aufmerksamkeit tatsächlich ihrem Sohn zu…

»Ich habe dich geliebt, als du ein kleiner Junge warst. Ich habe dich in die Cafés von North Beach mitgenommen, und alle Welt hat dich vergöttert. Du warst so süß. Hübsch. Wir beide.«

»Ich weiß.«

»Weißt du noch, wie du alle Cornflakes aus den Kartons geschüttelt hast, um an das Spielzeug zu kommen? Ein kleines U-Boot, glaube ich. Weißt du noch?«

»Ich weiß, Mom.«

»Damals waren wir uns nah.«

»Ja, das waren wir.«

Dann nahm Charlie ihre Hand und ließ ihr die Erinnerung an große Zeiten, die sie nie wirklich gehabt hatten. Es war längst zu spät, Fakten richtig zu stellen und Eindrücke zu korrigieren.

Wenn sie erschöpft war, ließ er sie schlafen, saß neben ihrem Bett und las im Licht einer Taschenlampe. Er war in einen Kriminalroman versunken, als mitten in der Nacht die Tür aufging und ein zierlicher Mann von etwa fünfzig Jahren hereingeschlichen kam, stehen blieb und sich umsah. Er trug Turnschuhe und schwarze Jeans, ein langärmliges T-Shirt, und wäre da nicht die übergroße Drahtbrille gewesen, hätten ihm eigentlich nur eine Handgranate und ein Survival-Messer gefehlt, und er hätte wie ein Einzelkämpfer im Einsatz ausgesehen.

»Schön leise sein«, sagte Charlie sanft. »Sie schläft.«

Der kleine Mann sprang gut einen halben Meter in die Luft und landete in der Hocke. Er atmete schwer, und Charlie fürchtete schon, er würde gleich in Ohnmacht fallen, wenn er sich nicht entspannte.

»Ist schon okay. Es liegt in der obersten Schublade dieser Kommode da drüben. Es ist eine indianische Halskette. Nehmen Sie sie mit.«

Der kleine Mann versteckte sich hinter der Tür, dann spähte er um die Ecke. »Sie können mich sehen?«

»Ja.« Charlie legte sein Buch beiseite, stand von seinem Stuhl auf und trat an die Kommode.

»Oh, das ist schlimm. Das ist wirklich, wirklich schlimm.«

»So schlimm nun auch wieder nicht«, sagte Charlie.

Der kleine Mann schüttelte heftig den Kopf. »Nein, es ist wirklich schlimm. Sehen Sie woanders hin. Da drüben! Ich bin nicht hier. Ich bin gar nicht da. Sie können mich nicht sehen.«

»Hier ist es«, sagte Charlie. Er nahm die Indianerkette aus ihrem Samtkästchen in der Schublade und hielt sie hoch.

»Was ist das?«

»Das, wonach Sie gesucht haben.«

»Woher wussten Sie das?«

»Weil ich dasselbe tue wie Sie. Ich bin auch Totenbote.«

»Sie sind was

Dann fiel Charlie ein, dass Minty Fresh gesagt hatte, er habe den Begriff geprägt, so dass vielleicht nur die Totenboten in San Francisco ihn kannten. »Ich sammle Seelenschiffchen.«

»Nein, tun Sie nicht. Sie können mich nicht sehen. Sie können mich nicht sehen. Schlaf! Schlaf!« Der kleine Mann bewegte seine Hände auf und ab, als würde er einen Zaubervorhang zuziehen oder vielleicht auch die Spinnweben im Zimmer entfernen.

»Das sind nicht die Druiden, die ihr sucht«, sagte Charlie grinsend.

»Was?«

»Mann, Sie haben keine Jedi-Kräfte! Nehmen Sie die Kette endlich!«

»Ich verstehe nicht.«

»Kommen Sie mit«, sagte Charlie. »Es wird sowieso Zeit, dass meine Schwester Wache hält.« Er führte den kleinen Mann aus dem Schlafzimmer seiner Mutter ins Wohnzimmer. Sie standen am Fenster, sahen, wie die Sonne aufging und um sie herum Schatten auf die roten Berge warf, die wie abgebrochene Zähne aussahen. »Wie heißen Sie?«

»Vern. Vern Glover.«

»Ich bin Charlie. Nett, Sie kennen zu lernen. Wie lange hat sie noch, Vern?«

»Was meinen Sie?«

»Was steht auf Ihrem Kalender? Wie viele Tage bleiben ihr noch?«

»Woher wissen Sie davon?«

»Ich habe es Ihnen doch schon gesagt: Ich mache dasselbe wie Sie. Ich kann Sie sehen. Ich kann sehen, dass diese Kette rot leuchtet. Ich weiß, was Sie sind.«

»Aber das kann nicht sein. Im Großen Bunten Buch steht, dass furchtbare Mächte der Finsternis aus der Tiefe aufsteigen werden, wenn ich mit Ihnen spreche.«

»Sehen Sie diesen Schnitt über meinem Ohr, Vern?«

Vern nickte.

»Mächte der Finsternis. Scheiß drauf. Scheiß auf die Mächte der Finsternis, Vern. Wie lange hat meine Mutter noch?«

»Sie ist Ihre Mutter? Das tut mir leid, Charlie. Ihr bleiben noch zwei Tage.«

»Okay«, sagte Charlie und nickte. »Dann sollten wir jetzt losgehen und Doughnuts holen.«

»Bitte?«

»Doughnuts! Doughnuts! Sie mögen doch Doughnuts, oder?«

»Ja, aber wieso?«

»Weil die Kontinuität der menschlichen Existenz, wie wir sie kennen, davon abhängt, dass wir zusammen Doughnuts essen.«

»Wirklich?« Verns Augen wurden groß.

»Nein, nicht wirklich. Ich verarsch Sie nur.« Charlie legte einen Arm um Verns Schulter. »Aber lassen Sie uns trotzdem welche holen. Ich weck meine Schwester für ihre Wache.«

Charlie rief von seinem Handy aus zu Hause an. Dann, als er sicher war, dass es Sophie gut ging, kehrte er an seinen Platz im DunkinDonuts zurück, wo Vern und ein Doughnut auf ihn warteten. Vern hatte seine Wollmütze abgenommen, so dass man den wilden Mop aus silbergrauem Haar über der großen Fliegerbrille sehen konnte, mit der er wie ein verrückter, braun gebrannter Wissenschaftler aussah.

»Und sie war echt heiß?«

»Vern, Sie würden es nicht glauben. Ich kann Ihnen sagen: der Körper einer Göttin. Mit feinen Federn überzogen, weich wie Daunen.« Charlie erkannte ein anderes Betamännchen genauso wie er einen anderen Totenboten erkannte, und so konnte er es kaum erwarten, die Geschichte seines Abenteuers mit der sexy Gullyhexe zu erzählen, da er wusste, dass sein Publikum Mitgefühl zeigte.

»Aber sie wollte Ihnen die Klaue bis ins Hirn bohren, richtig?«

»Ja, das hat sie gesagt, aber wissen Sie, was? Ich glaube, zwischen uns hat es irgendwie gefunkt.«

»Meinen Sie nicht, es lag möglicherweise daran, dass sie Ihren Johannes in der Hand hielt? Das kann das Urteilsvermögen eines Mannes trüben.«

»Ja, das stimmt wohl, aber trotzdem sollte man bedenken, dass sie unter allen Totenboten aller Städte dieser Welt mich dafür auserwählt hat. Ich glaube, sie stand auf mich.«

»Tja, Sie wohnen in der Stadt der Zwei Brücken«, sagte Vern, wobei er sich Zuckerguss aus dem Mundwinkel wischte. »Da, wo es passieren soll.«

»Wo was passieren soll?« Charlie hatte es genossen, der erfahrenere Totenbote zu sein, Vern gegenüber als Dienstältester aufzutreten, da dieser erst seit einem halben Jahr Seelen sammelte. Jetzt war er platt.

»Im Großen Bunten Buch des Todes steht, wir dürfen nicht darüber sprechen, was wir tun, und uns auch nicht gegenseitig suchen, weil sich sonst die Mächte der Finsternis in der Stadt der Zwei Brücken erheben und sich im ganzen Land verbreiten werden, wenn wir unterliegen. Es gibt doch zwei Brücken in San Francisco, oder?«

Charlie versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Offenbar besaß Vern eine andere Ausgabe vom Großen Bunten Buch als das, was sie in San Francisco hatten. »Wenn man nur die Wichtigsten zählt, ja. Tut mir leid, es ist schon lange her, seit ich das Buch gelesen habe. Erzählen Sie mir doch noch mal, warum die Stadt der Zwei Brücken so wichtig ist.«

Vern sah Charlie an, als könnte er es nicht fassen. »Weil dort der neue Luminatus, der Große Tod, die Macht übernehmen wird.«

»Ach, ja, natürlich, der Luminatus.« Charlie schlug sich an den Kopf. Er hatte keine Ahnung, wovon Vern eigentlich redete.

»Sie meinen, wir werden nicht mehr gebraucht, wenn der Große Tod die Macht übernommen hat?«, fragte Vern. »Ich meine: bekommen wir dann Kurzarbeit? Im Großen Buch hört es sich an, als wäre es was Gutes, wenn der Luminatus kommt, aber ich habe einen Haufen Geld verdient, seit ich diesen Job mache.«

Ja, das wird unser größtes Problem sein – Kurzarbeit, dachte Charlie. »Ich glaube, es wird schon gehen. Wie es im Buch steht: Es ist ein mieser Job, aber irgendjemand muss ihn tun.«

»Genau, genau, genau. Und der Cop, der diese Sexgöttin erschossen hat, der hat nichts weiter unternommen?«

»Nein, er hat nicht nichts unternommen. Erst hat er mich in seinen Wagen verfrachtet und versucht, mich dazu zu bringen, dass ich ihm erzähle, was los war, als er aufgetaucht ist, und was in den letzten Jahren los war, seit er mich beobachtet.«

»Und was haben Sie ihm erzählt?«

»Ich habe ihm gesagt, dass es mir genauso ein Rätsel ist wie ihm.«

»Und das hat er geglaubt?«

»Nein, hat er nicht. Aber er hat mir geglaubt, als ich ihm gesagt habe, wenn ich mehr erzähle, wird alles immer schlimmer, und deshalb haben wir uns dann eine Geschichte ausgedacht, mit der er erklären konnte, wieso er geschossen hat. Ein Bewaffneter hat erst auf mich geschossen, dann auf ihn – mit Beschreibung und allem. Als er sicher war, dass wir alles geklärt hatten, hat er mich mit aufs Revier genommen und mich meine Aussage unterschreiben lassen.«

»Danach hat er Sie gehen lassen.«

»Nein, dann hat er mir von den schrägen Sachen erzählt, die ihm passiert sind, und dass er mich deshalb gehen ließ. Der Typ ist völlig irre. Er glaubt an Vampire und Dämonen und Rieseneulen – er hat gesagt, einmal hätte er einen Notruf wegen einer Eisbärenattacke in Santa Barbara bekommen.«

»Wow«, sagte Vern, »da haben Sie aber Schwein gehabt.«

»Ich habe ihn vor unserem Abflug angerufen. Er will mein Haus im Auge behalten, bis ich wiederkomme, und aufpassen, dass bei meiner Tochter alles okay ist.« Charlie hatte Vern nichts von den Höllenhunden erzählt.

»Sie müssen sich schreckliche Sorgen um die Kleine machen«, sagte Vern. »Ich habe auch eine Tochter. Sie geht zur Highschool. Lebt bei meiner Exfrau in Phoenix.«

»Na, dann kennen Sie das ja«, sagte Charlie. »Sagen Sie mal, Vern, Sie haben also noch nie irgendwelche finsteren Kreaturen gesehen? Und auch noch nie Stimmen aus den Gullys gehört? Nichts dergleichen?«

»Nein. Nichts von dem, was Sie da erzählen. Es gibt in Sedona keine Gullys. Wir wohnen in der Wüste.«

»Okay, aber haben Sie schon mal versäumt, ein Seelenschiffchen abzuholen?«

»Ja, am Anfang, als ich das Große Bunte Buch bekam, habe ich das Ganze für einen Scherz gehalten. Drei oder vier habe ich ausgelassen.«

»Und es ist nichts passiert?«

»Also, das würde ich so nicht sagen. Ich bin früh aufgewacht und hab den Berg oberhalb von meinem Haus gesehen, und da war ein Schatten. Sah aus wie ein großer Ölteppich.«

»Und?«

»Und er war auf der falschen Seite des Berges. Auf der Sonnenseite. Und im Laufe des Tages hat sich der Schatten den Berg hinabbewegt. Oh, wenn man nicht genau hinsah, fiel es einem gar nicht auf, aber er bewegte sich ganz langsam auf die Stadt zu. Ich bin rübergefahren, hab ihn mir angesehen und gewartet.«

»Und?«

»Man konnte Krähen hören. Ich habe gewartet, bis der Schatten einen halben Block von mir entfernt war, wobei er sich so langsam bewegte, dass man kaum was erkennen konnte. Aber dann wurde es immer lauter, wie ein riesiger Krähenschwarm. Hat mir eine Heidenangst eingejagt. Ich bin nach Hause gefahren, hab mir den Namen angesehen, den ich am Abend aufgeschrieben hatte, und die Leute wohnten in der Gegend, in der ich gerade gewesen war. Der Schatten kam aus den Bergen, um sich das Seelenschiffchen zu holen.«

»Hat er es bekommen?«

»Schätze schon. Ich jedenfalls nicht.«

»Aber es ist nichts passiert?«

»Oh, doch, es ist was passiert. Beim nächsten Mal hat sich der Schatten schneller vorwärts bewegt wie eine große Wolke, die über einen hinwegzieht. Ich bin ihm gefolgt, und was soll ich Ihnen sagen? Er war auf direktem Wege zum Haus der Frau, deren Name auf meinem Kalender stand. Da ist mir klar geworden, dass mit dem Großen Bunten Buch nicht zu spaßen ist.«

»Aber dieses Schattending ist nie zu Ihnen gekommen?«

»Beim dritten Mal«, sagte Vern.

»Es gab ein drittes Mal?«

»Ja. Haben Sie es nicht auch für Quatsch gehalten, als es zum ersten Mal passiert ist?«

»Okay, stimmt schon«, sagte Charlie. »Verzeihung. Reden Sie weiter.«

»Beim dritten Mal also kommt der Schatten einen Berg auf der anderen Seite der Stadt herunter, nachts bei Vollmond, und dieses Mal kann man die Krähen sehen, die darin fliegen. Nicht wirklich sehen – man ahnte ihre Konturen. Das haben ein paar Leute bemerkt. Ich habe mich wieder in meinen Wagen gesetzt und meinen Hund Scottie mitgenommen. Ich wusste schon, wohin das Ding wollte. Ich hab ein Stück abseits vom Haus des Mannes geparkt – wollte ihn warnen. Mir war nicht klar, was da im Buch darüber stand, dass wir nicht zu sehen sind, ansonsten wäre ich schnurstracks zum Seelenschiffchen gegangen. Jedenfalls steh ich da vor der Tür, und der Schatten kommt über die Straße, die Ränder geformt wie Krähen, und Scottie fängt wie verrückt an zu bellen und rennt darauf zu. Tapferer, kleiner Kerl. Tja, und als ihn der Schatten berührt, winselt er und fällt tot um. Dann kommt eine Frau zur Tür, und ich werfe einen Blick hinein und sehe eine kleine Figur, so was wie ein Bronze-Cowboy hinter ihr auf einem Tisch im Flur, und die leuchtet rot, als wäre sie heiß. Und ich renn an ihr vorbei und schnapp sie mir. Da hat sich der Schatten aufgelöst. Einfach so. Seitdem bin ich nie wieder zu spät gekommen, wenn ich ein Seelenschiffchen holen sollte.«

»Tut mir leid, das mit Ihrem Hund«, sagte Charlie. »Was haben Sie der Frau gesagt?«

»Das war das Komische daran. Ich habe überhaupt nichts gesagt. Sie hat sich mit ihrem Mann nebenan unterhalten, aber der hat nicht geantwortet, und sie ist hingegangen, um nachzusehen, was los war. Hat mich nicht mal angesehen. Stellt sich raus, der Typ hatte einen Herzinfarkt. Ich hab die kleine Figur genommen, hab mir den toten Scottie unter den Arm geklemmt und bin weggefahren.«

»Das muss hart gewesen sein.«

»Eine Weile dachte ich, ich sei der Tod. Sie wissen schon: was Besonderes. Weil ich da war, als der Typ gestorben ist – aber es war nur ein Zufall.«

»Ja, das ist mir auch schon passiert«, sagte Charlie. Aber er machte sich noch immer Sorgen wegen der »Großen Schlacht«, die ihnen prophezeit wurde. »Vern, hätten Sie was dagegen, wenn ich mir Ihr Großes Buntes Buch ansehe?«

»Lieber nicht, Charlie. Ehrlich gesagt denke ich, wir sollten lieber Abschied nehmen. Ich meine, wenn das stimmt, was im Großen Bunten Buch steht – und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln -, dann sollten wir überhaupt nicht miteinander sprechen.«

»Aber es ist eine andere Version als meine.«

»Meinen Sie nicht, dass das vielleicht einen Grund hat?«, sagte Vern. Die Brille vergrößerte seine Augen, so dass er kurz wie ein Wahnsinniger aussah.

»Na, gut«, erwiderte Charlie, »aber dann schreiben wir uns E-Mails, okay? Das kann doch nicht schaden.«

Vern starrte in seine Kaffeetasse, als dachte er darüber nach, dass er sich selbst einen Schrecken eingejagt hatte, als er eben die Geschichte vom Schatten erzählte, der aus den Bergen gekommen war. Schließlich blickte er auf und lächelte. »Das würde ich gut finden. Ich könnte ein paar Tipps brauchen, und falls was Merkwürdiges vor sich geht, hören wir einfach damit auf.«

»Abgemacht«, sagte Charlie. Er fuhr Vern zurück zu seinem Wagen, der um die Ecke vom Haus seiner Mutter parkte, und sie verabschiedeten sich voneinander.

Jane nahm Charlie an der Tür in Empfang. »Wo bist du gewesen? Ich brauch den Wagen, um ihr Zahnseide zu besorgen.«

»Ich hab uns Doughnuts mitgebracht«, sagte Charlie und hielt den Karton hoch, wenn auch vielleicht etwas zu stolz.

»Na, das ist wohl nicht dasselbe, oder?«

»Wie Zahnseide?«

»Allen Ernstes. Ist es zu fassen? Charlie, sollte ich auf meinem Totenbett noch Zahnseide benutzen, hast du hiermit meine Erlaubnis, mich damit zu erdrosseln. Nein, ich erteile dir die Anweisung, mich damit zu erdrosseln.«

»Okay«, sagte Charlie, »aber sonst geht es ihr gut?«

Jane wühlte in ihrer Handtasche herum, fand die Zigaretten und suchte dann ihr Feuerzeug. »Als wäre eine Zahnfleischentzündung momentan ihr größtes Problem. Verflucht! Haben die mir am Flughafen mein Feuerzeug weggenommen?«

»Du rauchst immer noch nicht, Jane«, sagte Charlie.

Sie blickte auf. »Und was willst du damit sagen?«

»Nichts.« Er reichte ihr die Schlüssel zum Mietwagen. »Kannst du mir Zahnpasta mitbringen, wenn du schon unterwegs bist?«

Sie gab die Suche nach ihrem Feuerzeug auf und warf die Zigaretten in die Handtasche zurück. »Was ist bloß los mit dieser Familie und ihrer zwanghaften Zahnpflege?«

»Ich hab keine dabei.«

»Okay.« Jane hielt den Schlüssel in der Hand, bereit, ihn ins Zündschloss zu stecken, und klemmte sich ihre Handtasche wie einen Football unter den Arm. Sie ging in die Hocke und setzte ihre verspiegelte Wrap-Around-Sonnenbrille auf, so dass sie mit dem kurzen platinblonden Haar und Charlies Nadelstreifenanzug wie ein Cyborg-Attentäter aus der Zukunft aussah, der sich bereit machte, in die giftige Atmosphäre des Planeten Duran Duran hinauszutreten. »Ist scheißheiß da draußen, oder?«

Charlie nickte und hielt den Doughnut-Karton hoch. »Die mit Zuckerguss haben gelitten.«

»Oh«, sagte Jane und schob ihre Brille wieder hoch. »Cassandra hat angerufen. Sie hat den Kalender auf deinem Nachttisch gefunden, nachdem du heute früh angerufen hattest. Also, eigentlich sagte sie, Alvin und Mohammed hätten sie da reingezerrt und ihr den Kalender hingeschoben. Sie fragt sich, ob du ihn vielleicht brauchst.«

»Was ist mit Sophie? Geht es ihr gut?«

»Nein, sie wurde von Aliens entführt, aber du solltest erst die schlechte Nachricht mit deinem Kalender verdaut haben.«

»Weißt du, solche Sachen sind genau der Grund, wieso Mom sich für dich schämt«, sagte Charlie.

Jane lachte. »Weißt du was? Tut sie nicht.«

»Tut sie nicht?«

»Heute Morgen nicht. Sie hat mir erzählt, dass sie schon immer wusste, wer ich war und was ich war und dass sie mich immer geliebt hat, genau so, wie ich bin.«

»Hast du dir ihren Ausweis zeigen lassen? Da liegt eine Hochstaplerin in Moms Bett.«

»Halt den Mund. Es war nett. Wichtig.«

»Wahrscheinlich hat sie es nur gesagt, weil sie im Sterben liegt.«

»Sie hat gesagt, es wäre ihr lieber, wenn ich nicht ständig Herrenanzüge tragen würde.«

»Damit steht sie nicht allein da«, sagte Charlie.

Jane ging wieder in Angriffsmodus. »Ich bin auf Zahnseidenmission. Ruf Cassandra an.«

»Mach ich«, sagte Charlie.

»Und Buddy braucht einen Doughnut.« Jane riss die Tür auf und rannte in die Hitze hinaus, schreiend wie ein Berserker, der dem Feind entgegenstürmt.

Charlie schloss die Tür hinter ihr, um nichts von der kühlen Luft der Klimaanlage hinauszulassen. Durch das Fenster sah er, wie seine Schwester über den Hof lief, als brannte ihre Hose. Dahinter sah er den roten Tafelberg, der in der Wüste aufragte, und in diesem schien eine tiefe Schlucht zu sein, die er dort noch nie gesehen hatte. Er sah genauer hin und merkte, dass es gar keine Schlucht war, sondern nur ein langer, spitzer Schatten.

Er rannte hinaus und sah sich an, wo die Sonne stand. Der Schatten lag auf der falschen Seite des Berges. Dort konnte überhaupt kein Schatten sein, denn die Sonne schien darauf. Er hielt die Hand schützend über seine Augen und beobachtete den dunklen Fleck, bis er das Gefühl hatte, dass sein Hirn in der Sonne brutzelte. Der Schatten wanderte nur langsam, aber er wanderte, und zwar nicht so, wie Schatten wanderten. Er bewegte sich zielstrebig vorwärts, gegen die Sonne, auf das Haus seiner Mutter zu.

»Mein Kalender«, sagte er zu sich selbst. »O Scheiße.«

18

Deine Mama lebt nicht ewig

An ihrem letzten Tag bäumte sich Lois Asher noch einmal auf. Nachdem sie drei Wochen nicht aufstehen konnte, weder zum Frühstück in der Küche, noch zum Fernsehen im Wohnzimmer, verließ sie nun ihr Bett und tanzte mit Buddy zu einem alten Song der Ink Spots. Sie war heiter und putzmunter, sie neckte ihre Kinder und umarmte sie, sie aß ein Schokoladen-Marshmallow-Eis und putzte sich danach die Zähne mit Bürste und Seide. Sie legte ihren liebsten Silberschmuck an und trug ihn beim Abendessen, und als sie ihre türkisfarbene Navaho-Halskette nicht finden konnte, zuckte sie nur mit den Schultern, als sei nichts dabei – wahrscheinlich hatte sie sie verlegt. Ach, ja.

Charlie wusste, was vor sich ging, denn er hatte so etwas schon oft gesehen, und Buddy und Jane wussten auch Bescheid, weil Grace, die Hospizschwester, es ihnen erklärt hatte. »So etwas kommt immer wieder vor. Ich habe schon erlebt, dass Leute aus dem Koma erwachen und ihr Lieblingslied singen. Ich kann Ihnen nur raten, es zu genießen. Man sieht, wie das Licht in Augen leuchtet, die monatelang trübe waren, und man schöpft neue Hoffnung. Aber es ist kein Zeichen der Besserung, es ist eine Gelegenheit, Abschied zu nehmen. Ein Geschenk.«

Außerdem hatte Charlie beobachtet, dass es tatsächlich allen Beteiligten half, leicht medikamentiert zu sein, weshalb er mit Jane ein paar von den Beruhigungspillen nahm, die Janes Therapeutin ihr verschrieben hatte, und Buddy eine Morphiumpille mit etwas Scotch hinunterspülte. Medikamente und Versöhnlichkeit können einem freudige Momente mit Sterbenden bescheren, denn es ist, als kehrten sie in ihre Kindheit zurück, und da nichts Zukünftiges Bedeutung hat, weil man sie nicht auf das Leben vorbereiten, ihnen Lektionen erteilen oder brauchbare Erinnerungen schmieden muss, kann man die Freude jener letzten Augenblicke ungetrübt in seinem Herzen bewahren. Nie hatte sich Charlie seiner Mutter und seiner Schwester näher gefühlt, und auch Buddy gehörte zur Familie.

Lois Asher ging um neun zu Bett und starb um Mitternacht.

»Ich kann nicht zur Beerdigung bleiben«, sagte Charlie am nächsten Morgen zu seiner Schwester.

»Was soll das heißen? Du kannst nicht zur Beerdigung bleiben?«

Charlie sah aus dem Fenster und hinüber zu dem gigantischen Eispickel von einem Schatten, der vom Berg herab bis fast zum Haus seiner Mutter gekrochen war. Charlie sah ein Flattern an den Rändern wie Vogelschwärme oder Insekten. Die Spitze war keine halbe Meile mehr entfernt.

»Ich hab zu Hause was Wichtiges zu tun, Jane. Ich meine, ich hab was vergessen und kann wirklich ehrlich nicht bleiben.«

»Tu nicht so geheimnisvoll. Was ist so dringend, dass du nicht an der Beerdigung deiner Mutter teilnehmen kannst?«

Charlie presste seine Betamännchenphantasie bis zum Anschlag aus, um sich spontan was Glaubwürdiges einfallen zu lassen. Da ging ihm ein Licht auf. »Weißt du noch, neulich Abend, als du mich losgeschickt hast, um einen wegzustecken?«

»Ja?«

»Also, es war ein echtes Abenteuer, und als sie mir die Kopfhaut wieder zusammengenäht haben, wurde auch ein Test gemacht. Ich hab vorhin mit dem Arzt gesprochen, und ich sollte mich behandeln lassen. Sofort.«

»Idiot! Ich hab dich doch nicht losgeschickt, damit du ungeschützten Sex hast. Was hast du dir dabei gedacht?«

»Aber es war Safer Sex.« Von wegen sicher, dachte er und lachte beinah über sich selbst. »Und wenn ich sofort mit diesen Medikamenten anfange, stehen die Chancen gut, dass ich durchkomme.«

»Du kriegst den Cocktail? Zur Vorbeugung, oder wie?«

Genau, das ist es: der Cocktail!, dachte Charlie. Er nickte feierlich.

»Okay, dann geh.« Jane drehte sich um und schlug die Hände vors Gesicht.

»Vielleicht kann ich rechtzeitig zur Beerdigung wieder da sein«, sagte Charlie. Konnte er? Er musste in weniger als einer Woche zwei überfällige Seelenschiffchen abholen und konnte nur hoffen, dass in seinem Kalender keine neuen Namen standen.

»Wir machen es heute in einer Woche«, sagte Jane, drehte sich wieder um und blinzelte ihre Tränen weg. »Flieg du nach Hause, lass dich behandeln und komm wieder. Ich kümmere mich mit Buddy um die Vorbereitungen.«

»Tut mir leid«, sagte Charlie. Er nahm seine Schwester in die Arme.

»Stirb du mir nicht auch noch, Blödmann«, sagte Jane.

»Wird schon. Ich komm sobald zurück wie möglich.«

»Bring deinen schwarzgrauen Armani-Anzug mit, damit ich zur Beerdigung was anzuziehen hab. Und Cassies schwarze Riemchenpumps, okay?«

»Du? In schwarzen Riemchenpumps?«

»Mom hätte es so gewollt«, sagte Jane.

Als Charlie in San Francisco landete, hatte er vier panische Nachrichten von Cassandra auf seinem Handy. Sie war ihm immer so ruhig, so gefasst vorgekommen – der stabile Gegenpol zu den Schwärmereien seiner Schwester. Auf der Mailbox klang sie wie ein Wrack.

»Charlie, sie hat ihn in die Falle gelockt, und jetzt wollen sie ihn fressen, und ich weiß nicht, was ich machen soll. Ich will nicht zur Polizei. Ruf mich an, wenn du gelandet bist.«

Charlie rief sie an, auf dem ganzen Weg mit dem Bus in die Stadt rief er sie an, wurde aber immer nur zur Mailbox weitergeleitet. Als er vor seinem Laden ausstieg, hörte er ein Fauchen aus dem Gully an der Ecke.

»Ich war mit dir noch gar nicht fertig, Liebster«, sagte die Stimme.

»Keine Zeit«, sagte Charlie, sprang auf den Bürgersteig und rannte in den Laden.

»Du hast mich nicht angerufen«, schnurrte die Morrigan.

Ray stand hinterm Tresen und klickte sich durch asiatische Schönheiten, als Charlie an ihm vorbeikam.

»Du solltest lieber mal raufgehen«, sagte Ray. »Die flippen aus da oben.«

»Was du nicht sagst«, rief Charlie, dann nahm er zwei Stufen auf einmal.

Er war gerade dabei, seinen Schlüssel ins Schloss zu fummeln, als Cassandra die Tür aufriss und ihn in die Wohnung zerrte.

»Sie will ihn nicht gehen lassen. Ich habe Angst, dass sie ihn fressen.«

»Wen, was? Das hast du auch schon auf meiner Mailbox gesagt. Wo ist Sophie?«

Cassandra zerrte ihn zu Sophies Zimmer, in dessen Tür ihn ein knurrender Mohammed empfing.

»Daddy!«, quiekte Sophie. Sie rannte quer durchs Zimmer und sprang in seine Arme. Dann drückte sie ihn fest an sich und gab ihm einen feuchten Kuss auf die Wange, der einen Schokoladenabdruck hinterließ. »Runter«, sagte sie. »Runter, runter.« Charlie setzte sie ab, und sie rannte wieder in ihr Zimmer, doch Mohammed verhinderte, dass Charlie eintrat, drückte seine Schnauze gegen Charlies Hemd, was einen schokoladigen Hundeschnauzenabdruck hinterließ. Offensichtlich hatte es während seiner Abwesenheit eine Schokoladenorgie gegeben.

»Seine Mutter will ihn um ein Uhr abholen«, sagte Cassandra. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Charlie versuchte, um den Höllenhund herumzuspähen, und sah, dass Sophie, eine Hand an Alvins Halsband, dastand, während dieser einen kleinen Jungen bedrohte, der dort in der Ecke kauerte. Der kleine Junge machte große Augen, war ansonsten aber unverletzt, und er schien sich keineswegs zu fürchten. Tatsächlich hielt er eine Tüte mit Käseknusperbällchen im Arm und aß eines davon, dann fütterte er Alvin mit dem nächsten, und Höllenhundsabber der Vorfreude saute dem Jungen die Schuhe ein.

»Ich hab ihn lieb«, sagte Sophie. Sie ging zu dem kleinen Jungen, küsste ihn auf die Wange und verschmierte sie mit Schokolade. Und zwar nicht zum ersten Mal. Es schien, als hätte der kleine Bursche Sophies Zuneigung schon eine Weile erdulden müssen, denn er war komplett mit Schokolade und orangefarbenem Käseknusperstaub überzogen. »Ich will ihn behalten.«

Der kleine Junge grinste.

»Er kam zum Spielen rüber. Ich schätze, du hattest es wohl schon vorher abgemacht«, sagte Cassandra. »Ich dachte, es wäre okay. Ich hab versucht, ihn da rauszuholen, aber die Hunde wollten mich nicht vorbeilassen. Was sollen wir seiner Mutter sagen?«

»Ich will ihn behalten«, sagte Sophie. Dicker Kuss.

»Er heißt Matthew«, sagte Cassie.

»Ich weiß, wie er heißt. Er geht in Sophies Schule.«

Charlie spähte ins Zimmer. Mohammed versperrte ihm den Weg.

»Matty, alles klar bei dir?«, fragte Charlie.

»Hm-hm«, machte der mit Käse, Schokolade und Hundesabber verklebte Junge.

»Ich will, dass er hier bleibt, Dad«, sagte Sophie. »Alvin und Mohammed wollen auch, dass er bleibt.«

Charlie dachte, dass er seiner Tochter vielleicht nicht streng genug ihre Grenzen aufgezeigt hatte. Womöglich hatte ihm der Mut gefehlt, ihr etwas abzuschlagen, nachdem sie schon ihre Mutter verloren hatte – und jetzt nahm sie Geiseln.

»Schätzchen, Matty muss gewaschen werden. Seine Mommy kommt gleich, um ihn abzuholen, damit er zu Hause weiter traumatisiert werden kann.«

»Nein! Das ist meiner!«

»Schätzchen, sag Mohammed, dass er mich reinlassen soll! Wenn wir Matty nicht waschen, darf er bestimmt nie wieder kommen.«

»Er kann in meinem Zimmer schlafen«, sagte Sophie. »Ich pass auch auf ihn auf.«

»Nein, mein Fräulein, du wirst Mohammed sagen, dass er…«

»Ich muss mal«, sagte Matthew. Er stand auf und schob sich an Alvin vorbei, der ihm folgte, kroch dann unter Mohammed hindurch und lief an Charlie und Cassandra vorbei ins Badezimmer. »Hi«, sagte er, als er an ihnen vorüberkam. Er machte die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn pinkeln. Alvin und Mohammed drängten durch die Tür und warteten vor dem Badezimmer.

Sophie fiel auf ihren Hintern und schob die Unterlippe vor wie ein Bullenfänger an einer Dampflokomotive. Ihre Schultern bebten bereits, bevor er sie schluchzen hörte, als sparte sie sich ihre Atemluft – dann fing sie an zu heulen. Charlie ging zu ihr und hob sie hoch.

»Ich-ich-ich-ich, er-er-er-er…«

»Ist ja gut, Süße. Ist alles gut.«

»Aber ich hab ihn lieb.«

»Das weiß ich doch, Süße. Es wird alles wieder gut. Er geht nach Hause, aber du kannst ihn trotzdem lieb haben.«

»Neeeeeeeeeeiiiiiiiiiiiiiiiinnn…«

Sie vergrub ihr Gesicht in seiner Jacke, und so sehr er auch mit seiner Tochter leiden mochte, dachte er doch auch an die Vorhaltungen, die Drei Finger Wu ihm machen würde, wenn er diesen Schokoladenfleck aus seinem Jackett entfernen sollte.

»Sie lassen ihn einfach pinkeln gehen«, sagte Cassandra und starrte die Höllenhunde an. »Einfach so. Ich dachte, sie fressen ihn auf. Mich wollten sie nicht mal in seine Nähe lassen.«

»Ist schon okay«, sagte Charlie. »Du wusstest es ja nicht.«

»Wusste was nicht?«

»Die beiden lieben Käseknusperbällchen.«

»Soll das ein Scherz sein?«

»Tut mir leid. Hör zu, Cassie, könntest du Sophie und Matty sauber machen? Da steht was in meinem Kalender, um das ich mich sofort kümmern muss.«

»Klar, aber…«

»Sophie kommt schon zurecht. Oder, Süße?«

Sophie nickte traurig und wischte ihre Augen an seinem Jackett ab. »Du hast mir gefehlt, Daddy.«

»Du hast mir auch gefehlt, mein Schatz. Heute Abend bin ich wieder da.«

Er gab ihr einen Kuss, holte seinen Kalender aus dem Schlafzimmer und lief in der Wohnung herum, holte Schlüssel, Spazierstock, Hut und Herrenhandtäschchen. »Danke, Cassie. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich dir bin.«

»Das mit deiner Mutter tut mir leid, Charlie«, sagte Cassandra, als er an ihr vorbeikam.

»Ja, danke«, erwiderte Charlie und warf einen kurzen Blick auf die Klinge seines Degens.

»Charlie, dein Leben ist völlig aus der Bahn geraten«, sagte Cassandra und wurde wieder die unerschütterliche Persönlichkeit, an die sie alle gewöhnt waren.

»Okay, und ich möchte deine schwarzen Riemchenpumps leihen«, sagte Charlie auf dem Weg zur Tür hinaus.

»Ich denke, mehr muss ich dazu nicht sagen«, rief ihm Cassie nach.

Ray hielt Charlie unten an der Treppe auf. »Hast du mal einen

Moment, Chef?«

»Eigentlich nicht, Ray. Ich bin in Eile.«

»Also, ich wollte mich entschuldigen.«

»Wofür?«

»Na ja, im Nachhinein klingt es albern, aber ich hatte dich irgendwie im Verdacht, ein Serienkiller zu sein.«

Charlie nickte, als überdachte er die ernsten Konsequenzen, die Rays Geständnis nach sich zog, während er sich in Wahrheit zu erinnern versuchte, ob noch genug Benzin im Wagen war. »Okay, Ray, ich nehme deine Entschuldigung an, und es tut mir leid, dass ich diesen Eindruck vermittelt habe.«

»Ich glaube, die vielen Jahre bei der Polizei haben mich misstrauisch gemacht, aber Inspector Rivera war hier und hat mich aufgeklärt.«

»Hat er, ja? Was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt, du hast ein paar Sachen für ihn erledigt, warst in Gebäuden, die er ohne Durchsuchungsbefehl und so was nicht betreten durfte, wofür ihr beide reichlich Ärger kriegen würdet, falls es jemand rausfindet, was aber dazu beigetragen hat, ein paar ganz schlimme Finger hinter Schloss und Riegel zu bringen. Er hat gesagt, deshalb tust du so geheimnisvoll.«

»Ja«, sagte Charlie feierlich, »ich habe in meiner Freizeit das Verbrechen bekämpft, Ray. Tut mir leid, ich durfte es dir nicht erzählen.«

»Verstehe«, sagte Ray und wich von der Treppe zurück. »Also noch mal: Es tut mir ehrlich leid. Ich fühl mich wie ein Verräter.«

»Ist schon okay, Ray. Jetzt muss ich aber wirklich los. Du weißt schon: die Mächte des Bösen bekämpfen und so weiter.« Charlie hielt seinen Stock wie ein Schwert und stürmte in die Schlacht- so bizarr es auch erscheinen mochte.

Charlie blieben sechs Tage, um drei Seelenschiffchen abzuholen, wenn er rechtzeitig fertig werden wollte, um pünktlich zur Beisetzung seiner Mutter wieder in Arizona zu sein. Zwei der Namen hatten am selben Tag wie Madison McKerny auf seinem Kalender gestanden und waren überfällig. Der dritte Name war erst vor ein paar Tagen aufgetaucht, als er in Arizona gewesen war – dennoch in seiner Handschrift. Bisher hatte er immer geglaubt, er hätte die Namen im Schlaf geschrieben, doch das jetzt war eine gänzlich neue Wendung. Er nahm sich vor, deswegen auszuflippen, sobald er Zeit dafür hatte.

Allerdings hatte er wegen der todesnahen Sexerfahrung und der Sache mit seiner Mom noch nicht mal vorbereitende Recherchen zu den ersten beiden Namen angestellt – Esther Johnson und Irena Posokowanowich, deren Abholdatum mittlerweile überschritten war, eines sogar um drei Tage. Was wäre, wenn die Gullyhexen schon dort waren? Nachdem sie inzwischen so stark geworden waren, wagte er sich gar nicht vorzustellen, wozu sie in der Lage wären, wenn sie eine weitere Seele bekamen. Er überlegte, ob er bei Rivera anrufen sollte, damit der ihm Deckung gab, wenn er ins Haus ging, aber wie sollte er ihm erklären, was er da trieb? Der gewiefte Cop wusste, dass etwas Übernatürliches vor sich ging, und hatte Charlie geglaubt, als der ihm sein Wort gab, dass er zu den Guten gehörte (was nicht schwierig war, nachdem er gesehen hatte, wie ihm die Gullyhexe ihre zehn Zentimeter lange Klaue ins Nasenloch trieb, dann neun Schüsse aus einer .9mm in die Brust überlebte und dennoch wegflog).

Ziellos fuhr Charlie herum, nach Pacific Heights, einfach weil in dieser Richtung weniger Verkehr war. Er hielt am Straßenrand und rief die Auskunft an.

»Ich brauche Telefonnummer und Adresse einer gewissen Esther Johnson.«

»Es gibt keine Esther Johnson, Sir, aber ich habe drei E. Johnson.«

»Wären Sie so nett, mir die Adressen zu sagen?«

Sie gab ihm die beiden, die Adressen hatten. Eine Bandaufnahme bot an, die Nummer für eine zusätzliche Gebühr von fünfzig Cents zu wählen.

»Genau, und wie viel kostet es mich, hinzufahren?«, fragteCharlie die Computerstimme. Dann legte er auf und wählte E. Johnson ohne Adresse. »Hi, könnte ich bitte Esther Johnson sprechen?«, sagte Charlie gut gelaunt. »Hier gibt es keine Esther Johnson«, erwiderte eine Männerstimme. »Ich fürchte, Sie haben die falsche Nummer.«

»Warten Sie! Gab es bis vor ungefähr drei Tagen bei Ihnen eine Esther Johnson?«, fragte Charlie. »Ich habe E. Johnson im Telefonbuch gefunden.«

»Das bin ich«, sagte der Mann, »Ed Johnson.«

»Entschuldigen Sie die Störung, Mr. Johnson.« Charlie legte auf und wählte den nächsten E. Johnson.

»Hallo«, sagte eine weibliche Stimme.

»Hi, könnte ich bitte Esther Johnson sprechen?«

Tiefes Luftholen. »Wer spricht da?«

Charlie wendete eine List an, die schon dutzendmal funktioniert hatte. »Hier ist Charlie Asher von Ashers Secondhand. Wir haben einige Waren hereinbekommen, auf denen Esther Johnsons Name steht, und wir möchten sicherstellen, dass sie nicht gestohlen sind.«

»Nun, Mr. Asher, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass meine Tante vor drei Tagen von uns gegangen ist.«

»Bingo!«, sagte Charlie.

»Bitte?«

»Verzeihung«, sagte Charlie, »mein Kollege hat eben ein Rubbel-Los freigekratzt und zehntausend Dollar gewonnen.«

»Mr. Asher, jetzt ist kein guter Zeitpunkt. Sind diese Waren, von denen Sie sprechen, denn wertvoll?«

»Nein, nur alte Kleider.«

»Dann ein andermal, ja?« Die Frau klang eher gehetzt als traurig. »Wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nein. Mein Beileid«, sagte Charlie. Er legte auf, prüfte die Adresse und fuhr in Richtung Golden Gate Park und Haight Ashbury.

Haight Ashbury: Mekka der freien Liebe in den Sechzigern, wo die Beat Generation ihre Blumenkinder zeugte, wohin damals die Kids aus dem ganzen Land kamen, um sich einzugrooven, anzutörnen und auszusteigen – und auch später noch, als das Viertel wechselhafte Zeiten durchmachte. Als Charlie nun die Haight Street entlangfuhr, zwischen Headshops, vegetarischen Restaurants, Hippieboutiquen, Musikläden und Cafés, sah er Hippies im Alter zwischen fünfzehn und siebzig. Ergraute Greise bettelten oder verteilten Handzettel, und junge, weiße Teenager mit Rastazöpfen und wallenden Röcken oder Hanfhosen mit Kordel, mit glitzernden Piercings und leerem, zugedröhntem Blick. Er kam an Crackheads mit braunen Zähnen vorbei, die Autos anbellten, hier und da ein stacheliges Überbleibsel der Punkbewegung, alte Männer mit Baskenmützen und Beatniks, die aussahen, als kämen sie aus einem Jazzclub von 1953. Es war nicht so sehr, als wären die Zeiger der Uhr stehen geblieben, sondern eher so, als hätte man sie vor Verzweiflung in die Luft geworfen, wobei die Uhr rief: »Mir doch egal! Ich mach mich vom Acker!«

Esther Johnsons Haus lag nur zwei Blocks abseits der Haight Street, und Charlie hatte Glück, als er in der Nähe einen Parkplatz in einer grünen Zwanzig-Minuten-Zone fand. (Sollte er je einen Verantwortlichen zu fassen bekommen, wollte er sich dafür einsetzen, dass Totenboten besondere Parkprivilegien bekamen, denn es war ja ganz nett, dass man ihn nicht sehen konnte, wenn er ein Seelenschiffchen holte, aber ein cooles »Death«-Kennzeichen oder »schwarze« Parkzonen wären ihm noch lieber gewesen.)

Das Haus war ein kleiner Bungalow, ungewöhnlich für die Gegend, in der fast alles zwei Stockwerke hoch und in knalligen Farben gestrichen war. Hier hatte er Sophie die Farbenlehre beigebracht und die alten, viktorianischen Häuser als Vorlagen benutzt.

»Orange, Daddy. Orange.«

»Ja, mein Schatz. Und der Mensch würgte Orange hervor… Guck dir das Haus an, Sophie. Es ist rot.«

In dieser Gegend gab es eine Menge Wandervögel, also konnte er davon ausgehen, dass das Johnson-Haus abgeschlossen wäre. Klingeln und versuchen, sich reinzuschleichen, oder warten? Zu warten konnte er sich nicht ernstlich leisten. Die Hexen fauchten ihn schon aus dem Gully an, als er sich dem Haus näherte. Er klingelte und trat ein Stück zur Seite.

Eine hübsche, dunkelhaarige Frau um die dreißig, in Jeans und Rüschenbluse, machte auf, sah sich um und sagte: »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«

Charlie kippte fast in ein Fenster. Er sah sich um, schaute dann wieder zu der Frau. Sie blickte ihm direkt in die Augen.

»Ja, bitte? Sie haben geklingelt?«

»Oh. Ich? Ja«, sagte Charlie. »Ich, äh… Sie meinen mich, oder?«

Die Frau tat einen Schritt zurück ins Haus. »Was kann ich für Sie tun?«, sagte sie schon etwas ernster.

»Oh, entschuldigen Sie – Charlie Asher – mir gehört ein Secondhandladen drüben in North Beach. Ich glaube, wir haben eben telefoniert.«

»Ja. Aber ich habe Ihnen doch gesagt, dass es nicht wichtig ist.«

»Stimmt, stimmt, stimmt. Das haben Sie, aber ich war in der Gegend und dachte, ich schau mal rein.«

»Ich hatte den Eindruck, Sie rufen aus Ihrem Laden an. Sind Sie in fünf Minuten quer durch die Stadt gefahren?«

»Ach, so, na ja, der Lieferwagen ist für mich wie ein mobiler Laden.«

»Also haben Sie den Kollegen, der im Lotto gewonnen hat, dabei?«

»Stimmt, nein. Er hat gekündigt. Ich musste ihn aus dem Wagen werfen. Neureich, wissen Sie? Selbstgefällig. Wahrscheinlich kauft er sich einen dicken Brocken Kokain und ein halbes Dutzend Nutten und ist bis zum Wochenende pleite. Zum Glück bin ich ihn los.«

Die Frau trat einen weiteren Schritt ins Haus zurück und zog die Tür ein Stück zu. »Nun, wenn Sie die Sachen bei sich haben, kann ich ja vielleicht mal einen Blick darauf werfen.«

»Sachen?« Charlie konnte nicht fassen, dass sie ihn sah. Er war geliefert. Er würde das Seelenschiffchen nicht bekommen, und dann… also, er mochte gar nicht daran denken, was dann passierte.

»Die Sachen, von denen Sie meinten, sie gehören vielleicht meiner Tante. Ich könnte sie mir ansehen.«

»Ach, die habe ich nicht bei mir.«

Da schloss sie die Tür so weit, dass er nur noch ein blaues Auge, die Stickerei am Kragen ihrer Bluse, den Knopf an ihrer Jeans und zwei Zehen sehen konnte (sie war barfuß). »Vielleicht sollten Sie lieber später noch mal reinschauen. Ich versuche gerade, die Angelegenheiten meiner Tante zu ordnen, und ich bin damit ganz allein, was es nicht gerade einfacher macht. Sie hat zweiundvierzig Jahre in diesem Haus gewohnt. Ich bin etwas überfordert.«

»Deshalb bin ich doch gekommen«, sagte Charlie und dachte: Was, zum Teufel, rede ich da? »Ich mache so was ständig, Miss, äh…«

»Mrs. – eigentlich. Mrs. Elizabeth Sarkoff.«

»Nun, Mrs. Sarkoff, ich bin oft mit solchen Dingen beschäftigt, und manchmal ist man einfach überfordert, wenn man den Besitz eines geliebten Menschen ordnen soll, besonders, wenn er so lange im selben Haus gelebt hat wie Ihre Tante. Es hilft, jemanden ohne emotionale Bindung dabeizuhaben. Außerdem habe ich einen ganz guten Blick dafür, was wertvoll ist und was nicht.«

Am liebsten hätte sich Charlie selbst auf die Schulter geklopft, weil ihm all das spontan eingefallen war.

»Und verlangen Sie für Ihre Dienste Geld?«

»Nein, nein, nein, aber möglicherweise biete ich an, Ihnen etwas abzukaufen, wenn Sie es loswerden möchten, oder ich könnte es in Kommission nehmen.«

Elizabeth Sarkoff seufzte schwer und ließ den Kopf hängen. »Sind Sie sicher? Ich möchte Sie nicht ausnutzen.«

»Es wäre mir ein Vergnügen«, sagte er.

Mrs. Sarkoff öffnete die Tür weit. »Dann danke ich dem lieben Gott, dass Sie gekommen sind, Mr. Asher. Seit Stunden versuche ich, mich zu entscheiden, welche von ihren Elefanten-Salz-und-Pfefferstreuern ich behalten soll. Sie hat zehn Paar davon! Zehn! Kommen Sie rein.«

Charlie schlenderte durch die Tür und war verdammt stolz auf sich. Als er dann sechs Stunden später knietief in Porzellankuhfigürchen stand und das Seelenschiffchen noch immer nicht gefunden hatte, drohte er, den Mut zu verlieren.

»Und hatte sie eine besondere Beziehung zu Schwarzbunten?«, rief Charlie Mrs. Sarkoff zu, die nebenan war, in einem begehbaren Schrank, und einen anderen Riesenhaufen Firlefanz und Nippes durchforstete.

»Nein, ich glaube nicht. Sie hat ihr ganzes Leben hier in derStadt gelebt. Ich bin nicht mal sicher, ob sie überhaupt jemals eine echte Kuh gesehen hat, abgesehen von denen, die im Fernsehen den Käse verkaufen.«

»Na, super«, sagte Charlie. Er hatte schon jeden Quadratzentimeter dieses Hauses abgesucht, bis auf den Schrank, den Elizabeth Sarkoff durchwühlte. Ein paarmal hatte er einen Blick in den Schrank werfen können und sich kurz umgesehen, aber nichts Leuchtendes entdeckt. Langsam kam ihm der Verdacht, dass er entweder zu spät dran war und sich die Unterweltler das Seelenschiffchen schon geholt hatten – oder es war mit Esther Johnson beerdigt worden.

Er war gerade wieder auf dem Weg in den Keller, als sein Handy klingelte.

»Charlie Asher«, sagte Charlie.

»Charlie, hier ist Cassie. Sophie möchte wissen, ob du so rechtzeitig nach Hause kommst, dass du ihr noch eine Geschichte vorlesen kannst. Ich hab ihr was zu essen gemacht und sie gebadet.«

Charlie lief die Treppe hinauf und sah vorn aus dem Fenster. Es war schon dunkel, und er hatte es gar nicht gemerkt. »Scheiße, Cassie, tut mir leid. Mir war nicht klar, dass es schon so spät ist. Ich bin bei einer Kundin. Bestell ihr, ich bin gleich da und sag ihr gute Nacht.«

»Okay, mach ich«, sagte Cassandra und klang erschöpft. »Und, Charlie, den Badezimmerboden kannst du selbst wischen. Du musst was dagegen unternehmen, dass diese Hunde mit ihr in die Wanne springen. Deine ganze Wohnung ist voller Badeschaum.«

»Die beiden baden eben gern.«

»Wirklich niedlich, Charlie. Wäre ich nicht in deine Schwester verliebt, würde ich jemanden anheuern, der dir beide Beine bricht.«

»Meine Mom ist gerade gestorben.«

»Du spielst die Tote-Mom-Karte? Jetzt? Charlie Asher, du…«

»Ich muss auflegen«, sagte Charlie. »Bin gleich da.« Viermal drückte Charlie den Knopf zum Abschalten, dann noch mal, um sicherzugehen. Bis vor ein paar Tagen war Cassandra doch so nett gewesen. Was war nur los mit den Leuten?

Charlie lief ins Schlafzimmer. »Mrs. Sarkoff?«

»Ja, ich bin immer noch hier drinnen«, hörte man eine Stimme aus dem Schrank.

»Ich muss leider los. Meine Tochter braucht mich.«

»Ich hoffe, es ist alles okay.«

»Ja, kein Notfall. Ich war nur ein paar Tage unterwegs. Hören Sie, wenn Sie noch Hilfe brauchen…«

»Nein, das würde mir im Traum nicht einfallen. Lassen Sie mir ein paar Tage Zeit, dann bringe ich Ihnen die Sachen in den Laden.«

»Es macht mir wirklich nichts«, sagte Charlie und kam sich komisch vor, mit jemandem zu sprechen, der in einem Schrank saß.

»Nein, ich melde mich. Bestimmt.«

Charlie fiel nichts mehr ein, wie die Situation zu verändern gewesen wäre, und er musste nach Hause.

»Okay, also. Dann geh ich jetzt.«

»Danke, Mr. Asher. Sie waren meine Rettung.«

»Gern geschehen. Bis dann.« Charlie trat vor die Haustür, und mit einem Klicken fiel sie hinter ihm ins Schloss. Er hörte, wie sich draußen etwas rührte, unter der Straße, das Rascheln von Federn, der ferne Schrei von Raben, als er zu seinem Auto lief. Und als er dort ankam, musste er feststellen, dass sein Wagen natürlich abgeschleppt war.

Als sie die Haustür hörte, schob sich Audrey bis ganz nach hinten in den Schrank, nahm einen großen Pappkarton beiseite, hinter dem eine ältere Frau auf einem Klappstuhl saß und strickte.

»Er ist weg, Esther. Sie können jetzt rauskommen.«

»Dann helfen Sie mir auf, Liebes. Ich glaube, ich klemm hier fest«, sagte Esther.

»Tut mir leid«, sagte Audrey. »Ich wusste ja nicht, dass er so lange bleiben würde.«

»Ich verstehe gar nicht, wieso Sie ihn überhaupt hereingelassen haben«, sagte Esther, wobei sie etwas verrostet klang, aber immerhin auf den Beinen stand.

»Damit er seine Neugier befriedigen konnte. Er sollte es selbst sehen.«

»Und woher kommt dieser Name Elizabeth Sarkoff?«

»Meine Grundschullehrerin. Es war der erste Name, der mir einfiel.«

»Nun, ich glaube, Sie haben ihn getäuscht. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«

»Er wird wiederkommen. Das wissen Sie, oder?«, sagte Audrey.

»Ich hoffe, nicht allzu bald«, sagte Esther. »Ich muss mir dringend die Nase pudern.«

»Wo ist es denn, Geliebter?«, fauchte die Morrigan aus dem Gully an der Haight Street, wo Charlie gerade versuchte, sich ein Taxi heranzuwinken. »Du lässt nach, Frischfleisch«, rief der Höllenchor.

Charlie sah sich um, wollte wissen, ob jemand was davon gehört hatte, doch die Passanten schienen mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt zu sein. Waren sie allein, starrten sie stur auf den Weg – beides Strategien, jeden Blickkontakt mit denSchnorrern und Verrückten zu meiden, die den Gehsteig bevölkerten. Nicht mal die Irren hatten was gemerkt.

»Verpisst euch!«, zischte Charlie wütend in den Rinnstein. »Scheißhexen.«

»Oh, Liebster, wie köstlich, wenn du mit mir flirtest! Das Blut deiner Kleinen wird nicht minder köstlich sein.«

Der junge Obdachlose, der am Randstein saß, sah zu Charlie auf. »Hey, Mann, lass dir in der Klinik mehr Lithium geben, dann verschwinden sie. Bei mir hat’s funktioniert.«

Charlie nickte und gab dem Mann einen Dollar. »Danke, ich denk darüber nach.«

Er musste am Morgen Jane anrufen und rausfinden, wie weit der Schatten am Berg schon gekommen war und ob er sich überhaupt bewegt hatte. Wieso sollte sich das, was er in San Francisco tat, darauf auswirken, was in Sedona vor sich ging? Die ganze Zeit hatte er sich einzureden versucht, dass es nichts mit ihm zu tun hatte, doch jetzt schien es sehr wohl um ihn zu gehen. Der Luminatus wird in der Stadt der Zwei Brücken auferstehen, hatte Vern gesagt. Konnte von einem Menschen namens Vern überhaupt eine verlässliche Prophezeiung kommen? (Besuchen Sie Verns Discount-Orakel – der Nostradamus mit den billigen Versprechungen) Es war absurd. Er musste einfach weitermachen, seinen Teil beitragen und alles tun, die Seelenschiffchen einzusammeln, die ihm zugewiesen wurden. Und wenn er es nicht tat, nun, dann würden sich die Mächte der Finsternis erheben und die Welt beherrschen. Na und? Nur zu, Gullynutten! Mir doch egal.

Doch das Betamännchen in seinem Inneren, das Gen, das seine Art drei Millionen Jahre lang erhalten hatte, meldete sich zu Wort: Finstere Mächte beherrschen die Welt? Das wäre nicht so toll, sagte es.

»Sie hat den Duft von Putzmittel so geliebt«, sagte die Dritte, die an diesem Tag bereits behauptete, Lois Ashers beste Freundin zu sein. Die Beerdigung war nicht so schlimm gewesen, aber hinterher gab es ein spontanes Beisammensein im Clubhaus einer nahen Senioren-Wohnanlage, in der Buddy gewohnt hatte, bevor er bei Charlies Mom eingezogen war. Die beiden waren oft dort hingegangen, um Karten zu spielen und sich mit Buddys alten Freunden zu treffen.

»Haben Sie schon ein Sandwich probiert?«, fragte die beste Freundin Nummer Drei. Trotz der achtunddreißig Grad im Schatten trug sie einen pinkfarbenen Jogginganzug mit applizierten Strasshündchen und schleppte überall einen aufgedrehten, schwarzen Zwergpudel mit sich herum. Der Hund tat sich an ihrem Kartoffelsalat gütlich, während sie sich mit Charlie unterhielt. »Ich weiß nicht, ob Ihre Mutter je ein Sandwich gegessen hat. Ich hab sie immer nur mit einem >Old-Fashioned< in der Hand gesehen. Sie hatte ein Faible für Cocktails.«

»Ja, das stimmt«, sagte Charlie. »Und ich glaube, ich werde mir jetzt auch einen gönnen.«

Charlie war am Morgen nach Sedona geflogen. Die ganze Nacht hatte er mit der Suche nach den überfälligen Seelenschiffchen verbracht. Zwar fand er keine Todesanzeige für Esther Johnson, aber die hübsche Brünette in ihrem Haus hatte gesagt, sie sei am Tag nach seinem ersten Besuch in Haight Ashbury bestattet worden, und daher nahm er an, dass man das Seelenschiffchen mit ihr begraben hatte. (Hieß die Brünette »Elizabeth«? Natürlich hieß sie Elizabeth – er machte sich was vor, wenn er so tat, als hätte er es vergessen. Betamännchen vergessen die Namen schöner Frauen nie. Charlie konnte sich sogar an den Namen des Centerfolds im ersten Playboy erinnern, den er je im Laden seines Vaters geklaut hatte. Er wusste auch noch, dass sie Mundgeruch, böse Menschen und Völkermord nicht mochte, und beschloss, nichts dergleichen je zu haben, zu sein oder zu begehen, für den Fall, dass er sie mal treffen sollte, wenn sie zufällig gerade auf einer Motorhaube liegend ihre Brüste sonnte.) Er fand keine Spur von Irena Posokowanowich, der anderen Frau, die angeblich vor einigen Tagen gestorben war. Keine Anzeige, keine Krankenhausunterlagen, niemand wohnte in ihrem Haus. Es war, als hätte sie sich in Luft aufgelöst und ihr Seelenschiffchen mitgenommen. Er hatte noch ein paar Wochen Zeit, um den dritten Namen in seinem Kalender aufzutreiben, wenn er auch nicht sicher sein konnte, was auf ihn zukam. Finsternis machte sich breit.

Neben ihm sagte jemand: »Nichts ist so nichtig wie Smalltalk, wenn man einen geliebten Menschen verloren hat, was?«

Charlie wandte sich der Stimme zu und sah zu seiner Überraschung Vern Glover, den kleinen Totenboten, der Krautsalat und Bohnen mampfte.

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Charlie unwillkürlich.

Vern tat den Dank mit seiner Plastikgabel ab. »Haben Sie den Schatten gesehen?«

Charlie nickte. Als er am Morgen zum Haus seiner Mutter gekommen war, reichte der Schatten vom Berg bereits bis in den Vorgarten, und der Ruf der Rabenvögel, die dort am Rande flatterten, dröhnte in den Ohren. »Sie haben nicht gesagt, dass es sonst keiner sehen kann. Ich hab von San Francisco aus bei meiner Schwester angerufen, weil ich wissen wollte, wie weit der Schatten schon gekommen war, aber sie wusste gar nicht, was ich meine.«

»Tut mir leid. Für die anderen ist er nicht zu sehen – zumindest nicht, soweit ich es beurteilen kann. Fünf Tage war er weg. Heute früh war er wieder da.«

»Als ich angekommen bin?«

»Ich glaube schon. Sind wir schuld daran? Doughnuts und Kaffee – und schon geht die Welt unter?«

»Ich hab zu Hause zwei Seelen verpasst«, sagte Charlie, während er einen älteren Herrn in burgunderroter Golfkleidung anlächelte, der sich im Vorübergehen mitfühlend die Hand ans Herz hielt.

»Verpasst? Haben die – wie haben Sie sie genannt? – Gullyhexen sie geholt?«

»Könnte sein«, sagte Charlie. »Und, was es auch sein mag, es scheint mir zu folgen.«

»Das tut mir leid«, sagte Vern. »Aber ich bin froh, dass wir miteinander gesprochen haben. Ich fühle mich nicht mehr so allein damit.«

»Ja«, sagte Charlie.

»Und mein Beileid wegen Ihrer Mutter«, fügte Vern eilig hinzu. »Sind Sie okay?«

»Ich habe es noch gar nicht ganz begriffen«, sagte Charlie. »Ich schätze, ich bin jetzt wohl Vollwaise.«

»Ich werde darauf achten, wer ihre Halskette bekommt«, sagte Vern. »Ich pass gut auf.«

»Danke«, sagte Charlie. »Meinen Sie, wir haben Einfluss darauf, wer als Nächstes die Seele bekommt? Mal ehrlich. Im Großen Bunten Buch steht, sie zieht weiter >wie vorherbestimmt<.«

»Wahrscheinlich«, sagte Vern. »Jedes Mal, wenn ich eine verkauft habe, hat das Leuchten sofort aufgehört. Das würde man ja auch erwarten, wenn es die richtige Person war, oder?«

»Ja, ich denke schon«, sagte Charlie. »Es gibt also eine gewisse Ordnung.«

»Sie sind der Experte«, sagte Vern, dann ließ er seine Gabel fallen. »Wer ist denn das? Scharfe Braut.«

»Das ist meine Schwester«, sagte Charlie. Jane kam zu ihnen herüber. Sie trug Charlies schwarzgrauen Armani-Zweireiher und die schwarzen Riemchenpumps. Ihr Wasserstoffblond war zu Wellen gegelt und quoll unter einem schwarzen Hütchen hervor, dessen Schleier bis zu ihren ferrariroten Lippen reichte. In Charlies Augen sah sie aus wie immer – eine Kreuzung aus Cyborgkiller und Kinderbuchfigur, doch wenn er den Umstand ignorierte, dass sie seine Schwester und lesbisch war, dann konnte er sich vielleicht vorstellen, dass jemand ihr Haar, ihre Lippen und ihre beeindruckende Länge »scharf« finden konnte. Besonders jemand wie Vern, der eine Kletterausrüstung samt Sauerstoffgerät gebraucht hätte, um eine Frau von Janes Größe zu erklimmen.

»Vern, ich möchte Ihnen meine unfassbar scharfe Schwester Jane vorstellen. Jane, das ist Vern.«

»Hi, Vern.« Jane nahm Verns Hand, und der Totenbote wand sich unter ihrem Griff.

»Mein Beileid«, sagte Vern.

»Danke«, sagte Jane. »Kannten Sie meine Mutter?«

»Vern kannte sie sogar sehr gut«, sagte Charlie. »Einer ihrer letzten Wünsche war es, dass Vern dir ein Doughnut spendieren soll. Stimmt es nicht, Vern?«

Vern nickte so heftig, dass Charlie schon dachte, er hörte einen Halswirbel knacken.

»Ihr letzter Wunsch«, sagte Vern.

Jane rührte sich nicht und sagte auch nichts. Da ein Schleier vor ihren Augen hing, konnte Charlie ihren Gesichtsausdruck nicht deuten, aber er vermutete, dass sie versuchte, mit ihrem Laserblick Löcher in seine Halsschlagader zu brennen.

»Wissen Sie, Vern, das wäre reizend, aber könnten wir das vielleicht verschieben? Wir haben gerade meine Mutter beerdigt, und ich muss noch einiges mit meinem Bruder besprechen.«

»Selbstverständlich«, sagte Vern. »Und es muss auch kein Doughnut sein, falls Sie auf Ihre Figur achten. Vielleicht ein Salat, ein Kaffee, ganz egal.«

»Klar«, sagte Jane, »wenn Mom es so wollte. Ich ruf Sie an. Aber Charlie hat Ihnen schon gesagt, dass ich lesbisch bin, oder?«

»Oh, mein Gott«, sagte Vern. Fast klappte er vor Begeisterung zusammen, bis ihm wieder einfiel, dass er sich auf einer Beerdigungsfeier befand und er sich öffentlich einen flotten Dreier mit der Tochter der Verblichenen vorstellte. »Verzeihung«, heulte er.

»Wir sehen uns, Vern«, sagte Charlie, während seine Schwester ihn in die kleine Küche des Clubhauses manövrierte. »Ich schicke Ihnen eine Mail wegen dieser anderen Sache.«

Sobald sie hinter der Ecke zur Küche verschwunden waren, boxte Jane Charlie an den Solarplexus, dass ihm die Luft wegblieb.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, fauchte Jane. Sie schob ihren Schleier zurück, damit er sehen konnte, wie sauer sie war, für den Fall, dass die schlagkräftige Botschaft bei ihm nicht richtig angekommen war.

Charlie keuchte und lachte gleichzeitig. »Mom wollte es doch so.«

»Meine Mom ist gerade gestorben, Charlie.«

»Ja«, sagte Charlie, »aber du hast ja keine Ahnung, was du für diesen Mann da eben getan hast.«

»Tatsächlich?« Jane sah ihn fragend an.

»Diesen Tag wird er nie vergessen«, sagte Charlie. »Der Typ wird nie wieder eine sexuelle Phantasie haben, bei der du nicht durchs Bild spazierst, vermutlich mit geliehenen Schuhen.«

»Und das findest du nicht gruselig?«

»Na ja, schon. Du bist meine Schwester, aber für Vern ist es ein zukunftsweisender Moment.«

Jane nickte. »Du bist ein guter Mensch, Charlie, dass du auf so einen kleinen Fremdling aufpasst.«

»Ja, na ja, weißt du…«

»Dafür, dass du so ein Arsch bist!«, sagte Jane und boxte Charlie noch mal an den Solarplexus.

Während er um Luft rang, hatte Charlie sonderbarerweise das Gefühl, als wäre seine Mutter – wo sie auch sein mochte – bestimmt zufrieden mit ihm.

Bye, Mom, dachte er.

DRITTER TEIL

Schlachtfeld

Wir treffen uns am Morgen,

Der Tod und ich -

Und stoßen werde ich sein Schwert

In einen, der hellwach ist.

Dag Hammarskjöld

19

Wird schon werden,wenn es nicht ganz blöd kommt

ALVIN UND MOHAMMED

Als Charlie nach der Beerdigung seiner Mutter nach Hause kam, wurde er an der Tür von zwei auffällig großen, auffällig euphorischen Rüden in Empfang genommen, die nun, nachdem sie nicht mehr über Sophies Liebesgeisel wachen mussten, ihrer Zuneigung und Freude hinsichtlich der Rückkehr ihres Herrchens in vollem Umfang Ausdruck verleihen konnten. Allgemein herrscht Einigkeit darüber (ein Umstand, dem auch in den Bestimmungen der Amerikanischen Hundezüchtervereinigung Rechnung getragen wird), dass man erst richtig ans Bein gerammelt wurde, wenn einen zwei ausgewachsene Zweihundert-Kilo-Höllenhunde in die Knie gefickt haben (Paragraph 5, Absatz 7: Normen für Knierammeln und Rumschubbern). Und obwohl er am Morgen vor seiner Abreise aus Sedona ein extrastarkes Deodorant benutzt hatte, musste Charlie feststellen, dass er sich nicht mehr so ganz frisch fühlte, nachdem ihn zwei glibschige Hundepimmel wiederholt unter den Achseln gerubbelt hatten.

»Sophie, ruf sie zurück! Ruf sie zurück!«

»Die Hündchen tanzen mit Daddy.« Sophie kicherte. »Tanz, Daddy!«

Mrs. Ling hielt Sophie die Augen zu, um ihr den abscheulichen Anblick ihres Vaters auf seinem unfreiwilligen Ausflug in die Welt der Sodomie zu ersparen. »Gehen und waschen Hände, Sophie. Du essen Mittag, solange Daddy sein mit diese Schicksen schamlos.« Unwillkürlich nahm Mrs. Ling eine kurze Einschätzung des monetären Wertes feuchter, roter Hundelümmel vor, die sich wie kolbengetriebene Lippenstifte eines Leviathans am feinen Hemd ihres Arbeitgebers rieben. Der Kräuterkrämer in Chinatown würde ein Vermögen für ein Pulver aus Alvins und Mohammeds getrockneten Pimmeln zahlen. (Die Männer in ihrer Heimat taten alles, um ihre Manneskraft zu stärken, zerrieben selbst vom Aussterben bedrohte Spezies und brühten sich einen Tee daraus, ähnlich wie gewisse amerikanische Präsidenten, die meinen, es gäbe keinen besseren Ständer als einen, den man bei der Bombardierung von Ausländern bekommt.) Anscheinend jedoch sollte das Trockenpimmel-Vermögen unverdient bleiben. Mrs. Ling hatte es schon vor längerer Zeit aufgegeben, der Höllenhunde habhaft zu werden. Nachdem sie versucht hatte, Alvin zu töten, indem sie ihm ihre schmiedeeiserne Bratpfanne kräftig über den Schädel zog, biss er die Pfanne einfach vom Griff und zerkaute sie mit einem Schwall von Hundesabber und Eisenspänen, dann machte er Männchen und bettelte um Nachschlag.

»Spritzt sie mit kaltem Wasser ab!«, schrie Charlie. »Runter, ihr Hunde! Igitt! Pfui Spinne!«

Plötzlich kam Leben in Mrs. Ling, als sie Charlies Hilfeschrei hörte, und sie stürzte an dem glänzenden Knäuel aus Mensch und Hund vorbei in den Flur hinaus und die Treppe hinunter.

LILY

Lily kam die Treppe herauf und blieb schliddernd im Flur stehen, als sie die beiden Höllenhunde sah, die auf Charlie einrammelten. »Mann, Asher, du bist echt krank!«

»Hilfe«, sagte Charlie.

Lily riss den Feuerlöscher von der Wand und schleppte ihn zur Tür, zog den Sicherungsstift heraus und spritzte das wippende Trio ab. Zwei Minuten später lag Charlie im eiskalten Schaum, und Alvin und Mohammed waren in Charlies Schlafzimmer eingesperrt, wo sie fröhlich auf dem leeren Feuerlöscher herumkauten. Lily hatte sie hineingelockt, als die beiden versuchten, den weißen Strahl abzubeißen, was offenbar mehr Spaß machte, als auf ihr Herrchen einzurödeln.

»Alles okay?«, fragte Lily. Sie trug ihren Kochkittel über einem roten Lederrock und dazu kniehohe Plateaustiefel.

»Es war eine ganz schön harte Woche«, sagte Charlie.

Sie half ihm auf die Beine, mied die feuchten Flecken an seinem Hemd. Charlie gab sich einem kontrollierten Sturz aufs Sofa hin. Lily half ihm bei der Landung, die mit ihrem eingeklemmten Arm hinter seinem Rücken endete.

»Danke«, sagte Charlie. Er hatte noch immer Schaum im Haar und in den Wimpern.

»Asher«, sagte Lily und versuchte, ihm nicht in die Augen zu sehen. »Es ist mir gar nicht lieb, aber angesichts der momentanen Situation wird es wohl Zeit, dass ich dir etwas sage.«

»Okay, Lily. Möchtest du einen Kaffee?«

»Nein. Halt bitte den Mund. Danke.« Sie legte eine Pause ein und holte tief Luft, ohne ihren Arm hinter Charlie hervorzuziehen. »Du warst all die Jahre gut zu mir, und selbst wenn ich es sonst niemandem gegenüber zugeben würde, hätte ich wahrscheinlich keinen Schulabschluss und es wäre nichts aus mir geworden, wenn du nicht Einfluss genommen hättest.«

Charlie versuchte immer noch, irgendwas zu erkennen, blinzelte den kalten Schaum von seinen Lidern und fürchtete schon, ihm wären die Augäpfel eingefroren. »Ach, das war doch gar nichts…«, sagte er.

»Bitte, bitte, halt den Mund!«, sagte Lily. Wieder holte sie tief Luft. »Du warst immer anständig zu mir, auch wenn ich vielleicht den ein oder anderen zickigen Moment gehabt haben mag, und obwohl du so was wie der Schnitter bist und bestimmt ganz andere Sorgen hast… das mit deiner Mom tut mir übrigens leid…«

»Danke«, sagte Charlie.

»Also, wenn ich bedenke, was ich über deinen kleinen Ausflug gehört habe, bevor deine Mutter starb und das alles, und angesichts dessen, was ich hier und heute gesehen habe, glaube ich… es wäre vielleicht angemessen… wenn ich es dir machen würde.«

»Mir machen?«

»Ja«, sagte sie, »zum Wohl der Allgemeinheit, auch wenn du ein kompletter Horst bist.«

Charlie wand sich vom Sofa. Er sah sie einen Moment an, versuchte herauszufinden, ob sie ihn auf den Arm nahm, kam zu dem Schluss, dass es nicht der Fall war, und sagte: »Das ist wirklich lieb von dir, Lily, und…«

»Keine schrägen Sachen, Asher. Du solltest wissen, dass ich es nur aus tief empfundenem Anstand und Mitleid tue. Wenn du abartig werden willst, kannst du damit zu den Nutten am Broadway gehen.«

»Lily, ich weiß nicht, was…«

»Und nicht in den Arsch«, fügte Lily hinzu.

Hinter dem Sofa hörte man ein hohes Kleinmädchenkichern. »Hi, Daddy«, sagte Sophie, als sie hervorkam, »du hast mir gefehlt.«

Charlie hob sie über die Sofalehne und gab ihr einen dicken Kuss. »Du hast mir auch gefehlt, mein süßer Schatz.«

Sophie stieß ihn von sich. »Wieso hast du Zuckerguss in den Haaren?«

»Ach, das… Lily musste Alvin und Mohammed mit Eis vollspritzen, um sie zu beruhigen, und da hab ich was abbekommen.«

»Denen hast du auch gefehlt.«

»Hab ich gemerkt«, sagte Charlie. »Liebes, könntest du einen Moment in deinem Zimmer spielen, solange ich mit Lily was Geschäftliches zu besprechen habe?«

»Wo sind die Hündchen?«, fragte Sophie.

»Die machen mal kurz Pause in Daddys Zimmer. Kannst du spielen gehen, und dann knabbern wir gleich noch ein paar Knusperkäsebällchen?«

»Okay«, sagte Sophie und ließ sich zu Boden gleiten. »Bye, Lily.« Sie winkte Lily.

Sophie marschierte im Rhythmus ihres neuesten Singsangs: »Nich in Arsch, nich in Arsch, nich in Arsch.«

Charlie wandte sich zu Lily um. »Tja, das müsste etwas Leben in Mrs. Magnussens erste Klasse bringen.«

»Stimmt schon, jetzt ist es peinlich«, sagte Lily wie aus der Pistole geschossen, »aber eines Tages wird sie mir dankbar sein.«

Charlie versuchte, die Knöpfe an seinem Hemd zu betrachten, als wäre er tief in Gedanken versunken, fing stattdessen aber leise an zu schnauben, wollte es unterdrücken, und prustete am Ende laut heraus. »Meine Güte, Lily, du bist wie eine kleine Schwester für mich. Ich könnte doch nie…«

»Na, toll. Ich biete dir ein Geschenk, aus reiner Herzensgüte, und du…«

»Kaffee, Lily…«, seufzte Charlie. »Könnte ich dich nicht einfach dazu bewegen, Kaffee zu kochen, statt es mir zu besorgen? Und wir unterhalten uns ein bisschen, während ich ihn trinke? Du bist wahrscheinlich der einzige Mensch, der weiß, was mit Sophie und mir los ist, und ich muss mir dringend über einiges im Klaren werden.«

»Na, das dauert wahrscheinlich länger, als wenn ich es dir machen würde«, sagte Lily mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Ich ruf unten im Laden an und sag Ray, dass ich etwas später komme.«

»Das wäre wunderbar«, sagte Charlie.

»Ich wollte es dir sowieso nur machen, wenn du mir was über deinen Totenbotenjob erzählst«, fuhr Lily fort und nahm das Telefon vom Frühstückstresen.

Charlie seufzte schwer. »Genau darüber muss ich mir Gedanken machen.«

»Wie dem auch sei«, sagte Lily. »In der Arschsache lasse ich nicht mit mir handeln.«

Charlie gab sich Mühe, feierlich zu nicken, fing aber wieder an zu schnauben. Lily warf ihm die Gelben Seiten von San Francisco an den Kopf.

DIE MORRIGAN

»Diese Seele riecht nach Schinken«, sagte Nemain und rümpfte ihre Nase vor dem Fleischbrocken, der auf ihrer langen Klaue steckte.

»Ich will auch was davon haben«, sagte Babd. »Gib her!« Sieschlug nach dem Fleisch und spießte dabei ein faustgroßes Stück auf.

Die drei befanden sich in einem vergessenen Kellergeschoss unterhalb von Chinatown und räkelten sich auf den verkohlten Bohlen des großen Brandes von 1906. Bei Macha manifestierte sich langsam der Perlenkopfschmuck ihrer Frauengestalt. Sie betrachtete den Schädel eines kleinen Tieres im Licht ihrer Kerze, die sie aus dem Fett toter Babys gegossen hatte. (Macha war schon immer kunsthandwerklich begabt gewesen, und die beiden anderen neideten ihr dieses Talent.) »Ich verstehe nicht, wieso die Seele in diesem Fleisch sitzt und nicht in einem Menschen.«

»Schmeckt auch nach Schinken, glaube ich«, sagte Nemain und spuckte beim Sprechen rot leuchtende Seelenfetzen aus. »Macha, kannst du dich noch an Schinken erinnern? Mögen wir so was?«

Babd kaute ihr Fleisch und wischte die Klauen am Brustgefieder ab. »Ich glaube, Schinken ist was Neues«, sagte sie. »Wie Handys.«

»Schinken ist nichts Neues«, widersprach Macha, »das ist geräuchertes Schweinefleisch.«

»Nein!«, erwiderte Babd entgeistert.

»Wohl«, sagte Macha.

»Kein Menschenfleisch? Wie soll denn da eine Seele drin sein?«

»Herzlichen Dank«, meinte Macha, »genau das versuche ich gerade zu sagen.«

»Ich habe beschlossen, dass wir Schinken mögen«, sagte Nemain.

»Da stimmt was nicht«, sagte Macha. »Es sollte nicht so einfach sein.«

»Einfach?«, fragte Babd. »Einfach? Es hat hunderte, nein tausende Jahre gedauert, bis wir so weit waren. Wie viele tausend Jahre, Nemain?« Babd sah ihre giftige Schwester an.

»Viele«, sagte Nemain.

»Viele«, sagte Babd. »Viele tausend Jahre. Das kann man doch nicht einfach nennen.«

»Die Seelen kommen zu uns, ohne Körper, ohne Seelendiebe. Das ist doch irgendwie zu einfach.«

»Mir gefällt’s«, sagte Nemain.

Sie schwiegen eine Weile. Nemain lutschte an der leuchtenden Seele herum, Babd putzte sich, und Macha betrachtete den Tierschädel, wendete ihn in ihren Klauen.

»Ich glaube, es ist ein Murmeltier«, sagte Macha.

»Kann man aus Murmeltieren Schinken machen?«, fragte Nemain.

»Keine Ahnung«, sagte Macha.

»Ich erinnere mich nicht an Murmeltiere«, sagte Nemain.

Babd seufzte schwer. »Es läuft so gut. Denkt ihr beiden eigentlich manchmal daran, wie es wird, wenn wir für immer im Oben sind und die Finsternis regiert und das alles… ihr wisst schon… was dann?«

»Wie meinst du das: Was dann?«, fragte Macha. »Wir werden die Herrschaft über alle Seelen haben und den Tod bringen, wie es uns gefällt, bis wir der Menschheit alles Licht genommen haben.«

»Ja, ich weiß«, sagte Babd. »Aber was dann? Ich meine, das mit der Herrschaft und so weiter ist ja alles ganz hübsch, aber muss Orcus dann eigentlich auch noch da sein, so schnaubend und grunzend?«

Macha legte den kleinen Schädel weg und richtete sich auf. »Was soll das hier werden?«

Nemain lächelte mit makellosen Zähnen, nur die Eckzähne waren etwas lang. »Sie verzehrt sich nach diesem dürren Seelendieb mit seinem Degen.«

»Frischfleisch?« Macha traute ihren Ohren nicht. Diese waren erst seit ein paar Tagen wieder sichtbar, nachdem sie die ersten geschenkten Seelen in die Klauen bekommen hatte. Die Ohren waren schon eine Weile nicht getestet worden. »Magst du Frischfleisch?«

»Mögen ist etwas übertrieben«, sagte Babd. »Ich finde ihn nur interessant.«

»Interessant insofern, als du mit seinen Eingeweiden gern ein interessantes Muster in den Staub malen würdest?«, fragte Macha.

»Also… nein, ich bin nicht so begabt wie du.«

Macha sah Nemain an, die grinste und mit den Schultern zuckte. »Wahrscheinlich könnten wir versuchen, Orcus zu töten, wenn die Finsternis regiert«, sagte Nemain.

»Langsam habe ich genug von seinen Predigten, und er wird unerträglich werden, wenn der Luminatus nicht erscheint.« Macha zuckte mit den Schultern. »Klar, wieso nicht?«

DER KAISER

Der Kaiser von San Francisco war in Sorge. Er spürte, dass mit seiner Stadt etwas nicht stimmte, hatte aber keine Ahnung, was er dagegen unternehmen sollte. Er wollte die Leute nicht unnötig beunruhigen, aber sie sollten der möglichen Gefahr auch nicht gänzlich unvorbereitet ausgesetzt sein. Er war überzeugt davon, dass ein gütiger und gerechter Herrscher sein Volk nicht mit Furcht gängeln sollte, und bis er den Beweis hatte, dass tatsächlich Gefahr drohte, wäre es kriminell, vorschnell zu handeln.

»Manchmal«, sagte er zu Lazarus, dem standhaften Golden Retriever, »muss man seinen ganzen Mut zusammennehmen, stillhalten und abwarten. Wie viel Menschheit ward vergeudet, weil man Hast für Fortschritt hielt? Wie viel?«

Aber er hatte so manches gesehen – manch Seltsames. Eines späten Abends sah er in Chinatown einen Drachen aus Nebel, der sich durch die Straßen schlängelte. Dann, eines frühen Morgens, bemerkte er unten an der Boudin Bakery am Ghirardelli Square eine nackte, ölverschmierte Frau, die aus einem Gully kroch, einen Kaffeebecher aus dem Müll fischte und wieder im Gully verschwand, als eben eine Motorradstreife um die Ecke kam. Er wusste, dass er solche Sachen sah, weil er sensibler war als andere Menschen und weil er auf der Straße lebte und selbst noch die leiseste Veränderung wahrnahm, vor allem aber, weil er endgültig nicht mehr alle Nadeln an der Tanne hatte. Nichts von alledem jedoch befreite ihn von der Verantwortung für seine Untertanen, und es konnte ihm auch niemand weismachen, dass das, was er da sah, nicht irgendwie bedrohlich war.

Vor allem das Eichhörnchen im Reifrock machte dem Kaiser zu schaffen, auch wenn er nicht sagen konnte, wieso eigentlich. Er mochte Eichhörnchen, führte seine Männer sogar oft genug zum Golden Gate Park, um sie dort zu jagen, aber ein Eichhörnchen, das aufrecht lief, den Müll hinter dem Empanada Emporium durchwühlte und dabei ein rosafarbenes Ballkleid aus dem achtzehnten Jahrhundert trug, war – nun – befremdlich. Er war sicher, dass Bummer, der in seiner übergroßen Manteltasche schlief, ihm darin zustimmen würde. (Da Bummer im Grunde seines Herzens ein Schoßhund war, erwies er sich in der Koexistenz mit den Nagetieren als nicht eben aufgeklärt, vor allem nicht, wenn der Nager wie am Hofe Ludwig XVI. gekleidet war.)

»Ohne überkritisch sein zu wollen«, sagte Kaiser, »aber wären nicht Schuhe eine sinnvolle Ergänzung zu diesem Ensemble? Was meinst du, Lazarus?«

Lazarus, der normalerweise allen Nichtkeks-Kreaturen – ob groß, ob klein – gegenüber tolerant war, knurrte das Eichhörnchen an, das Hühnerbeine zu haben schien, die unter seinem Rock herausragten, was – nun ja – schon seltsam war.

Knurrend wurde Bummer wach, wand sich und kam aus seinem wollenen Schlafgemach hervor wie Grendel aus seinem Bau. Augenblicklich erlitt er einen cholerischen Bellanfall, als wollte er sagen: Ihr da, falls ihr es noch nicht gemerkt haben solltet – da drüben durchwühlt ein Eichhörnchen im Ballkleid den Müll, und ihr zwei sitzt nur da wie zwei Zementlöwen vor der Bücherei! Kaum war die Botschaft hinausgebellt, da war er auch schon unterwegs, ein flauschiges Eichhörnchensuchgeschoss, einzig und allein versessen auf die Vernichtung alles Nagenden.

»Bummer!«, rief der Kaiser. »Warte!«

Zu spät. Das Eichhörnchen hatte versucht, die Außenwand eines Backsteinbaus hinaufzufliehen, blieb jedoch mit dem Rock an der Dachrinne hängen und fiel wieder hinunter in die Gasse, als Bummer eben im vollen Galopp war. Da nahm das Eichhörnchen eine Latte von einer zerbrochenen Palette und holte damit nach seinem Angreifer aus, der gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte, um keinen Nagel ins Auge zu bekommen.

Knurren folgte.

In diesem Moment fiel dem Kaiser auf, dass die Hände des Eichhörnchens echsenartig und die Fingernägel hübsch rosig bemalt waren, passend zum Kleid.

»So was sieht man nicht alle Tage«, sagte der Kaiser. Lazarus bellte zustimmend.

Das Eichhörnchen ließ die Latte fallen und sprang zur Straße, bewegte sich anmutig auf seinen Hühnerbeinen, raffte den Rock mit Echsenhänden. Bummer hatte sich von seinem anfänglichen Schock ob des Waffen schwingenden Hörnchens erholt (etwas, das er bisher nur aus Hundealbträumen kannte, wenn er spätabends von einem wohlmeinenden Pizzafahrer eine fette Teigtasche bekommen hatte) und hetzte dem Eichhörnchen nach, dicht gefolgt vom Kaiser und von Lazarus.

»Bummer! Nicht«, rief der Kaiser, »das ist kein normales Eichhörnchen!«

Da Lazarus nicht wusste, wie man »Was du nicht sagst« bellte, blieb er abrupt stehen und sah den Kaiser an.

Das Hörnchen flitzte aus der Gasse und sprang in den Rinnstein, ließ sich auf alle viere fallen. Als er eben an die Ecke kam, sah der Kaiser gerade noch ein rosa Kleidchen im Gully verschwinden, dicht gefolgt vom unerschrockenen Bummer. Der Kaiser hörte, wie das Bellen aus der Tiefe hallte und stetig leiser wurde, während der Terrier seiner Beute ins Dunkel folgte.

RIVERA

Nick Cavuto setzte sich Inspector Rivera mit einem mülleimerdeckelgroßen Teller Bisoneintopf gegenüber. Sie aßen in Tommys Joynt zu Mittag, einem Lokal der alten Schule an der Van Ness Street, wo man noch futtern konnte wie bei Muttern: täglich Falscher Hase, gefüllter Truthahn und Bisoneintopf, und im Fernseher über dem Tresen liefen die Spiele von Mannschaften aus San Francisco.

»Was?«, sagte der große Cop, als er merkte, dass sein Partner die Augen verdrehte. »Scheiße, was?«

»Der Bison war mal fast ausgestorben«, sagte Rivera. »Kommen deine Vorfahren aus der Prärie, oder was?«

»Extraportion für Gesetzeshüter. Wer schützen und dienen will, braucht Proteine.«

»Einen ganzen Bison?«

»Kritisiere ich deine Hobbys?«

Rivera betrachtete sein halbes Truthahnsandwich mit dem Becher Bohnensuppe, dann Cavutos Eintopf, dann sein Minisandwich, dann wieder den Monstereintopf. »Meinem Mittagessen ist es peinlich«, sagte er.

»Geschieht dir Recht. Meine Rache für deine italienischen Anzüge. Ich bin jedesmal begeistert, wenn mich die Leute am Tatort für das Opfer halten.«

»Du könntest dir ein Bügeleisen kaufen, oder ich könnte meinen Kumpel bitten, dir ein paar hübsche Anzüge rauszusuchen.«

»Deinen Kumpel, den Serienkiller? Nein, danke.«

»Er ist kein Serienkiller. Er hat ein paar schräge Sachen laufen, aber er ist kein Mörder.«

»Genau das können wir brauchen – noch mehr schrägen Scheiß. Was hat er denn nun eigentlich gemacht, dass du schießen musstest?«

»Genau wie ich gesagt habe. Ich kam vorbei, und ein Typ hat ihn bedroht und versucht, ihn auszurauben. Ich habe meine Waffe gezogen und dem Angreifer gesagt, dass er stehen bleiben soll. Der hat auf mich gezielt, und da habe ich geschossen.«

»Na, klar. Du hast in deinem ganzen Leben noch nicht neunmal nacheinander daneben geschossen. Was ist passiert?«

Rivera sah an dem langen Tisch entlang, vergewisserte sich, dass die drei Männer am anderen Ende mit dem Spiel beschäftigt waren, das im Fernseher, der über dem Tresen hing, lief. »Ich habe sie mit jedem Schuss getroffen.«

»Sie? Der Angreifer war eine Frau?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

Cavuto ließ den Löffel fallen. »Partner? Sag nicht, du hast die Rothaarige erschossen? Ich dachte, das wäre vorbei.«

»Nein. Das war was Neues – also – Nick, du kennst mich, ich eröffne das Feuer nur, wenn es auch wirklich gerechtfertigt ist.«

»Erzähl einfach, was los war. Ich hab dich schließlich gedeckt.«

»Es war wie diese Vogelfrau oder so was. Ganz schwarz. Ich meine, echt pechschwarz. Hatte Klauen, die aussahen wie – ich weiß nicht, wie zehn Zentimeter lange, silberne Eispickel. Meine Kugeln haben riesige Löcher gerissen – alles war voller Federn und schwarzem Glibber und so. Sie hat neun Treffer in die Brust bekommen und ist weggeflogen.«

»Geflogen?«

Rivera schlürfte seinen Kaffee, musterte seinen Partner über den Tassenrand hinweg. Sie hatten bei ihrer gemeinsamen Arbeit schon einiges erlebt, doch wäre die Lage umgekehrt gewesen, hätte er diese Geschichte vielleicht auch nicht geglaubt. »Ja, geflogen.«

Cavuto nickte. »Okay, ich verstehe, wieso du das nicht in deinen Bericht schreiben wolltest.«

»Ja.«

»Also, diese Vogelfrau«, sagte Cavuto, als sei das geklärt – und weiter? »Sie hat diesen Asher vom Trödelladen beraubt?«

»Hat ihm einen runtergeholt.«

Cavuto nickte, nahm seinen Löffel und schob sich eine Riesenportion Büffeleintopf in den Mund, nickte noch immer, während er kaute. Er sah aus, als wollte er etwas sagen, dann nahmer eilig noch einen Löffel, als müsste er sich beherrschen. Das Spiel im Fernseher schien ihn abzulenken, und er beendete sein Mittagessen ohne ein weiteres Wort.

Auch Rivera aß seine Suppe und sein Sandwich schweigend.

Als sie gingen, griff sich Cavuto zwei Zahnstocher aus dem Spender neben der Kasse und gab Rivera einen davon, als sie in den strahlend schönen Tag hinaustraten.

»Du bist Asher also gefolgt?«

»Ich habe versucht, ihn im Auge zu behalten. Für alle Fälle.«

»Und du hast ihr neun Kugeln verpasst, weil sie ihm einen runtergeholt hat?«, fragte Cavuto schließlich.

»Ich glaub schon«, sagte Rivera.

»Weißt du, Alphonse, das ist genau der Grund, wieso ich keine Lust habe, mich nach Feierabend mit dir zu treffen. Deine sittlichen Maßstäbe sind krank.«

»Sie war nicht menschlich, Nick.«

»Trotzdem. Einen runtergeholt? Und dafür jemanden erschießen? Ich weiß nicht…«

»Ich hab sie nicht erschossen. Sie war nicht tot.«

»Neun Treffer in die Brust?«

»Ich habe sie – es – gestern Abend gesehen. In meiner Straße. Sie hat mich aus dem Gully hervor beobachtet.«

»Hast du schon mal daran gedacht, Asher zu fragen, woher er die kugelsichere Vogelfrau eigentlich kennt?«

»Ja, hab ich, aber ich kann dir nicht erzählen, was er gesagt hat. Es ist einfach zu schräg.«

Cavuto hob die Arme in die Höhe. »Ach, du lieber Herr Jesus mit dem tauben Blindenhund… und wir wollen ja schließlich nicht, dass es irgendwie schräg wird, oder?«

LILY

Sie waren schon bei ihrer zweiten Tasse Kaffee, und Charlie hatte Lily erzählt, dass er die beiden Seelenschiffchen nicht beschafft hatte, dann von seiner Begegnung mit der Gullyhexe, von dem Schatten, der aus den Bergen in Sedona kam, und von der anderen Version vom Großen Bunten Buch des Todes und seinem Verdacht, dass es ein besorgniserregendes Problem mit seinem kleinen Mädchen gab, dessen Symptome zwei Riesenhunde und der Umstand waren, dass sie mit dem Wort Mietzi töten konnte. Charlie fand, dass Lily auf die falsche Geschichte reagierte.

»Du lässt es dir von einem Dämon aus der Unterwelt machen, und ich bin dir nicht gut genug?«

»Es ist doch kein Wettbewerb, Lily. Müssen wir darüber reden? Ich wusste, dass ich es dir nicht erzählen sollte. Ich hab ganz andere Sorgen.«

»Ich will Einzelheiten, Asher.«

»Lily, ein Gentleman gibt keine Details seiner amourösen Abenteuer preis.«

Lily verschränkte die Arme und nahm eine Pose angewiderter Ungläubigkeit ein, eine eloquente Pose, denn bevor sie es sagte, wusste Charlie schon, was kommen würde. »Blödsinn. Dieser Bulle hat sie durchlöchert, und du willst ihre Ehre retten?«

Charlie lächelte wehmütig. »Weißt du, wir hatten so einen intimen Augenblick…«

»O mein Gott, du treibst es wohl mit jeder!«

»Lily, du kannst doch unmöglich verletzt sein, weil ich… weil ich auf dein großzügiges und – lass es mich offen sagen – ausgesprochen verführerisches Angebot nicht eingegangen bin. Menschenskind!«

»Es liegt daran, dass ich dir zu kess bin, nicht? Nicht finster genug? Da du ja Mr. Death bist und alles?«

»Lily, der Schatten in Sedona wollte mich holen. Als ich weggefahren bin, ist er verschwunden. Die Gullyhexe wollte zu mir. Dieser andere Totenbote hat gesagt, ich bin anders. Bei ihm ist nie jemand durch seine bloße Anwesenheit zu Tode gekommen wie bei mir.«

»Hast du eben gerade >Menschenskind< zu mir gesagt? Bin ich neun, oder was? Ich bin eine Frau…!«

»Ich glaube, es könnte sein, dass ich der Luminatus bin, Lily.«

Lily schwieg.

Sie zog die Augenbrauen hoch, wie bei »Nein«.

Charlie nickte, wie bei »Ja« .

»Der Große Tod?«

»Ganz genau«, sagte Charlie.

»Also, dafür bist du absolut überhaupt nicht qualifiziert«, sagte Lily.

»Danke, da geht es mir gleich besser.«

MINTY FRESH

Siebzig Meter unter der Wasseroberfläche war Minty Fresh immer ganz beklommen zumute, besonders wenn er Sake getrunken und den ganzen Abend Jazz gehört hatte, was der Fall gewesen war. Er saß im letzten Waggon des letzten Zuges aus Oakland, und er hatte den ganzen Wagen für sich allein, wie ein Privat-U-Boot, schipperte durch die Bay, das Echo eines Saxophons wie ein Sonar in seinem Ohr, mit einem halben Dutzend scharfer, sakegetränkter Thunfischröllchen, die ihm wie Wasserbomben im Magen lagen.

Er hatte den Abend im Sato’s am Embarcadero verbracht, einem japanischen Restaurant mit Jazzclub. Sushi und Jazz, ein merkwürdiges Gespann, durch Zufall und Zwang unter demselben Dach. Es begann im Fillmore District, was vor dem Zweiten Weltkrieg ein japanisches Viertel gewesen war. Als die Japaner in Internierungslager verfrachtet wurden und man ihre Häuser und Habe verkaufte, zogen die Schwarzen, die in die Stadt kamen, um auf den Werften Schlachtschiffe und Zerstörer zu bauen, in die leeren Häuser ein. Der Jazz kam gleich danach.

Jahrelang war Fillmore das Zentrum der Jazzszene von San Francisco, und das Bop City an der Post Street war der angesagteste Jazzclub. Als der Krieg zu Ende ging und die Japaner wiederkamen, standen die japanischen Kids so manchen Abend unter den Fenstern des Bop City und lauschten Leuten wie Billie Holiday, Oscar Peterson oder Charles Mingus, lauschten, wie Kunst entstand und die Nacht erfüllte. Sato war eines dieser Kinder.

Es handelte sich dabei keineswegs nur um einen historischen Zufall – das hatte Sato Minty eines Abends erklärt, nachdem die Musik vorbei war und der Sake seiner Begeisterung einheizte -, es war eine philosophische Ausrichtung: Jazz war Zen-Kunst, oder nicht? Kontrollierte Spontaneität. Wie sumie-Tuschemalerei, wie Haiku, wie Bogenschießen, wie Kendo – Jazz war nichts, was man plante, sondern etwas, das man tat. Man übte, man spielte seine Skalen, man lernte seine Riffs und dann konzentrierte man alles Wissen, alles Erlernte auf den einen Moment. »Im Jazz ist jeder Augenblick eine Krise«, zitierte Sato Wynton Marsalis, »und man setzt sein ganzes Können ein, um diese Krise zu bewältigen.« Wie der Schwertkämpfer, der Bogenschütze, der Dichter und der Maler: Es ist alles da – keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur dieser Augenblick und wie man mit ihm umgeht. Kunst geschieht einfach.

Und Minty, der seinem Leben als Tod entkommen musste, hatte den Zug nach Oakland genommen, um sich einen Moment zu verstecken, ohne Bedauern über die Vergangenheit und ohne Angst vor der Zukunft, nur ein unverfälschtes hier und jetzt aus dem Trichter eines Saxophons. Doch der Sake, seine bedrohliche Zukunft und zu viel Wasser über seinem Kopf hatten ihm den Blues gebracht. Der Moment zerschmolz, und Minty war beklommen zumute. Es lief nicht gut. Er hatte seine letzten beiden Seelen nicht beschaffen können, zum ersten Mal in seiner Laufbahn, und langsam sah – oder hörte – er die Auswirkungen. Stimmen aus den Gullys, lauter und zahlreicher als je zuvor. Sie verhöhnten ihn. Etwas bewegte sich im Schatten, am Rande seines Blickfelds, schlurfende, huschende, dunkle Wesen, die verschwanden, wenn man sie direkt ansah.

Er hatte sogar drei Schallplatten aus dem Seelenschiffchen-Regal an dieselbe Person verkauft, auch das eine Premiere. Ihm war nicht gleich aufgefallen, dass es sich um dieselbe Frau handelte, doch als die Lage schwierig wurde, sah er die Gesichter wieder vor sich und begriff. Beim ersten Mal war sie ein Mönch gewesen, irgendein buddhistischer Mönch in goldbrauner Robe, mit kurzem Haar, als hätte man ihr vor einiger Zeit den Kopf rasiert und jetzt wuchs es wieder nach. Er erinnerte sich daran, dass ihre Augen kristallblau gewesen waren, was bei jemandem mit so dunklem Haar und so dunkler Haut sehr ungewöhnlich war. Aus diesen Augen sprach ein Lächeln, das ihn glauben ließ, eine Seele habe ihren rechten Platz gefunden, ein gutes Heim auf einer höheren Ebene. Das nächste Mal sah er sie sechs Monate später, und sie trug Jeans und Lederjacke, und ihr Haar war nicht zu bändigen. Sie hatte eine CD aus dem »Ein Teil pro Kunde«-Regal genommen, eine von Sarah McLachlan, die er im Zweifel selbst auch für sie ausgesucht hätte, und die kristallblauen Augen fielen ihm kaum auf, wenn es ihm auch so vorkam, als hätte er dieses Lächeln schon einmal gesehen. Dann, letzte Woche, kam sie wieder. Das Haar reichte ihr bis auf die Schultern, sie trug einen langen Rock mit einem weiten Leinenhemd, als wäre sie einem Mittelalterfest entflohen, was in Haight Ashbury nichts Ungewöhnliches war, im Castro-Viertel aber schon. Trotzdem dachte er sich nichts dabei, bis sie bezahlt hatte und über ihre Sonnenbrille hinwegsah, um in ihrem Portemonnaie nach Kleingeld zu suchen. Wieder diese blauen Augen, elektrisierend, doch diesmal nicht gerade lächelnd. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er hatte keinen Beweis dafür, dass sie der Mönch und die Rockerbraut mit der Lederjacke war, aber er wusste, dass sie es war. Er musste sein ganzes Talent aufbieten, um die Lage im Griff zu behalten, und schließlich knickte er ein.

»Sie mögen Mozart?«, fragte er sie.

»Ist für einen Freund«, sagte sie nur.

Nach dieser schlichten Aussage hatte er beschlossen, sie nicht direkt zu konfrontieren. Ein Seelenschiffchen sollte sich seinen rechtmäßigen Besitzer doch selbst suchen, oder? Es war nicht davon die Rede, dass man es direkt verkaufen musste. Das war jetzt eine Woche her, und seitdem waren die Stimmen, dieses Poltern in den Schatten, dieses umfassende Gefühl der Bedrohung, fast durchgängig vorhanden. Minty Fresh hatte den Großteil seines Erwachsenenlebens allein verbracht, doch nie zuvor hatte er die Einsamkeit so tief empfunden. Mehrfach war er in den letzten Wochen versucht gewesen, einen der anderen Totenboten unter dem Vorwand anzurufen, ihn warnen zu wollen, weil er was vermasselt hatte, vor allem jedoch, um mit jemandem zu sprechen, der eine Ahnung davon hatte, wie sein Leben aussah.

Er streckte seine langen Beine über drei Sitzplätze bis auf den Gang aus, dann schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf wieder gegen die Scheibe, spürte den Rhythmus des klappernden Zuges durch das kühle Glas an seiner rasierten Kopfhaut. Oh, nein, das ging nicht. Zu viel Sake. Er fuhr schon Karussell. Er riss den Kopf hoch und schlug die Augen auf, dann sah er durch die Türen, dass zwei Wagen weiter das Licht ausgefallen war. Er setzte sich auf und sah, wie das Licht auch im nächsten Waggon ausfiel – nein, das stimmte nicht so ganz. Dunkelheit breitete sich im Wagen aus wie schwebendes Gas, raubte den Lichtern ihre Energie.

»Ach, du Scheiße«, sagte Minty im leeren Waggon.

Er konnte in diesem Zug nicht mal aufrecht stehen, stand aber auf, ein wenig gebeugt, den Kopf an der Decke, dem schwebenden Dunkel zugewandt.

Die Tür am Ende des Waggons ging auf, und jemand kam herein. Eine Frau. Nun, nicht wirklich eine Frau. Etwas, das wie der Schatten einer Frau aussah.

»Hey, Liebster«, sagte der Schatten mit tiefer Stimme, rauchig.

Er hatte diese Stimme schon mal gehört, oder eine ähnliche.

Das Dunkel schwebte um die beiden Bodenlichter am anderen Ende des Waggons, so dass nur die Umrisse der Frau zu sehen waren, eine stahlgraue Spiegelung vor reinem Schwarz. Seit er Totenbote geworden war, hatte Minty keine Angst mehr gehabt, doch jetzt hatte er Angst.

»Ich bin nicht dein Liebster«, sagte Minty mit sanfter, ruhiger Stimme wie ein Baritonsax, ohne seine Furcht durchklingen zu lassen. Jeder Augenblick ist eine Krise, dachte er.

»Wenn du erst einmal Schwarz gekostet hast, willst du nie mehr etwas anderes«, sagte sie, tat einen Schritt in seine Richtung, wobei im ganzen Wagen nur noch ihre blauschwarze Silhouette auszumachen war.

Er wusste, dass sich gleich hinter ihm eine Tür befand, hydraulisch geschlossen, die in einen dunklen Tunnel führte, siebzig Meter unter der Bay, durchzogen von lebensgefährlichen Stromschienen – doch aus gutem Grunde wäre er im Augenblick am liebsten genau dort gewesen.

»Schwarz hatte ich schon mal«, sagte Minty.

»Nein, hattest du nicht, Liebster. Du hattest Brauntöne, Kakao oder Kaffee vielleicht, aber eines kann ich dir versichern: Schwarz hattest du noch nie. Denn wenn du es erst mal hattest, kommst du nie, nie wieder.«

Er sah, dass sie auf ihn zukam, ihm entgegenschwebte, dass lange Silberklauen aus ihren Fingerspitzen sprossen und im trüben Schein der Notbeleuchtung schimmerten. Irgendetwas tropfte davon herab und dampfte, wenn es auf den Boden fiel. Links und rechts von sich hörte er es huschen, etwas bewegte sich im Dunkel, klein und flink.

»Okay, gutes Argument«, sagte Minty.

20

Angriff des Krokodilkerlchens

Es war brutal heiß in der Stadt, und alle Fenster standen offen. Vom Dach auf der anderen Seite der kleinen Gasse konnte der Spion das kleine Mädchen sehen, selig planschend in einer Badewanne voller Seifenschaum. Die beiden Riesenhunde hockten davor, leckten Shampoo von ihrer Hand und rülpsten Blasen, was die Kleine vor Vergnügen kreischen ließ.

»Sophie, nicht die Hündchen mit Seife füttern, okay?« Die Stimme des Ladenbesitzers aus einem anderen Zimmer.

»Okay, Dad, mach ich nicht. Ich bin doch kein kleines Kind mehr!«, sagte sie, goss noch mehr Erdbeer-Kiwi-Shampoo in ihre Hand und hielt sie den beiden Hunden hin. Eine Wolke parfümierter Blasen rülpste aus dem Vieh hervor, wehte durch das Fenstergitter und in die stille Luft über der Gasse hinaus.

Die Hunde waren ein Problem, aber mit dem richtigen Timing konnte der Spion sie ausschalten und unbehelligt mit dem Kind verschwinden.

Früher war er Auftragsmörder gewesen, Bodyguard und Kickboxer – und seit kurzem sogar staatlich geprüfter Glasfaserisolierungsinstallateur, alles Fertigkeiten, die ihm auf seiner momentanen Mission gute Dienste leisten würden. Er hatte ein Krokodilsgesicht – achtundsechzig spitze Zähne und Augen, die leuchteten wie schwarze Perlen. Seine Hände waren wie die Klauen eines Raubvogels, die scharfen, schwarzen Nägel von trockenem Blut verkrustet. Er trug einen schwarzen Seiden-Smoking, aber keine Schuhe – er hatte Schwimmfüße wie ein Wasservogel, wenn auch mit Klauen, als wollte er im Schlamm nach Beute graben.

Er rollte den großen Perserteppich bis zum Rand des Daches aus und wartete. Dann – wie erhofft – hörte er: »Süße, ich bring nur eben den Müll runter. Bin gleich wieder da.«

»Okay, Dad.«

Seltsam, wie schnell wir uns doch in Sicherheit wiegen und dadurch sorglos werden, dachte der Spion. Niemand würde sein Kind im Bad unbeaufsichtigt lassen, aber in Gesellschaft bellender Bodyguards war sie ja auch nicht ohne Aufsicht, oder?

Er wartete, bis der Ladenbesitzer unten mit zwei Mülltüten aus der Stahltür trat. Der Mann stutzte kurz, weil jemand den Müllcontainer, der normalerweise direkt vor der Tür stand, sechs, sieben Meter die Gasse hinuntergeschoben hatte, doch dann zuckte er nur mit den Schultern, trat die Tür weit auf, und während sie sich automatisch langsam wieder schloss, ging er zum Müllcontainer. In diesem Moment stieß der Spion den Perser vom Dach. Der Teppich rollte ab, als er die vier Stockwerke hinunterfiel. Dann traf er den Ladenbesitzer mit einem dumpfen Schlag, der ihn zu Boden warf.

Im Badezimmer stellten die Hunde ihre Ohren auf. Einer stieß ein warnendes Bellen aus.

Schon hatte der Spion den ersten Bolzen in seiner Armbrust. Und er ließ ihn fliegen – die Nylonleine zischte, und der Bolzen traf den Teppich, durchschlug ihn und vermutlich auch den Unterschenkel des Ladenbesitzers, nagelte ihn unter dem Teppich fest, vielleicht sogar am Boden. Der Mann schrie auf. Die großen Hunde hetzten aus dem Badezimmer.

Der Spion legte den nächsten Bolzen ein, befestigte ihn am freien Ende der Leine, dann schoss er ihn an anderer Stelle in den Perser. Der Ladenbesitzer schrie noch immer, doch da ihn der schwere Teppich am Boden hielt, konnte er sich nicht rühren. Als der Spion eben den dritten Bolzen lud, stürzten die Hunde durch die Hintertür in die Gasse hinaus.

Der dritte Bolzen war nicht an einer Leine befestigt, sondern er besaß eine Spitze aus Titan. Der Spion zielte auf den Schließmechanismus der Tür und traf, so dass sie zuknallte und die Hunde ausgesperrt waren. Oft genug hatte er es sich ausgemalt, und alles lief genau so wie geplant. Die Eingangstüren zum Laden und zu den Wohnungen hatte er mit Sekundenkleber präpariert, bevor er aufs Dach gestiegen war – gar nicht einfach, ohne gesehen zu werden.

Sein vierter Schuss trieb einen Bolzen oben in den Rahmen vom Flurfenster. Das Gitter am Badezimmer war zu eng, aber bestimmt hatte der Ladenbesitzer die Tür zu seiner Wohnung offen gelassen. Er befestigte einen Karabinerhaken an der Nylonleine und glitt lautlos daran abwärts bis zur Fensterbank. Dort löste er den Haken, zwängte sich durch die Gitterstäbe und sprang in den Flur.

Er hielt sich nah an der Wand, machte übertrieben vorsichtige Schritte, um zu verhindern, dass er mit den Zehennägeln im Teppich hängen blieb. Er konnte die Zwiebeln riechen, die in einer Nachbarwohnung dünsteten, und eine Kinderstimme aus einer Tür weiter hinten im Flur, die – wie er sehen konnte – offen stand, wenn auch nur einen Spalt weit.

»Dad, ich kann jetzt rauskommen! Dad, ich kann raus!«

Im Eingang blieb er stehen, spähte in die Wohnung. Er wusste, dass das Mädchen schreien würde, wenn es ihn sah – seine spitzen Zähne, die Klauen, seine kalten, schwarzen Augen. Er würde dafür sorgen, dass ihre Schreie nur von kurzer Dauer wären, aber niemand blieb angesichts seines furchterregenden Äußeren ruhig. Allerdings wurde der erste Eindruck etwas durch den Umstand geschmälert, dass er nur vierzig Zentimeter groß war.

Er stieß die Tür auf, doch als er die Wohnung betrat, packte ihn etwas von hinten, riss ihn von den Beinen, und trotz allen Trainings und aller Tarnung schrie er wie eine brennende Holzente.

Irgendjemand hatte das Schlüsselloch an der Hintertür mit Sekundenkleber verkleistert, und Charlie war bei dem Versuch, aufzuschließen, sein Schlüssel abgebrochen. Eine Art Pfeil am Band steckte hinten in seinem Bein, was höllisch wehtat. Blut lief ihm in den Schuh. Er hatte keine Ahnung, was passiert war, wusste aber, dass es kein gutes Zeichen sein konnte, wenn die Hunde winselnd um ihn herumsprangen.

Er hämmerte mit beiden Fäusten an die Tür. »Ray, mach auf, verdammt noch mal!«

Ray öffnete die Tür. »Was ist?«

Die Höllenhunde rempelten beide Männer um, als sie durch die Tür drängelten. Charlie sprang auf und humpelte ihnen nach, die Treppe hinauf. Ray folgte ihm.

»Charlie, du blutest.«

»Ich weiß.«

»Warte, du ziehst da irgendeine Strippe hinter dir her. Ich schneid sie dir ab.«

»Ray, ich hab’s eilig…«

Bevor Charlie seinen Satz beenden konnte, hatte Ray ein Messer gezückt, ließ es aufschnappen und kappte den Faden. »Hatte ich früher beim Job immer dabei, um Sicherheitsgurte und so was durchzuschneiden.«

Charlie nickte und lief die Treppe hinauf. Sophie stand in der Küche, eingewickelt in ein hellgrünes Badelaken, mit Shampoohörnchen auf dem Kopf. Sie sah aus wie eine kleine, seifige Version der Freiheitsstatue. »Dad, wo warst du? Ich wollte raus.«

»Alles okay, Baby?« Er kniete vor ihr und strich über ihr Handtuch.

»Jemand muss mir beim Ausspülen helfen. Das ist deine Aufgabe, Dad.«

»Ich weiß, Baby. Ich bin ein schrecklicher Vater.«

»Okay…«, sagte Sophie. »Hi, Ray.«

Ray kam eben oben an und hielt einen blutigen Pfeil mit einem Faden in der Hand. »Charlie, das hier ging durch dein Bein.«

Charlie drehte sich um und betrachtete seinen Unterschenkel, dann sackte er auf die Fliesen und dachte, er sollte in Ohnmacht fallen.

»Kann ich das haben?«, sagte Sophie und hob den Pfeil auf.

Ray schnappte sich ein Geschirrhandtuch und presste es auf Charlies Wunde. »Halt fest! Ich ruf einen Notarzt.«

»Nein, ist schon okay«, sagte Charlie, der inzwischen ziemlich sicher war, dass er sich gleich übergeben musste.

»Was ist da draußen passiert?«, fragte Ray.

»Ich weiß nicht. Ich war…«

Irgendwo im Gebäude schrie jemand, als würde er tiefgefroren. Rays Augen wurden groß.

»Hilf mir auf!«, sagte Charlie.

Sie rannten durch die Wohnung in den Flur hinaus – das Geschrei kam von der Treppe.

»Schaffst du es allein?«, sagte Ray.

»Geh, geh! Ich komm schon.« Charlie stützte sich an Rays Schulter ab und hüpfte hinter ihm die Treppe hinauf.

Die grellen Schreie aus Mrs. Lings Wohnung waren mittlerweile leise Hilferufe, durchsetzt mit Flüchen in Mandarin. »Nein! Schicksen! Hilfe! Aus! Hilfe!«

Charlie und Ray fanden die kleine Chinesin in ihrer Küche, wo Alvin und Mohammed sie an ihren Herd drängelten. Sie schwang ein Hackbeil, um die beiden auf Abstand zu halten, die ihr Salven von Blasen mit Erdbeer-Kiwi-Geschmack entgegenbellten.

»Hilfe! Schicksen wollen Abendessen klauen!«, sagte Mrs. Ling.

Auf dem Herd sah Charlie den dampfenden Suppentopf, aus dem zwei Entenfüße ragten. »Mrs. Ling, trägt diese Ente etwa Hosen?«

Sie sah kurz hin, dann drehte sie sich um und schwang das Hackbeil nach den Höllenhunden. »Gut möglich«, sagte sie.

»Sitz, Alvin! Platz, Mohammed!«, kommandierte Charlie, was die Höllenhunde völlig ignorierten. Er drehte sich zu Ray um. »Ray, könntest du bitte Sophie holen?«

Der Excop, der sich für den Meister aller chaotischen Situationen hielt, sagte: »Hä?«

»Die lassen erst ab, wenn sie es ihnen sagt. Geh und hol sie, okay?« Charlie wandte sich Mrs. Ling zu. »Sophie schafft Ihnen die beiden bestimmt vom Hals, Mrs. Ling. Tut mir leid.«

Mrs. Ling sah sich ihr Abendessen genauer an. Sie versuchte, die Entenfüße mit dem Hackbeil in die Brühe zu schieben – ohne Erfolg. »Ist altes chinesisches Rezept. Wir erzählen Weiße Teufel nichts davon, damit ihr es nicht ruiniert. Schon mal von Hühnchen im Schlafrock gehört? Das hier ist Ente in Hose.«

Die Höllenhunde knurrten.

»Na, die ist bestimmt lecker«, sagte Charlie an den Kühlschrank gelehnt, damit er nicht umfiel.

»Sie bluten, Mr. Asher.«

»Ja, tu ich«, sagte Charlie.

Ray kam zurück, trug Sophie, die in ihr Handtuch gewickelt war. Er setzte sie ab.

»Hi, Mrs. Ling«, sagte Sophie, dann stieg sie aus ihrem Handtuch, ging zu den Höllenhunden und packte sie bei den Halsbändern. »Ihr habt euch nicht abgespült«, sagte sie. Dann führte Sophie – splitterfasernackt, im Haar noch immer Shampoostacheln – die Höllenhunde aus Mrs. Lings Wohnung.

»Hm… jemand hat auf dich geschossen, Boss«, sagte Ray.

»Ja, das stimmt«, sagte Charlie.

»Du solltest medizinische Hilfe in Anspruch nehmen.«

»Ja, das stimmt«, sagte Charlie. Er verdrehte die Augen und rutschte vorn an Mrs. Lings Kühlschrank herunter.

Charlie verbrachte die Nacht in der Notaufnahme des St. Francis Memorial und wartete darauf, behandelt zu werden. Ray Macy blieb die ganze Zeit bei ihm. Zwar ergötzte sich Charlie am Geschrei und Gejammer der anderen wartenden Patienten, doch die Kotzerei und der damit einhergehende Gestank machten ihm nach einer Weile doch zu schaffen. Als er langsam grün anlief, versuchte Ray, seinen Ruf als Excop zu nutzen, um sich bei der Oberschwester einzuschleimen, die er von früher kannte.

»Er ist schlimm verletzt. Könnten Sie ihn nicht irgendwie dazwischen schummeln? Er ist ein guter Kerl, Betsy.«

Schwester Betsy grinste (was sie tat, wenn sie jemandem sagen wollte, dass er sich verpissen sollte) und sah sich im Wartezimmer um, wollte sicher gehen, dass keiner etwas davon mitbekam. »Können Sie ihn hierher zum Schalter holen?«

»Logo«, sagte Ray. Er half Charlie vom Stuhl hoch und führte ihn zu der kleinen, kugelsicheren Scheibe. »Das ist Charlie Asher«, sagte Ray, »mein Freund.«

Charlie sah Ray an.

»Ich meine: mein Chef«, fügte Ray eilig hinzu.

»Mr. Asher, sterben Sie mir hier gleich unter den Händen weg?«

»Ich hoffe, nicht«, sagte Charlie. »Aber da sollten Sie lieber jemanden fragen, der mehr medizinische Erfahrung hat als ich.«

Schwester Betsy grinste.

»Er ist angeschossen worden«, sagte Ray diplomatisch, wie er war.

»Ich konnte nicht sehen, wer auf mich geschossen hat«, sagte Charlie. »Es ist mir ein Rätsel.«

Schwester Betsy beugte sich durchs Fenster. »Sie wissen, dass wir Schussverletzungen den Behörden melden müssen. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber einen Tierarzt entführen wollen, damit der Sie wieder zusammennäht?«

»Ich glaube nicht, dass meine Versicherung da mitspielt«, sagte Charlie.

»Außerdem war es keine Kugel«, sagte Ray. »Es war ein Pfeil.«

Schwester Betsy nickte. »Darf ich sehen?«

Charlie rollte seine Hose auf und hob sein Bein auf den schmalen Tresen. Schwester Betsy griff durch das kleine Fenster und stieß seinen Fuß herunter. »Um Himmels willen. Die anderen dürfen doch nicht wissen, dass ich es mir ansehe.«

»Autsch. Entschuldigung.«

»Blutet es noch?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Tut’s weh?«

»Wie blöd.«

»Sehr blöd oder bisschen blöd?«

»Bisschen sehr blöd«, sagte Charlie.

»Sind Sie allergisch gegen Schmerzmittel?«

»Nein.«

»Antibiotika?«

»Nein.«

Schwester Betsy griff in ihre Kitteltasche und holte eine Hand voll Pillen hervor, suchte zwei runde und eine lange aus und schob sie durch das kleine Fenster. »Kraft des Amtes, das mir der Heilige Franz von Assisi verliehen hat, erkläre ich Sie hiermit für schmerzfrei. Die Runden sind Percocet, die Ovale ist Cipro. Ich schreib es Ihnen auf.« Sie sah Ray an. »Füllen Sie ihm diese Formulare aus. In ein paar Minuten wird er es nicht mehr können.«

»Danke, Betsy.«

»Sollten Sie irgendwelche Prada- oder Gucci-Taschen reinbekommen – die gehören mir.«

»Kein Problem«, sagte Ray. »Charlie ist der Ladenbesitzer.«

»Ehrlich?«

Charlie nickte.

»Geschenkt«, fügte Betsy hinzu. Sie schob noch eine runde Pille über den Tresen. »Für Sie, Ray.«

»Mir tut aber nichts weh.«

»Die Wartezeit ist lang. Es könnte sonst was passieren.« Sie grinste, statt ihm zu sagen, dass er sich verpissen sollte.

Eine Stunde später war der Schreibkram erledigt, und Charlie kauerte auf einem Plastikstuhl in einer Haltung, die eigentlich nur mit Knochen aus Marshmallows möglich war.

»Hier haben sie Rachel ermordet«, sagte Charlie.

»Ja, ich weiß«, sagte Ray, »es tut mir leid.«

»Sie fehlt mir immer noch.«

»Ja, ich weiß«, sagte Ray. »Was macht dein Bein?«

»Aber sie haben mir Sophie geschenkt«, sagte Charlie, überhörte die Frage. »Also, na ja… das war gut.«

»Ja, ich weiß«, sagte Ray. »Und wie geht es dir jetzt?«

»Ich mache mir ein bisschen Sorgen darum, dass Sophie nicht sensibel genug wird, weil sie ohne Mutter aufwächst.«

»Du machst deine Sache wirklich gut, was Sophie angeht. Ich meinte: Wie geht es dir jetzt körperlich?«

»Wie diese Sache, dass sie Leute tötet, indem sie sie einfach nur ansieht. Das kann für so ein kleines Mädchen doch nicht gut sein. Meine Schuld, alles meine Schuld.«

»Charlie, tut dein Bein noch weh?« Ray hatte das Schmerzmittel doch lieber nicht genommen, das Schwester Betsy ihm gegeben hatte. Das bereute er jetzt.

»Und die Sache mit den Höllenhunden – welches Kind muss mit so was fertig werden? Das kann nicht gesund sein.«

»Charlie, wie geht es dir?«

»Ich bin ein wenig müde«, sagte Charlie.

»Na ja, du hast eine Menge Blut verloren.«

»Aber ich bin entspannt. Du weißt, dass Blutverlust entspannend ist. Meinst du, deshalb haben sie im Mittelalter Blutegel benutzt? Man könnte sie anstelle von Beruhigungsmitteln einsetzen. > Ja, Bob, wir sehen uns gleich beim Meeting. Lass mich nur schnell einen Blutegel anlegen. Ich bin etwas nervös.< So zum Beispiel.«

»Tolle Idee, Charlie. Möchtest du Wasser?«

»Du bist ein netter Kerl, Ray. Hab ich dir das schon mal gesagt? Obwohl du ein Serienkiller bist, der verzweifelte Filipinas metzelt.«

»Was?«

Schwester Betsy kam ans Fenster. »Asher!«, rief sie.

Flehentlich sah Ray sie durch das Fenster an – Sekunden später kam sie mit einem Rollstuhl durch die Tür.

»Wie geht es Schmerzfrei?«, sagte sie.

»Oh, mein Gott, er ist unfassbar nervig«, sagte Ray.

»Sie haben Ihre Medizin nicht genommen, oder?«

»Ich mag keine Drogen.«

»Wer ist hier die Krankenschwester, Ray? Es ist der Kreis aus Ärzten, nicht allein der Patient, sondern alle, die um ihn sind. Haben Sie den König der Löwen nicht gesehen?«

»Das ist nicht aus dem König der Löwen. Es ist der Lauf des Lebens.«

»Wirklich? Dann hab ich das Lied die ganze Zeit immer falsch gesungen? Wow, ich glaub, ich mag diesen Film nicht mal. Helfen Sie mir, Schmerzfrei in den Stuhl zu heben. Zum Frühstück haben wir ihn wieder zu Hause.«

»Wir sind schon seit dem Abendessen hier«, sagte Ray.

»Sehen Sie, wie Sie drauf sind, wenn Sie Ihre Medikamente nicht nehmen?«

Charlie hatte einen elastischen Gehgips, als er aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Die Schmerzmittel hatten so weit nachgelassen, dass er nicht mehr schmerzfrei war. In seinem Kopf dröhnte es, als wollten kleine Zwillings-Aliens aus den Schläfen hervorbrechen. Mrs. Korjew kam aus seiner Wohnung und fing ihn auf dem Flur ab.

»Charlie Asher. Ich muss rupfen Huhn mit Ihnen. Gestern Abend sehe ich kleine Sophie nackt und seifig wie Bär vor meine Wohnung laufen, zieht Riesenhunde hinterher und singt >nich in Arsch<? In alte Heimat wir haben Wort dafür, Charlie Asher. Wort ist verderbt. Ich hab noch Nummer von Jugendamt aus der Zeit, als meine Jungs noch Jungs waren.«

»Seifig wie Bär?«

»Nicht wechseln Thema. Ist verderbt.«

»Ja, das ist es. Tut mir leid. Es wird nicht wieder vorkommen. Man hat auf mich geschossen, und ich konnte nicht klar denken.«

»Geschossen?«

»Ins Bein. Ist nur eine Fleischwunde.« Sein Leben lang hatte Charlie darauf gewartet, diese Worte sagen zu können, und jetzt fühlte er sich wie ein echter Macho. »Ich weiß nicht, wer auf mich geschossen hat. Es ist mir ein Rätsel. Außerdem hat man mir einen Teppich auf den Kopf geworfen.« Der Teppich verwässerte den Machismo in gewisser Weise. Er nahm sich vor, ihn fürderhin nicht weiter zu erwähnen.

»Kommen rein! Gibt Frühstück. Sophie will kein Toast, wie Wladlena macht. Sie sagt, ist roh und voller Toastbazillen.«

»Braves Mädchen«, sagte Charlie.

Kaum war Charlie an der Tür und auf dem Weg, seine Tochter vor getoasteten Krankheitserregern zu retten, als Mohammed die Spitze einer seiner Krücken mit dem Maul packte und den hüpfenden Charlie ins Wohnzimmer zog.

»Hi, Daddy«, sagte Sophie, als ihr Vater vorbeihüpfte. »Im Haus wird nicht gehüpft«, fügte sie hinzu.

Mohammed schubste das glücklose Betamännchen zu seinem Terminkalender. Zwei Namen standen unter dem heutigen Datum, was nicht so ungewöhnlich war. Ungewöhnlich allerdings war, dass es sich um die Namen handelte, die schon einmal aufgetaucht waren: Esther Johnson und Irena Posokowanowich – die beiden Seelenschiffchen, die er verpasst hatte.

Er setzte sich aufs Bett und versuchte, die Schmerz-Aliens wieder in seine Schläfen zurückzureiben. Was sollte er tun? Würden diese Namen jetzt immer wieder auftauchen, bis er die Seelenschiffchen endlich holte? Bei der Fickpuppe war es nicht so gewesen. Was war jetzt anders? Offensichtlich verschlimmerte sich die Lage – jetzt schossen sie schon auf ihn.

Charlie nahm das Telefon und wählte Ray Macys Nummer.

Ray brauchte vier Tage, bis er Charlie Bericht erstatten konnte. Die Infos hatte er schon nach drei Tagen, aber er wollte absolut sicher gehen, dass die Schmerztabletten nicht mehr wirkten und Charlie wieder so weit klar im Kopf war, dass er nicht ständig beteuerte, er sei der Tod, »der Große Tod«. Außerdem plagte ihn sein schlechtes Gewissen, weil er Charlie verheimlichte, dass er ein paar Regeln im Laden verletzt hatte.

Sie trafen sich an einem Mittwochmorgen im Hinterzimmer, bevor der Laden öffnete. Charlie hatte Kaffee gekocht und sich an den Schreibtisch gesetzt, damit er seinen Fuß darauf legen konnte. Ray hockte auf einer Bücherkiste.

»Okay, schieß los«, sagte Charlie.

»Also, erstens habe ich drei Armbrustbolzen gefunden. Zwei davon besaßen Stahlspitzen mit Widerhaken wie der in deinem Bein, und einer hatte eine Titanspitze. Das war der Bolzen, der im Schließmechanismus der Hintertür steckte.«

»Egal, Ray. Was ist mit den beiden Frauen?«

»Charlie, jemand hat auf dich geschossen! Das ist dir egal

»Stimmt genau. Ist mir egal. Es ist ein Rätsel. Weißt du, was ich an Rätseln so mag? Sie sind rätselhaft.«

Ray trug eine Kappe der San Francisco Giants und drehte den Schirm energisch nach hinten. Eine Sonnenbrille hätte er jetzt abgenommen, aber er trug keine, und deshalb blinzelte er, als wäre es doch der Fall. »Tut mir leid, Charlie, aber irgendwer wollte, dass du gleichzeitig mit den Hunden das Haus verlässt. Dann haben sie dir vom Dach gegenüber diesen Teppich auf den Kopf geworfen und dann, als du darunter gefangen warst und die Hunde rausgelaufen kamen, haben sie auf die Tür geschossen, damit sie zufiel. Sie haben sich am Schloss der Hintertür zu schaffen gemacht und die Ladentüren zugeklebt, wahrscheinlich noch bevor das mit dem Teppich losging, dann haben sie sich zum Flurfenster abgeseilt, durchs Gitter gezwängt und… na ja, dann weiß ich nicht so richtig weiter.«

Charlie seufzte. »Von den beiden Frauen erzählst du mir erst, wenn du damit durch bist, oder?«

»Es war in höchstem Maße durchorganisiert. Das war kein spontaner Anschlag.«

»Das obere Flurfenster ist vergittert, Ray. Da kommt keiner rein. Und auch keiner raus.«

»Tja, da wird es dann etwas komisch. Weißt du, ich glaube, der Eindringling war nicht menschlicher Natur.«

»Nicht?« Jetzt schien Charlie doch noch zuzuhören.

»Um durch dieses Gitter zu gelangen, müsste man kleiner als sechzig Zentimeter sein und weniger als – sagen wir – fünfzehn Kilo wiegen. Ich denke da an einen Affen.«

Charlie stellte seine Kaffeetasse so hart ab, dass sich ein Koffeingeysir aus der Tasse über den Tisch ergoss. »Du meinst, mich hat ein gut organisierter Affe angeschossen?«

»Sei nicht so…«

»Der daraufhin an einem Draht abwärts gerutscht ist, um was zu tun? Bananen zu klauen?«

»Du hättest mal was von dem Blödsinn hören sollen, den du neulich Abend im Krankenhaus vom Stapel gelassen hast. Und hab ich mich über dich lustig gemacht?«

»Ich stand unter Drogen, Ray.«

»Jedenfalls lässt es sich anders nicht erklären.« Für Rays Betamännchen-Phantasie klang die Affen-Erklärung absolut vernünftig, abgesehen vom fehlenden Motiv. Aber du weißt ja, wie Affen sind. Sie bewerfen dich aus Spaß mit Scheiße. Weshalb sollten sie da nicht

»Die Erklärung ist, dass es sich um einen rätselhaften Fall handelt«, sagte Charlie. »Ich weiß zu schätzen, dass du versuchst, diesen… diesen behaarten Scheißer zur Strecke zu bringen, Ray, aber ich muss wissen, was mit den beiden Frauen los ist.«

Ray nickte, lenkte ein. Er hätte einfach den Mund halten sollen, bis er wusste, weshalb jemand einen Affen in Charlies Wohnung schicken sollte. »Man kann Affen ja auch abrichten. Hast du wertvollen Schmuck in deiner Wohnung?«

»Weißt du…«, sagte Charlie, kratzte sich am Kinn und starrte an die Decke, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern. »Den ganzen Tag stand da ein kleines Auto an der Vallejo Street, direkt gegenüber vom Laden. Und am nächsten Tag lagen haufenweise Bananenschalen herum, als hätte jemand das Haus beobachtet. Jemand, der Bananen gegessen hat.«

»Was war das für ein Auto?«, sagte Ray, seinen Notizblock in der Hand.

»Ich bin nicht sicher, aber es war rot und definitiv die richtige Größe für einen Affen.«

Ray blickte von seinen Notizen auf. »Tatsächlich?«

Charlie tat, als dachte er sorgfältig über seine Antwort nach. »Ja«, sagte er sehr ernsthaft, »definitiv.«

Ray blätterte zum Anfang seines Büchleins. »Es gibt keinen Grund, so zu reagieren, Charlie. Ich will dir nur helfen.«

»Vielleicht war es auch größer«, sagte Charlie, als erinnerte er sich. »Wie ein Geländeaffenwagen… etwas, das man vielleicht fahren würde, wenn man – ich weiß nicht – einen Käfig voller Affen transportiert.«

Ray wand sich, dann las er aus dem Büchlein vor. »Ich war am Haus von dieser Johnson. Da wohnt keiner, aber das Haus steht auch nicht zum Verkauf. Und die Nichte, von der du erzählt hast, habe ich auch nicht gesehen. Nur eines war merkwürdig: Die Nachbarn wussten, dass sie krank war, aber keiner hatte davon gehört, dass sie gestorben sein sollte. Einer hat sogar gesehen, wie sie letzte Woche mit ein paar Umzugshelfern in einen Möbelwagen gestiegen ist.«

»Letzte Woche? Ihre Nichte hat gesagt, sie ist vor zwei Wochen gestorben.«

»Keine Nichte.«

»Was?«

»Esther Johnson hat keine Nichte. Sie war ein Einzelkind. Keine Brüder und Schwestern und auch keine Nichten von ihrem verstorbenen Mann.«

»Also lebt sie noch?«

»Offenbar.« Ray reichte Charlie ein Foto. »Das ist ihr Führerscheinfoto. Das ändert alles. Jetzt suchen wir eine vermisste Person, jemanden, der eine Spur hinterlässt. Aber die andere – Irena – ist sogar noch besser.« Er reichte Charlie ein weiteres Foto.

»Die ist auch nicht tot?«

»Na ja, vor drei Wochen stand in der Zeitung eine Todesanzeige, aber jetzt kommt der Knaller: Ihre Rechnungen werden nach wie vor bezahlt, und zwar per Scheck. Mit ihrer eigenen Unterschrift.« Ray lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, lächelte, genoss seine rechtschaffene Entrüstung wegen der Affentheorie. So musste er kein schlechtes Gewissen haben, dass er Charlie nichts von seinen Transaktionen erzählt hatte.

»Und?«, fragte Charlie schließlich.

»Sie wohnt bei ihrer Schwester im Sunset District. Hier ist die Adresse.« Ray riss eine Seite aus seinem Notizbuch und hielt sie Charlie hin.

21

Gepflegte Umgangsformen

Charlie war hin- und hergerissen. Am liebsten hätte er seinen Stockdegen mitgenommen, aber er hatte keine Hand frei, wenn er auf Krücken ging. Er dachte daran, ihn an der Krücke festzukleben, fürchtete aber, er würde zu viel Aufmerksamkeit erregen.

»Möchtest du, dass ich mitkomme?«, fragte Ray. »Ich meine, kannst du denn fahren, mit deinem Bein?«

»Ich komm schon zurecht«, sagte Charlie. »Jemand muss im Laden bleiben.«

»Charlie, bevor du fährst: Kann ich dich was fragen?«

»Klar.« Frag nicht, frag nicht, frag nicht, dachte Charlie.

»Warum sollte ich diese beiden Frauen für dich suchen?«

Du blöder Hammel, musstest du unbedingt fragen? »Hab ich doch gesagt: Nachlassangelegenheit.« Charlie zuckte mit den Schultern. Ist nichts dabei, vergiss es. Hier gibt es nichts zu sehen.

»Ja, ich weiß, das hast du mir erzählt, und normalerweise würde es ja auch Sinn machen, aber bei der Suche habe ich einiges herausgefunden. In keiner der beiden Familien ist in jüngster Zeit jemand gestorben.«

»Komisch«, sagte Charlie und jonglierte an der Hintertür mit seinen Schlüsseln, seinem Stock, seinem Terminkalender und den Krücken herum. »Bei beiden Nachlässen haben keine Verwandten angerufen, sondern alte Freunde.« Kein Wunder, dass Frauen dich nicht mögen. Du weißt einfach nicht, wann Schluss ist.

»Hm-hm«, machte Ray, keineswegs überzeugt. »Weißt du, wenn Leute abhauen, wenn sie so weit gehen, ihren eigenen Tod vorzutäuschen, sind sie normalerweise vor irgendetwas auf der Flucht. Bist du dieses Etwas, Charlie?«

»Ray, hörst du dich eigentlich reden? Bist du wieder bei deiner Serienkillermanie? Ich dachte, Rivera hätte es dir erklärt.«

»Dann geht es also um Rivera?«

»Sagen wir, er interessiert sich dafür«, sagte Charlie.

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

Charlie seufzte. »Ray, ich darf darüber nicht sprechen, das weißt du doch. Steht sogar in der Verfassung. Ich bin zu dir gekommen, weil du ein guter Mann bist und Kontakte hast. Ich baue auf dich und vertraue dir. Ich glaube, du weißt, dass du auch mir vertrauen kannst, oder? Ich meine, in all den Jahren bin ich doch nie sorglos mit unserer kleinen Vereinbarung umgegangen, stimmt’s? Oder habe ich deine Behindertenrente etwa gefährdet?«

Das war eine Drohung, so unterschwellig sie auch daherkommen mochte, und Charlie hatte auch ein schlechtes Gewissen, aber er durfte einfach nicht zulassen, dass Ray ihn weiter bedrängte, zumal er sich selbst auf unerforschtem Territorium befand – er wusste nicht mal, was für einen Bluff er da deckte.

»Mrs. Johnson muss also nicht sterben, wenn ich sie für dich gefunden habe?«

»Ich werde weder Mrs. Johnson, noch Mrs. Pojo… Mrs. Pokojo – oder diese andere Frau anrühren. Ich gebe dir mein Wort.« Charlie hob die Hand zum Schwur und ließ eine seiner Krücken fallen.

»Wieso nimmst du nicht einfach den Stock?«, sagte Ray.

»Stimmt«, sagte Charlie. Er lehnte die Krücken an die Tür und stützte sich auf seinen Stockdegen, um zu sehen, ob er damit stehen konnte. Die Ärzte hatten gesagt, es sei nur eine Fleischwunde, keine Sehne sei beschädigt, nur der Muskel, aber es tat mörderisch weh, wenn er den Fuß belastete. Er beschloss, dass der Stock ausreichte. »Wahrscheinlich bin ich vor fünf Uhr wieder zurück, um dich abzulösen.« Er humpelte zur Tür hinaus.

Ray ließ sich nicht gern belügen. Davon hatte er spätestens seit den verzweifelten Filipinas endgültig genug, und langsam wurde er empfindlich, wenn man ihn zum Narren hielt. Wen wollte Charlie Asher eigentlich verarschen? Sobald er im Laden klar Schiff gemacht hatte, wollte er Rivera anrufen und sich die Sache bestätigen lassen.

Er ging nach vorn und wischte Staub, dann trat er an Charlies »Spezialregal«, auf dem er diese merkwürdigen Gegenstände aufbewahrte, mit denen er sich so anstellte. Man durfte nur einen davon pro Kunden verkaufen, aber in den letzten zwei Wochen hatte Ray fünf Stück derselben Frau verkauft. Er wusste, er hätte Charlie etwas davon sagen sollen, aber warum eigentlich? Anscheinend war Charlie ihm gegenüber auch nicht gerade ehrlich.

Außerdem war die Frau, die das Zeug gekauft hatte, nett und hatte Ray angelächelt. Sie hatte hübsches Haar, eine aufregende Figur und wirklich strahlend blaue Augen. Und irgendwas war mit ihrer Stimme – sie wirkte so… wie eigentlich? Friedlich vielleicht. Als wüsste sie, dass alles gut werden würde und man sich keine Sorgen machen musste. Aber vermutlich projizierte er nur. Und sie hatte keinen Adamsapfel, was für Ray in letzter Zeit ein Pluspunkt war. Er hatte versucht, ihren Namen herauszubekommen, einen Blick in ihre Brieftasche zu werfen, aber sie zahlte bar und passte auf wie ein Schießhund. Falls sie mit dem Auto gekommen war, hatte sie zu weit entfernt geparkt, und der Wagen war vom Laden aus nicht zu sehen. Deshalb hatte er nicht mal ein Kennzeichen, das er zurückverfolgen konnte.

Er beschloss, sie nach ihrem Namen zu fragen, falls sie heute in den Laden kommen sollte. Und sie war fällig. Sie kam nur, wenn er allein arbeitete. Einmal hatte sie einen Blick ins Schaufenster geworfen, als er mit Lily arbeitete, und war dann später wieder gekommen, als Lily Feierabend hatte. Er hoffte sehnlichst, dass sie heute kam.

Er versuchte, sich vor seinem Anruf bei Rivera zu beruhigen. Er wollte nicht wie ein Tölpel dastehen, vor allem nicht vor jemandem, der noch im Job war. Er rief von seinem Handy aus an, damit Rivera nicht sehen konnte, wer dran war.

Charlie ließ Sophie nicht gern so lang allein, angesichts dessen, was vor wenigen Tagen passiert war, aber andererseits befand sie sich ganz offensichtlich in Gefahr, weil er versäumt hatte, die beiden Seelenschiffchen abzuholen. Je eher er das Problem löste, desto besser. Außerdem boten die Höllenhunde den denkbar besten Schutz, und er hatte Mrs. Ling in aller Eile Anweisung gegeben, dass Sophie und die Hunde vorerst unbedingt zusammenbleiben sollten.

Er nahm den Presidio Boulevard durch den Golden Gate Park bis hinein nach Sunset und dachte, dass er mit Sophie den Japanischen Teegarten besuchen sollte, um die koi zu füttern, nachdem die Haustierseuche nun anscheinend überwunden war.

Der Sunset District lag südlich vom Golden Gate Park, im Westen begrenzt vom American Highway und dem Ocean Beach, im Osten von Twin Peaks und der Universität von San Francisco. Es war einmal ein Vorort gewesen, bis die Stadt so weit expandiert hatte, dass sie sich die Gegend einverleibte, und viele der Häuser waren bescheidene Familienbungalows. Sie sahen aus wie eines dieser Mosaike aus Schachtelhäuschen, die nach dem Krieg im ganzen Land aus dem Boden geschossen waren. In San Francisco allerdings war nach dem Erdbeben und dem Brand von 1906 – und dann noch einmal im Boom des späten

20. Jahrhunderts – so viel gebaut worden, dass sie wie ein Anachronismus wirkten. Charlie kam sich vor wie zu Zeiten Eisenhowers, bis er an einer Mutter mit tätowierter Glatze vorbeifuhr, die Zwillinge in einer Doppelkarre vor sich herschob.

Irena Posokowanowichs Schwester wohnte in einem Bungalow mit überdachter Veranda, an dessen Gittern links und rechts Jasminranken emporwuchsen und in die Luft aufragten wie eine Sexfrisur am Morgen. Der Rest des winzigen Gartens war makellos gepflegt, von der Stechpalmenhecke am Bürgersteig bis zu den roten Geranien, die den betonierten Weg zum Haus säumten.

Charlie parkte einen Block entfernt und ging den Rest zu Fuß. Zweimal wurde er von Joggern über den Haufen gerannt, einer davon war eine junge Mutter mit Joggerkarre. Sie konnten ihn nicht sehen – also war er auf dem richtigen Weg. Okay, wie wollte er ins Haus gelangen? Und was dann? Sollte er der Luminatus sein, löste sich das Problem vielleicht durch seine bloße Anwesenheit.

Er sah sich hinter dem Haus um und fand zwar ein Auto in der Garage, aber an sämtlichen Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen. Schließlich entschied er sich für einen Frontalangriff und klingelte an der Haustür.

Sekunden später öffnete eine rüstige Siebzigjährige im pinkfarbenen Hausmantel die Tür. »Ja«, sagte sie und musterte Charlies Gehgips. Eilig schob sie den Riegel vor die Fliegengittertür. »Kann ich Ihnen helfen?«

Es war die Frau auf dem Foto. »Ja, Ma’am, ich bin auf der Suche nach Irena Posokowanowich.«

»Tja, die gibt es hier nicht«, sagte Irena Posokowanowich, »da sind Sie bei der falschen Adresse.« Schon wollte sie die Haustür schließen.

»Stand nicht vor zwei Wochen eine Todesanzeige in der Zeitung?«, fragte Charlie. Bisher schien seine ehrfurchtgebietende Gegenwart als Luminatus keine erwähnenswerten Auswirkungen zu zeigen.

»Ja, ich glaube, das stimmt wohl«, sagte die Frau und schien einen Ausweg zu wittern. Sie zog die Tür ein Stückchen weiter auf. »Es war eine Tragödie. Alle haben Irena so gemocht. Sie war die großherzigste, gütigste, liebevollste, attraktivste… also, zumindest für ihr Alter… die belesenste…«

»Aber offensichtlich wusste sie nicht, dass es den allgemeinen Umgangsformen entspricht, auch zu sterben, wenn in der Zeitung steht, dass man gestorben ist!« Charlie hielt ihr das vergrößerte Führerscheinfoto hin. Er dachte daran, Ha! hinzuzufügen, hielt es dann aber doch für etwas übertrieben.

Irena Posokowanowich knallte die Tür zu. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie sind bei der falschen Adresse«, sagte sie durch die Tür.

»Sie wissen, wer ich bin«, erwiderte Charlie. Wahrscheinlich hatte sie keine Ahnung, wer er war. »Und ich weiß, wer Sie sind. Eigentlich sollten Sie vor drei Wochen gestorben sein.«

»Sie irren sich. Und jetzt gehen Sie, bevor ich die Polizei rufe und denen sage, dass Sie mich belästigen.«

Charlie blieb kurz die Luft weg, dann sammelte er sich und sagte: »Ich will Sie nicht belästigen, Mrs. Poso… Posokew – ich bin der Tod, Irena. Und Sie sind überfällig. Sie müssen sterben, und zwar möglichst umgehend. Haben Sie keine Angst. Es ist, als würde man schlafen gehen, nur, na ja…«

»Ich bin noch nicht so weit«, jammerte Irena. »Wenn ich bereit gewesen wäre, hätte ich auch zu Hause bleiben können. Ich bin noch nicht so weit.«

»Tut mir leid, Ma’am, aber ich muss darauf bestehen.«

»Sie täuschen sich bestimmt. Vielleicht meinen Sie eine andere Mrs. Posokowanowich.«

»Nein, hier steht es, in meinem Kalender, mit Ihrer Adresse. Sie sind die Richtige.« Charlie hielt seinen Tagesplaner vor das kleine Fenster oben in der Tür.

»Das soll der Kalender des Todes sein?«

»Korrekt, Ma’am. Beachten Sie das Datum. Es ist schon Ihre zweite Aufforderung.«

»Und Sie sind Gevatter Tod persönlich?«

»Stimmt genau.«

»Ach, das ist doch lächerlich.«

»Ich bin nicht lächerlich, Mrs. Posokowanowich. Ich bin der Tod.«

»Sollten Sie nicht eine Sense und einen schwarzen Umhang haben?«

»Nein, das machen wir heute nicht mehr so. Verlassen Sie sich drauf: Ich bin der Tod.« Er versuchte, richtig bedrohlich zu klingen.

»Im Film ist der Tod immer groß.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und sprang hinter dem kleinen Fenster hoch, um ihn sehen zu können. »Sie scheinen mir nicht groß genug zu sein.«

»Es gibt keine Mindestgröße.«

»Dürfte ich Ihre Visitenkarte sehen?«

»Sicher.« Charlie zog eine Karte heraus und hielt sie an die Scheibe.

»Da steht: >Händler feiner alter Kleidung und Accessoires<.«

»Sehen Sie? Genau.« Er hatte gewusst, dass er neue Visitenkarten brauchte. »Und was meinen Sie, woher ich diese Sachen kriege? Von den Toten. Sehen Sie?«

»Mr. Asher, ich muss Sie bitten, zu gehen.«

»Nein, Ma’am. Ich muss darauf bestehen, dass Sie auf der Stelle dahinscheiden. Sie sind überfällig.«

»Gehen Sie weg! Sie sind ein Scharlatan. Sie sollten sich mal untersuchen lassen.«

»Ich bin der Tod! Sie legen sich mit dem Tod an! Blöde Kuh!« Nun, das war unangemessen. Charlie schämte sich im selben Moment, als er es sagte. »Verzeihung«, murmelte er.

»Ich rufe jetzt die Polizei.«

»Machen Sie nur, Mrs. – äh – Irena. Sie wissen genau, was die Ihnen sagen werden… nämlich dass Sie tot sind! Es stand im Chronicle. Was die drucken, stimmt fast immer.«

»Bitte, gehen Sie. Ich habe so lange geübt, um länger leben zu können! Das ist einfach nicht fair.«

»Was war das?«

»Gehen Sie weg!«

»Ich habe es gehört. Das mit dem Üben.«

»Egal. Holen Sie einfach jemand anderen.«

Im Grunde hatte Charlie keine Ahnung, was er tun wollte, wenn sie ihn ins Haus ließ. Vielleicht musste er an ihr Mitgefühl appellieren, damit seine besonderen Fähigkeiten ausgelöst wurden. Er erinnerte sich an eine alte Folge von Twilight Zone, in der Robert Redford der Tod war und eine alte Dame ihn nicht hereinlassen wollte. Redford hatte so getan, als wäre er verletzt, und als sie ihm helfen wollte… SCHWUPPDIWUPP! Sie gab den Löffel ab, und er führte sie friedlich ins Nirwana, wo sie ihm half, unabhängige Filme zu produzieren. Vielleicht klappte es ja. Immerhin sprachen sein Gips und sein Stock für ihn.

Er suchte die Straße nach Blicken ab, um sicherzugehen, dass ihn niemand sehen konnte, dann legte er sich hin, halb auf der Veranda, halb auf den Stufen. Er warf seinen Stock gegen die Tür und sorgte dafür, dass er laut auf dem Beton klapperte, dann stieß er etwas aus, das er für ein überzeugendes Heulen hielt. »Ahhhhhhhhhhh, ich hab mir das Bein gebrochen!«

Er hörte Schritte und sah im kleinen Fenster einen grauen Haarschopf, der dort hochhüpfte, weil die Frau etwas erkennen wollte.

»Oh, tut das weh!«, heulte Charlie. »Hilfe!«

Wieder Schritte, die Jalousie im Fenster rechts der Tür teilte sich, und er sah ein Auge. Er verzog das Gesicht, täuschte Schmerz vor.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Mrs. Posokowanowich.

»Ich brauche Hilfe. Mein Bein war vorher schon verstaucht, aber ich bin auf Ihrer Treppe ausgerutscht. Ich glaube, ich hab mir was gebrochen. Es blutet, und ein Knochen ragt heraus.« Er hielt sein Knie so, dass sie es nicht sehen konnte.

»Oh, je«, sagte sie, »einen Moment mal.«

»Hilfe. Bitte. Schmerzen. So – schreckliche – Schmerzen.« Charlie röchelte wie ein Cowboy, der sterbend im Staub lag.

Er hörte, dass der Riegel zurückgeschoben wurde, und dann ging die innere Tür auf. »Sie sind ja wirklich schwer verletzt«, sagte sie.

»Bitte…«, sagte Charlie und streckte ihr die Hand entgegen. »Helfen Sie mir!«

Sie hakte die Fliegengittertür auf. Charlie verkniff sich ein Grinsen. »Oh, ich danke Ihnen«, ächzte er.

Sie stieß das Gitter auf und sprühte ihm eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht. »Ich hab Twilight Zone auch gesehen. Mistkerl!« Die Türen knallten zu. Der Riegel wurde vorgeschoben.

Charlies Gesicht fühlte sich an, als stünde es in Flammen.

Als er endlich wieder was erkennen konnte, humpelte er zu seinem Lieferwagen, wo er eine Frauenstimme sagen hörte: »Ich hätte dich bestimmt reingelassen, Liebster.« Dann wehte ein Chor von grässlichem Mädchengelächter aus dem Gully. Er wich an seinen Lieferwagen zurück, bereit, den Degen aus seinem Stock zu ziehen, doch dann hörte er etwas, das wie das Bellen eines kleinen Hundes dort unten im Gully klang.

»Wo kommt der denn her?«, fragte eine der Hexen.

»Er hat mich gebissen! Der kleine Pisser!«

»Schnapp ihn dir!«

»Ich hasse Hunde. Wenn wir den Laden hier übernehmen – keine Hunde mehr!«

Das Bellen verklang, dann auch die Stimmen der Gullyhexen. Charlie atmete tief durch und versuchte, das Brennen aus seinen Augen zu blinzeln. Er musste sich erst mal sammeln, aber dann würde er sich die alte Dame holen, mit oder ohne Pfefferspray.

Er brauchte fast eine ganze Stunde, um sich in Position zu bringen, aber als er dann so weit war, setzte er den Schlackenstein ab, klappte sein Handy auf und wählte die Nummer, die ihm die Auskunft gegeben hatte.

Eine Frau antwortete. »Hallo.«

»Ma’am, hier spricht das Gaswerk«, sagte er mit seiner allerbesten Gaswerkstimme. »Mein Verteilernetz zeigt mir an, dass bei Ihnen der Druck gefallen ist. Wir schicken gleich einen Wagen los, aber Sie sollten dafür sorgen, dass alle anwesenden Personen das Haus sofort verlassen.«

»Nun, ich bin hier im Moment die Einzige im Haus. Aber so leid es mir tut: Ich rieche kein Gas.«

»Es könnte sein, dass es sich unter dem Haus sammelt«, sagte Charlie und war stolz auf sich, dass er so schnell geschaltet hatte. »Ist noch jemand im Haus?«

»Nein, nur mein Kätzchen Samantha.«

»Ma’am, bitte holen Sie Ihre Katze und gehen Sie auf die Straße hinaus. Unser Wagen wird Sie dort in Empfang nehmen. Gehen Sie bitte jetzt gleich, okay?«

»Hm, na gut.«

»Danke, Ma’am.« Charlie legte auf. Er spürte, dass sich unter ihm im Haus etwas rührte. Er rutschte an den Rand des Verandadaches und hob den Stein über seinen Kopf. Es wird wie ein Unfall aussehen, dachte er, als wäre der Stein einfach vom Dach gerutscht. Er war froh, dass ihn da oben niemand sehen konnte. Er schwitzte vom Klettern, hatte Flecken unter den Achseln, und seine Hose war verknittert.

Er hörte, wie die Tür aufging, und machte sich bereit, den Stein zu werfen, sobald sein Zielobjekt unter dem Dach hervorkam.

»Guten Tag, Ma’am.« Eine männliche Stimme von der Straße her.

Charlie warf einen Blick hinunter und sah Inspector Rivera auf dem Gehweg stehen, nachdem er offenbar gerade aus einem Auto gestiegen war. Was, zum Teufel, wollte der hier?

»Sind Sie vom Gaswerk?«, sagte Mrs. Posokowanowich.

»Nein, Ma’am, ich bin von der Polizei.« Er zeigte ihr seine Marke.

»Man hat mir gesagt, es gäbe ein Leck in der Gasleitung«, sagte sie.

»Darum kümmert sich schon jemand, Ma’am. Würden Sie wieder ins Haus gehen, dann komme ich gleich zu Ihnen, okay?«

»Na gut, okay.«

Charlie hörte, wie die Türen aufgingen und sich schlossen. Seine Arme zitterten, weil er den großen Stein noch immer hochhielt. Er versuchte, leise zu atmen, weil er mit seinem Keuchen nicht Riveras Aufmerksamkeit erregen wollte.

»Mr. Asher, was machen Sie da oben?«

Fast hätte Charlie das Gleichgewicht verloren und wäre vom Dach gekippt. »Sie können mich sehen?«

»Ja, das kann ich allerdings. Und ich kann auch den Stein sehen, den Sie da festhalten.«

»Ach, das alte Ding…«

»Was hatten Sie damit vor?«

»Reparaturen?«, probierte Charlie. Wieso konnte Rivera ihn sehen, wenn er doch in seinem Seelenschiffchen-Abhol-Modus war?

»Tut mir leid, aber ich glaube Ihnen nicht, Mr. Asher. Ich denke, Sie sollten den Stein fallen lassen.«

»Das würde ich lieber nicht tun. Es war echt schwer, den hier raufzukriegen.«

»Demnach muss ich darauf bestehen, dass Sie ihn fallen lassen.«

»Das wollte ich gerade tun, aber dann sind Sie aufgetaucht.«

»Bitte. Tun Sie mir den Gefallen! Sehen Sie: Sie schwitzen ja. Kommen Sie runter und setzen Sie sich zu mir in meinen klimatisierten Wagen. Wir plaudern ein wenig – über italienische Anzüge, die Giants – ich weiß nicht – darüber, wieso Sie der netten, alten Dame mit einem Stein den Schädel einschlagen wollten. Klimaanlage, Mr. Asher. Wäre das nicht nett?«

Charlie ließ den Stein sinken und setzte ihn auf seinem Oberschenkel ab, spürte, dass er seiner Hose unwiederbringlichen Schaden zufügte. »Das ist ja ein toller Köder. Seh ich aus wie ein Eingeborener vom Amazonas? Ich hab selbst schon mal eine Klimaanlage besessen. Sogar mein Lieferwagen hat eine.«

»Ja, ich gebe zu, es ist nicht gerade ein Wochenende in Paris, aber die Alternative wäre, Sie vom Dach zu schießen, und dann steckt man Sie in einen Leichensack, was an einem Tag wie heute schon sehr bedrückend sein kann.«

»Ach so, ja«, sagte Charlie. »Da klingt eine Klimaanlage doch erheblich einladender. Danke. Ich werde erst mal meinen Stein wegwerfen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Das wäre wunderbar, Mr. Asher.«

Enttäuscht von DesperateFilipinas blätterte Ray gerade das Angebot einsamer Grundschullehrerinnen mit Universitätsabschluss bei UkrainianGirlsLovingYou.com durch, als sie hereinkam. Er hörte das Glöckchen und sah sie aus den Augenwinkeln, und weil er ganz vergaß, dass er einen steifen Hals hatte, stauchte er sich die linke Gesichtshälfte bei dem Versuch, sich umzudrehen.

Sie sah, dass er sie bemerkt hatte, und lächelte.

Ray lächelte zurück, so gut er konnte, schaute auf den Monitor mit dem Foto der Grundschullehrerin, die ihre Brüste knetete, und verstauchte sich die rechte Gesichtshälfte bei dem Versuch, rechtzeitig den Bildschirm auszuschalten, bevor sie zum Tresen kam.

»Will nur ein bisschen stöbern«, sagte die Liebe seines Lebens. »Wie geht es Ihnen?«

»Hi«, sagte Ray. Wenn er im Geiste probte, fing er immer mit »Hi« an, aber es rülpste irgendwie aus ihm heraus, bevor er merkte, dass er einen Schritt hinterher hing. »Ich meine: gut. Verzeihung, ich war gerade bei der Arbeit.«

»Das sehe ich.« Wieder dieses Lächeln.

Sie war so verständnisvoll, einfühlsam – und gütig, man sah es gleich in ihren Augen. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er für diese Frau sogar eine Liebesschnulze durchleiden würde. Er würde sich Zimmer mit Aussicht UND Der Englische Patient ansehen, nacheinander, nur um sich mit ihr eine Pizza teilen zu dürfen. Und sie würde ihn daran hindern, nach der Hälfte des zweiten Films seinen Dienstrevolver zu fressen, denn so war sie eben: mitfühlend.

Sie inszenierte ihr Stöbern, aber es waren noch keine zwei Minuten vergangen, da stand sie schon vor Charlies Spezialregal. Auf dem Schild stand sogar SONDERPOSTEN – EIN ARTIKEL PRO KUNDE, nur stand da nicht, ob das pro Tag galt oder nur ein Mal im Leben. Wenn Ray es recht bedachte, hatte Charlie sich nicht klar ausgedrückt. Sicher, Lily jammerte dauernd, wie wichtig es sei, dass sie sich daran hielten, aber es kam eben von Lily, die zwar mittlerweile etwas erwachsener sein mochte, aber immer noch gestört genug war.

Einen Moment später nahm sie einen elektrischen Wecker und kam damit an den Tresen. Ja! Ja! Ja! Das war seine Chance. Ray hörte, wie die Hintertür aufging.

»Wäre das alles?«, sagte er.

»Ja«, sagte die zukünftige Mrs. Ray Macy. »So einen habe ich immer schon gesucht.«

»Jep, es geht doch nichts über einen verlässlichen Hahn am Morgen«, sagte Ray. »Das macht – inklusive Steuer – zwei Dollar sechzehn. Ach, egal, sagen wir: zwei.«

»Das ist sehr nett von Ihnen«, sagte sie und suchte in ihrem kleinen, bunten Stoffbeutel herum.

»Hi, Ray«, sagte Lily und stand urplötzlich neben ihm wie ein böses Phantom, das aus heiterem Himmel auftauchte, umjeden potentiell erfreulichen Augenblick aus seinem Leben zu tilgen.

»Hi, Lily«, sagte er.

Lily tippte ein paar Tasten auf dem Computer. Da er mit seinem frisch verstauchten Gesicht zu langsam war, konnte sich Ray nicht umdrehen, bevor sie den Monitor wieder angeknipst hatte.

»Was ist das?«, fragte Lily.

Mit seiner freien Hand boxte Ray Lily unter dem Tresen an den Oberschenkel.

»Autsch! Freak!«

»Sie werden sicher Ihre Freude daran haben, wenn er Sie morgens weckt«, sagte Ray und händigte den Wecker dieser Frau aus, die seine Königin sein würde.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte die liebreizende, brünette Herrscherin auf dem Planeten Ray.

»Ach, übrigens…«, fügte Ray hinzu. »Sie waren schon öfter hier im Laden, und ich habe mich gefragt, na ja… weil ich manchmal eben neugierig bin, also: Wie heißen Sie?«

»Audrey.«

»Hi, Audrey. Ich bin Ray.«

»Nett, Sie kennen zu lernen, Ray. Jetzt muss ich aber wirklich. Bis zum nächsten Mal.« Sie winkte über ihre Schulter und ging zur Tür hinaus.

Ray und Lily sahen ihr nach.

»Hübscher Arsch«, sagte Lily.

»Sie hat meinen Namen gesagt«, sagte Ray.

»Sie ist etwas – ich weiß nicht – zu unvirtuell für dich.«

Ray wandte sich zu seiner Schicksalsgöttin Lily um. »Pass auf den Laden auf. Ich muss kurz weg.«

»Wozu?«

»Ich muss ihr nachgehen und rausfinden, wer sie ist.« Ray fing an, sein Zeug zusammenzusammeln – Handy, Schlüssel, Baseballkappe.

»Ja, das wird dir gut tun, Ray.«

»Sag Charlie, ich… sag Charlie nichts.«

»Okay. Dann kann ich also die UGLY-Website schließen?«

»Wovon redest du?«

Lily trat vom Bildschirm zurück und deutete auf die Buchstaben, während sie laut las: »Ukrainian Girls Loving You – U-G-L-Y. Ugly - Hässlich.« Lily lächelte keck und selbstzufrieden wie eines dieser Mädchen, die immer den Buchstabierwettbewerb in der dritten Klasse gewinnen. Wer hat sie nicht gehasst?

Ray konnte es nicht fassen. Die kleinen Mädchen übten sich nicht mal mehr in falscher Bescheidenheit. »Keine Zeit«, sagte er. »Muss los.« Er rannte zur Tür hinaus, die Mason Street hinauf, der liebreizenden, mitfühlenden Audrey nach.

Rivera war hinauf zum Cliff House Restaurant mit Ausblick auf die Seehundfelsen gefahren und zwang Charlie, ihm einen Drink zu spendieren, während sie die Surfer unten am Strand beobachteten. Rivera war kein morbider Mann, aber er wusste, wenn er nur oft genug hierher käme, würde er irgendwann sehen, wie ein Surfer mit einem Weißen Hai zusammentraf. Tatsächlich hoffte er inständig, dass es passierte, denn sonst wäre die Welt doch ohne Sinn und Zweck, dann gäbe es keine Gerechtigkeit und das Leben wäre nur noch ein wirres Chaosknäuel. Tausende von Seehunden im Wasser und auf den Felsen – die Hauptnahrungsquelle eines Weißen Hais – und Hunderte von Surfern im Wasser, gekleidet wie Seehunde… also: Wenn es auf der Welt mit rechten Dingen zuging, würde es irgendwann geschehen.

»Ich habe Ihnen nie geglaubt, dass Sie der Tod sind, Mr. Asher, aber da ich mir nicht erklären konnte, was da in dieser Gasse los war, und ich es auch lieber gar nicht wissen wollte, habe ich die Sache etwas schleifen lassen.«

»Das weiß ich zu schätzen«, sagte Charlie, der sich unbehaglich fühlte, weil er seinen Wein, mit Handschellen gefesselt, trinken musste. Sein Gesicht war rot wie ein Liebesapfel, versengt vom Pfefferspray. »Ist das normal beim Verhör?«

»Nein«, sagte Rivera. »Normalerweise zahlt die Stadt, aber ich werde den Richter bitten, die Drinks von Ihrer Strafe abzuziehen.«

»Super. Danke«, sagte Charlie. »Sie dürfen mich Charlie nennen.«

»Okay, und Sie dürfen mich Inspector Rivera nennen. Also: Die alte Dame mit einem Stein zu erschlagen… was genau haben Sie sich dabei gedacht?«

»Brauche ich einen Anwalt?«

»Nein, nein, kein Problem, die Bar ist voller Zeugen.« Früher war Rivera ein hyperkorrekter Cop gewesen. Das war allerdings, bevor die Dämonen kamen, die Rieseneulen, der Bankrott, die Eisbären, die Vampire, die Scheidung und dieses Frauenviech mit Säbelklauen, das sich in einen Vogel verwandelt hatte. Heutzutage war er nicht mehr ganz so korrekt.

»In diesem Fall dachte ich, man könnte mich nicht sehen«, sagte Charlie.

»Weil Sie unsichtbar waren?«

»Nicht so ganz. Nur irgendwie nicht zu bemerken.«

»Also, das will ich Ihnen gern zugestehen, aber ich finde nicht, dass es Grund genug ist, einer netten Oma den Schädel einzuschlagen.«

»Das können Sie nicht beweisen«, sagte Charlie.

»Selbstverständlich kann ich das«, sagte Rivera und hob sein Glas, um der Kellnerin zu zeigen, dass er noch einen Glenfiddich auf Eis brauchte. »Ich hab doch die Fotos von ihren Enkeln gesehen. Sie hat sie mir gezeigt, als ich im Haus war.«

»Nein, ich meine, Sie können nicht beweisen, dass ich ihr den Schädel einschlagen wollte.«

»Verstehe«, sagte Rivera, der keineswegs verstand. »Woher kennen Sie Mrs. Posokowanowich?«

»Ich kenne sie nicht. Ihr Name stand in meinem Kalender. Genau so, wie ich es Ihnen gezeigt habe.«

»Ja, stimmt. Das haben Sie. Aber es gibt Ihnen noch keine Lizenz zum Töten, oder?«

»Das ist genau der Punkt. Sie hätte schon vor drei Wochen tot sein sollen. Es stand sogar eine Anzeige in der Zeitung. Ich wollte nur dafür sorgen, dass auch alles korrekt läuft.«

»Statt also den Chronicle eine Berichtigung drucken zu lassen, bringen Sie Oma lieber eigenhändig um?«

»Tja, ansonsten hätte meine Tochter >Mietzi< zu ihr sagen müssen, und ich weigere mich, mein Kind so auszunutzen.«

»Nun, ich bewundere Ihre hehren Beweggründe, Charlie«, sagte Rivera und dachte: Wen muss ich hier erschießen, um was zu trinken zu bekommen? »Aber nehmen wir mal für eine Millisekunde an, ich würde Ihnen glauben, dass die alte Dame eigentlich tot sein sollte, es aber nicht ist, und dass man Sie deshalb mit einer Armbrust beschossen hat und dieses Ding, auf das ich in der Gasse geschossen habe, deshalb aufgetaucht ist – nehmen wir mal an, ich glaube das alles: Was soll ich deswegen unternehmen?«

»Sie müssen vorsichtig sein«, sagte Charlie. »Sonst werden Sie noch einer von uns.«

»Verzeihung?«

»So war es bei mir. Als meine Frau starb, im Krankenhaus, da habe ich den Mann gesehen, der ihr Seelenschiffchen abholen sollte, und zack war ich selbst Totenbote. Sie haben mich heute gesehen, als mich sonst niemand sehen konnte, und Sie haben die Gullyhexe gesehen, an diesem Abend in der Gasse. Normalerweise kann nur ich sie sehen.«

Rivera hätte diesen Mann am allerliebsten einem Psychiater anvertraut, damit er ihn nicht wiedersehen musste, aber das Problem war, dass er diese Harpyie gesehen hatte, damals an diesem Abend und dann noch einmal in der Straße, an der er wohnte, und er hatte Berichte von sonderbaren Dingen gelesen, die seit zwei Wochen in der Stadt vor sich gingen. Und zwar nicht das ganz normale schräge Zeug, das man von San Francisco nicht anders erwartete, sondern richtig schräge Sachen, wie etwa ein Schwarm von Raben, die einen Touristen auf dem Coit Tower angefallen hatten, und ein Mann, der in Chinatown mit seinem Wagen im Schaufenster eines Ladens gelandet war und aussagte, er sei ins Schleudern geraten, weil er einem Drachen ausweichen musste, und überall im Mission District behaupteten Leute, sie hätten einen Leguan gesehen, der als Musketier verkleidet war und ihren Müll durchwühlte, mit kleinem Degen und allem drum und dran.

»Ich kann es beweisen«, sagte Charlie. »Bringen Sie mich einfach zu diesem Musikladen in der Castro Street.«

Rivera betrachtete die traurigen, nackten Eiswürfel in seinem Glas und sagte: »Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass es gar nicht so einfach ist, Ihren Gedankengängen zu folgen, Charlie?«

»Sie sollten mit Minty Fresh sprechen.«

»Natürlich, das klärt einiges. Und wenn ich schon dabei bin, sollte ich gleich mal kurz ein Wörtchen mit Hubba Bubba wechseln.«

»Er ist auch Totenbote. Er kann Ihnen bestätigen, dass alles, was ich sage, wahr ist, und dann können Sie mich laufen lassen.«

»Stehen Sie auf.« Rivera erhob sich.

»Ich hab meinen Wein noch nicht ausgetrunken.«

»Legen Sie das Geld für die Drinks auf den Tisch und stehen Sie bitte auf.« Rivera hakte seinen Finger in Charlies Handschellen und zog ihn auf die Beine. »Wir fahren zur Castro Street.«

»Ich glaube, mit diesen Dingern kann ich mich nicht auf meinen Stock stützen«, sagte Charlie.

Rivera seufzte und sah hinunter zu den Surfern. Er glaubte, in einer Welle hinter einem Surfer etwas Großes zu erkennen, doch als sein Herz schon vor Freude hüpfen wollte, hob ein Seelöwe sein bärtiges Gesicht aus der Dünung, und Rivera wurde es schwer ums Herz. Er warf Charlie die Schlüssel für die Handschellen zu.

»Wir treffen uns am Auto. Ich geh kurz pinkeln.«

»Ich könnte abhauen.«

»Tun Sie das, Charlie… sobald Sie bezahlt haben.«

22

Ist die Trödelei auch wirklich das Richtige?

Anton Dubois, der Besitzer von Bookem Danno im Mission District, war schon länger Totenbote als irgendwer sonst in San Francisco. Natürlich hatte er sich anfangs selbst nicht als Totenbote bezeichnet, doch nachdem dieser Minty Fresh, der damals einen Plattenladen an der Castro eröffnete, den Begriff geprägt hatte, konnte er sich nur noch als solchen sehen. Er war fünfundsechzig Jahre alt und gesundheitlich nicht eben in bester Verfassung, da er seinen Körper fast ausschließlich dafür benutzt hatte, seinen Kopf durch die Gegend zu tragen, und zwar meist dort, wo er wohnte. Allerdings hatte er sich im Laufe der Jahre geradezu enzyklopädische Kenntnisse von der Wissenschaft und Mythologie des Todes angeeignet. Als sich an diesem Dienstagabend kurz nach Sonnenuntergang die Schaufenster seines Ladens verdunkelten, als würde plötzlich alles Licht aus dem Universum gesogen, und die drei weiblichen Gestalten durch den Laden zu ihm an den Tresen kamen, wo er im Lichtschein seiner Leselampe saß, wie auf einer kleinen, gelben Insel im endlosen Schwarz des Alls, war er der erste Mensch seit tausendfünfhundert Jahren, der wusste, was – wer – sie waren.

»Morrigan«, sagte Anton ohne den leisesten Anflug von Furcht in der Stimme. Er legte sein Buch weg, ohne ein Lesezeichen hineinzulegen. Er nahm die Brille ab und putzte sie an seinem Flanellhemd, dann setzte er sie wieder auf, damit ihm kein Detail entging. Im Augenblick waren sie kaum mehr als ein blauschwarzer Schimmer, der durch den dunklen Laden schwebte, und doch konnte er sie sehen. Sie blieben stehen, als er sprach. Eine von ihnen fauchte, nicht das Fauchen einer Katze, sondern lang und gleichmäßig – eher so ein Zischen, wenn dein Schlauchboot Luft verliert, das Boot, das allein noch zwischen dir und den dunklen Fluten voller Haie ist, das Zischen deines Lebens, das durch die Nähte entweicht.

»Ich dachte mir schon, dass vielleicht was passiert«, sagte Anton jetzt doch etwas nervös. »Bei all den Anzeichen und der Prophezeiung des Luminatus wusste ich, dass etwas vor sich geht, aber ich dachte nicht, dass ihr es sein würdet – persönlich, sozusagen. Das ist aufregend.«

»Ein Verehrer?«, sagte Nemain.

»Ein Fan«, sagte Babd.

»Eine Opfergabe«, sagte Macha.

Sie stellten sich um ihn herum, außerhalb des Lichtkreises.

»Ich habe die Seelenschiffchen woanders deponiert«, sagte Anton. »Ich dachte mir schon, dass den anderen was zugestoßen ist.«

»Oooh, bist du enttäuscht, dass du nicht der Erste bist?«, fragte Babd.

»Es wird wie beim ersten Mal sein, Schnuckelchen«, sagte Nemain. »Für dich jedenfalls.« Sie kicherte.

Anton griff unter seinen Tresen und drückte einen Knopf. Stählerne Rollläden rasselten vor dem Schaufenster und der Tür herab.

»Hast du Angst, dass wir dir entkommen, Schildkrötenmann?«, sagte Macha. »Findet ihr nicht auch, dass er wie eine Schildkröte aussieht?«

»Oh, ich weiß, dass die Rollläden euch nicht aufhalten können. Dazu sind sie auch nicht da. In den Büchern steht, dass ihr unsterblich seid, aber ich vermute, das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Es gibt zu viele Geschichten von Kriegern, die euch verwundet haben und dann mitansehen mussten, wie ihr euch auf dem Schlachtfeld selbst geheilt habt.«

»Uns wird es auch noch zehntausend Jahre nach deinem Tod geben, der – wie ich hinzufügen möchte – sehr bald schon kommen wird«, sagte Nemain. »Die Seelen, Schildkrötenmann. Wo hast du sie versteckt?« Sie reckte ihre Klauen bis in den Lichtschein von Antons Leselampe. Gift tropfte von den Spitzen und zischte, als es auf den Boden fiel.

»Du musst Nemain sein«, sagte Anton. Die Morrigan lächelte. Er konnte ihre Zähne in der Dunkelheit erkennen.

Anton spürte, wie ein sonderbarer Friede über ihn kam. Seit dreißig Jahren hatte er sich – auf die eine oder andere Weise – auf diesen Augenblick vorbereitet. Was sagten die Buddhisten noch? Nur wenn du für den Tod bereit bist, wirst du wirklich leben. Konnte man sich besser vorbereiten, als dreißig Jahre lang Seelen zu sammeln und zuzusehen, wie Menschen starben? Unter dem Tresen schraubte er vorsichtig eine Stahlkappe ab, unter der sich ein roter Knopf verbarg. »Vor ein paar Monaten habe ich vier Lautsprecher im Laden installiert. Ihr könnt sie bestimmt sehen, selbst wenn es für mich zu dunkel ist«, sagte Anton.

»Die Seelen!«, bellte Macha. »Wo?«

»Natürlich wusste ich nicht, dass ihr persönlich kommen würdet. Ich dachte, es wären vielleicht diese kleinen Wesen, die ich hier in der Gegend gesehen habe. Aber ich denke, nichtsdestotrotz wird euch die Musik gefallen.«

Die Morrigan sahen einander an.

Macha knurrte. »Wer sagt denn heute noch >nichtsdestotrotz<?«

»Er faselt nur«, sagte Babd. »Foltern wir ihn! Hack ihm die Augen aus, Nemain!«

»Wisst ihr noch, wie ein Claymore aussieht?«, fragte Anton.

»Ein Bidenhander, ein beidhändiges Schwert«, sagte Nemain. »Gut zum Köpfen.«

»Wusste ich, wusste ich«, sagte Babd. »Sie macht sich nur wichtig.«

»Nun, heutzutage ist ein Claymore etwas anderes«, sagte Anton. »Man erwirbt die interessantesten Dinge, wenn man drei Jahrzehnte mit Trödel handelt.« Er schloss die Augen und drückte den Knopf. Er hoffte, seine Seele würde in einem Buch landen, vorzugsweise seiner Erstausgabe von Die Straße der Ölsardinen, die er sicher verstaut hatte.

Die Claymore-Antipersonenmine, die er in die Lautsprecherboxen ganz hinten im Laden eingebaut hatte, schossen zweitausendachthundert Kugellagerkugeln knapp unter Schallgeschwindigkeit gegen die stählernen Rollläden und zerschredderten Anton und alles, was ihnen im Weg war.

Ray folgte der Liebe seines Lebens einen Block die Mason Street entlang, wo sie auf ein Cable Car sprang und den Rest des Weges den Hügel hinauf nach Chinatown fuhr. Das Problem war, dass sich zwar leicht feststellen ließ, wohin ein Cable Car fuhr, die Dinger aber nur alle zehn Minuten vorbeikamen, so dass Ray nicht auf das nächste warten, aufspringen und rufen konnte: »Folgen Sie diesem antiquierten, aber drolligen öffentlichen Verkehrsmittel, und zwar ein bisschen dalli!« Und Taxis waren nicht in Sicht.

Es stellte sich heraus, dass es keineswegs dasselbe war, ob man an einem heißen Sommertag in Straßenkleidung einen steilen Berg hinaufhetzte oder im klimatisierten Fitnessclub hinter einer Reihe draller Fickpuppen auf der Tretmühle joggte, und als er die California Street erreichte, war Ray schweißnass und hasste nicht nur die Stadt San Francisco und sämtliche Einwohner, sondern war darüber hinaus mehr oder weniger bereit, die Sache mit Audrey aufzugeben und zur relativen Verzweiflung der ukrainischen Mädchen zurückzukehren, die ihn aus der Ferne liebten.

Seine Chance kam an der Haltestelle Powell Street, wo man von einem Cable Car ins andere umsteigen konnte, und er schaffte es tatsächlich, auf den Wagen direkt hinter Audrey zu springen und so die atemberaubende Verfolgungsjagd bei zwölf Stundenkilometern fortzusetzen, zehn Blocks weit bis zur Market Street.

Audrey sprang vom Cable Car, steuerte direkt auf die Verkehrsinsel auf der Market Street zu und stieg in eine der antiken Straßenbahnen, die bereits fuhr, bevor Ray die Insel überhaupt erreichte. Sie war eine Art diabolischer Umsteige-Superbraut, dachte Ray. Immer schienen die Bahnen genau dort zu sein, wo sie sie brauchte, und schon wieder weg, sobald er kam. Wahrscheinlich hatte sie so was wie ein Straßenbahn-Mojo. (In Herzensangelegenheiten entpuppt sich die Betamännchenphantasie schnell als wankelmütiger Gesell, und von diesem Moment an verbrauchte Ray das Wenige, was er an Zuversicht gesammelt hatte.)

Allerdings befand er sich auf der Market Street, der belebtesten Straße der Stadt, und Ray hatte schon bald ein Taxi gefunden. Er folgte Audrey den ganzen Weg bis hinauf nach Mission und fuhr sogar noch ein paar Blocks mit dem Taxi, als sie schon wieder zu Fuß unterwegs war.

Ray ließ sich etwas zurückfallen und folgte Audrey bis zu einem großen, jadegrünen Altbau an der 17th Street. An der Säule vorn auf der Veranda stand auf einer kleinen Plakette: BUDDHISTISCHES ZENTRUM DES DIAMANTWEGS. Ray bekam inzwischen wieder Luft und hatte auch seine Haltung wiedergefunden. Somit konnte er entspannt hinter einem Laternenpfahl stehen und beobachten, wie Audrey die Stufen zum Zentrum erklomm. Als sie oben ankam, flogen die bunten Glastüren auf und zwei alte Damen kamen herausgelaufen, offenbar in Panik, um Audrey etwas zu erzählen. Sie waren völlig außer sich. Die beiden Damen kamen ihm bekannt vor. Ray hielt die Luft an und wühlte in der hinteren Tasche seiner Jeans herum. Er holte Fotokopien der Führerscheinfotos dieser Frauen hervor, die er für Charlie hatte suchen sollen. Sie waren es: Esther Johnson und Irena Posokowanowich. Dort standen sie – neben der zukünftigen Mrs. Macy. Und dann, als Ray noch dabei war, einen Zusammenhang herzustellen, flog die Tür des Buddhistischen Zentrums erneut auf und etwas, das aussah wie ein Flussotter im paillettenbesetzten Minikleid mit Go-go-Stiefeln, stürzte sich mit einer Schere auf Audreys Knöchel.

Charlie und Inspector Rivera standen vor Fresh Music und linsten ins Schaufenster, vorbei an Pappfiguren und gigantisch großen Plattencovern. Nach dem Schild mit den Öffnungszeiten zu urteilen sollte der Laden eigentlich geöffnet sein, aber die Tür war abgeschlossen, und drinnen war alles dunkel. So weit Charlie etwas erkennen konnte, sah der Laden noch genauso aus wie vor Jahren, als er Minty Fresh besucht hatte, mit einem entscheidenden Unterschied: Das Regal mit den leuchtenden Seelenschiffchen war nicht mehr da.

Nebenan gab es einen Frozen-Yoghurt-Shop, und Rivera führte Charlie hinein und sprach mit dem Besitzer, einem Kerl, der für einen Eisverkäufer viel zu gesund aussah. Er berichtete: »Er hat seit fünf Tagen nicht mehr aufgemacht. Hat aber zu niemandem ein Wort davon gesagt. Ist denn alles okay?«

»Es geht ihm sicher gut«, sagte Rivera.

Drei Minuten später hatte er über Funk Minty Freshs Telefonnummern und die Adresse seiner Wohnung herausgefunden, und nachdem er angerufen hatte und sich nur die Mailbox meldete, fuhren sie zu Freshs Apartment in Twin Peaks, wo sich vor der Tür die Zeitungen stapelten.

Rivera wandte sich zu Charlie um: »Fällt Ihnen noch jemand ein, der bestätigen könnte, was Sie mir erzählt haben?«

»Sie meinen andere Totenboten?«, fragte Charlie. »Ich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass es sie gibt. Wahrscheinlich werden sie nicht mit Ihnen sprechen wollen.«

»Ein Antiquar in Haight Ashbury und ein Schrotthändler unten an der Fourth Street, hab ich Recht?«, sagte Rivera.

»Nein«, sagte Charlie. »Von denen weiß ich nichts. Warum fragen Sie?«

»Weil beide vermisst werden«, sagte Rivera. »Im Büro von diesem Schrotthändler war alles voller Blut, und im Buchladen in Haight Ashbury hat man auf dem Boden ein Ohr gefunden.«

Charlie wich an die Wand zurück. »Davon stand nichts in der Zeitung.«

»So was geben wir nicht raus. Die beiden lebten allein, niemand hat was gesehen. Wir sind nicht mal sicher, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt. Aber jetzt, wo dieser Fresh nicht aufzutreiben ist…«

»Sie meinen, die anderen beiden waren Totenboten?«

»Ich sage nicht, dass ich es glaube, Charlie. Es könnte auch Zufall sein, aber nachdem Ray Macy heute Ihretwegen anrief,habe ich Sie eigentlich deshalb gesucht. Ich wollte Sie fragen, ob Sie die beiden kannten.«

»Ray hat mich angeschwärzt?«

»Vergessen Sie’s. Vielleicht hat er Ihnen das Leben gerettet.«

Charlie dachte an Sophie, zum hundertsten Mal an diesem Abend, und machte sich Sorgen, weil er nicht bei ihr war. »Darf ich meine Tochter anrufen?«

»Sicher«, sagte Rivera. »Aber dann…«

»Bookem Danno drüben in Mission«, sagte Charlie und holte sein Handy aus der Jackentasche. »Das ist keine zehn Minuten von hier. Ich glaube, der Besitzer ist einer von uns.«

Sophie ging es gut. Gemeinsam mit Mrs. Korjew fütterte sie die Höllenhunde mit Knusperkäsebällchen. Sie fragte, ob sie Charlie irgendwie helfen könnte, woraufhin ihm die Tränen kamen und er seine Stimme erst wieder unter Kontrolle bringen musste, bevor er antworten konnte.

Sieben Minuten später parkten sie quer mitten auf der Valencia Street und sahen sich an, wie Feuerwehrwagen Wasser in den ersten Stock des Gebäudes pumpten, in dem sich Bookem Danno befand. Sie stiegen aus, und Rivera zeigte seine Marke dem Polizeibeamten, der als Erster am Tatort gewesen war.

»Die Feuerwehr kommt nicht rein«, sagte der Cop. »Hinten ist eine schwere Brandschutztür, und diese Stahlrollläden sind mindestens einen halben Zentimeter dick.«

Die Rollläden waren nach außen gebogen und von unzähligen kleinen Dellen übersät.

»Was ist passiert?«, fragte Rivera.

»Wir wissen es nicht«, sagte der Cop. »Nachbarn haben eine Explosion gemeldet, aber mehr wissen wir bisher noch nicht. Oben wohnt niemand. Wir haben die Nachbarhäuser geräumt.«

»Danke«, sagte Rivera. Er sah Charlie an, zog die Augenbrauen hoch.

»Fillmore Street«, sagte Charlie. »Die Pfandleihe Ecke Fulton und Fillmore.«

»Gehen wir«, sagte Rivera, nahm Charlies Arm und half ihm beim Schnellhumpeln zum Wagen.

»Dann stehe ich also nicht mehr unter Verdacht?«

»Das sehen wir, wenn Sie überleben«, sagte Rivera, als er die Autotür aufmachte.

Im Wagen rief Charlie gleich bei seiner Schwester an. »Jane, sei so gut und hol Sophie und die Hunde und nimm sie mit zu euch ins Haus.«

»Charlie, wir haben gerade alle Teppiche reinigen lassen und… Alvin und…«

»Sophie darf nicht mal eine einzige Sekunde von den Hunden getrennt sein, Jane. Hast du mich verstanden?«

»Meine Güte, Charlie. Ja doch.«

»Ich meine es ernst. Vielleicht ist sie in Gefahr, und die beiden werden sie beschützen.«

»Was ist denn los? Soll ich die Polizei rufen?«

»Ich bin bei der Polizei, Jane. Bitte, fahr hin und hol Sophie ab! Jetzt gleich!«

»Bin schon unterwegs. Wie soll ich die alle in meinen Subaru kriegen?«

»Lass dir was einfallen. Wenn es sein muss, binde Alvin und Mohammed an der Stoßstange fest und fahr langsam.«

»Das ist grausam, Charlie.«

»Nein, ist es nicht. Die kommen schon zurecht.«

»Nein, ich meine, beim letzten Mal haben sie mir die Stoßstange abgerissen. Die Reparatur hat sechshundert Dollar gekostet.«

»Fahr hin und hol sie ab. Ich ruf dich in einer Stunde an.« Charlie legte auf.

»Also, diese neuen Claymores sind echt scheiße, das will ich euch mal sagen«, sagte Babd. »Das große Breitschwert Claymore von damals mochte ich eigentlich, aber jetzt… jetzt müssen sie die Dinger so ungesellig machen und vollstopfen mit… wie nennt man dieses Zeug, Nemain?«

»Schrapnellkugeln.«

»Schrapnellkugeln«, sagte Babd. »Gerade fing ich an, mich wieder so zu fühlen wie früher…«

»Halt’s Maul!«, bellte Macha.

»Aber es tut weh«, sagte Babd.

Sie schwammen durch ein Kanalisationsrohr unter der 16th Street im Mission District. Fast waren sie wieder zweidimensional, sahen aus wie zerfetzte, schwarze Schlachtenbanner, fadenscheinige Schatten, aus denen schwarzer Glibber rann. Nemain hatte ein Bein verloren und es sich unter den Arm geklemmt. Ihre Schwestern schleppten sie durchs Rohr.

»Kannst du fliegen, Nemain?«, fragte Babd. »Du wirst mir bald zu schwer.«

»Nicht hier unten, und nach da oben gehe ich nicht mehr.«

»Wir müssen wieder ins Oben«, sagte Macha, »wenn deine Wunden heilen sollen, bevor wieder ein Millennium vergeht.«

Als die drei Todesdiven zur Kreuzung großer Röhren unterhalb der Market Street gelangten, hörten sie im Rohr voraus etwas plätschern.

»Was ist das?«, sagte Babd. Sie hielten an.

Irgendetwas platschte in dem Rohr, dem sie sich näherten.

»Was war das? Was war das?«, fragte Nemain, die an ihren Schwestern nicht vorbeisehen konnte.

»Sah aus wie ein Eichhörnchen im Ballkleid«, sagte Babd. »Aber ich fühle mich schwach und bin vielleicht im Wahn.«

»Und ein Blindfisch dazu«, sagte Macha. »Das war eine geschenkte Seele. Schnapp sie dir! Damit können wir Nemains Bein heilen!«

Macha und Babd ließen ihre einbeinige Schwester fallen und hetzten der Kreuzung entgegen, als ihnen ein Boston-Terrier den Weg versperrte.

Die rückwärts paddelnden Morrigan klangen wie Kätzchen, die Spitzendeckchen zerfetzten. »Ho, ho, ho«, rief Macha und ruderte mit dem, was von ihren Klauen übrig war, durchs Rohr.

Bummer kläffte einen scharfen, drohenden Zapfenstreich, dann rannte er das Rohr entlang, den Morrigan nach.

»Neuer Plan, neuer Plan, neuer Plan!«, rief Babd.

»Ich hasse Hunde«, sagte Macha.

Sie packten ihre Schwester, als sie an ihr vorüberkamen.

»Wir, die Göttinnen des Todes, fliehen vor einem kleinen Hündchen«, sagte Nemain.

»Und was willst du damit sagen, Harpyie?«, fragte Macha.

Drüben an der Fillmore hatte Carrie Lang ihre Pfandleihe zum Feierabend abgeschlossen und wartete darauf, dass der Schmuck, den sie hereinbekommen hatte, im Ultraschallreiniger fertig wurde, damit sie ihn in die Vitrine legen konnte. Sie wollte endlich los, nach Hause, was essen und dann vielleicht noch ein paar Stunden auf die Piste. Sie war sechsunddreißig Jahre alt und Single und fühlte sich verpflichtet, auszugehen, und sei es nur, um vielleicht einen netten Mann kennen zu lernen, obwohl sie eigentlich lieber zu Hause geblieben wäre, um sich im Fernsehen einen Krimi anzusehen. Sie war stolz darauf, dass sie nicht zynisch wurde. In einer Pfandleihe sah man die Menschen meist in ihren schlechtesten Momenten, und jeden Tag kämpfte sie gegen die Vorstellung, dass der letzte nette Typ vielleicht inzwischen Drummer oder Crackhead war.

In letzter Zeit ging sie nicht gern aus, weil sie auf der Straße Merkwürdiges gehört und gesehen hatte – Kreaturen huschten durch die Schatten, Flüstern war aus den Gullys zu hören. Zu Hause zu bleiben, schien ihr immer reizvoller. Seit kurzem nahm sie sogar Cheerful, ihren fünfjährigen Basset, mit zur Arbeit. Er konnte sie nicht wirklich beschützen, es sei denn, der Angreifer reichte ihr nur bis zu den Knien, aber er konnte laut bellen, und die Chancen standen gut, dass er einen Angreifer auch wirklich vertrieb, solange dieser keine Hundekuchen in der Tasche hatte. Wie sich herausstellte, reichten ihr die Kreaturen, die an diesem Abend ihren Laden stürmten, gerade bis zum Knie.

Seit neun Jahren war Carrie Totenbotin, und nachdem sie den anfänglichen Schock wegen der Sache mit der Seelenwanderung überwunden hatte (was nur etwa vier Jahre dauerte), war sie dazu übergegangen, das Ganze unter geschäftlichen Aspekten zu sehen, aber aus dem Großen Bunten Buch des Todes wusste sie, dass irgendetwas vor sich ging, und das machte ihr Angst.

Als sie nach vorn in den Laden ging, um die Rollläden herunterzulassen, hörte sie, dass sich hinter ihr im Dunkeln etwas bewegte, etwas Kleines, bei den Gitarren. Es strich über eine tiefe E-Saite, als es daran vorbeikam, und der Ton summte wie eine Warnung. Carrie hörte auf, die Rollläden herunterzulassen, und sah nach, ob sie ihre Schlüssel bei sich hatte, für den Fall, dass sie vorn aus dem Laden flüchten musste. Sie klickte den Holster ihres .38er Revolvers auf, dann dachte sie: Scheiß drauf, ich bin doch kein Bulle, zog die Waffe und richtete sie auf die klingende Gitarre. Ein Cop, mit dem sie vor Jahren ausgegangen war, hatte sie überredet, den Smith amp; Wesson zu tragen, wenn sie im Laden war, und auch wenn sie ihn bisher nie benutzen musste, wusste sie doch, dass er auf Diebe eine abschreckende Wirkung hatte.

»Cheerful?«, rief sie.

Ein Schlurfen aus dem Hinterzimmer antwortete ihr. Warum hatte sie nur das Deckenlicht ausgemacht? Die Schalter waren im Hinterzimmer, und ihr blieb nur das Licht aus den Vitrinen, das kaum bis auf den Boden reichte, aber von dort kamen die Geräusche.

»Ich habe eine Waffe, und ich weiß auch, wie man sie benutzt«, rief sie und kam sich blöd vor.

Dieses Mal antwortete ihr ersticktes Winseln. »Cheerful!«

Sie duckte sich unter dem Tresen hindurch und rannte ins Hinterzimmer, richtete ihre Waffe in alle Ecken, wie man es in Krimis sah. Wieder dieses Winseln. Sie konnte Cheerful gerade eben sehen, wie er dort an seinem üblichen Platz neben der Hintertür lag, aber da war etwas an seinen Pfoten und an seiner Schnauze. Klebeband.

Sie griff nach dem Schalter, um Licht zu machen, da schlug ihr etwas in die Kniekehlen. Sie wollte sich umdrehen, aber es traf sie an der Brust und warf sie aus dem Gleichgewicht. Scharfe Klauen harkten über ihre Handgelenke, als sie fiel und ihr der Revolver entglitt. Sie schlug mit dem Kopf an den Türrahmen, was einen Sternenregen vor ihren Augen aufblitzen ließ, dann bekam sie etwas an den Hinterkopf, mit Wucht, und alles wurde schwarz.

Es war noch immer dunkel, als sie wieder zu sich kam. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie bewusstlos gewesen war, und konnte sich nicht rühren, konnte nicht mal ihre Uhr sehen. O mein Gott, sie haben mir das Genick gebrochen, dachte sie. Sie sah Gegenstände an sich vorüberschweben, allesamt mattrot leuchtend, so matt, dass sie kaum erhellen konnten, wer oder was sie durch den Laden trug. Winzige, knochige Gesichter, Reißzähne und Klauen – tote, leere Augenhöhlen. Die Seelenschiffchen schienen über den Boden zu schweben, eskortiert von Raubtierpuppen. Dann spürte sie Klauen, die Kreaturen fassten sie an, zwängten sich unter sie. Sie versuchte, zu schreien, aber ihr Mund war zugeklebt.

Sie merkte, dass sie hochgehoben wurde, dann sah sie, wie die Hintertür ihres Ladens aufging, als sie – nur knapp über dem Boden – hinausgetragen wurde. Draußen stellte man sie aufrecht hin und es kam ihr vor, als sollte sie in einen dunklen Abgrund stürzen.

Als sie kamen, stand die Hintertür der Pfandleihe offen und der Basset lag gefesselt in der Ecke. Mit gezückter Waffe und einer Taschenlampe in der Hand sah sich Rivera im Laden um, und da er niemanden fand, rief er Charlie herein.

Charlie knipste das Ladenlicht an. »Oh-oh«, sagte er.

»Was?«, sagte Rivera.

Charlie deutete auf eine zerschlagene Vitrine. »Da drin waren ihre Seelenschiffchen ausgestellt. Sie war fast voll, als ich… also, na ja…«

Rivera betrachtete die leere Vitrine. »Rühren Sie nichts an. Was hier auch passiert sein mag, ich glaube kaum, dass es derselbe Täter war, der auch die anderen Läden überfallen hat.«

»Wieso?« Charlie drehte sich zum Hinterzimmer um, sah den gefesselten Hund.

»Seinetwegen«, sagte Rivera. »Man fesselt keinen Hund, wenn man Leute schlachtet und Blut und Ohren zurücklässt. Das ist nicht dieselbe Mentalität.«

»Vielleicht wollte sie ihn gerade fesseln und wurde dabeiüberrascht«, sagte Charlie. »Sie sah ein bisschen aus wie eine Polizistin.«

»Genau. Und alle Cops stehen auf Hunde-Bondage – wollen Sie mir das erzählen?« Rivera steckte seine Waffe weg, holte ein Klappmesser aus der Tasche und ging zum Basset, der sich am Boden wälzte.

»Nein, will ich nicht. Tut mir leid. Aber sie hatte eine Waffe.«

»Sie muss hier gewesen sein«, sagte Rivera. »Sonst wäre die Alarmanlage an. Was ist das da am Türrahmen?« Vorsichtig sägte er das Klebeband zwischen den Hundepfoten durch, um das Tier nicht zu verletzen. Er nickte zur Tür zwischen Laden und Hinterzimmer hinüber.

»Blut«, sagte Charlie, »und Haare.«

Rivera nickte. »Ist das da am Boden auch Blut? Nicht anfassen!«

Charlie betrachtete die kleine Pfütze links der Tür. »Jep, glaub schon.«

Rivera hatte die Pfoten des Hundes befreit und hockte nun auf ihm, damit das Tier auch still hielt, während er ihm das Klebeband von der Schnauze zog. »Diese Spuren im Blut… nicht verschmieren! Sind das Teile von Schuhabdrücken?«

»Sieht nach einem Vogel aus. Hühner vielleicht?«

»Nein.« Rivera ließ den Basset los, der sofort versuchte, dem Inspector auf die italienischen Anzughosen zu springen und ihm vor Freude das Gesicht abzulecken. Er hielt den Hund am Halsband fest und ging zu Charlie, der die Spuren untersuchte.

»Sieht tatsächlich nach Hühnerspuren aus«, sagte er.

»Hm-hm«, machte Charlie. »Und Sie haben überall Hundesabber auf Ihrem Jackett.«

»Ich werde das hier melden müssen, Charlie.«

»Hundesabber ist also der entscheidende Faktor, wenn man Verstärkung braucht?«

»Vergessen Sie den Sabber. Hundesabber ist nicht wichtig. Ich muss die Sache melden, und ich muss meinen Partner anfordern. Er wird stinksauer sein, dass ich so lange damit gewartet habe. Ich sollte Sie nach Hause bringen.«

»Wenn der Fleck aus diesem Tausend-Dollar-Jackett nicht wieder rausgeht, werden Sie es schon wichtig finden.«

»Konzentrieren Sie sich, Charlie. Sobald hier jemand kommt, können Sie nach Hause. Sie haben meine Handynummer. Lassen Sie es mich wissen, wenn irgendwas passiert. Egal, was.«

Rivera rief von seinem Handy aus die Zentrale an und bat darum, ihm einen Streifenwagen und ein Tatortteam zu schicken, sobald jemand verfügbar wäre. Als er das Telefon zuklappte, sagte Charlie: »Dann stehe ich also nicht mehr unter Arrest?«

»Nein. Bleiben Sie in Kontakt. Und denken Sie an Ihre Sicherheit, okay? Vielleicht sollten Sie lieber ein paar Tage die Stadt verlassen.«

»Ich kann nicht. Ich bin der Luminatus. Ich habe Pflichten.«

»Leider wissen Sie nicht, welche…«

»Dass ich es nicht weiß, bedeutet ja nicht, dass ich keine habe«, sagte Charlie vielleicht etwas zu defensiv.

»Und Sie wissen ganz bestimmt nicht, wie viele von diesen Totenboten es in der Stadt gibt und wo sie vielleicht wohnen könnten?«

»Minty Fresh hat gesagt, es gibt mindestens ein Dutzend. Mehr weiß ich nicht. Diese Frau und dieser Antiquar waren die Einzigen, auf die ich bei meinen Spaziergängen gestoßen bin.«

Sie hörten, dass ein Auto in die kleine Straße hinter dem Laden bog. Rivera ging zur Hintertür und gab den Beamten Zeichen, dann kam er zu Charlie zurück. »Gehen Sie nach Hauseund schlafen Sie sich aus, wenn Sie können, Charlie. Ich melde mich.«

Charlie ließ sich von dem uniformierten Beamten zum Streifenwagen führen und in den Fond bugsieren, dann winkte er Rivera und dem Basset, als der Wagen rückwärts aus der kleinen Gasse fuhr.

23

Ein echter Scheißtag

Es war ein echter Scheißtag in der Stadt an der Bay. In der Morgendämmerung hockten Schwärme von Geiern in den Aufbauten der Golden Gate Bridge und der Bay Bridge und blickten finster auf die Pendler herab, als sei es eine gottverdammte Unverschämtheit, dass sie noch am Leben waren und Auto fuhren. Verkehrshubschrauber wurden dazu abgestellt, die Aasfresser fotografisch festzuhalten. Sie filmten, wie eine Wolke von Fledermäusen zehn Minuten lang die Transamerica-Pyramide umkreiste und sich dann in einen schwarzen Nebel aufzulösen schien, der auf die Bay hinaustrieb. Drei Schwimmer, die am San Francisco Triathlon teilnahmen, ertranken in der Bay, und eine Helikopterkamera filmte etwas unter der Wasseroberfläche, einen dunklen Schatten, der sich einem der Schwimmer von unten näherte und ihn in die Tiefe zog. Endloses Abspielen der Kassette zeigte keineswegs die schlanke Gestalt eines Hais, sondern ein Wesen mit großen Flügeln und Hörnern, einem Manta oder Rochen ganz und gar unähnlich. Die Enten im Golden Gate Park erhoben sich urplötzlich in die Lüfte und verschwanden auf Nimmerwiedersehen, alle Seelöwen, die normalerweise bei Pier 39 in der Sonne dösten, waren verschwunden, und selbst die Tauben schienen die Stadt verlassen zu haben.

Einem mürrischen Reporter fiel bei der Lektüre der Polizeiberichte auf, dass es in der vergangenen Nacht sieben Meldungen über Gewalttaten oder vermisste Personen im Zusammenhang mit Secondhandläden gegeben hatte, und am frühen Abend fand es auch im Fernsehen Erwähnung, neben den spektakulären Aufnahmen des brennenden Book-em-Danno-Gebäudes im Mission District. Darüber hinaus wurden noch Hunderte verschiedener Vorfälle gemeldet: Kreaturen huschten durch die Schatten, Stimmen und Schreie aus den Gullys, Milch wurde sauer, Katzen kratzten ihre Besitzer, Hunde heulten und Tausende wachten auf und stellten fest, dass ihnen Schokolade nicht mehr schmeckte. Es war ein echter Scheißtag.

Charlie verbrachte den Rest des Abends damit, sich Sorgen zu machen und Türschlösser zu prüfen, sie noch ein zweites Mal zu prüfen, dann im Internet nach Hinweisen auf die Unterweltler zu suchen, für den Fall, dass – seit dem letzten Mal, als er nachgesehen hatte – ein brandneues, uraltes Dokument veröffentlicht worden war. Er machte sein Testament und schrieb mehrere Briefe, mit denen er vor die Tür ging, um sie draußen auf der Straße in den Briefkasten zu werfen, statt sie zur Geschäftspost auf den Tresen zu legen. Dann, im Morgengrauen, war er völlig erschöpft, doch da seine Betamännchenphantasie mit tausend Meilen in der Stunde raste, nahm er zwei Schlaftabletten, die ihm Jane gegeben hatte, und verschlief den Scheißtag, bis ihn seine süße, kleine Tochter am frühen Abend anrief und weckte.

»Hallo.«

»Tante Cassie ist Antisemit«, sagte Sophie.

»Süße, es ist sechs Uhr morgens. Können wir Tante Cassies politische Ansichten auf später verschieben?«

»Ist es nicht. Es ist sechs Uhr abends. Badezeit. Und TanteCassie sagt, ich darf Alvin und Mohammed nicht mitnehmen, weil sie Antisemit ist.«

Charlie sah auf seine Armbanduhr. In gewisser Weise war er froh, dass es sechs Uhr abends war und er mit seiner Tochter sprach. Was auch geschehen sein mochte, während er geschlafen hatte – zumindest darauf hatte es sich nicht ausgewirkt.

»Cassie ist keine Antisemitin.« Das war Jane auf der anderen Leitung.

»Ist sie wohl«, sagte Sophie. »Vorsicht, Daddy. Tante Jane ist Antisemit-Sympathisant.«

»Bin ich nicht«, sagte Jane.

»Hör dir an, wie klug meine Tochter ist«, sagte Charlie. »Wörter wie Antisemit und Sympathisant habe ich in ihrem Alter nicht gekannt. Du?«

»Den Gojim kann man nicht trauen«, sagte Sophie. Sie fing an zu flüstern. »Die baden nicht gern, die Gojim.«

»Daddy ist auch ein Gojim, Baby.«

»O mein Gott, die sprießen wie die Pilze aus dem Boden!« Er hörte, wie seine Tochter den Hörer fallen ließ und schrie, dann knallte eine Tür.

»Sophie, sofort schließt du deine Tür wieder auf«, rief Cassie im Hintergrund.

Jane sagte: »Charlie, woher hat sie diesen Unsinn? Bringst du ihr das bei?«

»Es liegt an Mrs. Korjew. Sie stammt von den Kosaken ab und empfindet wohl noch etwas Restschuld für das, was ihre Vorfahren den Juden angetan haben.«

»Oh«, sagte Jane und verlor das Interesse, nachdem sie Charlie nicht die Schuld zuschieben konnte. »Also, du solltest die Hunde nicht mit ihr ins Badezimmer lassen. Sie fressen die Seife, und manchmal springen sie in die Wanne, und dann…«

»Lass die beiden zu ihr, Jane«, unterbrach Charlie. »Nur so ist Sophie sicher.«

»Okay, aber ich lasse sie nur billige Seife fressen. Nicht die französische.«

»Amerikanische Seife reicht völlig aus, Jane. Hör zu, ich habe gestern Abend mein Testament gemacht. Sollte mir was zustoßen, möchte ich, dass Sophie bei dir aufwächst. Es steht alles drin.«

Jane antwortete nicht. Er konnte sie am anderen Ende atmen hören.

»Jane?«

»Sicher, klar. Natürlich. Sag mal, was ist bei euch eigentlich los? In welcher Gefahr sollte sich Sophie befinden? Wieso bist du so sonderbar? Und wieso hast du nicht früher angerufen, du Arsch?«

»Ich war die ganze Nacht beschäftigt. Dann habe ich zwei von diesen Schlaftabletten genommen, die du mir gegeben hast. Plötzlich fehlen mir zwölf Stunden.«

»Du hast zwei genommen? Nimm nie zwei.«

»Ja, danke«, sagte Charlie. »Jedenfalls wird schon alles gut gehen, falls aber nicht, musst du Sophie nehmen und eine Weile aus der Stadt verschwinden. Ich meine rauf in die Berge. Außerdem habe ich dir einen Brief geschickt, in dem ich alles erkläre, zumindest, soweit ich es weiß. Mach ihn nur auf, falls was passiert, okay?«

»Es sollte lieber nichts passieren, du Blödmann. Ich hab gerade Mom verloren, und ich… wieso, zum Teufel, redest du so, Charlie? In was für Schwierigkeiten steckst du denn?«

»Ich kann es dir nicht sagen, Jane. Du musst mir glauben, dass ich in dieser Sache keine Wahl hatte.«

»Wie kann ich helfen?«

»Indem du genau das tust, was du tust. Indem du dich um Sophie kümmerst, damit sie in Sicherheit ist, und indem du dafür sorgst, dass die Höllenhunde immer bei ihr sind.«

»Okay, aber dir sollte besser nichts zustoßen. Cassie und ich wollen heiraten, und ich will, dass du mich zum Altar führst. Und außerdem will ich deinen Smoking leihen. Es ist doch ein Armani, oder?«

»Nein, Jane.«

»Du willst mich nicht zum Altar führen?«

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich würde sie dafür bezahlen, dass sie dich nimmt. Das ist es nicht.«

»Dann findest du also nicht, dass Homosexuelle heiraten sollten, ja? Endlich kommst du damit raus. Ich wusste es…«

»Ich finde einfach nur, Homosexuelle sollten nicht in meinem Smoking heiraten.«

»Oh«, sagte Jane.

»Du wirst meinen Armani-Smoking tragen, und ich muss mir irgendein Scheißding mieten oder neu und billig kaufen, und dann sehe ich bis ans Ende aller Zeiten auf den Hochzeitsfotos wie ein Landei aus. Ich weiß, wie gern Ihr Leutchen Hochzeitsfotos herumzeigt. Es ist wie eine Krankheit.«

»Mit >Ihr Leutchen< meinst du Lesben?«, sagte Jane und klang sehr nach einer Staatsanwältin.

»Ja, ich meine Lesben, Dumpfbacke«, sagte Charlie und klang sehr nach einem feindlich gesonnenen Zeugen.

»Oh, okay«, sagte Jane. »Es ist meine Hochzeit. Ich denke, ich kann mir auch einen Smoking kaufen.«

»Das wäre nett«, sagte Charlie.

»Ich sollte mir die Hosen sowieso am Hintern etwas rauslassen«, sagte Jane.

»Na also, geht doch.«

»Dann kann ich mich darauf verlassen, dass du mich zum Altar führst?«

»Ich werde mein Bestes tun. Meinst du, Cassandra lässt mich mein kleines, jüdisches Mädchen mitbringen?«

Jane lachte. »Ruf mich stündlich an«, sagte sie.

»Das werde ich bestimmt nicht tun.«

»Okay, dann sooft du kannst.«

»Ja«, sagte Charlie. »Bye.« Er lächelte vor sich hin, rollte aus dem Bett und fragte sich, ob es wohl das letzte Mal wäre, dass er es tat. Lächeln.

Charlie duschte, aß ein Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich und stieg in einen Tausend-Dollar-Anzug, für den er nur vierzig bezahlt hatte. Ein paar Minuten humpelte er im Schlafzimmer herum und kam zu dem Schluss, dass sich sein Bein ganz gut anfühlte und er auf den Gehgips verzichten konnte, also ließ er ihn auf dem Boden neben dem Bett liegen. Dann setzte er eine Kanne Kaffee auf und rief Inspector Rivera an.

»Es war ein echter Scheißtag«, sagte Rivera. »Charlie, Sie sollten Ihre Tochter nehmen und aus der Stadt verschwinden.«

»Das kann ich nicht. Hier geht es um mich. Sie halten mich doch auf dem Laufenden, oder?«

»Versprechen Sie, dass Sie keine Dummheiten machen und den Helden spielen?«

»Das ist in meinen Genen nicht vorgesehen, Inspector. Ich ruf Sie an, wenn ich was sehe.«

Charlie legte auf, hatte keine Ahnung, was er machen sollte, fühlte sich aber so, als müsste er was tun. Er rief bei Jane an, um Sophie Gute Nacht zu sagen.

»Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich sehr lieb habe, meine Süße.«

»Ich dich auch, Daddy. Wieso rufst du an?«

»Wieso? Bist du in einem Meeting, oder was?«

»Wir essen gerade Eis.«

»Das ist schön. Hör zu, Sophie, Daddy hat was Wichtiges zu erledigen, und deshalb möchte ich, dass du ein paar Tage bei Tante Jane bleibst, okay?«

»Okay. Brauchst du Hilfe? Ich hab Zeit.«

»Nein, mein Schatz, aber vielen Dank.«

»Okay, Daddy. Alvin guckt mein Eis an. Er sieht hungrig aus wie Bär. Ich muss auflegen.«

»Hab dich lieb, Süße.«

»Hab dich lieb, Daddy.«

»Entschuldige dich bei Tante Cassie, dass du >Antisemit< zu ihr gesagt hast.«

»Na gut.« Klick.

Sie legte einfach auf. Sein Augapfel, das Licht seines Lebens, sein ganzer Stolz, legte einfach auf. Er seufzte, fühlte sich aber besser. Herzschmerz ist der normale Lebensraum des Betamännchens.

Charlie nahm sich in der Küche ein paar Minuten Zeit, die Klinge seines Stockdegens am elektrischen Dosenöffner zu schärfen, den Rachel und er zur Hochzeit bekommen hatten, dann machte er sich auf den Weg, um nach dem Laden zu sehen.

Sobald er die Tür zur Hintertreppe aufgemacht hatte, hörte Charlie sonderbare, animalische Laute von unten aus dem Laden. Es klang, als kämen sie aus dem Hinterzimmer. Es war dunkel, aber vom Laden her fiel Licht herein. Waren sie schon da? In gewisser Weise beantwortete es die Frage, was er unternehmen sollte.

Er zog den Degen aus seinem Stock und schlich gebückt die Treppe hinunter, trat vorn auf die Stufen, damit es nicht so quietschte. Auf halbem Weg sah er, was die animalischen Lautevon sich gab, und er schreckte zurück, taumelte fast die halbe Treppe rückwärts wieder hinauf.

»Gütiger Gott!«

»Irgendjemand musste es tun«, sagte Lily. Sie saß rittlings auf Ray Macy, hatte ihren karierten Faltenrock (glücklicherweise) über ihn drapiert und verdeckte die Teile, die Charlie dazu veranlasst hätten, sich die Augen auszustechen, was er vermutlich trotzdem tun würde.

»Das stimmt«, stimmte Ray ihr hechelnd zu.

Charlie spähte ins Hinterzimmer. Sie waren immer noch dabei, Lily ritt auf Ray wie auf einem mechanischen Bullen, und eine nackte Brust war aus ihrem Kochkittel gehüpft.

»Er war so niedergeschlagen«, sagte sie. »Als ich kam, hat er sich Knutschflecke mit dem Staubsauger gemacht. Es ist zum Wohle aller, Charlie.«

»Dann hört jetzt auf damit!«, sagte Charlie

»Nein, nein, nein, nein, nein«, sagte Ray.

»Es ist für einen guten Zweck«, sagte Lily.

»Weißt du, Lily«, sagte Charlie und hielt sich die Augen zu, »du solltest deine Wohltätigkeit woanders zeigen, vielleicht bei der Heilsarmee.«

»Die Typen will ich nicht ficken. Die meisten sind eklige Alkoholiker und stinken. Ray ist wenigstens sauber.«

»Ich meinte nicht: Mach es einem!, ich meinte: Mach mit! Bimmel mit dem Glöckchen an der roten Sammelbüchse. Himmelarsch!«

»Ich bin sauber«, sagte Ray.

»Du hältst den Mund«, sagte Charlie. »Sie könnte ohne weiteres deine Tochter sein.«

»Er war selbstmordgefährdet«, sagte Lily. »Vielleicht rette ich ihm das Leben.«

»Tut sie«, sagte Ray.

»Halt den Mund, Ray«, sagte Charlie. »Das ist jämmerlicher, verzweifelter Mitleidsex, nicht mehr und nicht weniger.«

»Das weiß er«, sagte Lily.

»Ist mir egal«, sagte Ray.

»Außerdem mache ich es für unsere gemeinsame Sache«, sagte Lily. »Ray hat dir was verschwiegen.«

»Hab ich?«, sagte Ray.

»Was?«, sagte Charlie.

»Er hat eine Frau gefunden, die alle Seelenschiffchen aufkauft. Sie war bei den Klienten, die dir entgangen sind. Irgendwo in Mission. Er wollte dir nichts davon erzählen.«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Ray. Dann fügte er hinzu: »Schneller, bitte.«

»Gib ihm die Adresse«, sagte Lily.

»Lily«, sagte Charlie, »das muss doch jetzt nicht sein.«

»Nein«, sagte Ray.

Man hörte ein lautes Klatschen. Charlie schlug die Augen auf. Sie waren noch da, noch immer dabei, doch Rays Wange leuchtete hellrot, und Lily machte sich bereit, noch einmal zuzuschlagen.

»Gib sie ihm!«

»Sie wohnt an der Guerrero Street, zwischen 18th und 19th. Ich weiß die Nummer nicht, aber es ist ein großes, grünes Haus. Nicht zu übersehen. Buddhistisches Zentrum des Diamantwegs.« BATSCH!

»Au, ich hab’s ihm doch gesagt«, heulte Ray.

»Das war dafür, dass du die Adresse nicht weißt, du WURM!«, sagte Lily. Dann zu Charlie gewandt: »Jetzt weißt du’s, Asher. Ich will eine leitende Funktion, wenn du die Unterwelt übernimmst!«

Charlie dachte, wenn er die Macht übernahm, würde er wohl zuallererst Das Große Bunte Buch des Todes erweitern, damit darin auch stand, wie man mit solchen Situationen fertig wurde. Stattdessen aber sagte er: »Soll sein, Lily. Du wirst zuständig für Modediktat und Folter.«

»Cool«, sagte Lily. »Entschuldige, Asher, ich muss das hier zu Ende bringen.« Dann zu Ray: »Hörst du mich? Keine Flanellhemden mehr, du Knecht.« BATSCH!

Das Grunzen, das Ray von sich gab, nahm an Frequenz und Intensität zu.

»Klar«, sagte Charlie, »ich nehm einfach die andere Tür.«

»Wir sehen uns«, sagte Ray.

»Ich werde keinem von euch beiden jemals wieder in die Augen sehen, okay?«

»Klingt gut, Asher«, sagte Lily. »Pass auf dich auf.«

Charlie schlich die Treppe hinauf, verließ sein Apartment durch die Wohnungstür und nahm den Fahrstuhl zum Haupteingang. Den ganzen Tag über musste er einen Würgereiz unterdrücken. Auf der Straße winkte er sich ein Taxi heran und fuhr nach Mission, wobei er sich alle Mühe gab, die Erinnerung an seine beiden vögelnden Angestellten aus seinen Gedanken zu verbannen.

Die Morrigan waren den geschenkten Seelen gefolgt, die durch die Kanalisation auf eine verlassene Straße im Mission District entkommen konnten. Nun warteten sie, beobachteten das alte, grüne Haus von den Gullys an beiden Enden der Straße aus. Sie waren jetzt umsichtiger, ihre Raffgier war etwas gedämpft, nachdem man sie am Abend vorher in die Luft gesprengt hatte.

Sie nannten sie geschenkte Seelen, weil die kleinen Flickwerkwesen ihnen die Seelen bis in die Kanalisation brachten. DieGaben kamen, als die Morrigan am schwächsten waren. Nachdem sie der verfluchte Terrier meilenweit durch die Rohre gejagt hatte, bis sie sich lädiert und erschöpft an einer Kanalkreuzung oben auf einen Vorsprung retten konnten, kamen etwa zwanzig dieser süßen, kleinen Albträume anmarschiert, in voller Pracht gekleidet, und hatten genau das dabei, womit sich ihre Wunden heilen und ihre Kräfte wiederherstellen ließen: Menschenseelen. Erstarkt konnten sie den unausstehlichen, kleinen Köter verjagen. Die Morrigan waren wieder da, nicht mit der Kraft, die sie vor der Explosion gehabt hatten, vielleicht nicht einmal genug Kraft, um fliegen zu können, aber ganz sicher genug, um sich wieder im Oben zu bewegen, besonders wenn so viele Seelen greifbar waren.

Auf den Straßen war heute Abend niemand unterwegs, nur die Junkies, die Nutten und die Penner. Nach dem Scheißtag in der Stadt hatten fast alle beschlossen, dass es sicherer wäre, zu Hause zu bleiben. Für die Morrigan (denen es eigentlich egal war), waren sie zu Hause ungefähr so sicher wie ein Thunfisch in der Dose, doch das wusste noch niemand. Keiner wusste, wovor sie sich versteckten, bis auf Charlie Asher, und der stieg gerade direkt vor ihrer Nase aus einem Taxi.

»Da kommt Frischfleisch«, sagte Macha.

»Wir sollten ihm einen neuen Namen geben«, sagte Babd. »Ich meine, so frisch ist er nun auch nicht mehr.«

»Schscht«, machte Macha.

»Hey, Liebster«, fauchte Babd aus ihrem Gully, »hast du mich vermisst?«

Charlie bezahlte den Taxifahrer, stand mitten auf der Straße und sah sich das große, jadegrüne Haus an. Oben im Eckturm und in einem der unteren Fenster brannte Licht. Das Schild BUDDHISTISCHES ZENTRUM DES DIAMANTWEGS war gerade noch zu lesen. Er ging auf das Haus zu und sah, dass sich zwischen den Bohlen unter der Veranda etwas bewegte. Leuchtende Augen. Eine Katze vielleicht. Sein Handy klingelte, und er klappte es auf.

»Charlie, Rivera hier. Ich habe gute Neuigkeiten. Wir haben Carrie Long gefunden, die Frau aus der Pfandleihe, und sie lebt. Sie lag gefesselt in einem Müllcontainer einen Block von ihrem Laden entfernt.«

»Das ist großartig«, sagte Charlie. Aber er fühlte sich nicht großartig. Diese seltsamen Kreaturen, die unter der Veranda gesessen hatten, kamen hervor. Trippelten die Stufen hinauf, stellten sich nebeneinander auf die Veranda und starrten ihn an. Zwanzig oder dreißig Gestalten, keinen halben Meter hoch, gekleidet in altmodische Kostüme. Als Köpfe hatten sie die Schädel toter Tiere: Katzen, Füchse, Dachse und andere Tiere, aber nur die Schädel. Die Augenhöhlen waren schwarz und leer. Und doch starrten sie ihn an.

»Sie glauben nicht, wer die Frau angeblich dort hineingeworfen hat, Charlie. Seltsame Kreaturen, kleine Monster – das waren ihre Worte.«

»Etwa vierzig Zentimeter groß«, sagte Charlie.

»Ja, woher wissen Sie das?«

»Mit Klauen und vielen Zähnen, zusammengeschustert aus Einzelteilen von verschiedenen Tieren und alle verkleidet, als wollten sie zum Kostümball?«

»Was reden Sie da, Charlie? Was wissen Sie darüber?«

»War nur geraten«, sagte Charlie. Er löste den Riegel an seinem Stockdegen.

»Hey, Liebster«, hörte er eine weibliche Stimme hinter sich. »Hast du mich vermisst?«

Charlie drehte sich um. Sie kroch direkt hinter ihm aus dem Gully.

»Die schlechte Nachricht ist, dass wir den Schrotthändler und den Buchhändler von Bookem Danno gefunden haben, oder zumindest Einzelteile.«

»Das ist allerdings eine schlechte Nachricht«, sagte Charlie. Er machte sich auf den Weg, die Straße entlang, fort von der Gullyhexe und der Veranda, auf denen sich die satanischen Handpuppen drängten.

»Frischfleisch…«, hörte er eine Stimme vom anderen Ende der Straße her.

Charlie sah die nächste Hexe aus dem Gully steigen. Ihre Augen leuchteten schwarz im Licht der Laterne. Hinter sich hörte er das Klacken kleiner Tierzähne.

»Charlie, ich bin trotz allem der Ansicht, dass Sie die Stadt eine Weile verlassen sollten. Falls Sie allerdings hierbleiben, müssen Sie sich eine Schusswaffe besorgen, besser noch zwei. Erzählen Sie bloß niemandem, dass Sie den Tipp von mir haben.«

»Klingt wie eine gute Idee«, sagte Charlie. Die beiden Gullyhexen kamen ganz langsam auf ihn zu, unbeholfen, als hätten ihre Nerven einen Kurzschluss. Die eine, die ihm am nächsten war, die aus der Gasse in North Beach, leckte sich die Lippen. Sie sah etwas mitgenommen aus, verglichen mit dem Abend, an dem sie ihn verführt hatte. Er lief die Straße hinauf, ließ die beiden hinter sich zurück.

»Eine Schrotflinte, damit Sie nicht erst lernen müssen, wie man schießt. Ich kann Ihnen zwar keine besorgen, aber…«

»Inspector, ich ruf Sie zurück.«

»Es ist mein Ernst, Charlie. Wir wissen nicht, was das für Kreaturen sein mögen, aber sie haben es auf Leute wie Sie abgesehen.«

»Sie haben ja keine Ahnung, wie bewusst mir dieser Umstand ist, Inspector.«

»Ist das etwa der Kerl, der auf mich geschossen hat?«, sagte die Hexe, die ihm am nächsten stand. »Sag ihm, ich werde ihm die Augäpfel aus den Höhlen lutschen und sie direkt an seinem Ohr zerkauen.«

»Haben Sie gehört, Inspector?«

»Sie ist da?«

»Sie sind da«, sagte Charlie.

»Komm her, Frischfleisch!«, rief die dritte Hexe, die am anderen Ende vom Block aus dem Gully kletterte. Sie stand da, zeigte ihre Klauen und schnippte Gift auf ein geparktes Auto. Der Lack zischte und löste sich auf.

»Wo sind Sie, Charlie? Wo sind Sie?«

»Ich bin in Mission. Bei der Mission.«

Inzwischen hüpften die kleinen Wesen die Stufen herunter und näherten sich der Straße.

»Guck mal«, sagte eine Hexe, »er hat uns was mitgebracht.«

»Charlie, wo genau sind Sie?«, sagte Rivera.

»Ich muss auflegen, Inspector.« Charlie klappte das Handy zu und ließ es in seine Jackentasche fallen. Dann zog er seinen Degen aus dem Stock und wandte sich der Hexe aus der Gasse zu. »Für dich«, sagte er und schwang die Klinge schwungvoll durch die Luft.

»Wie lieb von dir«, sagte sie. »Du weißt immer, was ich mir am meisten wünsche.«

Der 1957er Cadillac Eldorado Brougham war der perfekte Angeber unter den Hinrichtungsmaschinen. Er bestand aus fast drei Tonnen Stahl, zusammengedengelt zu einem Urvieh mit riesigem Maul und stehendem Schwanz, mit dermaßen viel Chrom, dass man daraus einen Terminator bauen könnte und immer noch Teile übrig hätte – die meisten in Form langer, spitzer Leisten, die sich beim Aufprall abschälten und in todbringende Sensen verwandelten, mit denen man prima Fußgänger häuten konnte. Unter den vier Scheinwerfern saßen zwei verchromte Stoßstangenbomben, die aussahen wie kampfbereite Torpedos oder Madonnas Todesbrüste Körbchengröße Dreifach-G. Er besaß eine starre Lenksäule, die den Fahrer bei jeder ernstzunehmenden Kollision pfählte, elektrische Fensterheber, die ohne weiteres Kinder köpften, keinerlei Sicherheitsgurte und einen V8 mit 325 Pferdestärken und derart irrsinnigem Benzinverbrauch, dass man hören konnte, wie er im Vorüberfahren verflüssigte Dinosaurier direkt aus dem Erdreich schlürfen wollte. Seine Höchstgeschwindigkeit lag bei hundertachtzig Stundenkilometern, seine frachtkahnähnliche Federung war so schwammig, dass sich der Wagen bei schnellerer Fahrt kaum auf der Straße halten ließ, und die Bremsen waren so unterdimensioniert, dass sie ihn kaum zum Stehen überreden konnten. Die Heckflossen ragten so hoch und spitz auf, dass der Wagen selbst im geparkten Zustand für Fußgänger eine tödliche Gefahr darstellte, und das ganze Ding stand auf großen Weißwandreifen, die wie übergroße Puderzuckerdoughnuts aussahen und sich auch so verhielten. Detroit hätte ebenso gut einen Killerwal mit Strass besetzen können und dennoch keinen tödlicheren Pomp zustande gebracht. Er war ein Meisterwerk.

Das alles muss man wissen, weil neben den kriegsmüden Morrigan und den prunkvoll gekleideten Chimären auch ein ’57er Eldorado zügig auf Charlie zuhielt.

Der blutrot lackierte Eldo schleuderte um die Ecken, die Reifen kreischend wie brennende Fasane, mit fliegenden Radkappen, röhrendem Motor, blauem Qualm und Radkästen, die Rauch spien wie ein aufgeblähter Drache. Die erste Morrigan drehte sich gerade um, so dass sie einen Stoßstangentorpedo in den Oberschenkel bekam, bevor sie unter den Wagen gerissen, zusammengefaltet und hinten als schwarzer Haufen wieder ausgespuckt wurde. Die Scheinwerfer gingen an, und der Caddy hielt auf die Morrigan direkt neben Charlie zu.

Die kleinen Tierwesen huschten eilig auf den Bürgersteig, und Charlie sprang eben mit einem Satz auf die Motorhaube eines geparkten Honda, als der Eldo die zweite Morrigan erwischte. Wie eine Lumpenpuppe schlug sie auf die Haube, während die Bremsen quietschten, dann flog sie zwanzig Meter durch die Luft. Mit durchdrehenden Rädern rumpelte der Caddy noch einmal über sie hinweg, bis sie hinter ihm über den Asphalt eierte, wobei sie Teile verlor. Donnernd hielt der Caddy auf die letzte Morrigan zu.

Diese war ihrer Schwester um Sekunden voraus und hastete die Straße hinunter, wobei sie ihre Gestalt bereits veränderte, Arme zu Flügeln wurden, sich Schwanzfedern bilden wollten, doch sie schien die Verwandlung nicht rechtzeitig zu schaffen, um abheben zu können. Der Eldo pflügte über sie hinweg, bremste, setzte zurück und ließ auf ihrem Rücken Gummi qualmen.

Charlie machte einen Satz aufs Dach des Honda, bereit, abzuspringen, doch der Caddy hielt an, und die schwarz getönte Scheibe fuhr herunter.

»Jetzt steigen Sie endlich ein!«, sagte Minty Fresh.

Ein letztes Mal rollte Fresh über die Morrigan hinweg, als er den Block hinunterraste, dann bog er zweimal kreischend links ab, hielt den Wagen am Bordstein, sprang hinaus und lief nach vorn.

»Oh, gottverdammt!«, rief Minty Fresh (mit der Betonung auf verdammt, voller Herz und Schmerz). »Gottverdammt, Haube und Grill sind komplett im Arsch. Gottverdammt! Meinetwegen soll Finsternis über die Welt kommen, aber niemand macht sich an meinem Baby zu schaffen!«

Er kletterte wieder in den Wagen, fuhr an und quietschte um die Ecke.

»Wohin wollen Sie?«

»Ich fahr die Weiber noch mal übern Haufen. Niemand macht sich an meinem Baby zu schaffen!«

»Aber was haben Sie denn erwartet, wenn Sie sie überfahren?«

»So was jedenfalls nicht. Ich hab noch nie jemanden überfahren. Tun Sie bloß nicht so überrascht.«

Charlie betrachtete den glänzenden Innenraum des Wagens, die blutroten Ledersitze, das Armaturenbrett aus Walnussholz, mit goldenen Knöpfen.

»Das ist ein tolles Auto. Mein Postbote wäre begeistert.«

»Ihr Postbote?«

»Er sammelt altmodische Ludensachen.«

»Und was wollen Sie damit sagen?«

»Nichts.« Sie waren schon wieder auf der Guerrero Street, und Minty trat das Gas durch, als sie sich dem Block näherten. Die Morrigan, die er zuerst überfahren hatte, kam gerade wieder auf die Beine, als er sie erwischte, flog über zwei geparkte Autos hinweg und gegen ein leer stehendes Gebäude. Die zweite drehte sich gerade zu ihnen um und zeigte ihre Klauen, die über die Haube harkten, als sie mit einem Trommelwirbel darüber hinwegrumpelte, dann fuhr er der dritten über die Beine, als sie gerade in den Gully kriechen wollte.

»Meine Güte!«, sagte Charlie, drehte sich um und warf einen Blick durch die Heckscheibe.

Minty Fresh schien seine gesamte Aufmerksamkeit auf eine sichere Fahrweise zu verwenden. »Was sind das für Gestalten?«

»Ich nenne sie Gullyhexen. Man hört ihre Stimmen aus der Kanalisation. Inzwischen sind sie erheblich stärker als früher.«

»Unheimlich – das sind sie«, sagte Minty.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Charlie. »Haben Sie genauer hingesehen? Ich meine, hinten machen sie auf Popocatepetl-Twist und vorn bommeln zwei Kabunkabommels – checkst du, was ich meine, Auge? Gib mir Fünf, Mann!« Er hielt Fresh seine Hand hin, aber leider ließ ihn der Mintige hängen.

»Hören Sie auf damit«, sagte Fresh.

»Verzeihung«, sagte Charlie.

»Labern wie ein Lude in zehn Tagen oder weniger – Stone-Thug-Verlag?«, fragte Minty.

Charlie nickte. »Wir haben die CD vor ein paar Monaten reinbekommen. Ich übe immer im Lieferwagen. Wie mach ich mich?«

»Ihre Negerosität ist geradezu unheimlich. Ich musste immer wieder nachsehen, ob Sie überhaupt noch weiß sind.«

»Danke«, sagte Charlie, und dann, als ging ihm ein Licht auf: »Hey, ich hab Sie gesucht! Wo waren Sie?«

»Hab mich versteckt. Eine von diesen Gestalten hatte es vor ein paar Tagen auf mich abgesehen, als ich abends mit der Bahn aus Oakland kam.«

»Wie sind Sie entkommen?«

»Diese kleinen Tierwesen, eine ganze Bande von denen, hat sie abgelenkt. Ich konnte hören, wie das Weib geschrien und sie in Stücke gerissen hat, aber diese kleinen Dinger haben sie in Schach gehalten, bis der Zug im nächsten Bahnhof einlief, wo alles voller Menschen war. Da ist sie im Tunnel verschwunden. Überall im Waggon lagen Teile von diesen kleinen Männchen herum.«

Minty bog auf die Van Ness ein und hielt auf Charlies Seite der Stadt zu.

»Die haben Ihnen also geholfen? Die gehören nicht zu den Unterweltlern, die alles übernehmen wollen?«

»Scheinbar nicht. Sie haben mich gerettet.«

»Wissen Sie eigentlich, dass Totenboten ermordet wurden?«

»Davon stand nichts in der Zeitung. Gestern Abend habe ich Antons Laden brennen sehen. Hat er es nicht mehr geschafft?«

»Man hat Reste von ihm gefunden«, sagte Charlie.

»Charlie, ich glaube, ich bin schuld an allem.« Minty Fresh schaute ihm zum ersten Mal offen ins Gesicht, und seine goldenen Augen sahen einsam und verlassen aus. »Ich konnte meine letzten beiden Seelenschiffchen nicht abholen, und danach fing alles an.«

»Ich dachte, ich war es«, sagte Charlie. »Ich musste auch zwei auslassen. Aber ich glaube, wir waren es gar nicht. Meine beiden Klienten leben noch, und ich vermute, sie befinden sich in diesem Haus, vor dem ich gerade stand, als Sie mich gerettet haben: das Buddhistische Zentrum des Diamantwegs. Und außerdem ist da eine Frau, die Seelenschiffchen kauft.«

»Hübsche Brünette?«, fragte Minty.

»Ich weiß nicht. Wieso?«

»Von mir hat sie auch welche gekauft. Hat versucht, sich zu verkleiden, aber sie war es.«

»Jedenfalls ist sie in diesem Haus. Ich muss dorthin zurück.«

»Mit diesen Biestern mit den Klauen will ich nichts zu tun haben«, sagte Minty.

»Korrekt, Alter«, erwiderte Charlie. »Mit einer von denen hab ich was gehabt.«

»Nein.«

»Die ist mir voll an’ Lack gegangen, ey. Hab die Alte abgeschossen.«

»Hören Sie auf damit.«

»’Tschuldigung. Jedenfalls: Ich muss zurück.«

»Sicher? Ich glaube nicht, dass sie tot sind. Sieht eher danach aus, als wären sie unsterblich.«

»Sie könnten sie ja noch mal überfahren. Woher wussten Sie überhaupt, wo ich bin?«

»Als ich hörte, dass Antons Laden brennt, habe ich versucht, ihn anzurufen, aber da war kein Anschluss unter dieser Nummer, also bin ich zu Ihnen gefahren. Ich habe mit der kleinen Gruftibraut gesprochen, die für Sie arbeitet. Sie hat mir erzählt, wohin Sie wollten. Zehn Minuten habe ich mit ihr geplaudert. Sie weiß über mich Bescheid? Ich meine: über uns? Die Totenboten?«

»Ja, ich habe es ihr vor Jahren erzählt. War sie nicht – äh – beschäftigt, als Sie kamen? Mit einem Mann, meine ich?«

»Nein – hat sie etwa einen Freund?«

»Ich dachte, Sie sind schwul.«

»Hab ich nie gesagt.«

»Ja, aber Sie haben es auch nicht gerade abgestritten.«

»Charlie, mir gehört ein Musikgeschäft an der Castro Street, und da laufen die Geschäfte als schwuler Totenbote erheblich besser, als wenn ein Hetero den Laden hätte.«

»Stimmt. Das hatte ich nicht bedacht.«

»Na, da bin ich aber überrascht. Also: Hat sie einen Freund?«

»Sie ist halb so alt wie Sie, und ich glaube, sie ist etwas verdreht… sexuell, meine ich.«

»Und hat sie einen Freund?«

»Sie ist für mich wie eine kleine Schwester, Fresh. Haben Sie keine solchen Angestellten?«

»Waren Sie noch nie in einem Plattenladen? Es gibt auf der ganzen Welt keine größere Konzentration unberechtigter Arroganz. Ich würde meine Angestellten vergiften, wenn ich nettere finden könnte.«

»Ich glaube nicht, dass sie einen Freund hat, aber da die Welt demnächst von den Mächten der Finsternis übernommen wird, ist jetzt vielleicht auch nicht der rechte Zeitpunkt für romantische Verabredungen.«

»Ich weiß nicht. Sie scheint einen gewissen Draht zu den Mächten der Finsternis zu haben. Ich mag sie. Sie ist irgendwie lustig, makaber, und sie mag Miles.«

»Lily mag Miles Davis?«

»Das wissen Sie nicht? Obwohl sie Ihre kleine Schwester ist?«

Charlie hob beide Hände. »Nehmen Sie sie, bedienen Sie sich, und dann auf den Müll mit ihr. Mir doch egal. Sie arbeitet sowieso nur Teilzeit. Sie können auch meine Tochter haben. Die wird bald sechs, und ich könnte mir vorstellen, dass sie auf Coltrane steht.«

»Ganz ruhig. Sie reagieren über.«

»Kehren Sie einfach um und fahren Sie mich zum Buddhistischen Zentrum. Ich muss dem Ganzen ein Ende bereiten. Alles hängt an mir, Fresh. Ich bin der Luminatus.«

»Sind Sie nicht.«

»Bin ich wohl«, sagte Charlie.

»Sie sind der Tod – der Große Tod? Sie? Sind Sie sicher?«

»Bin ich.«

»Ich wusste, dass irgendwas an Ihnen anders ist, aber ich dachte, der Luminatus wäre – ich weiß nicht – größer.«

»Fangen Sie gar nicht erst damit an, okay?«

Minty bog von der Van Ness auf eine Hoteleinfahrt ein.

»Wo wollen Sie hin?«, sagte Charlie.

»Nochmal ein paar Gullyhexen überfahren.«

»Zurück zum Buddhistischen Zentrum?«

»Hm-hm. Haben Sie außer diesem komischen Degen noch irgendwas bei sich?«

»Mein Polizeifreund hat mir geraten, eine Waffe zu besorgen.«

Minty Fresh griff in seine grüne Jacke und holte die größte Pistole hervor, die Charlie je gesehen hatte. Er legte sie auf den Sitz. »Nehmen Sie sie. Desert Eagle Kaliber .50. Damit hauen Sie den stärksten Bären aus den Socken.«

Charlie nahm die verchromte Pistole in die Hand. Sie wog mindestens zwei Kilo, und der Lauf sah aus, als könnte man seinen Daumen hineinstecken.

»Das Ding ist ja riesig.«

»Ich bin ja auch ein großer Kerl. Acht Schuss hat sie. Eine Kugel im Lauf. Sie müssen sie spannen und entsichern, bevor Sie schießen. Hier und hier.« Er deutete auf die Sicherung und den Hahn. »Halten Sie sie gut fest, wenn Sie schießen müssen. Wenn man nicht aufpasst, sitzt man schnell auf dem Hintern.«

»Und Sie?«

Minty klopfte an seine andere Jackentasche. »Ich hab noch so eine.«

Charlie wendete die Waffe in seiner Hand und sah sie im Licht der Laternen schimmern. (Betamännchen, die von Natur aus immer das Gefühl haben, als hätten sie einen Wettbewerbsnachteil, stehen auf protzige Bleispritzen.) »Bei Ihnen passiert eine Menge unter der Oberfläche, Mr. Fresh. Sie sind mehr als nur ein stinknormaler, zwei Meter zehn großer Totenbote im lindgrünen Anzug.«

»Danke, Mr. Asher. Nett, dass Sie das sagen.«

»Gern geschehen.«

Charlies Handy klingelte, und er klappte es auf.

Rivera sagte: »Asher, wo, zum Teufel, stecken Sie? Ich kurve bei der Mission herum, aber hier fliegen überall nur schwarze Federn durch die Luft.«

»Alles in Ordnung. Mir geht es gut, Inspector. Ich habe Minty Fresh gefunden, den Mann, dem dieses Musikgeschäft gehört. Ich sitz gerade bei ihm im Wagen.«

»Sie sind also in Sicherheit?«

»Relativ.«

»Gut. Halten Sie sich bedeckt. Ich ruf Sie wieder an, okay? Morgen möchte ich Ihren Freund sprechen.«

»Alles klar, Inspector. Danke, dass Sie helfen wollten.«

»Schön vorsichtig, Asher.«

»Mach ich. Ich halte mich bedeckt. Bye.«

Charlie klappte das Telefon zu und sah Minty Fresh an. »Sind Sie bereit?«

»Absolut«, sagte der Frische.

Die Straße war leer, als sie vor dem Buddhistischen Zentrum hielten.

»Ich geh hinten rum«, sagte Minty.

»Also, Autos sind echt scheiße, das will ich euch mal sagen«, meinte Babd und versuchte, sich zusammenzureißen, als die drei Morrigan zurück zum großen Schiff humpelten. »Fünftausend Jahre waren Pferde gut genug, und plötzlich brauchen wir unbedingt asphaltierte Straßen und diese Autos. Ich weiß überhaupt nicht, was daran so toll sein soll.«

»Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob wir uns eigentlich erheben sollten, damit die Finsternis regiert«, sagte Nemain. »Offenbar ist sie dafür gar nicht qualifiziert. Wenn ich im Sinne der Finsternis sprechen darf: Ich glaube, sie ist noch nicht so weit.« Sie war zu einem Wesen zerquetscht, das halb Frau,halb Rabe war und Federn verlor, während sie durch die Rohre hinkte.

»Es kommt mir vor, als wenn jemand auf Frischfleisch aufpasst«, sagte Macha. »Nächstes Mal darf sich Orcus um ihn kümmern.«

»Ja, schicken wir ihm Orcus auf den Hals«, sagte Babd. »Mal sehen, was der von Autos hält.«

24

Audrey und die Hörnchenmenschen

Charlie hörte ein Trippeln unter der Veranda, als er auf die Tür des Buddhistischen Zentrums zuging. Die monströse Pistole, die hinten in seinem Gürtel steckte, beruhigte ihn ein wenig, auch wenn das Gewicht an seiner Hose zog. Die Eingangstür war fast vier Meter hoch und rot, mit Fenstern über die ganze Front. Links und rechts der Tür reihten sich farbenfrohe, tibetische Gebetsmühlen wie Garnrollen aneinander. Charlie kannte die Dinger, weil ihm mal ein Dieb welche verkaufen wollte, die er aus einem Tempel gestohlen hatte.

Charlie wusste, dass er die Tür eintreten sollte, aber es war eine mächtig große Tür, und wenn er auch noch so viele Krimis gesehen hatte, mangelte es ihm doch an eigener Erfahrung. Er hätte die Tür auch aufschießen können, aber vom Türenaufschießen verstand er genauso wenig wie vom Türeneintreten, und deshalb beschloss er, zu klingeln.

Das Trippeln wurde lauter, und von drinnen hörte man schwere Schritte. Die Tür ging auf, und die hübsche Brünette, die er als Elizabeth Sarkoff – Esther Johnsons falsche Nichte – kannte, stand vor ihm.

»Ach, Mister Asher! Das ist aber eine nette Überraschung.«

Nicht mehr lange, Schwester, sagte sein innerer Privatdetektiv, der harte Bursche, der in ihm steckte. »Mrs. Sarkoff, schön, Sie zu sehen. Was machen Sie hier?«

»Ich bin die Empfangsdame. Kommen Sie, kommen Sie!«

Charlie trat in ein Foyer, das zu einer Treppe führte, mit großen Schiebetüren links und rechts. Am Ende sah man einen Speiseraum mit langer Tafel, und dahinter lag die Küche. Das Haus war hübsch restauriert und wirkte eher wie eine Privatwohnung.

Der harte Bursche in ihm dachte: Deine Spielchen kannst du dir sparen, Mäuschen. Ich hab noch niene Frau geschlagen, aber wenn ich hier nicht gleichne Antwort kriege, könnte es sein, dass ichs mal ausprobiere. Charlie sagte: »Ich wusste gar nicht, dass Sie Buddhistin sind. Faszinierend. Wie geht es übrigens Ihrer Tante Esther?« Jetzt hatte er sie am Haken, ohne ihr eine reinhauen zu müssen.

»Immer noch tot. Danke der Nachfrage. Was kann ich für Sie tun, Mr. Asher?«

Die Schiebetür links von ihnen öffnete sich einen Daumenbreit, und jemand – eine männliche Stimme – sagte: »Meister, wir brauchen Euch.«

»Ich komme gleich«, sagte die angebliche Mrs. Sarkoff.

»Meister?« Charlie zog die Augenbrauen hoch.

»Empfangsdamen sind in der buddhistischen Tradition hoch angesehen.« Sie grinste schief, als glaubte sie selbst nicht daran. Charlie war wie verzaubert von ihrem Lachen und der offenen Kapitulation in ihrem Blick. Da war Vertrauen… wenn auch blindes.

»Meine Güte, sind Sie eine schlechte Lügnerin«, sagte er.

»Wahrscheinlich haben Sie meine kleine Posse gleich durchschaut, hm?« Breites Grinsen.

»Als – Sie sind…?« Charlie reichte ihr die Hand zum Schütteln.

»Ich bin die Ehrwürdige Amitabha Audrey Rinpoche.« Sie verneigte sich. »Oder einfach Audrey, wenn es schnell gehen soll.« Sie nahm zwei von Charlies Fingern und schüttelte sie.

»Charlie Asher«, sagte Charlie. »Sie sind also gar nicht wirklich Mrs. Johnsons Nichte.«

»Und Sie handeln nicht wirklich mit gebrauchten Kleidern?«

»Also, im Grunde…«

Mehr bekam Charlie nicht heraus. Ein Krachen wurde laut, Glas und splitterndes Holz. Dann sah er, dass nebenan der Tisch umkippte, und hörte, wie Minty Fresh »Keine Bewegung!« rief, als er über den umgekippten Tisch sprang und auf sie zukam, die Waffe in Händen, offenbar ohne sich der Tatsache bewusst zu sein, dass er zwei Meter zehn groß war und der Türrahmen – erbaut im Jahre 1908 – nur zwei Meter hoch.

»Halt!«, rief Charlie ungefähr eine halbe Sekunde zu spät, als Minty Fresh seine Stirn gegen eine sehr schön gearbeitete Eichenholzverzierung oberhalb der Tür rammte, mit einer Wucht, die das Haus in seinen Grundfesten erschütterte. Seine Füße liefen weiter, sein Körper hing etwas hinterher, und dann lag er in der Luft, parallel zum Boden, etwa einen Meter hoch, als die Erdanziehungskraft ihren Einfluss geltend machte.

Klappernd rutschte die verchromte Desert Eagle durchs Foyer und schlug gegen die Eingangstür. Minty Fresh landete platt und einigermaßen ohnmächtig zwischen Charlie und Audrey am Boden.

»Und das ist mein Freund Minty Fresh«, sagte Charlie. »Solche Sachen macht er eigentlich selten.«

»Junge, so was sieht man auch nicht jeden Tag«, sagte Audrey und musterte den schlafenden Riesen.

»Tja«, sagte Charlie, »keine Ahnung, woher er die Rohseide in Mintgrün kriegt.«

»Das ist kein Leinen?«, fragte Audrey.

»Nein, es ist Seide.«

»Hm, sie ist so knitterig, dass ich dachte, es wäre bestimmt Leinen – oder irgendeine Mischfaser.«

»Also, ich vermute, bei allem, was hier so los war…«

»Ja, stimmt wahrscheinlich.« Audrey nickte, dann sah sie Charlie an. »Also…«

»Mr. Asher.« Eine Frauenstimme von rechts. Die Türen neben Charlie glitten auf, und dort stand eine ältere Frau: Irena Posokowanowich. Zuletzt hatte er sie gesehen, als er hinten in Riveras Wagen saß, mit Handschellen gefesselt.

»Mrs. Posokow… Mrs. Posokowano – Irena! Wie geht es Ihnen?«

»Das war Ihnen gestern anscheinend egal.«

»Nein, war es nicht. Wirklich nicht. Es tut mir leid.« Charlie lächelte ein Lächeln, das er für sein charmantestes hielt. »Ich hoffe, Sie haben heute kein Pfefferspray dabei.«

»Nein, hab ich nicht«, sagte Irena.

Charlie sah Audrey an. »Es gab ein kleines Missverständnis…«

»Ich habe das hier«, sagte Irena und holte einen Elektroschocker hinter ihrem Rücken hervor, drückte ihn an Charlies Brust und schickte hundertfünfundzwanzigtausend Volt durch seinen Körper. Er konnte Tiere sehen, oder tierähnliche Kreaturen, prunkvoll altmodisch gekleidet, die immer näher kamen, während er sich vor Schmerz am Boden wälzte.

»Los, fesselt die beiden«, sagte Audrey. »Ich mach uns einen Tee.«

»Tee?«, fragte Audrey. Und so saß Charlie Asher zum zweiten Mal in seinem Leben gefesselt auf einem Stuhl und bekam ein Heißgetränk gereicht. Audrey beugte sich über ihn, eine Tasse in der Hand, und ungeachtet der Peinlichkeit und der Bedrohlichkeit der Lage merkte Charlie, dass er in ihre Bluse starrte.

»Was für Tee?«, fragte Charlie, wollte Zeit schinden, sah die winzig kleinen Seidenröschen, die sich selig an den vorderen Verschluss ihres Büstenhalters klammerten.

»Ich mag Männer, so wie meinen Tee«, sagte Audrey grinsend. »Schwach und grün.«

Da sah Charlie in ihre Augen, die lächelten. »Ihre rechte Hand ist frei«, sagte sie. »Aber wir mussten Ihnen die Pistole und den Stockdegen abnehmen, weil Waffen hier nicht gern gesehen sind.«

»Sie sind die netteste Kidnapperin, die ich je hatte«, sagte Charlie und nahm ihr die Tasse aus der Hand.

»Was soll das denn heißen?«, sagte Minty Fresh.

Charlie wandte sich nach rechts, wo Minty Fresh an einen Stuhl gefesselt saß und aussah, als hätte ihn ein Kindergeburtstag entführt – die Knie klemmten unterm Kinn, und eines seiner Handgelenke war am Boden festgeklebt. Irgendjemand hatte ihm einen Eisbeutel auf den Kopf gelegt, der vage an eine schottische Baskenmütze erinnerte.

»Nichts«, sagte Charlie. »Verstehen Sie mich nicht falsch: Sie waren auch ein super Kidnapper.«

»Tee, Mr. Fresh?«, sagte Audrey.

»Haben Sie auch Kaffee?«

»Bin gleich wieder da«, sagte Audrey. Sie ging hinaus.

Man hatte die beiden in eines der Zimmer neben dem Foyer verfrachtet, aber Charlie konnte nicht sagen, in welches. Es schien früher mal ein Salon gewesen zu sein, war aber zu einer Art Büro und Empfangsraum umgebaut worden: Metallschreibtische, ein Computer, ein paar Aktenschränke und eine Reihe älterer Holzstühle zum Arbeiten und Warten.

»Ich glaub, sie mag mich«, sagte Charlie.

»Sie hat Sie an einen Stuhl gefesselt«, sagte Minty Fresh und riss mit seiner freien Hand am Klebeband an seinen Knöcheln. Der Eisbeutel fiel ihm vom Kopf und landete mit dumpfem Schlag auf dem Boden.

»Mir war beim letzten Mal gar nicht aufgefallen, wie attraktiv sie eigentlich ist.«

»Würden Sie mir bitte helfen, mich zu befreien?«, sagte Minty.

»Kann nicht«, sagte Charlie. »Tee.« Er hielt seine Tasse hoch.

Ein Trippeln bei der Tür. Sie blickten auf, als eben vier kleinwüchsige Zweibeiner in Samt und Seide hereingetrippelt kamen. Einer mit Leguangesicht und Waschbärhänden, gekleidet wie ein Musketier, mit Federhut und allem, was dazugehört, zückte seinen Degen und stach Minty Fresh damit in die Hand, mit der dieser gerade an seinem Klebeband riss.

»Au, verdammt! Spinnst du?«

»Ich glaube, er will nicht, dass Sie sich befreien«, sagte Charlie.

Das Leguanbürschchen salutierte vor Charlie, schwang elegant seine Klinge und schlug sich mit der Faust auf die Brust, als wollte er sagen: Touché.

»Ach«, sagte Audrey, als sie mit Mintys Kaffee auf einem Tablett hereinkam. »Wie ich sehe, haben Sie sich bereits mit den Hörnchenmenschen bekannt gemacht.«

»Hörnchenmenschen?«, fragte Charlie.

Eine kleine Dame mit Entengesicht und Echsenhänden, die ein purpurrotes Abendkleid aus Satin trug, machte einen Knicks vor Charlie, der nickte.

»So nennen wir sie«, sagte Audrey. »Weil die Ersten, die ich gemacht habe, Hände und Gesichter von Eichhörnchen hatten, aber dann sind mir die Hörnchenteile ausgegangen und sie wurden zunehmend barocker.«

»Es sind keine Kreaturen der Unterwelt?«, fragte Charlie. »Sie haben sie gemacht?«

»Mehr oder weniger«, sagte Audrey. »Milch und Zucker, Mr. Fresh?«

»Bitte«, sagte Minty. »Sie basteln diese Monster?«

Alle vier der kleinen Wesen drehten sich gleichzeitig zu ihm um und wichen leicht zurück, als wollten sie sagen: Hallo? Wer ist hier ein Monster?

»Es sind keine Monster, Mr. Fresh. Die Hörnchenmenschen sind genauso menschlich wie Sie.«

»Ja, nur dass sie mehr Stil haben«, sagte Charlie.

»Ich werde nicht ewig an diesen Stuhl gefesselt sein, Asher«, sagte Minty. »Wer oder was bist du, Weib?«

»Immer schön freundlich bleiben«, sagte Charlie.

»Ich schätze, ich sollte mich erklären«, sagte Audrey.

»Ach ja?«, sagte Minty.

Audrey ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder, und die Hörnchenmenschen versammelten sich um sie, um ihr zuzuhören.

»Nun, es ist etwas peinlich, aber vermutlich fing es wohl schon an, als ich klein war. Ich hatte eine gewisse Affinität zu allem Toten.«

»Sie mochten gern Totes anfassen?«, fragte Minty Fresh. »Und sich dabei nackt ausziehen?«

»Wenn Sie die Dame bitte ausreden lassen würden«, sagte Charlie.

»Die Braut ist doch pervers«, sagte Minty.

Audrey lächelte. »Aber ja. Ja, das bin ich. Mr. Fresh und Sie sitzen gefesselt in meinem Arbeitszimmer, auf Gedeih und Verderb allem ausgeliefert, was mir an Perversem in den Sinn kommen mag.« Sie tippte einen silbernen Mokkalöffel gegen ihre Vorderzähne und verdrehte die Augen, als stellte sie sich Köstlichkeiten vor.

»Bitte weiter«, sagte Minty Fresh, dem heiß und kalt wurde. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen.«

»Es war nichts Perverses«, sagte Audrey und sah Minty herausfordernd an. »Ich hatte nur übermäßiges Mitgefühl für alles, was sterben musste, meist Tiere, und als meine Großmutter dann starb, konnte ich es spüren, meilenweit entfernt. Also, ich war davon nicht überwältigt oder so, aber als ich aufs College kam, beschloss ich, Östliche Philosophie zu studieren… ach ja, und Modedesign.«

»Ich finde es wichtig, gut auszusehen, wenn man den Toten dient«, sagte Charlie.

»Nun… also… okay«, sagte Audrey. »Und ich war gut. Kostüme zu schneidern hat mir wirklich Spaß gemacht. Jedenfalls habe ich jemanden kennen gelernt und mich in ihn verliebt.«

»Einen Toten?«, fragte Minty.

»Schon bald, Mr. Fresh. Schon bald war er tot.« Audrey starrte den Teppich an.

»Da sehen Sie es, Sie unsensibler Klotz«, sagte Charlie. »Sie haben ihre Gefühle verletzt.«

»Hallo? An einen Stuhl gefesselt?«, sagte Minty. »Umzingelt von kleinen Monstern, Asher? Nicht ich bin unsensibel.«

»Verzeihung«, sagte Charlie.

»Schon okay«, sagte Audrey. »Er hieß William – Billy, und wir waren zwei Jahre zusammen, bis er krank wurde. Einen Monat waren wir erst verlobt, als man bei ihm einen unheilbaren Gehirntumor feststellte. Er hatte nur noch ein paar Monate zu leben. Ich habe die Schule geschmissen und mich nur noch um ihn gekümmert. Eine der Schwestern aus dem Hospiz wusste, dass ich Östliche Philosophie studiert hatte, und empfahl uns, mit Dorje Rinpoche zu sprechen, einem Mönch aus dem Tibetischen Buddhistenzentrum in Berkeley. Er hat uns von Bardo Thodrol erzählt, was als Tibetisches Totenbuch bekannt ist. Er hat geholfen, Billy darauf vorzubereiten, dass sein Bewusstsein in die nächste Welt – ins nächste Leben transferiert wurde. Er hat die Finsternis von uns genommen und gezeigt, dass der Tod etwas Natürliches, etwas Hoffnungsvolles ist. Ich war bei Billy, als er starb, und ich konnte spüren, wie sein Bewusstsein weiterwanderte, konnte es richtig fühlen. Dorje Rinpoche sagte, ich hätte eine besondere Gabe. Er meinte, ich sollte bei einem Hohen Lama studieren.«

»Und so sind Sie Nonne geworden?«, fragte Charlie.

»Ich dachte, ein Lama ist nur ein großes Schaf«, sagte Minty Fresh.

Audrey ignorierte ihn. »Ich war todunglücklich und brauchte Hilfe, also bin ich nach Tibet gegangen und fand Aufnahme in einem Kloster, wo ich zwölf Jahre Bardo Thodrol studiert habe, unter Lama Karmapa Rinpoche, der siebzehnten Inkarnation des Bodhisattva, der unsere Schule des Buddhismus vor tausend Jahren gegründet hat. Er hat mich in der Kunst des Phowa, der Übertragung des Bewusstseins im Augenblick des Todes, unterwiesen.«

»Also konnten Sie das tun, was der Mönch für Ihren Verlobten getan hatte?«, fragte Charlie.

»Ja, ich habe vielen Dorfbewohnern dort oben in den Bergen beim Phowa geholfen. In gewisser Weise war es meine Spezialität, neben dem Schneidern der Klosterroben. Lama Karmapa erklärte mir, ich sei vermutlich eine sehr alte Seele, die Reinkarnation eines hypererleuchteten Wesens von vor vielen Generationen. Ich dachte, er wollte mich vielleicht auf die Probe stellen, ob ich mich auch in Bescheidenheit übe, aber als er selbst im Sterben lag und mich rufen ließ, damit ich das Phowa für ihn durchführte, wurde mir bewusst, dass dies nun der Test war und er mir die Übertragung seiner eigenen Seele anvertraute.«

»Nur damit das klar ist«, sagte Minty Fresh. »Ihnen würde ich nicht mal meine Autoschlüssel anvertrauen.«

Der Leguan-Musketier stach Minty mit seinem kleinen Degen in den Unterschenkel, dass der große Mann aufheulte.

»Sehen Sie«, sagte Charlie, »es rächt sich, wenn Sie grob sind. Genau wie beim Karma.«

Audrey lächelte Charlie an, stellte ihren Tee auf den Boden, faltete die Beine zum Lotussitz und ließ sich nieder. »Als der Lama starb, konnte ich sehen, wie das Bewusstsein seinem Körper entwich. Dann habe ich gespürt, wie mein eigenes Bewusstsein meinen Körper verließ, und ich bin dem Lama in die Berge gefolgt, wo er mir den Weg zu einer kleinen Höhle beschrieb, tief unter dem Schnee begraben. In dieser Höhle sollte sich eine steinerne Schatulle befinden, mit Wachs und Sehnen versiegelt. Er sagte mir, diese Schatulle müsste ich suchen. Gleich darauf war er verschwunden, aufgestiegen, und ich fand mich in meinem Körper wieder.«

»Wurden Sie da hypererleuchtet?«, fragte Charlie.

»Ich weiß nicht mal, was das ist«, sagte Audrey. »Da hat sich der Lama geirrt, aber irgendwas hat mich verändert, als ich das Phowa für ihn gemacht habe. Als ich aus dem Zimmer kam, in dem sein Leichnam lag, konnte ich einen roten Punkt in den Menschen leuchten sehen, genau bei ihrem Herz-Chakra. Es sah so aus wie das Ding, dem ich in die Berge gefolgt war, das unsterbliche Bewusstsein. Ich konnte die Seelen der Menschen sehen. Noch verstörender aber war für mich, dass es offenbar in einigen Menschen nicht vorhanden war oder ich es bei ihnen nicht sehen konnte – und auch bei mir selbst nicht. Ich wusste nicht, wieso, aber ich wusste, dass ich diese steinerne Schatulle finden musste, was mir auch gelang, indem ich genau dem Pfad in die Berge folgte, den mir der Lama gezeigt hatte. In der Schatulle befand sich eine Schriftrolle, die für die meisten Buddhisten noch heute ein Mythos ist: Das verlorene Kapitel aus dem Tibetischen Totenbuch… in dem zwei lang vergessene Künste beschrieben wurden, das Phowa der machtvollen Projektion und eine Kunst, von der ich noch nicht einmal gehört hatte: das Phowa der Unsterblichkeit. Das Erste macht es möglich, eine Seele von einem Lebewesen auf das andere zu übertragen, und das andere versetzt einen in die Lage, den Übergang – Bardo – zwischen Leben und Tod unendlich zu verlängern.«

»Heißt das, Sie können Menschen ewig leben lassen?«, fragte Charlie.

»In gewisser Weise. Eigentlich hören sie einfach auf zu sterben. Monatelang habe ich über diese erstaunliche Gabe meditiert, die mir geschenkt worden war, und hatte Angst, diese Rituale durchzuführen. Als ich jedoch eines Tages beim Bardo eines alten Mannes anwesend war, der an einem schmerzhaften Magengeschwür starb, konnte ich ihn irgendwann nicht mehr leiden sehen und habe es mit dem Phowa der machtvollen Projektion versucht. Ich habe seine Seele in den Leib seines neugeborenen Enkels gelenkt, bei dem kein Leuchten des Herz-Chakras zu erkennen war. Ich habe sogar gesehen, wie das Leuchten durch den Raum schwebte und die Seele in das Baby eindrang. Sekunden später war der Mann friedlich eingeschlafen.

Einige Wochen später wurde ich gebeten, am Bardo eines kranken Jungen teilzunehmen. Alles deutete darauf hin, dass er sterben würde. Ich konnte nicht tatenlos zusehen, denn ich wusste ja, dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, also habe ich das Phowa der Unsterblichkeit an ihm durchgeführt, und er ist tatsächlich nicht gestorben. Es ging ihm sogar bald schon besser. Da habe ich meiner Unbescheidenheit nachgegeben und begann, das Ritual an anderen Dorfbewohnern durchzuführen, statt ihnen ins nächste Leben zu verhelfen. Fünfmal hatte ich es getan, in ebenso vielen Monaten, dann gab es ein Problem. Die Eltern des kleinen Jungen riefen mich. Er wuchs nicht mehr, nicht mal sein Haar und seine Nägel. Er blieb im Alter von neun Jahren stehen. Aber auch alle anderen Dorfbewohner brachten ihre Sterbenden zu mir, und die Nachricht erreichte schließlich die umliegenden Bergdörfer. Die Menschen standen vor unserem Kloster Schlange und forderten, dass ich zu ihnen kommen sollte. Aber ich weigerte mich, das Ritual durchzuführen, weil mir bewusst wurde, dass ich diesen Leuten nicht half, sondern sie im Grunde nur in ihrer spirituellen Entwicklung behinderte und sie daraufhin – na ja – mehr oder weniger Freaks wurden.«

»Verständlich«, sagte Charlie.

»Ich konnte meinen Brüdern nicht erklären, was vor sich ging. Also bin ich bei Nacht und Nebel weggelaufen. So wurde ich Nonne in einem Buddhistischen Zentrum in Berkeley. Damals habe ich zum ersten Mal eine menschliche Seele in einem leblosen Objekt gesehen, als ich in einem Musikladen an der Castro Street war. Bei Ihnen, Mr. Fresh.«

»Ich wusste, dass Sie es waren«, sagte Minty. »Ich habe Asher von Ihnen erzählt.«

»Das hat er«, sagte Charlie. »Er hat gesagt, sie seien ausgesprochen attraktiv.«

»Hab ich nicht gesagt«, sagte Minty.

»Hat er wohl. >Hübsche Augen< waren seine Worte«, insistierte Charlie. »Erzählen Sie weiter.«

»Es gab keinen Zweifel. Das Leuchten in der CD war genau wie das, was ich bei Menschen spüren konnte, die eine Seele hatten. Ich muss wohl nicht erst erwähnen, dass ich fast ausgeflippt bin.«

»Müssen Sie nicht«, sagte Charlie. »Ich hatte ein ähnliches Erlebnis.«

Audrey nickte. »Wissen Sie, ich wollte das alles mit meinem Meister im Zentrum besprechen, reinen Tisch machen mit allem, was ich in Tibet gelernt hatte. Ich wollte die Schriftrollen jemandem übergeben, der vielleicht begriff, was mit den Seelen in diesen Gegenständen geschah, aber nach ein paar Monaten kam die Nachricht aus Tibet, ich sei unter rätselhaften Umständen verschwunden. Ich weiß nicht, was man denen erzählt hat, aber ich wurde gebeten, das Zentrum zu verlassen.«

»Also haben sie sich eine Bande aus gruseligen, kleinen Gesellen gebastelt und sind hierher gezogen«, sagte Minty Fresh. »Das ist nett. Dann können Sie mich jetzt losbinden, und ich mach mich auf den Weg.«

»Fresh, wenn Sie so freundlich wären, Audrey ausreden zu lassen… Bestimmt gibt es einen absolut harmlosen Grund dafür, dass sie sich mit einer Bande gruseliger, kleiner Gesellen umgibt.«

Audrey ignorierte die beiden. »Ich habe einen Job als Kostümbildnerin gefunden. Diese blasierten Theaterleute können einen schnell wieder auf den harten Boden der Wirklichkeit zurückholen. Ich habe versucht, alles zu vergessen, was ich in Tibet getrieben hatte, und mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, mich von meiner Kreativität lenken zu lassen. Ich konnte mir keine originalgroßen Kostüme leisten, also begann ich, kleinere Versionen zu entwerfen. In einem Trödelladen in Mission habe ich eine Sammlung ausgestopfter Eichhörnchen erstanden. Sie wurden meine ersten Modelle. Später habe ich welche aus anderen Tierpräparaten gebastelt, habe sie vermischt und passend gemacht. Schon damals habe ich sie >Hörnchenmenschen< genannt. Viele haben Vogelbeine, Huhn und Ente, weil ich die in Chinatown kaufen konnte, neben Taubenköpfen und… na ja, in Chinatown kriegt man viele tote Tiere.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Charlie. »Ich wohne einen Block vom Haifischteileladen. Hab aber nie versucht, aus den Teilen einen Hai zu basteln. Würde bestimmt Spaß machen.«

»Ihr seid doch irgendwie krank«, sagte Minty. »Alle beide. Das wisst ihr, oder? Mit toten Tieren rumzuhantieren…«

Charlie und Audrey zogen ihre Augenbrauen hoch. Eine Kreatur mit Hundeschädelgesicht und blauem Kimono sah Minty kritisch aus der Augenhöhle an und hätte bestimmt auch die Augenbrauen hochgezogen, wenn sie welche gehabt hätte.

»Na gut, erzählen Sie weiter«, sagte Minty und machte eine Geste mit seiner freien Hand. »Hab schon verstanden.«

Audrey seufzte. »Also war ich in sämtlichen Trödelläden der Stadt und habe alles Mögliche gesucht, von Knöpfen bis zu Händen. Und in mindestens acht Läden fand ich diese Seelendinger, in allen Läden gesondert ausgestellt. Mir wurde klar, dass ich nicht die Einzige war, die das Leuchten sehen konnte. Irgendwer verbannte diese Seelen in die Gegenstände. So erfuhr ich dann von Ihnen, meine Herren, was auch immer Sie sein mögen. Ich musste diese Seelen an mich nehmen. Also habe ich sie gekauft. Ich wollte, dass sie zu ihrer nächsten Wiedergeburt weiterzogen, wusste aber nicht, wie. Ich wollte schon das Phowa der machtvollen Projektion anwenden und jemandem, von dem ich sehen konnte, dass er seelenlos war, eine Seele aufzwingen, aber der Vorgang braucht seine Zeit. Was sollte ich mit den Leuten machen? Sie fesseln? Und ich wusste ja nicht mal, ob es klappen würde. Schließlich verwendet man diese Methode dazu, eine Seele von einem Menschen zum nächsten zu übertragen, nicht von einem leblosen Gegenstand…«

Charlie sagte: »Also haben Sie diese Sache mit der machtvollen Projektion an einem Ihrer Hörnchenmenschen ausprobiert?«

»Ja, und es hat funktioniert. Leider hatte ich nicht damit gerechnet, dass sie lebendig werden würden. Sie fingen an, herumzulaufen, alles Mögliche anzustellen, auch intelligente Sachen. Und so wurden sie zu diesen kleinen Kerlchen, die Sie heute hier gesehen haben.

Noch Tee, Mr. Asher?« Audrey lächelte und hielt Charlie die Kanne hin.

»Diese Wesen besitzen eine menschliche Seele?«, fragte Charlie. »Das ist unwürdig.«

»Ach ja? Und es ist besser, die Seelen in alten Turnschuhen in Ihrem Laden einzusperren? Sie sind nur so lange in den Hörnchenmenschen, bis ich rausgefunden habe, wie man ihre Seelen auf einen Menschen überträgt. Ich wollte sie vor Ihnen und Ihresgleichen bewahren.«

»Aber wir sind die Guten! Fresh, sagen Sie ihr, dass wir nicht die Bösen sind.«

»Wir sind nicht die Bösen«, sagte Minty. »Könnte ich noch etwas Kaffee bekommen?«

»Wir sind Totenboten«, sagte Charlie, aber es kam weitaus weniger fröhlich heraus, als er gehofft hatte. Er war verzweifelt darauf bedacht, dass Audrey ihn als einen der Guten sah. Wie die meisten Betamännchen war ihm nicht bewusst, dasses für Frauen nicht unbedingt attraktiv sein muss, ein Guter zu sein.

»Meine Rede«, sagte Audrey. »Ich durfte nicht zulassen, dass Ihr Typen die Seelen wie irgendwelchen Trödel verkauft.«

»So finden sie ihre nächste Wiedergeburt«, sagte Minty.

»Was?« Audrey sah Charlie an, um sicherzugehen.

Charlie nickte. »Er hat Recht. Wir bekommen die Seelen, wenn jemand stirbt, und dann kauft sie jemand anders, und so finden sie ihr nächstes Leben. Ich habe es oft genug gesehen.«

»Unmöglich!«, sagte Audrey und verschüttete etwas von Mintys Kaffee.

»Oh, doch«, sagte Charlie. »Wir können das rote Leuchten sehen, aber nicht – wie Sie – in den Menschen selbst, sondern nur in den Gegenständen. Wenn jemand, der eine Seele braucht, mit einem solchen Gegenstand in Berührung kommt, erlischt das Leuchten. Die Seele zieht ein.«

»Ich dachte, Sie hätten die Seelen zwischen den Leben eingesperrt. Sie halten sie nicht gefangen?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich waren wir es gar nicht«, sagte Minty Fresh zu Charlie. »Sie hat das alles losgetreten.«

»Was losgetreten? Was denn?«, fragte Audrey.

»Die Mächte der Finsternis… wir wissen nicht genau, was es ist«, sagte Charlie. »Gesehen haben wir Riesenraben und so dämonenartige Frauen. Wir nennen sie Gullyhexen, weil sie aus der Kanalisation kommen. Sie sammeln Kraft, wenn sie eine Seele in die Finger bekommen, und inzwischen sind sie richtig stark geworden. Der Prophezeiung nach werden sie sich in San Francisco erheben, und dann versinkt die Welt in Finsternis.«

»Und sie sitzen in der Kanalisation?«, fragte Audrey.

Beide Totenboten nickten.

»Ach, du je. Da unten laufen die Hörnchenmenschen durch die Stadt, um nicht gesehen zu werden. Ich habe sie zu allen möglichen Läden geschickt, um Seelen abzuholen. Offenbar sind sie denen direkt in die Arme gelaufen, denn viele sind nicht wiedergekommen. Ich dachte, sie hätten sich vielleicht verlaufen und wandern immer noch herum. Das machen sie manchmal. Sie besitzen das Potential des vollen menschlichen Bewusstseins, aber mit der Zeit geht manches doch verloren. Hin und wieder können sie etwas dämlich sein.«

»Was Sie nicht sagen«, sagte Charlie. »Das ist auch der Grund, wieso der Leguanbengel da drüben am Lampenkabel knabbert, oder?«

»Ignatius, runter da! Wenn du einen Schlag kriegst, muss ich deine Seele in das gerupfte Huhn stopfen, für das ich keine passenden Hosen finde.« Verlegen lächelnd wandte sie sich wieder Charlie zu. »Was man nicht alles so sagt, von dem man nie gedacht hätte, dass man es mal sagen würde.«

»Ach ja, Kinder… Was soll man machen?«, sagte Charlie und gab sich alle Mühe, lässig zu klingen. »Einer von Ihren Hörnchenmenschen hat mit einer Armbrust auf mich geschossen.«

Audrey sah verzweifelt aus. Am liebsten hätte Charlie sie getröstet. Sie in den Arm genommen. Ihr einen Kuss gegeben und gesagt, es würde alles wieder gut. Vielleicht konnte er sie sogar dazu bringen, ihn loszubinden.

»Ach ja? Armbrust… oh, das dürfte Mr. Shelly gewesen sein. Er war in einem früheren Leben Spion oder so was ähnliches und hatte die Angewohnheit, auf seine eigenen, kleinen Missionen zu gehen. Er sollte Sie im Auge behalten und mir Meldung erstatten, damit ich wusste, was Sie vorhaben. Niemand sollte zu Schaden kommen. Er ist nie mehr nach Hause gekommen. Es tut mir wirklich leid.«

»Meldung erstatten?«, sagte Charlie. »Die können sprechen?«

»Nun, sie sprechen nicht«, sagte Audrey. »Aber einige können lesen und schreiben. Mr. Shelly konnte sogar tippen. Daran arbeite ich noch. Ich muss einen funktionierenden Kehlkopf finden. Einmal habe ich es mit so einem Ding aus einer Sprechpuppe probiert, hatte am Ende aber nur ein Frettchen im Samuraikostüm, das weinen konnte und dauernd gefragt hat, ob es in der Sandkiste spielen darf. Entnervend. Es ist erstaunlich. So lange man organische Teile nimmt, fügen sie sich zusammen und funktionieren. Muskeln und Sehnen verbinden sich selbstständig miteinander. Oft nehme ich Schinken für den Torso, weil sie dadurch viele Muskeln bekommen, was nützlich ist, und sie riechen besser, bis der Vorgang abgeschlossen ist. Sie wissen schon: rauchig. Aber manches bleibt ein Rätsel. Ihnen wächst kein Kehlkopf.«

»Sie scheinen auch keine Augen zu haben«, sagte Charlie und deutete mit seiner Teetasse auf eine Kreatur, deren Kopf ein augenloser Katzenschädel war. »Wie können sie sehen?«

»Fragen Sie mich mal.« Audrey zuckte mit den Schultern. »Das stand nicht im Buch.«

»Mann, das Gefühl kenn ich…«, sagte Minty Fresh.

»Also habe ich es mit einem Kehlkopf versucht, der aus Schulp und Katgut ist. Mal sehen, ob der kleine Kerl, dem ich ihn eingebaut habe, auch sprechen lernt.«

»Wieso geben Sie die Seelen nicht wieder in menschliche Körper zurück?«, fragte Minty. »Ich meine, das könnten Sie doch, oder?«

»Wahrscheinlich schon«, sagte Audrey. »Aber ehrlich gesagt, hatte ich zufällig keine Leichen im Haus. Allerdings muss man ihnen was Menschliches einbauen. Das habe ich bei meinen Experimenten festgestellt. Ein Fingerknochen, Blut, irgendwas. Ich habe von einer Wirbelsäule aus einem Trödelladen in Haight Ashbury profitiert und jeweils einen Wirbel eingebaut.«

»Dann sind Sie also ein wahrer Frankenstein«, sagte Charlie und fügte eilig hinzu: »Das meine ich natürlich nur nett.«

»Danke, Mister Totenbote.« Audrey erwiderte sein Lächeln, trat an den nächstbesten Schreibtisch und nahm eine Schere. »Sieht so aus, als sollte ich Sie losschneiden und mir ein paar Anekdoten aus Ihrer Branche erzählen lassen. Mister Greenstreet, würden Sie uns wohl noch etwas Tee und Kaffee bringen?«

Eine Kreatur, die einen Biberschädel als Kopf hatte, einen Fez und eine rote Smokingjacke trug, verneigte sich und trippelte an Charlie vorbei in die Küche.

»Schicke Jacke«, sagte Charlie.

Das Biberkerlchen hob im Vorübergehen beide Daumen. Echsendaumen.

25

So zerronnen wie gewonnen

Der Kaiser campierte zwischen den Büschen an einem offenen Abwasserkanal, der in den Lobos Creek im Presidio führte, jener Landspitze auf der San-Francisco-Seite der Golden Gate Bridge, die schon zu Zeiten der Spanier eine Festung gewesen und erst kürzlich in einen Park umgewandelt worden war. Seit Tagen wanderte der Kaiser durch die Stadt, rief in Gullys hinein und folgte dem Bellen seines vermissten Soldaten. Der treue Retriever Lazarus hatte ihn hierher geführt, zu einem der wenigen Abflussrohre der Stadt, durch welches sich der vermisste Terrier möglicherweise befreien konnte, ohne in die Bay gepumpt zu werden. Sie kampierten unter einem tarnfarbenen Poncho und warteten. Glücklicherweise hatte es nicht geregnet, seit Bummer das Eichhörnchen in den Gully gejagt hatte, doch seit zwei Tagen brauten sich dunkle Wolken zusammen, und – ob sie nun Regen bringen mochten oder nicht – der Kaiser fürchtete um seine Stadt.

»Ach, Lazarus«, sagte der Kaiser und kraulte seinem Schützling die Ohren. »Wären wir nur halb so mutig wie unser kleiner Kamerad, würden wir in dieses Rohr da klettern und ihn suchen. Doch was sind wir ohne ihn, wo ist unser Mut, unsere Tapferkeit? Zuverlässig und rechtschaffen mögen wir sein, meinFreund, doch ohne die Courage, unser Leben für den Bruder einzusetzen, sind wir nur Politiker. Plappernde Huren der Rhetorik.«

Lazarus knurrte leise und duckte sich unter den Poncho. Die Sonne war gerade untergegangen, doch der Kaiser bemerkte, dass sich im Abwasserkanal etwas bewegte. Als er aufstand, sah er, dass das Zwei-Meter-Rohr voll von einem Wesen ausgefüllt war, das daraus hervorkletterte und sich im Bachbett praktisch erst entfaltete – ein riesenhaftes, stierköpfiges Ding mit grün leuchtenden Augen und Flügeln, die sich wie lederne Regenschirme aufspannten.

Sie sahen, dass die Kreatur drei Schritte tat und sich in die Dämmerung aufschwang, wobei ihre Flügel flatterten wie die Segel eines Totenschiffs. Dem Kaiser lief es kalt über den Rücken, und er überlegte einen Augenblick, ob sie ihr Lager lieber in der Stadt aufschlagen und die Nacht auf der Market Street verbringen sollten, wo Polizisten und andere Leute waren, doch dann hörte er ein leises Bellen in den Tiefen der Kanalisation.

Audrey machte eine Führung durchs Buddhistische Zentrum, das – abgesehen vom Büro und einem Wohnzimmer, das zum Meditationsraum umgebaut worden war – mehr oder weniger wie jeder andere verwinkelte, viktorianische Altbau aussah. Asketisch und orientalisch eingerichtet, ja, und es mochte auch nach Räucherstäbchen duften, aber trotz allem war es im Grunde nur ein großes, altes Haus.

»Im Grunde ist es nur ein großes, altes Haus«, sagte sie, als sie die anderen in die Küche führte.

Minty Fresh war Audrey nicht geheuer. Unablässig zupfte er Klebebandfetzen vom Ärmel seiner grünen Jacke und sah Audrey mit einem Blick an, als wollte er sagen: Hoffentlich geht das beim Reinigen raus, sonst kannst du dich schon mal auf was gefasst machen. Seine bloße Größe war beängstigend. Allerdings sah er mit seiner Beule an der Stirn ein bisschen aus wie ein Klingonenkrieger, abgesehen natürlich von seinem pastellgrünen Anzug. Vielleicht doch eher wie der Theateragent eines Klingonenkriegers.

»Also«, sagte er, »wenn mich die Hörnchenmenschen für einen Bösen gehalten haben, wieso waren sie dann letzte Woche in der U-Bahn bereit, mich vor der Gullyhexe zu retten? Sie haben sie abgelenkt, damit ich entkommen konnte.«

Audrey zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Die Hörnchenmenschen sollten Sie beobachten und Meldung machen. Anscheinend war offensichtlich, dass die Angreiferin noch böser war als Sie. Die Kleinen sind auch nur Menschen, im Grunde ihres Herzens.«

Vor der Speisekammertür blieb sie stehen und drehte sich um. Sie hatte nicht gesehen, was auf der Straße passiert war, aber Esther hatte am Fenster gestanden und ihr später alles erzählt – von den frauenähnlichen Wesen, die es auf Charlie abgesehen hatten. Offenbar waren diese beiden eigenartigen Männer in gewisser Weise Verbündete, die das praktizierten, was sie als ihre heilige Aufgabe betrachtete: Sie verhalfen Seelen zu einer neuen Existenz. Aber die Methode? Konnte man ihnen trauen?

»Also, nach allem, was Sie beide da erzählen, laufen Hunderttausende ohne Seele herum?«

»Millionen wahrscheinlich«, sagte Charlie.

»Vielleicht erklärt das die letzte Präsidentenwahl«, sagte sie in dem Versuch, Zeit zu schinden.

»Sie haben gesagt, Sie können sehen, ob Menschen eine Seele haben«, sagte Minty Fresh.

Er hatte Recht, aber sie hatte die Seelenlosen gesehen und keinen Moment darüber nachgedacht, wie viele es sein mochten und was eigentlich passierte, wenn weniger Leute starben als geboren wurden. Sie schüttelte den Kopf. »Der Transfer der Seelen ist also abhängig von materiellem Erwerb? Das ist so – ich weiß nicht – schäbig

»Audrey, glauben Sie mir«, sagte Charlie, »wir waren beide ebenso verblüfft wie Sie, was das Prozedere angeht, und wir stehen doch mitten im Geschehen.«

Sie sah Charlie an, sah ihn sich genau an. Er sagte die Wahrheit. Er war hergekommen, um Gutes zu tun. Sie riss die Speisekammertür auf und stand in rotem Licht.

Die Speisekammer war fast so groß wie ein modernes Badezimmer, und sämtliche Regale waren vom Boden bis zur Decke randvoll mit leuchtenden Seelenschiffchen.

»Junge…«, sagte Charlie.

»Ich hab so viele gesammelt, wie ich kriegen konnte, oder besser gesagt: die Hörnchenmenschen.«

Minty Fresh bückte sich und betrat die Kammer, stand vor einem Regal voller CDs und Schallplatten. Er nahm welche in die Hand und blätterte sie durch, dann drehte er sich um und hielt ihr ein halbes Dutzend CD-Hüllen aufgefächert vor die Nase. »Die sind aus meinem Laden.«

»Ja, wir haben sie alle«, sagte Audrey.

»Sie sind in meinen Laden eingebrochen.«

»Audrey hat sie vor den falschen Leuten bewahrt, Minty«, sagte Charlie und trat in die Speisekammer. »Wahrscheinlich hat sie die Seelen gerettet, vielleicht sogar uns.«

»Nie im Leben, Mann. Das Ganze wäre überhaupt nicht passiert, wenn sie nicht wäre.«

»Nein, es sollte so sein. Ich habe es in dem anderen Großen Buch gesehen, in Arizona.«

»Ich wollte nur helfen«, sagte Audrey.

Charlie starrte die CDs in Mintys Hand an. Er wirkte wie in Trance, griff danach, als bewegte er sich durch Sirup, dann legte er alle weg, bis auf eine, die er anstarrte. Dann drehte er sie um und betrachtete die Rückseite. Hart sank er auf den Boden der Kammer, und Audrey konnte gerade noch verhindern, dass er mit dem Hinterkopf gegen das Regal stieß.

»Charlie«, sagte sie, »alles okay?«

Minty Fresh ging neben Charlie in die Hocke und sah sich die CD an – griff danach, doch Charlie drückte sie an sich. Minty sah Audrey an. »Es ist seine Frau«, sagte er.

Audrey konnte sehen, dass der Name Rachel Asher in die Rückseite der CD-Hülle geritzt war, und es brach ihr fast das Herz, als sie den armen Charlie so sah. Sie nahm ihn in die Arme. »Es tut mir so leid, Charlie. Es tut mir so leid.«

Tränen tropften auf die Hülle der CD, und Charlie wollte nicht aufblicken.

Minty Fresh kam hoch und räusperte sich, ohne Zorn und ohne Vorwurf. Fast schien er sich zu schämen. »Audrey, ich bin seit Tagen in der Stadt unterwegs und würde mich gern ein bisschen hinlegen, wenn das möglich wäre.«

Sie nickte, drückte ihr Gesicht an Charlies Rücken. »Fragen Sie Esther. Die zeigt Ihnen, wo.«

Minty Fresh duckte sich und ging hinaus.

Audrey hielt Charlie fest und wiegte ihn lange hin und her, und obwohl er sich in der Welt dieser CD verloren hatte, in der die Liebe seines Lebens steckte, und Audrey außen vor war, am Boden einer Speisekammer, die vor kosmischem Nippes rot leuchtete, weinte sie mit ihm.

Als eine Stunde vergangen war (oder vielleicht auch drei, denn so ist das mit der Zeit, wenn es um Trauer oder Liebegeht), wandte sich Charlie zu ihr um und sagte: »Habe ich eine Seele?«

»Was?«, sagte sie.

»Du hast gesagt, du kannst die Seelen der Menschen leuchten sehen. Habe ich eine Seele?«

»Ja, Charlie, du hast eine Seele.«

Er nickte, wandte sich wieder ab, lehnte sich aber an sie.

»Willst du sie haben?«, fragte er.

»Nein, schon gut«, sagte sie. Es war aber nicht gut.

Sie nahm ihm die CD aus der Hand, musste ihm richtig die Finger aufbiegen, und legte sie zu den anderen. »Lassen wir Rachel ruhen. Gehen wir nach nebenan.«

»Okay«, sagte Charlie. Er ließ sich von ihr auf die Beine helfen.

Oben saßen sie in einem kleinen Zimmer, vollgestopft mit Kissen und Bildern von Buddha, der zwischen Lotosblüten lag, und unterhielten sich bei Kerzenschein. Sie hatten sich ihre Geschichten anvertraut, wie es kam, dass sie waren, wo sie waren und was sie waren, und nachdem das alles geklärt war, sprachen sie von dem, was sie verloren hatten.

»Ich habe es immer wieder erlebt«, sagte Charlie. »Eher bei Männern als bei Frauen, aber es kommt definitiv bei beiden vor. Wenn der Ehepartner stirbt, ist es, als wäre der Überlebende mit ihm verhakt… wie Bergsteiger, von denen einer abgestürzt ist. Wahrscheinlich muss man die Leine kappen. Wenn der Überlebende nicht loslassen kann, reißt der Tote ihn mit sich ins Grab. Mir wäre es sicher so ergangen, wenn Sophie nicht wäre – und vielleicht auch meine Aufgabe als Totenbote. Es gab etwas, das größer war als ich, größer als mein Schmerz. Nur deshalb habe ich es so weit geschafft.«

»Gottvertrauen«, sagte Audrey. »Was es auch bedeuten mag. Es ist komisch. Als Esther zu mir kam, war sie richtig böse. Sie sollte sterben und war böse. Sie sagte, sie hätte ihr Leben lang an Jesus geglaubt, und jetzt müsse sie sterben, und Er hätte doch versprochen, dass sie ewig leben würde.«

»Also haben Sie gesagt: >Das würde mir aber stinken, Esther.<«

Audrey warf ein Kissen nach ihm. Sie mochte seine Art, noch den düstersten Momenten etwas Albernes abzugewinnen. »Nein, ich habe ihr gesagt, Er mag ihr ja vielleicht das ewige Leben versprochen haben, aber er hat nicht gesagt, in welcher Form. Nicht ihr Glaube ist enttäuscht worden – sie muss nur ihren Blickwinkel erweitern.«

»Was natürlich Kinderkacke war«, sagte Charlie.

Das nächste Kissen traf ihn an der Stirn. »Nein, es war kein Babypups.«

»Du fluchst wohl nie, was?«

Audrey merkte, dass sie rot anlief, und war froh über den orangefarbenen Kerzenschein. »Ich rede hier vom Glauben, wenn du das vielleicht berücksichtigen würdest.«

»Tut mir leid. Ich weiß, oder ich glaube zu wissen, wovon du redest. Ich meine, ich weiß, dass alles einer gewissen Ordnung unterworfen ist, aber ich weiß nicht, wie man eine – sagen wir – katholische Erziehung mit dem Tibetischen Totenbuch in Einklang bringen soll, mit dem Großen Bunten Buch des Todes, mit Trödlern, die Sachen verkaufen, in denen Seelen stecken, mit bösartigen Rabenfrauen in der Kanalisation. Je mehr ich weiß, desto weniger begreife ich. Ich handle nur.«

»Nun, das Bardo Thodrol berichtet von Hunderten von Ungeheuern, denen man begegnet, wenn das Bewusstsein auf der Reise zu Tod und Wiedergeburt ist, aber man soll sie ignorieren, weil es nur Illusionen sind, die eigenen Ängste, die das Bewusstsein daran hindern wollen, weiterzuziehen. Sie können einem nicht wirklich etwas anhaben.«

»Ich glaube, da könnte in diesem Buch etwas ausgelassen worden sein, Audrey. Ich habe sie selbst gesehen und gegen sie gekämpft. Ich habe ihnen Seelen entrissen und erlebt, wie sie von Kugeln getroffen und von Autos überfahren wurden und trotzdem weiterliefen. Sie sind definitiv keine Illusionen, und sie können einem definitiv etwas anhaben. Das Große Buch drückt sich unklar aus, aber es ist davon die Rede, dass die Mächte der Finsternis unsere Welt erobern wollen und dass der Luminatus sich erheben und gegen sie in die Schlacht ziehen wird.«

»Luminatus?«, fragte Audrey. »Irgendwas mit Licht?«

»Der Große Tod«, sagte Charlie. »Der Ganz Große Tod. So was wie der oberste Reiseleiter, der Große Zampano, der Cheftod. Wenn Minty und die anderen Totenboten die Helfer vom Weihnachtsmann sind, dann ist der Luminatus der Weihnachtsmann persönlich.«

»Der Weihnachtsmann ist der Große Tod?!«, fragte Audrey, die Augen weit aufgerissen.

»Nein, das war doch nur ein Beispiel…« Charlie sah, dass sie ein Lachen unterdrückte. »Hey, ich bin heute Abend verprügelt, unter Strom gesetzt, gefesselt und für den Rest meines Lebens traumatisiert worden.«

»Also scheint meine Verführungsstrategie zu wirken?«

Charlie wurde nervös. »Ich wollte nicht… ich hatte nicht… hab ich deine Brüste angestarrt? Wenn ja, war es reiner Zufall, denn, na ja… sie waren einfach… da, und…«

»Schscht.« Sie beugte sich vor und hielt sanft ihren Zeigefinger an seinen Mund, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Charlie, ich fühle mich dir im Moment sehr nah und sehr verbunden, und ich möchte diese Verbindung aufrechterhalten, aber ichbin erschöpft, und ich glaube nicht, dass ich noch weiter reden kann. Ich glaube, am liebsten wäre es mir, wenn du mit mir ins Bett gehen würdest.«

»Wirklich? Bist du sicher?«

»Ob ich sicher bin? Ich hab seit vierzehn Jahren keinen Sex gehabt, und wenn du mich gestern danach gefragt hättest, hätte ich dir gesagt, dass ich es lieber mit einem deiner Rabenmonster aufnehmen würde, als mit einem Mann ins Bett zu gehen, aber hier bin ich nun, bei dir, und ich war mir meiner Sache nie sicherer als jetzt.« Sie lächelte, dann wandte sie sich ab. »Ich meine, falls du es auch willst.«

Charlie nahm ihre Hand. »Ja«, sagte er, »aber ich wollte dir noch was Wichtiges sagen.«

»Kann das nicht bis morgen warten?«

»Auch gut.«

Die ganze Nacht lagen sie sich in den Armen, und alle Ängste und Zweifel, die sie gehabt haben mochten, erwiesen sich als überflüssig. Die Einsamkeit verflüchtigte sich wie Trockeneis, und am Morgen war sie nur noch eine kleine Wolke an der Zimmerdecke, die im Licht verdampfte.

Während der Nacht hatte jemand den Esstisch wieder aufgestellt und das Chaos aufgeräumt, das Minty Fresh gestern angerichtet hatte. Er saß am Tisch, als Charlie herunterkam.

»Die haben meinen Wagen abgeschleppt«, sagte Minty Fresh. »Da ist Kaffee.«

»Danke.« Charlie steuerte auf die Küche zu. Er schenkte sich Kaffee ein und setzte sich zu Minty. »Was macht Ihr Kopf?«

Der große Mann betastete die dunkelrote Beule an seiner Stirn. »Besser. Wie geht es Ihnen?«

»Ich hab heute Nacht aus Versehen eine Nonne georgelt.«

»Manchmal – in Krisenzeiten – lässt sich so was einfach nicht vermeiden. Aber davon abgesehen… wie geht es Ihnen?«

»Ich fühl mich einfach wunderbar.«

»Na, wie Sie sich vorstellen können, haben wir anderen uns das Hirn zermartert, weil die Welt am Abgrund steht. Das war eher mittelprächtig.«

»Es wird nicht das Ende der Welt, es wird nur dunkel«, sagte Charlie gut gelaunt. »Ist es dunkel, mach doch Licht!«

»Schön für Sie, Charlie. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen. Ich muss meinen Wagen auslösen, bevor Sie mir gleich noch erzählen, dass ich doch Limonade machen soll, wenn mein Leben eine einzige Zitrone ist. Ich müsste Sie bewusstlos schlagen.«

(Stimmt schon: Es gibt kaum etwas Unausstehlicheres als ein frisch verliebtes Betamännchen. Es ist so sehr auf die Vorstellung konditioniert, nie im Leben Liebe zu finden, dass es ihm – wenn es doch geschieht – vorkommt, als füge sich die ganze Welt seinen Bedürfnissen. Derart in die Irre geführt, verhält es sich entsprechend. Es ist für ihn eine Zeit der großen Freude und der Gefahr.)

»Warten Sie, wir können uns doch ein Taxi teilen. Ich muss nach Hause und meinen Kalender holen.«

»Ich auch. Meiner liegt im Wagen. Wussten Sie, dass diese beiden Klienten, die ich verpasst habe, hier sind? Sie leben.«

»Audrey hat es mir erzählt«, sagte Charlie. »Insgesamt sind es sechs. Sie hat mit ihnen diese Sache mit dem Phowa der Unsterblichkeit gemacht. Und das hat offenbar die kosmische Kacke zum Dampfen gebracht. Aber was können wir tun? Wir können die Leute ja nicht umbringen.«

»Nein, ich glaube, es ist genau so, wie Sie sagen. Die Schlacht wird hier in San Francisco stattfinden, und zwar jetzt. Und da Sie hier der Luminatus sind, lastet die ganze Sache auf Ihren Schultern. Also, ich würde sagen: Wir sind dem Untergang geweiht.«

»Vielleicht auch nicht. Ich meine, jedes Mal, wenn sie mich fast erwischt hätten, hat irgendwas oder irgendwer eingegriffen und den Sieg davongetragen. Ich glaube, das Schicksal ist auf unserer Seite. Ich bin da ganz optimistisch.«

»Es liegt nur daran, dass Sie gerade eine Nonne georgelt haben«, sagte Minty.

»Ich bin keine Nonne«, sagte Audrey, die mit einem Stapel von Zetteln in der Hand hereinkam.

»Ach du Schande«, sagten die Totenboten unisono.

»Nein, ist schon okay«, sagte Audrey. »Er hat mich tatsächlich georgelt, oder – was vielleicht korrekter wäre – wir haben georgelt, aber ich bin keine Nonne mehr. Nicht wegen der Orgelei… es war eine präorgelitische Entscheidung.« Sie warf die Zettel auf den Tisch und setzte sich auf Charlies Schoß. »Na, Hübscher, wie fühlen wir uns heute Morgen?« Sie gab ihm einen stürmischen Kuss und umschlang ihn wie ein Seestern, der eine Auster knacken will, bis Minty Fresh sich räusperte und sie sich zu ihm umwandte. »Und auch Ihnen einen guten Morgen, Mr. Fresh.«

»Ja, danke.« Minty beugte sich seitwärts, damit er Charlie sehen konnte. »Ob sie nun Ihretwegen hier waren oder wegen unserer Klienten, die nicht sterben wollten: Die werden wiederkommen, dass wissen Sie doch, oder?«

»Die Morrigan?«, sagte Audrey.

»Huh?«, machten die beiden Totenboten im Chor.

»Ihr Jungs seid echt niedlich«, schwärmte Audrey. »Man nennt sie >Morrigan<. Es sind Harpyien, Rabenfrauen – Personifizierungen des Todes in Form schöner Kriegerinnen, die sich in Vögel verwandeln können. Es gibt drei davon, allesamt Teil derselben kollektiven Königin der Unterwelt, bekannt als >Morrigan<.«

Charlie lehnte sich etwas zurück, um ihr in die Augen sehen zu können. »Woher weißt du das?«

»Hab ich eben im Internet nachgesehen.« Audrey stieg von Charlies Schoß, nahm die Zettel vom Tisch und fing an zu lesen. »Die Morrigan besteht aus drei getrennten Wesen: Macha, die das Schlachtfeld heimsucht und als Tribut Kriegerköpfe sammelt. Man sagt, sie sei in der Lage, einen Krieger auf dem Feld von tödlichen Wunden zu heilen, wenn seine Männer ihr genügend Köpfe geopfert haben. Die keltischen Krieger nannten abgeschlagene Häupter >Machas Eichelernte<. Sie gilt als die Muttergöttin der drei. Babd ist der Zorn, die Freude am Krieg und am Töten – angeblich sammelte sie den Samen gefallener Krieger und nutzte seine Kraft, um in der Schlacht den reinen Wahn, die Mordlust zu entfachen. Nemain schließlich ist die pure Raserei, und man sagt, sie triebe Soldaten in die Schlacht, mit so grauenvollem Heulen, dass die Feinde daran sterben konnten. Ihre Klauen waren giftig, und die bloße Berührung konnte einen Soldaten töten. Sie spritzte ihr Gift den Feinden in die Augen, um sie zu blenden.«

»Das sind sie«, sagte Minty Fresh. »In der U-Bahn habe ich gesehen, wie die eine mit ihren Klauen Gift verspritzt hat.«

»Ja«, sagte Charlie, »und mir kommt die blutrünstige Babd bekannt vor. Das sind sie. Ich sollte mich mal mit Lily unterhalten. Ich hatte sie nach Berkeley geschickt, um zu recherchieren, aber sie konnte nichts finden. Wahrscheinlich hat sie überhaupt nicht nachgesehen.«

»Ja, und vergessen Sie nicht zu fragen, ob sie einen Freund hat«, sagte Minty Fresh. Zu Audrey: »Stand da auch, wie man sie tötet? Was ihre Schwächen sind?«

Audrey schüttelte den Kopf. »Nur dass die Krieger früher Hunde mit in die Schlacht nahmen, zum Schutz gegen die Morrigan.«

»Hunde«, wiederholte Charlie. »Das erklärt, wieso meine Tochter von Höllenhunden beschützt wird. Ich sage Ihnen, Fresh: Wir schaffen es. Das Schicksal ist auf unserer Seite.«

»Ja, das sagten Sie bereits. Rufen Sie uns ein Taxi.«

»Ich frage mich, wieso von allen Göttern und Dämonen der Unterwelt ausgerechnet die Kelten hier sind.«

»Vielleicht sind sie ja alle da«, sagte Minty. »Mir hat mal ein verrückter Indianer gesagt, ich sei der Sohn von Anubis, dem schakalköpfigen Totengott der Ägypter.«

»Das ist ja wunderbar!«, sagte Charlie. »Ein Schakal… das ist doch so was Ähnliches wie ein Hund. Sehen Sie? Es ist Ihnen in die Wiege gelegt, gegen die Morrigan zu kämpfen.«

Minty sah Audrey an. »Wenn Sie ihn nicht bald irgendwie enttäuschen, damit er wieder ruhiger wird, werde ich ihn wohl erschießen müssen.«

»Na, denn«, sagte Charlie, »darf ich trotzdem eine von Ihren großen Pistolen leihen?«

Minty faltete sich auseinander und stand auf. »Ich geh raus, ruf ein Taxi und warte, Charlie. Wenn Sie mitkommen wollen, sollten Sie schon mal mit dem Abschiednehmen anfangen, denn wenn es da ist, fahr ich los.«

»Bestens«, sagte Charlie und strahlte Audrey an. »Ich glaube, bei Tageslicht sind wir sowieso in Sicherheit.«

»Nonnenorgler«, knurrte Mint, als er sich unter dem Türrahmen hindurchduckte.

Tante Cassie ließ Charlie in ihr kleines Haus in Marina eintreten, und Sophie rief die beiden rammelnden Teufelshunde schließlich doch noch zurück.

»Daddy!«

Charlie schloss Sophie in seine Arme und drückte sie, bis sie rot anlief. Dann, als Jane aus der Küche kam, nahm er sie in den anderen Arm und drückte auch sie.

»Uuuh, lass los«, sagte Jane und schob ihn von sich. »Du riechst nach Räucherstäbchen.«

»Oh, Jane, ich kann es gar nicht glauben. Sie ist so wunderbar.«

»Er hat einen weggesteckt«, sagte Cassandra.

»Du hast einen weggesteckt?«, sagte Jane und küsste ihren Bruder auf die Wange. »Da freu ich mich für dich. Jetzt lass los.«

»Daddy hat einen weggesteckt«, erklärte Sophie den Höllenhunden, die sehr froh zu sein schienen, das zu hören.

»Nein, nicht weggesteckt«, sagte Charlie, und ein kollektiver Seufzer der Enttäuschung wurde laut.

»Na ja, schon weggesteckt« – es folgte ein kollektiver Seufzer der Erleichterung – »aber das war nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass sie… wunderbar ist. Atemberaubend schön und warmherzig und so süß und…«

»Charlie…«, unterbrach ihn Jane. »Du hast angerufen und gesagt, wir sind in Gefahr und sollen Sophie holen, um sie in Sicherheit zu bringen… und du hattest nur ein Date?«

»Nein, nein, wir waren… wir sind immer noch in Gefahr, zumindest wenn es dunkel ist, und ihr musstet Sophie wirklich holen. Aber ich habe jemanden kennen gelernt.«

»Daddy hat einen weggesteckt!«, jubelte Sophie.

»Süße, das sagt man nicht, okay?«, sagte Charlie. »Tante Jane und Tante Cassie sollten es auch nicht sagen. Das war nicht so toll.«

»Wie >Mietzi< und >nich in Arsch<?«

»Genau, Schätzchen.«

»Okay, Daddy, also war es nicht so toll?«

»Daddy muss in unsere Wohnung und seinen Kalender holen, meine Kleine. Darüber reden wir später. Gib mir einen Kuss.« Sophie drückte ihn fest an sich und gab ihm einen dicken Kuss, und Charlie dachte schon, er müsste weinen. So lange war sie seine einzige Zukunft, seine einzige Freude gewesen, und nun hatte er noch diese andere Freude, und die wollte er mit ihr teilen. »Ich bin bald wieder da, okay?«

»Okay, lass mich runter.«

Charlie ließ sie zu Boden gleiten, und sie rannte in den hinteren Teil des Hauses.

»Also war es nicht so toll?«, fragte Jane.

»Tut mir leid, Jane. Es ist echt verrückt. Ich zieh euch da wirklich nicht gern mit rein. Ich wollte euch nicht erschrecken.«

Jane boxte ihm an den Arm. »Also war es nun toll?«

»Es war wirklich toll«, sagte Charlie mit breitem Grinsen. »Sie ist wirklich toll. Sie ist so toll, dass mir sogar Mom fehlt.«

»Bitte?«, sagte Cassandra.

»Weil ich Mom gern zeigen würde, dass ich zurechtkomme. Dass ich eine Frau getroffen habe, die gut für mich ist. Die gut für Sophie sein wird.«

»Hooo, immer mit der Ruhe, Tiger«, sagte Jane. »Du hast diese Frau doch gerade erst kennen gelernt. Mach langsam, und vergiss nicht: Das sagt jemand, der normalerweise schon beim zweiten Date bei einer Frau einzieht.«

»Schlampe«, murmelte Cassie.

»Es ist mein Ernst, Jane. Sie ist erstaunlich.«

Cassie sah Jane an. »Du hattest Recht. Er musste echt mal einen wegstecken.«

»Das ist es nicht!«

Charlies Handy klingelte. »Entschuldigt mich, Mädels.« Er klappte es auf.

»Asher, was hast du getan?« Es war Lily. Sie weinte. »Was, zum Teufel, hast du getan?«

»Was ist, Lily? Was ist denn?«

»Es war gerade hier. Unser Schaufenster ist weg. Total weg! Dieses Vieh ist einfach reingekommen, hat den ganzen Laden auf den Kopf gestellt und alle deine Seelendinger mitgenommen. Hat sie in eine Tasche gestopft und ist weggeflogen. Scheiße, Asher. Ich meine: SCHEISSE! Dieses Vieh war riesig und echt richtig scheußlich.«

»Ja. Lily, bist du okay? Ist Ray okay?«

»Ja, ich bin okay. Ray ist nicht gekommen. Ich bin nach hinten gerannt, als es durch die Scheibe kam. Es hat sich nur für das Regal interessiert. Asher, es war so groß wie ein Stier und konnte fliegen! Scheiße, echt!«

Sie hörte sich an wie kurz vor einem hysterischen Anfall. »Warte, Lily, bleib da. Ich komm zu dir. Geh ins Hinterzimmer und mach die Tür erst auf, wenn du mich hörst, okay?«

»Verdammt, Asher, was war das für ein Vieh?«

»Ich weiß es nicht, Lily.«

Der stierköpfige Tod landete im Abwasserkanal, fiel auf alle viere, um durch das Rohr zu passen, und schleifte seinen Beutel mit den Seelen hinterher. Nicht mehr lange – er würde nicht mehr lange kriechen. Die Zeit war reif, und Orcus spürte es. Er konnte spüren, wie sie in die Stadt strömten – diese Stadt, in der er vor so vielen Jahren schon sein Territorium abgesteckt hatte – seine Stadt. Dennoch kamen sie und würden versuchen, an sich zu reißen, was rechtmäßig ihm gehörte. Die alten Totengötter: Yama und Anubis und Mors, Thanatos und Charon und Mahakala, Azrael und Emma-O und Ahkoh, Balor, Erebos und Nyx – Dutzende Götter, geboren aus der Energie der größten Angst des Menschen. Sie alle kamen, um sich zum Führer der Finsternis und der Toten, zum Luminatus, aufzuschwingen. Aber er war zuerst hier gewesen, und mit der Morrigan an seiner Seite würde er zum Luminatus werden. Erst jedoch musste er seine Kräfte sammeln, die Morrigan heilen und die elenden Seelendiebe dieser Stadt vernichten.

Mit dem Beutel voller Seelen würde er seine Bräute sicher heilen können. Er marschierte in die Grotte, in der das große Schiff vor Anker lag, und sprang in die Luft, schlug seine Lederflügel wie eine Kriegstrommel, was von den Wänden der Grotte hallte und Fledermäuse aufflattern ließ, so dass sie in großen Wolken um die Masten des Schiffes kreisten.

Die Morrigan, gebrochen und in Fetzen, erwarteten ihn an Deck.

»Und was habe ich gesagt?«, sagte Babd. »So super ist es im Oben überhaupt nicht. Ich für mein Teil könnte problemlos ohne Autos leben.«

Jane fuhr, während Charlie mit seinem Handy Anrufe abfeuerte, erst an Rivera, dann an Minty Fresh. Nach einer halben Stunde standen sie alle in Charlies Laden, beziehungsweise dem Wrack, das einmal Charlies Laden gewesen war. Uniformierte Polizisten hatten den Bürgersteig abgesperrt, bis jemand die Scherben zusammenfegte.

»Die Touristen sind bestimmt begeistert«, sagte Nick Cavuto und kaute auf seiner kalten Zigarre herum. »Direkt an der Cable-Car-Strecke. Perfekt.«

Rivera saß im Hinterzimmer und befragte Lily, während Charlie, Jane und Cassandra versuchten, das Chaos zu sortieren undSachen in die Regale zu räumen. Minty Fresh stand an der Ladentür, mit einer Sonnenbrille auf der Nase, und sah trotz der Zerstörung um ihn herum absolut cool aus. Sophie war damit zufrieden, in der Ecke zu sitzen und Alvin und Mohammed mit Schuhen zu füttern.

»Also wirklich«, sagte Cavuto zu Charlie, »ein fliegendes Monster ist durch Ihr Schaufenster geflogen, und Sie finden, es ist eine gute Idee, Ihr Kind mit hierher zu bringen?«

Charlie sah den großen Cop an und lehnte sich an den Verkaufstresen. »Sagen Sie mal, Captain… Welchen verfahrenstechnischen Weg sollte man Ihrer professionellen Ansicht nach einschlagen, wenn man es mit einem fliegenden Ungeheuer zu tun hat? Was macht die Polizei von San Francisco denn normalerweise bei solchen Riesenflugmonsterraubüberfällen, Detective?«

Cavuto stand nur da und starrte Charlie an, als hätte man ihm kaltes Wasser ins Gesicht gekippt, nicht wirklich böse, nur sehr überrascht. Schließlich grinste er um seine Zigarre herum und sagte: »Mr. Asher, ich werde jetzt nach draußen gehen, eine rauchen und die Zentrale bitten, mir die entsprechende Sonderanweisung herauszusuchen. Im Moment bin ich selbst überfragt. Würden Sie meinem Partner sagen, wo ich bin?«

»Das mach ich«, sagte Charlie. Er ging zu Lily und Rivera ins Büro und sagte: »Rivera, könnte ich hier in meiner Wohnung vielleicht Polizeischutz bekommen? Bewaffnete Beamte?«

Rivera nickte, tätschelte Lilys Hand, als sie sich abwandte. »Zwei Mann kann ich Ihnen geben, Charlie, aber nicht länger als vierundzwanzig Stunden. Sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber die Stadt verlassen wollen?«

»Oben haben wir Schutzgitter und Stahltüren, wir haben die Höllenhunde und Minty Freshs Artillerie, und außerdem warensie schon hier. Ich habe das Gefühl, sie haben bekommen, was sie wollten. Trotzdem würden mich zwei Cops bestimmt beruhigen.«

Lily sah Charlie an. Sie war die reine Wimperntuschenkernschmelze und hatte sich den Lippenstift über das halbe Gesicht verschmiert. »Tut mir leid, ich dachte, ich komme besser damit zurecht. Es war so unheimlich. Überhaupt nicht geheimnisvoll und cool. Es war das reine Grauen. Die Augen und die Zähne. Ich hab mich vollgepinkelt, Asher. Entschuldige.«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Kleine. Du hast dich gut gehalten. Ich bin froh, dass du klug genug warst, ihm aus dem Weg zu gehen.«

»Asher, wenn du der Luminatus bist, dann muss dieses Vieh dein Konkurrent sein.«

»Was? Was war das?«, sagte Rivera.

»Das ist nur ihr schräges Gruftizeug, Inspector. Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Charlie. Er warf einen Blick durch die Tür und sah Minty Fresh vor dem Laden stehen, der ihn schulterzuckend betrachtete, als wollte er sagen: Und? Also fragte Charlie: »Hey, Lily, hast du eigentlich einen Freund?«

Lily wischte sich die Nase am Ärmel ihres Kochkittels ab. »Hör zu, Asher – ich, äh – ich muss mein Angebot doch wieder zurücknehmen. Ich meine, nach Ray bin ich nicht mehr sicher, ob ich so was wirklich noch mal machen will. Jemals.«

»Ich frag ja nicht für mich, Lily.« Charlie nickte zu dem ellenlangen Fresh hinüber.

»Oh«, sagte Lily, folgte seinem Blick, dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihre Augen. »Ach, Mist. Gib mir mal eben Deckung, ich muss mich sammeln.« Sie rannte in die Mitarbeitertoilette und knallte die Tür zu.

Rivera sah Charlie an. »Was, zum Teufel, geht hier vor?«

Charlie suchte nach einer Antwort, als sein Handy klingelte und er den Zeigefinger hob, um anzuzeigen, dass er eine kurze Pause brauchte. »Charlie Asher«, sagte er.

»Charlie, hier ist Audrey«, hörte er sie flüstern. »Sie sind da. Hier und jetzt. Die Morrigan. Sie sind hier.«

26

Orpheus in der Röhrenwelt

Charlie ließ den Lieferwagen quer auf der Straße stehen und rannte die Stufen zum Buddhistischen Zentrum hinauf, rief immer wieder ihren Namen. Die gewaltige Eingangstür hing in den Angeln, alles Glas war zerbrochen, alle Schränke und Schubladen waren aufgerissen, der Inhalt überall verstreut, die Möbel zertrümmert oder umgeworfen.

»Audrey!«

Er hörte eine Stimme von draußen vor dem Haus und lief zurück auf die Veranda.

»Audrey?«

»Hier unten«, rief sie. »Wir sind noch unter der Veranda.«

Charlie stürmte die Stufen hinunter und rannte zum seitlichen Rand des Vorbaus. Hinter den Latten bewegte sich etwas. Er fand eine kleine Pforte und machte sie auf. Drinnen kauerte Audrey mit einem halben Dutzend anderer Leute und einem ganzen Pulk von Hörnchenmenschen. Er krabbelte unters Haus und nahm sie in die Arme. Charlie hatte versucht, sie während der Fahrt am Apparat zu halten, aber ein paar Blocks vor dem Ziel war sein Akku leer, und während dieser entsetzlichen Augenblicke hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, sie – seine Zukunft, seine Hoffnung – zu verlieren, nachdem er eben erst wieder Hoffnung geschöpft hatte. Er war so erleichtert, dass er kaum noch Luft bekam.

»Sind sie weg?«, fragte Audrey.

»Ja, ich glaub schon. Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.«

Charlie brachte sie ins Haus zurück, wobei die Hörnchenmenschen immer an der Wand entlanghuschten, damit sie von der Straße aus nicht zu sehen waren.

Charlie drehte sich um, als er merkte, dass ihm jemand an die Schulter tippte, und sah Irena Posokowanowich, die ihn anlächelte. Er machte einen Satz und schrie. »Tun Sie mir nichts! Ich bin ein guter Mensch!«

»Das weiß ich doch, Mr. Asher. Ich dachte nur, ob ich vielleicht Ihren Wagen parken soll, bevor er abgeschleppt wird.«

»O ja, das wäre nett.« Er gab ihr die Schlüssel. »Danke.«

Im Haus sagte Audrey: »Sie will nur helfen.«

»Sie ist mir nicht geheuer«, sagte Charlie, doch dann sah er in Audreys Augen etwas, das ein missbilligender Blick zu werden drohte, und fügte eilig hinzu: »Auf liebenswerte Art und Weise, meine ich.«

Sie gingen auf direktem Weg in die Küche und standen vor der offenen Speisekammer.

»Sie haben alle mitgenommen«, sagte Audrey. »Deshalb haben sie uns nichts getan. Für uns haben sie sich gar nicht interessiert.«

Charlie war so wütend, dass er kaum noch denken konnte, aber da er nicht wusste, wohin mit seiner Wut, schüttelte er sich nur und versuchte, seine Stimme zu beherrschen. »Genau so haben sie es in meinem Laden auch gemacht. Etwas hat es gemacht.«

»Da waren bestimmt dreihundert Seelen drin«, sagte Audrey.

»Sie haben Rachels Seele mitgenommen.«

Audrey legte einen Arm um seine Schulter, aber er konnte nicht darauf reagieren, ging nur aus der Küche. »Das war’s, Audrey. Es reicht.«

»Was meinst du damit, Charlie? Du machst mir Angst.«

»Frag deine Hörnchenmenschen, wo ich in die Kanalisation einsteigen kann. Können sie dir das sagen?«

»Wahrscheinlich. Aber das darfst du nicht!«

Er fuhr herum, und sie wich vor ihm zurück.

»Ich muss. Finde es raus, Audrey! Und alle Mann in meinen Wagen! Ich nehm euch mit zu mir. Da seid ihr in Sicherheit.«

Sie waren alle in Charlies Wohnzimmer versammelt: Sophie, Audrey, Jane, Cassandra, Lily, Minty Fresh, die untoten Klienten aus dem Buddhistischen Zentrum und um die fünfzig Hörnchenmenschen. Lily, Jane und Cassandra standen auf der Couch, um den Kerlchen zu entkommen, die sich auf dem Frühstückstresen und darunter drängelten.

»Tolle Klamotten«, sagte Lily, »aber uuuuuaah.«

»Danke«, sagte Audrey. Sophie stand neben Audrey und musterte sie von oben bis unten, als schätzte sie ihr Gewicht.

»Ich bin Jüdin«, sagte Sophie. »Bist du auch Jüdin?«

»Nein, ich bin Buddhistin«, sagte Audrey.

»Ist das so was wie ’ne Schickse?«

»Ja, ich glaube wohl«, sagte Audrey. »Es ist eine Art Schickse.«

»Oh, dann ist es wohl okay. Meine Wauwis sind auch Schicksen. So nennt sie Mrs. Ling jedenfalls.«

»Und es sind wirklich beeindruckende Wauwis«, sagte Audrey.

»Am liebsten würden sie deine kleinen Männchen fressen, aber ich pass auf, okay?«

»Danke. Das wäre nett.«

»Es sei denn, du bist gemein zu meinem Daddy. Dann sind sie geliefert.«

»Selbstverständlich«, sagte Audrey, »besondere Umstände.«

»Er hat dich gern.«

»Ich bin froh. Ich habe ihn auch gern.«

»Ich glaub, du bist wahrscheinlich wohl okay.«

»Na, danke gleichfalls«, sagte Audrey. Sie lächelte das kleine Mädchen mit den herzzerreißend blauen Augen und der großen Klappe an, und am liebsten hätte sie die Kleine hochgehoben und ihr die Seele aus dem Leib geknuddelt.

Charlie sprang neben Jane, Cassandra und Lily auf die Couch und merkte bei einem Blick auf Minty Fresh drüben in der anderen Ecke, dass er den Totenboten immer noch nicht überragte, was etwas entnervend war. (Minty schien sich vor allem für Lily zu interessieren, was ebenfalls etwas entnervend war.)

»Hört mal zu! Ich werde etwas tun, und vielleicht komme ich nicht wieder. Jane, in diesem Brief, den ich dir geschickt habe, sind alle Papiere, die du als Sophies Vormund brauchst.«

»Ich verschwinde«, sagte Lily.

»Nein«, sagte Charlie und hielt sie am Arm fest. »Du musst hierbleiben. Dir vererbe ich das Geschäft, unter der Voraussetzung, dass ein gewisser Prozentsatz vom Gewinn an Jane geht, um ihr mit Sophie zu helfen und damit die Kleine später mal studieren kann. Ich weiß, dass du eigentlich Köchin bist, aber ich vertraue dir, und du bist gut in geschäftlichen Dingen.«

Lily sah aus, als wollte sie etwas Sarkastisches sagen, zuckte dann aber mit den Schultern und sagte: »Klar. Ich kann deinen Laden übernehmen und trotzdem kochen. Du machst ja auch Botendienste und ziehst deine Tochter groß.«

»Danke. Jane, du erbst natürlich das Haus, aber wenn Sophiegroß ist und in der Stadt bleiben möchte, musst du ihr immer eine Wohnung freihalten.«

Jane sprang von der Couch. »Charlie, das ist doch scheiße. Ich werde nicht zulassen, dass du…«

»Bitte, Jane, ich muss los. Ihr habt alles schriftlich. Ich wollte euch nur persönlich sagen, was ich mir wünsche.«

»Okay«, sagte sie. Charlie umarmte seine Schwester, Cassandra und Lily, dann ging er ins Schlafzimmer und winkte Minty Fresh, dass er ihm folgen sollte.

»Minty, ich gehe in die Unterwelt und suche die Morrigan – und Rachels Seele, alle Seelen. Es wird Zeit.«

Der große Mann nickte feierlich. »Ich bin dabei.«

»Nein, sind Sie nicht. Sie müssen hierbleiben und auf Audrey und Sophie und die anderen aufpassen. Draußen stehen zwei Polizisten, aber da sie nicht an die Morrigan glauben, werden die wahrscheinlich zögern. Sie dagegen nicht.«

Minty schüttelte den Kopf. »Was haben Sie denn für eine Chance, ganz allein da unten? Lassen Sie mich mitkommen. Wir kämpfen gemeinsam.«

»Lieber nicht«, sagte Charlie. »Ich bin gesegnet oder irgendwas. In der Prophezeiung steht: >Der Luminatus wird sich erheben und in der Stadt der Zwei Brücken gegen die Mächte der Finsternis kämpfen.< Da steht nichts vom Luminatus und seinem treuen Esel Minty Fresh.«

»Ich bin kein Esel.«

»Sag ich ja«, sagte Charlie, der das ganz und gar nicht sagte. »Ich sage, dass ich eine Art Schutz genieße und Sie wahrscheinlich nicht. Und falls ich nicht wiederkomme, müssen Sie hier in der Stadt als Totenbote weitermachen – vielleicht können Sie dafür sorgen, dass das Pendel eines Tages wieder in die andere Richtung schwingt.«

Minty Fresh nickte, starrte zu Boden. »Dann nehmen Sie aber meine Desert Eagles mit, als Glücksbringer, okay?« Er blickte auf und grinste.

»Eine nehme ich mit«, sagte Charlie.

Minty Fresh streifte seinen Schulterholster ab und stellte die Riemen so ein, dass sie Charlie passten, dann half er ihm hinein.

»Unter Ihrem rechten Arm stecken zwei Reservemagazine«, sagte Minty. »Ich hoffe, Sie müssen da unten nicht so oft schießen, sonst können Sie Ihre Ohren gleich in die Tonne kloppen.«

»Danke«, sagte Charlie.

Minty half ihm, sein Tweedjackett über den Schulterholster zu ziehen.

»Moment mal… Sie mögen ja bewaffnet sein, aber Sie sehen trotzdem aus wie ein Englischlehrer. Haben Sie nicht irgendwas Passenderes für so einen Kampf?«

»James Bond trägt immer Smoking«, sagte Charlie.

»Ja, und ich weiß ja auch, dass die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion in letzter Zeit etwas verschwommen sind…«

»Kleiner Scherz«, sagte Charlie. »Da ist im Laden irgendwo ein Motorradanzug, der mir passen könnte, falls ich ihn finde.«

»Gut.« Minty klopfte Charlie auf die Schultern, als wollte er sie verbreitern. »Wenn Sie die mit den Giftklauen sehen, fackeln Sie die Schlampe für mich ab, okay?«

»Ich schieb der kleinen Nutte Ihre Wumme in den Arsch«, sagte Charlie.

»Das sollten Sie nicht tun.«

»’Tschuldigung.«

Das Schwerste kam ein paar Minuten später.

»Süße, Daddy muss noch mal los und was machen.«

»Gehst du Mami holen?«

Charlie hockte vor seiner Tochter und kippte bei der Frage fast nach hinten. Sie hatte ihre Mama in den letzten zwei Jahren kaum ein Dutzend Mal erwähnt.

»Warum sagst du das, Süße?«

»Ich weiß nicht. Ich hab an sie gedacht.«

»Du weißt, dass sie dich sehr geliebt hat.«

»Ja.«

»Und egal, was auch passiert – du weißt, dass ich dich auch sehr lieb habe.«

»Ja, das hast du gestern schon gesagt.«

»Und ich habe es auch gestern ernst gemeint. Aber diesmal muss ich wirklich gehen. Ich muss gegen ein paar ganz böse Leute kämpfen, und es kann sein, dass ich nicht gewinne.«

Sophies Unterlippe schob sich vor wie eine große, feuchte Schublade.

Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen, betete Charlie im Stillen vor sich hin. Ich ertrag es nicht, wenn du jetzt weinst.

»Nicht weinen, mein Schatz. Es wird alles wieder gut.«

»Neeeeeeeiiiiin«, heulte Sophie. »Ich will mitkommen! Ich will mit dir mitkommen! Geh nicht weg, Daddy! Ich will mit!«

Charlie nahm sie in den Arm und sah flehentlich zu seiner Schwester hinüber. Sie kam und nahm ihm Sophie ab. »Neeeeeeiiiiin. Ich will mit!«

»Du kannst nicht mitkommen, Süße.« Und Charlie verzog sich aus der Wohnung, bevor sein Herz noch einmal brach.

Audrey wartete mit dreiundfünfzig Hörnchenmenschen draußen im Flur. »Ich fahr dich zum Eingang«, sagte sie. »Keine Widerrede.«

»Nein«, sagte Charlie. »Ich will dich nicht verlieren, nachdem ich dich gerade erst gefunden habe. Du bleibst hier.«

»Du blöder Hammel! Woher nimmst du das Recht, so was zu sagen? Ich hab dich auch gerade erst gefunden.«

»Ja, aber ich bin kein so toller Fund.«

»Du bist ein Idiot«, sagte sie, schmiegte sich an ihn und küsste ihn. Nach einer Weile sah sich Charlie um. Sämtliche Hörnchenmenschen blickten zu ihm auf.

»Was machen die hier?«

»Sie gehen mit.«

»Nein, das ist zu riskant.«

»Dann ist es für dich auch zu riskant. Du weißt überhaupt nicht, was da unten los sein könnte. Dieses Vieh, das in deinen Laden eingebrochen ist, war keine Morrigan.«

»Ich habe keine Angst, Audrey. Und mögen da auch hundert Dämonen sein. Das Große Bunte Buch des Todes hat Recht: Sie halten uns nur vom rechten Weg ab. Ich glaube, diese Wesen existieren aus demselben Grund, aus dem ich auserwählt wurde. Wegen der Angst. Ich hatte Angst vor dem Leben, also wurde ich der Tod. Deren Macht ist unsere Angst vor dem Tod. Ich habe keine Angst mehr. Und ich werde die Hörnchenmenschen nicht mitnehmen.«

»Sie kennen den Weg. Und außerdem sind sie nicht mal einen halben Meter groß. Was für einen Sinn hat so ein Leben?«

»Hey!«, sagte ein Beefeater, ein Königlich Englischer Leibgardist, mit dem Schädel eines Bobtails.

»Hat er was gesagt?«, fragte Charlie.

»Einer meiner Experimentalkehlköpfe.«

»Klingt etwas quäkig.«

»Hey!«

»Verzeihung, mein – äh – Freund«, sagte Charlie. Die kleinenKreaturen machten einen entschlossenen Eindruck. »Dann mal los!«

Charlie rannte den Flur entlang, damit er sich nicht noch einmal verabschieden musste. Zehn Meter hinter ihm marschierte eine kleine Armee albtraumhafter Gestalten, zusammengeflickt aus den Einzelteilen zahlloser Tiere. Als sie zur Treppe kamen, ergab es sich, dass Mrs. Ling gerade herunterkam, um nachzusehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte. Die versammelte Armee blieb an der Treppe stehen und blickte zu ihr auf.

Mrs. Ling war Buddhistin und war es schon immer gewesen, und daher glaubte sie fest an Karma und Wiedergeburt und daran, dass einem die Lektionen, die man nicht lernen wollte, immer wieder vorgesetzt wurden, bis man sie gelernt hatte. An diesem Nachmittag, als die Mächte des Lichts den Mächten der Finsternis entgegentreten wollten, hatte Mrs. Ling beim Blick in die leeren Augen der Hörnchenmenschen eine Erscheinung, und sie aß nie wieder Fleisch. Nie mehr. Ihr erstes Sühneopfer war ein Angebot an jene, denen sie ihrer Ansicht nach Unrecht getan hatte.

»Was essen?«

Doch die Hörnchenmenschen marschierten einfach weiter.

Der Kaiser sah, wie der Lieferwagen neben dem Abflusskanal hielt und ein Mann im grellgelben Motorradanzug ausstieg. Der Mann beugte sich in den Wagen, holte etwas hervor, das wie ein Schulterholster aussah, in dem ein Vorschlaghammer steckte, und zog es über. Wäre der Zusammenhang nicht so bizarr gewesen, hätte der Kaiser schwören können, dass es sein Freund Charlie Asher war, aus dem Trödelladen in North Beach. Aber Charlie? Hier? Bewaffnet? Nein.

Lazarus, der von seinen Augen nicht so abhängig war, bellte zur Begrüßung.

Der Mann drehte sich zu ihnen um und winkte. Es war Charlie. Er kam herunter und stand ihnen gegenüber am Kanal.

»Majestät«, sagte Charlie.

»Ihr wirkt aufgebracht, Charlie. Ist irgendetwas im Argen?«

»Nein, nein, alles okay. Ich musste nur Anweisungen von einem stummen Biber mit Fez entgegennehmen, um hierher zu finden, und das war doch etwas verstörend.«

»Nun, das kann ich mir gut vorstellen«, sagte der Kaiser. »Hübsches Ensemble übrigens. Leder und Pistole. Nicht ganz Eure stilvolle Eleganz wie sonst.«

»Also… nein. Ich bin auf einer Art Mission in dieses Rohr da. Ich suche den Weg in die Unterwelt, um mit den Mächten der Finsternis zu kämpfen.«

»Schön für Euch. Schön für Euch. Mächte der Finsternis scheinen in meiner Stadt in letzter Zeit auf dem Vormarsch zu sein.«

»Es ist Euch aufgefallen?«

Der Kaiser ließ den Kopf hängen. »Ja, ich fürchte, wir haben einen unserer Soldaten an den Feind verloren.«

»Bummer?«

»Er ist vor ein paar Tagen in einem Gully verschwunden und bisher nicht wieder aufgetaucht.«

»Tut mir leid, das zu hören, Sir.«

»Würdet Ihr nach ihm suchen, Charlie? Bitte, bringt ihn mir wieder.«

»Eure Majestät, ich bin nicht sicher, ob ich selbst eigentlich wiederkomme, aber ich verspreche Euch: Sollte ich ihn finden, will ich versuchen, ihn mitzubringen. Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen. Ich werde jetzt diesen Lieferwagen aufmachen, und Sie sollten sich nicht durch das beunruhigen lassen, was Sie gleich sehen werden. Ich will in die Kanalisation, so lange noch Licht durch die Roste fällt. Was gleich aus dem Wagen steigt… es sind Freunde.«

»Macht nur«, sagte der Kaiser.

Charlie schob die Tür auf, und die Hörnchenmenschen hüpften, huschten und trippelten das Bachufer zum Kanal hinab. Charlie beugte sich noch einmal in den Lieferwagen, holte Stockdegen und Taschenlampe hervor und schob die Tür mit seinem Hintern zu. Lazarus winselte und sah den Kaiser an, als sollte irgendjemand, der des Sprechens mächtig war, irgendetwas sagen.

»Viel Glück, kühner Charlie«, sagte der Kaiser. »So geht hinfort, mit uns in Eurem Herzen und mit Euch in unserem.«

»Passt Ihr auf den Wagen auf?«

»Bis dass das Güldene Tor zu Staub verfällt, mein Freund«, sagte der Kaiser.

Und so führte Charlie Asher – dem Leben dienend und dem Licht und allen Wesen, die des Fühlens mächtig waren, und in der Hoffnung, die Liebe seines Lebens retten zu können – eine Armee von abgebrochenen Gestalten aus Tierteilen in die Kanalisation von San Francisco, mit allerlei Bewaffnung, von Stricknadeln bis zum Gabellöffel.

Stundenlang schleppten sie sich voran. Manchmal wurden die Rohre so eng, dass Charlie auf allen vieren kriechen musste, dann wieder öffneten sie sich zu breiten Kreuzungen und Räumen aus Beton. Er half den Hörnchenmenschen beim Klettern in die höher gelegenen Rohre. Er hatte einen leichten Bauhelm mit LED-Lämpchen gefunden, der ihm in engen Passagen gelegen kam, wenn er die Taschenlampe nicht mehr richtig halten konnte. Außerdem stieß er sich etwa zehnmal pro Stunde den Kopf, und wenn der Helm auch Verletzungen verhinderte, dröhnte ihm doch der Schädel. Sein Lederanzug – im Grunde gar kein echtes Leder, eher schweres Nylon mit gepolsterten Knien, Schultern, Ellbogen, Schienbeinen und Unterarmen -, schützte ihn in den Rohren vor Prellungen und Schürfungen, aber der Anzug war klatschnass und scheuerte in den Kniekehlen. An einer offenen Kreuzung mit einem Gitterrost weit oben stieg er die Leiter hinauf und versuchte, sich draußen umzusehen, um vielleicht ein Gefühl dafür zu bekommen, wo sie sein mochten, aber draußen war es mittlerweile dunkel, und über dem Gitter parkte ein Auto.

Welch eine Ironie des Schicksals, dass er endlich den Mut aufbrachte, in die Bresche zu springen, nur um sich dann in dieser Bresche zu verirren. Eine menschliche Fehlzündung.

»Wo, zum Teufel, sind wir?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, sagte das Bobtailmännchen, das sprechen konnte.

Es war schon irritierend, dem kleinen Leibgardisten beim Sprechen zuzusehen, denn er hatte kein Gesicht, nur einen Schädel, und er konnte kein P sagen. Darüber hinaus hatte sich der Bobtail statt mit einer Hellebarde, die zum Kostüm gepasst hätte, mit einem Gabellöffel bewaffnet.

»Könntest du die anderen fragen, ob sie wissen, wo wir sind?«

»Okay.« Er wandte sich den feuchten Reihen der Hörnchenmenschen zu. »Hey, weiß irgendjemand, wo wir sind?«

Alle schüttelten sie die Köpfe, sahen sich an, zuckten mit den Schultern. Nix.

»Nein«, sagte der Bobtail.

»Na, das hätte ich auch noch selbst hingekriegt«, sagte Charlie.

»Und was hindert dich daran? Ist doch schließlich deine _arty«, sagte er. Charlie merkte, dass er »Party« meinte.

»Wieso keine P s?«, fragte Charlie.

»Keine Li__en.«

»Stimmt. Lippen. Tut mir leid. Was hast du mit dem Gabellöffel vor?«

»Na ja, wenn wir irgendwelche Schurken finden, hau ich denen meine Gabel um die Löffel.«

»Ausgezeichnet. Du bist mein Leutnant.«

»Wegen dem Gabellöffel?«

»Nein, weil du sprechen kannst. Wie heißt du?«

»Bob.«

»Nein, echt?«

»Ehrlich.«

»Dann ist dein Nachname wahrscheinlich >Tail<.«

»Wilson.«

»War nur ’ne Frage. Entschuldige.«

»Schon okay.«

»Kannst du dich erinnern, wer du in deinem letzten Leben warst?«

»Ein bisschen weiß ich noch. Ich glaube, ich war Buchhalter.«

»Also keine militärische Erfahrung?«

»Wenn Leichen zu zählen sind, bin ich dein Mann, äh, deine Kreatur.«

»Prima. Erinnert sich hier irgendwer daran, Soldat, Ninja oder irgendwas gewesen zu sein? Extrapunkte für Ninjas und Wikinger oder ähnliches. War einer von euch im früheren Leben so was wie Hunnenkönig Attila oder Käpt’n Hornblower?«

Ein Frettchen in paillettenbesetztem Minirock und Go-go-Stiefeln trat vor und hob die Pfote.

»Du warst mal bei der Marine?«

Das Frettchen schien in Bobs Hut zu flüstern (da Bob keine Ohren mehr hatte).

»Sie sagt, sie hat was missverstanden. Sie dachte, Sie meinten >Hornbläser<.«

»Sie war Prostituierte?«

»Trom_eterin«, sagte Bob.

»Verzeihung«, sagte Charlie, »lag an den Stiefeln.«

Das Frettchen winkte ab, er solle sich keine Gedanken machen, dann beugte es sich vor und flüsterte mit Bob.

»Was?«, sagte Charlie.

»Nichts«, sagte Bob.

»Nicht nichts. Ich dachte, sie können nicht sprechen.«

»Na ja, nicht mit dir«, sagte Bob.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie hat gesagt, wir sind gearscht.«

»Also, das ist nun wirklich keine besonders hilfreiche Einstellung«, sagte Charlie, aber langsam bekam er das Gefühl, dass dieses Go-go-Frettchen Recht hatte, und er lehnte sich hockend an die Wand des Rohres, um sich auszuruhen.

Bob kletterte zu einem kleineren Rohr hinauf, saß auf dem Rand und ließ die Beine baumeln. Wasser tropfte von seinen kleinen Kunstlederschuhen, aber die blumenförmigen Messingschnallen schimmerten im Licht von Charlies Helmlampe.

»Schicke Schuhe«, sagte Charlie.

»Tja, Audrey steht eben auf mich«, sagte Bob.

Bevor Charlie antworten konnte, hatte der Hund Bob von hinten gepackt und schüttelte ihn wie einen Jutesack. Sein todbringender Gabellöffel klapperte gegen das Rohr und verschwand unten im Wasser.

27

Hexenkessel

Den ganzen Abend hatte Lily schon versucht, sich an Minty Fresh heranzumachen. Ein gutes Dutzend Mal hatte sie im Lauf des Abends bereits seinen Blick gesucht und gelächelt, doch in der bedrückten Atmosphäre, die sich im Raum breit gemacht hatte, wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. Als im Fernsehen dann schließlich ein Film mit Oprah Winfrey kam und sich alle darum versammelten, weil sie sehen wollten, wie die Mediendiva jemanden mit einem Dampfbügeleisen erschlug, zog sich Minty Fresh an den Frühstückstresen zurück und blätterte in seinem Tagesplaner. Da versuchte Lily ihr Glück.

»Na? Checken Sie Ihre Termine?«, fragte sie. »Sie blicken sicher optimistisch in die Zukunft.«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich.«

Lily war hin und weg. Er sah gut aus und war missmutig – ein großes, braunes Geschenk der Götter.

»Wie schlimm kann es werden?«, sagte Lily, nahm ihm den Terminkalender aus der Hand und blätterte darin herum. Beim heutigen Datum stutzte sie.

»Wieso steht hier Ashers Name?«, fragte sie.

Minty ließ den Kopf hängen. »Er hat gesagt, du weißt schon eine ganze Weile über uns Bescheid.«

»Ja, aber…« Sie sah sich den Namen noch mal an, und als ihr bewusst wurde, was sie da sah, traf es sie wie ein Schlag vor die Brust. »Das ist dieses Buch? Das ist Ihr Kalender dafür

Minty nickte langsam, sah sie nicht an.

»Wann ist sein Name aufgetaucht?«, fragte Lily.

»Vor einer Stunde stand er noch nicht da.«

»Leck mich am Arsch«, sagte sie und sank auf den Barhocker neben dem großen Mann.

»Genau«, sagte Minty Fresh und legte ihr seinen Arm um die Schulter.

Indem Charlie an den Beinen von diesem Bobtailmännchen zerrte (das recht eindrucksvolles Geschrei von sich gab, wenn man bedachte, dass es nur Stimmbandprototypen hatte) und sich die Hörnchenmenschen wie beim Rugby auf den Terrier stürzten, konnten sie ihren Leutnant schließlich aus dem Maul der glubschäugigen Furie befreien, wobei das Beefeater-Kostüm nur ein paar Fäden zog.

»Aus, Bummer!«, sagte Charlie. »Entspann dich!« Er wusste nicht, ob Entspann dich ein offizielles Hundekommando war, aber er hoffte es.

Bummer schnaubte und wich vor den ihn umzingelnden Hörnchenmenschen zurück.

»Der gehört nicht zu uns«, sagte das Bobtailmännchen und deutete auf Bummer. »Der gehört nicht zu uns.«

»Halt den Mund«, sagte Charlie. Er holte eine Minisalami aus der Tasche, die er als Notproviant eingesteckt hatte, brach ein Stück ab und hielt es Bummer hin. »Komm schon, Junge, ich hab dem Kaiser versprochen, dass ich nach dir Ausschau halte.«

Bummer kam zu Charlie getrottet und nahm das Stückchen Wurst entgegen, dann drehte er sich um und musterte kauenddie Hörnchenmenschen. Sie gaben klickende Laute von sich und schwenkten ihre Waffen. »Der gehört nicht zu uns. Der gehört nicht zu uns«, rief Bob.

»Hör auf damit«, sagte Charlie. »Du kannst keinen Sprechchor anstimmen, Bob. Außer dir hat niemand einen Kehlkopf.«

»Ach, ja.« Bobs Sprechchor versandete. »Jedenfalls ist er keiner von uns«, fügte er zu seiner Verteidigung hinzu.

»Jetzt schon«, sagte Charlie. Zu Bummer sagte er: »Kannst du uns in die Unterwelt führen?«

Bummer blickte zu Charlie auf, als wüsste er genau, was man von ihm wollte, aber wenn er die Kraft zum Weitermachen aufbringen sollte, würde er die andere Hälfte von dieser Minisalami brauchen. Charlie gab sie ihm, und sofort sprang Bummer in ein höher gelegenes Rohr von etwas mehr als einem Meter Durchmesser, blieb stehen, bellte, dann rannte er hinein.

»Ihm nach!«, rief Charlie.

Nachdem sie Bummer eine Stunde durch die Kanalisation gefolgt waren, wurden die Rohre zu Tunneln, und diese wurden immer größer, je weiter sie kamen. Bald schon stapften sie durch Höhlen mit hohen Decken, von denen bunt leuchtende Stalaktiten hingen und ihren Weg mit mattem, trübem Licht erhellten. Charlie hatte einiges über die Geologie dieser Gegend gelesen und wusste, dass die Höhlen nicht natürlichen Ursprungs waren. Er vermutete sie irgendwo unter dem Bankenviertel, das größtenteils auf dem Abraum vom Goldrausch errichtet worden war, so dass es dort nichts geben konnte, was so alt aussah und so stabil war wie diese Höhlen.

Bummer wollte weiter, führte sie ohne das geringste Zögern in die eine oder andere Gabelung, bis sie in einer gewaltigen Grotte standen. Der Raum war so groß, dass er das Licht von Charlies Helm und seiner Taschenlampe verschluckte, doch die Decke war wohl hundert Meter hoch und mit Stalaktiten besetzt, deren rotes, grünes und violettes Leuchten sich in einem schwarzen See spiegelte. Mitten auf diesem See, etwa sechzig Meter entfernt, stand ein großes, schwarzes Segelschiff mit hohen Masten wie eine Spanische Galeone, aus deren Kajütenfenstern am Heck rotes, pulsierendes Licht drang. An Deck hing eine einzelne Laterne. Charlie hatte gehört, dass beim Goldrausch ganze Schiffe unter dem Schutt begraben worden waren, aber die wären sicher nicht so gut erhalten. Alles veränderte sich. Diese Höhlen hatten damit zu tun, dass sich die Unterwelt erhob, und ihm wurde bewusst, dass es nur ein kleiner Hinweis darauf war, was mit der Stadt geschehen würde, wenn die Unterwelt erst das Kommando übernahm.

Bummer bellte, und das grelle Echo hallte durch die Grotte, was einen Riesenschwarm von Fledermäusen aufschreckte.

Charlie sah Bewegung an Deck des Schiffes, die blauschwarze Silhouette einer Frau, und er wusste, dass Bummer sie an den richtigen Ort geführt hatte. Charlie reichte Bob seine Taschenlampe und stellte seinen Stock auf den Boden. Er zog die Desert Eagle aus dem Schulterholster, vergewisserte sich, dass noch eine Kugel im Lauf war, spannte den Hahn, dann sicherte er die Waffe und schob sie wieder ins Holster zurück.

»Wir werden ein Boot brauchen«, sagte Charlie zu Bob. »Seht doch mal nach, ob ihr was findet, woraus man ein Floß bauen kann.« Das Bobtailmännchen lief mit Charlies Taschenlampe am Ufer entlang, suchte die Felsen nach brauchbarem Strandgut ab. Bummer knurrte, schüttelte den Kopf, als hätte er Würmer in den Ohren und als wollte er zeigen, dass er Charlie für verrückt hielt, dann rannte er in den See. Fünfzig Meter weiter reichte ihm das Wasser immer noch bis zu den Schultern.

Charlie sah zum schwarzen Schiff hinüber und merkte, dass es viel zu hoch aufragte, dass der Rumpf im Grunde kaum fünfzehn Zentimeter im Wasser stand.

»Äh, Bob«, sagte Charlie, »vergiss das mit dem Floß. Wir laufen. Leise, alle Mann!« Er zog seinen Degen und watete voran. Je näher sie dem Schiff kamen, desto mehr konnten sie erkennen. Die Reling bestand aus zusammengebundenen Schenkelknochen, die Klampen waren aus Hüften. Als Deckslaterne leuchtete ein Menschenschädel. Charlie hatte keine Vorstellung davon, wie sich seine Macht als Luminatus zeigen würde, doch als sie den Rumpf des Schiffes erreichten, wünschte er, es würde bald passieren und die Fähigkeit, zu fliegen, gehörte dazu.

»Wir sind gearscht«, sagte Bob mit Blick auf den schwarzen Rumpf, der über ihnen aufragte.

»Sind wir nicht«, sagte Charlie. »Wir brauchen nur jemanden, der da raufklettert und uns ein Seil runterwirft.«

Es folgte einiges Geschiebe zwischen den Hörnchenmenschen, dann trat eine einzelne Gestalt aus der kleinen Menge, bei der es sich um einen französischen Dandy aus dem neunzehnten Jahrhundert zu handeln schien – mit dem Kopf eines Warans. Sein Aufzug – die Rüschen und der Rock – erinnerten Charlie an ein Bild von Charles Baudelaire, das ihm Lily mal gezeigt hatte.

»Schaffst du das?«, fragte Charlie das Echsenmännchen.

Dieser zeigte seine Hände vor und hob einen Fuß aus dem Wasser. Eichhörnchenpfoten. Charlie hob den kleinen Waran so hoch es ging, und das Männchen fand Halt am schwarzen Holz, dann huschte es am Rumpf hinauf und hüpfte über die Reling.

Minuten vergingen, und Charlie lauschte angestrengt nach allem, was dort oben vor sich ging. Als die Leine neben ihm insWasser klatschte, sprang er einen halben Meter in die Luft und schrie fast los.

»Na, das fängt ja gut an«, sagte Bob.

»Dann du zuerst«, sagte Charlie und testete die Leine, um nachzusehen, ob sie ihn tragen würde. Er wartete, bis das Bobtailmännchen etwa einen Meter über seinem Kopf war, dann schob er den Stock hinter das Polster an seinem Rücken und kletterte selbst hinauf. Auf halbem Weg war es, als explodierte jede einzelne Faser in seinem Körper, und er schlang seinen Motorradstiefel um die Leine, um etwas auszuruhen. Es schien, als halfen ihm die Götter über den toten Punkt hinweg, und seine Muskeln entspannten sich, so dass er weiterklettern konnte. Er fühlte sich, als wüchse ihm die Kraft des Luminatus’. Oben angekommen hielt er sich an einer der knöchernen Klampen fest und schwang sich in die Höhe, bis er rittlings auf der Reling saß.

Er fuhr herum, und seine Helmlampe traf den schwarzen Schimmer ihrer Augen. Sie hielt das Bobtailmännchen wie einen Maiskolben, hatte ihm die Klaue durch den Schädel getrieben und den Unterkiefer zugeklemmt. Rot leuchtendes Fleisch und Glibber liefen über ihr Gesicht und über ihre Brüste, als sie noch einen Bissen vom Beefeater nahm.

»Möchtest du mal kosten, Liebster?«, sagte sie, »schmeckt nach Schinken.«

Am Frühstückstresen in Charlies Apartment sagte Lily: »Sollten wir es ihnen nicht sagen?«

»Sie wissen doch von nichts. Über das hier.« Minty hielt seinen Tagesplaner hoch. »Nur Audrey.«

»Sollten wir es dann nicht wenigstens ihr sagen?«

Minty sah Audrey an, die müde mit Charlies Schwester und einem der Höllenhunde auf der Couch lümmelte und einen ganzzufriedenen Eindruck machte. »Nein, ich glaube nicht, dass im Moment irgendwem damit geholfen wäre.«

»Er ist ein guter Kerl«, sagte Lily. Sie riss ein Tuch von der Haushaltsrolle auf dem Tresen und tupfte an ihren Augen herum, bevor sie mit ihrer Wimperntusche gleich wieder wie ein Waschbär aussah.

»Ich weiß«, sagte Minty, »er ist mein Freund.« Als er es sagte, spürte er, dass etwas an seinem Hosenbein zupfte. Sophie blickte zu ihm auf.

»Hey, hast du ein Auto?«, fragte sie.

»Ja, allerdings, Sophie.«

»Fahren wir ein bisschen rum?«

Ohne zu zögern zückte Charlie den Stockdegen und schlug ihn der Morrigan ans Handgelenk. Sie ließ das Bobtailmännchen los, das schreiend Reißaus nahm, quer übers Deck rannte und über Bord sprang. Die Morrigan packte den Stock und versuchte, ihn Charlie zu entwinden. Er ließ es zu – riss die Klinge heraus und rammte sie ihr so fest in den Solarplexus, dass er mit der Faust an ihre Rippen stieß, der Degen hinten aus ihrem Rücken trat und sich in den hölzernen Rumpf des Rettungsbootes bohrte, vor dem sie gerade stand. Für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht nur einen Daumenbreit vor seinem.

»Hast du mich vermisst?«, schnurrte sie.

Er rollte sich ab, als sie nach ihm schlug. Gerade noch rechtzeitig hob er den Arm, um ihren Hieb abzuwehren, wobei das dicke Polster am Unterarm verhinderte, dass die Klauen ihm die Hand abhackten. Sie stürzte sich auf ihn, doch das Schwert hielt sie am Rettungsboot fest. Charlie rannte übers Deck und ließ sie hinter sich zurück, kreischend vor Wut.

Er sah Licht von einer Tür, die zur Kajüte am Achterdeck führte, dasselbe rote Leuchten, und ihm wurde klar, dass es von den Seelenschiffchen stammen musste. Möglicherweise war Rachels Seele noch da drinnen. Er war nur einen Schritt von der Luke entfernt, als die Riesenrabin vor ihm landete und ihre Flügel auf dem Deck ausbreitete, als wollte sie das ganze Achterschiff absperren. Er wich zurück und zog seine Desert Eagle aus dem Schulterholster. Er gab sich alle Mühe, sie ruhig zu halten, als er sie entsicherte. Die Rabin schnappte nach ihm, und er machte einen Satz rückwärts. Dann wurde der Schnabel ganz klein, verwandelte sich, wurde zum Gesicht einer Frau – aber die Flügel und Klauen blieben in Vogelgestalt.

»Frischfleisch«, sagte Macha, »wie mutig von dir, hierher zu kommen.«

Charlie drückte ab. Eine Flamme schoss aus dem Lauf, und ihm war, als hätte ihm jemand mit einem Hammer auf die Hand geschlagen. Er dachte, er hätte ihr mitten zwischen die Augen geschossen, doch die Kugel hatte ihren Hals durchschlagen und die Hälfte vom schwarzen Fleisch herausgerissen. Ihr Kopf baumelte zur Seite, und der Rabenleib schlug mit den Flügeln nach ihm.

Charlie fiel rückwärts aufs Deck, riss aber die Pistole hoch und feuerte noch einmal, als sich die Rabin auf ihn stürzte. Diesmal traf er sie mitten in die Brust, so dass sie rückwärts aufs Kajütendach flog.

Es summte in seinen Ohren, als hätte ihm jemand Stimmgabeln in den Kopf gebohrt und schlüge mit Trommelstöcken darauf ein – ein langes, schmerzhaft hohes Klagen. Kaum hörte er das Kreischen links von sich, als die nächste Morrigan aus der Takelage sprang. Er rollte zur Reling und hob die Pistole an, als sie bereits nach seinem Gesicht schlug. Die Waffe und das Polster an seinem Unterarm fingen den Hieb größtenteils ab, doch die Desert Eagle fiel ihm aus der Hand und rutschte übers Deck.

Mit einer Rolle vorwärts kam er auf die Beine und lief seiner Pistole nach. Nemain schnippte ihre Klauen nach seinem Rücken, und er hörte es brutzeln, als das Gift den Plastikschutz an seinem Rücken traf und links und rechts von ihm das Deck versengte. Er warf sich auf die Pistole und versuchte, abzurollen und sie auf seine Angreiferin zu richten, sobald er wieder hochkam, verschätzte sich jedoch und stand plötzlich mit den Kniekehlen an der Knochenreling. Sie machte einen Satz, mit den Klauen vorgestreckt, und traf ihn an der Brust, im selben Moment, als er die Desert Eagle abfeuerte, was ihn rückwärts über die Reling warf.

Er landete im Wasser. Die Luft explodierte förmlich aus seinen Lungen, und er fühlte sich, als wäre er unter einen Bus geraten. Er bekam keine Luft, konnte aber sehen und seine Glieder spüren, und nach ein paar Sekunden des Japsens ging es endlich wieder.

»Und wie läuft’s so?«, fragte das Bobtailmännchen etwa einen halben Meter neben Charlies Kopf.

»Gut«, sagte Charlie. »Sie flattern schon vor Angst.«

Mitten in Bobs Torso war ein großes Stück herausgebissen, und seine Uniform hing in Fetzen, aber ansonsten schien er guten Mutes. Er hielt die Desert Eagle wie ein Baby in den Armen.

»Das Ding wirst du wahrscheinlich brauchen. Dein letzter Schuss hat übrigens gesessen. Du hast ihr den halben Schädel wegge_ustet.«

»Gut«, sagte Charlie, der immer noch nicht wieder richtig atmen konnte. Er fühlte einen brennenden Schmerz in seiner Brust und dachte, dass er sich wohl eine Rippe gebrochen hatte. Er setzte sich auf und betrachtete den Brustpanzer an seinem Anzug. Die Klauen der Morrigan hatten darüber hinweggeharkt, doch an einer Stelle sah er, dass eine Klaue unter die Platte geraten war und ihn an der Brust getroffen hatte. Er blutete nicht schlimm, aber er blutete, und es tat höllisch weh. »Greifen sie immer noch an?«

»Nicht die beiden, die du getroffen hast. Wir haben keine Ahnung, wohin die eine ist, die du aufges_ießt hast.«

»Ich weiß nicht, ob ich nochmal an dieser Leine hochkomme«, sagte Charlie.

»Das ist vielleicht gar nicht das _roblem«, sagte Bob. Er blickte zur Decke der Grotte auf, wo ein Wirbelwind aus quiekenden Fledermäusen den Mast umflatterte. Über ihnen schlugen die Flügel einer gänzlich anders gearteten Kreatur.

Charlie nahm die Pistole von Bob und kam auf die Beine, kippte beinah um, dann fing er sich und trat vom Rumpf des Schiffes zurück. Die Hörnchenmenschen verteilten sich um ihn. Bummer stieß eine Salve wütendes Gekläff aus.

Der Dämon landete etwa zehn Meter entfernt. Charlie merkte, dass ein Schrei in seiner Kehle aufstieg, und rang ihn nieder. Das Vieh war fast drei Meter groß, mit einer Flügelspanne von zehn Metern. Der Kopf war gewaltig wie ein Bierfass, und es schien die Gestalt und die Hörner eines Stiers zu haben, abgesehen von den Raubtierzähnen – eine Kreuzung zwischen Hai und Löwe. Seine Augen funkelten grün.

»Seelendieb«, knurrte das Ungetüm. Es faltete die Flügel zu zwei hohen Spitzen hinter seinem Rücken und kam Charlie entgegen.

»Damit dürftest du wohl eher dich selbst meinen, was?«, sagte Charlie etwas atemlos. »Ich bin der Luminatus.«

Der Dämon blieb stehen. Charlie nutzte das Zögern, hob die Waffe und feuerte. Der Schuss traf den Dämon in der Schulter und wirbelte ihn herum. Er brüllte auf.

Charlie roch den Atem dieser Kreatur, wie faules Fleisch. Er wich zurück und schoss noch einmal. Vom Rückschlag der großen Pistole war seine Hand ganz taub. Der Schuss warf den Dämon einen Schritt zurück. Von oben wurde schriller Jubel laut.

Charlie schoss und schoss. Die Kugeln rissen Krater in die Brust des Dämons. Er taumelte, dann sank er auf die Knie. Charlie zielte und drückte noch mal ab. Die Waffe klickte.

Charlie wich ein paar Schritte zurück und versuchte, sich zu erinnern, was ihm Minty übers Nachladen gesagt hatte. Er fand den Knopf zum Lösen des Magazins, woraufhin es ins Wasser fiel. Dann klappte er eine der Patronentaschen unter seinem Arm auf, um sich ein Reservemagazin zu nehmen. Es glitt heraus und landete ebenfalls im See. Bob und ein paar Hörnchenmenschen sprangen hinein und fingen an, danach zu tauchen.

Wieder brüllte der Dämon, entfaltete die Flügel, schlug ein Mal damit und stand schon auf den Beinen.

Charlie nahm das zweite Magazin und schaffte es, das Ding mit zitternden Händen unten in die Desert Eagle zu schieben. Der Dämon ging in die Hocke, als wollte er springen. Charlie schob eine Kugel in die Kammer und schoss im selben Augenblick. Der Dämon kippte nach vorn, als die große Kugel ein Stück aus seinem Oberschenkel riss.

»Gut gemacht, Frischfleisch!«, hörte er eine Stimme von oben.

Eilig blickte Charlie auf und wandte sich schnell wieder dem stierköpfigen Dämon zu, der abermals auf den Beinen stand. Dann stützte er sein Handgelenk ab und feuerte, pumpte mit jedem Schritt Kugeln in die Brust des Dämons, bis es ihm schien, als würde sein Handgelenk jeden Augenblick vom Rückschlag in tausend Stücke splittern und der Hahn auf eine leere Kammer klickte. Er blieb stehen, als der Dämon umfiel, mit dem Gesicht voran ins Wasser. Charlie ließ die Desert Eagle fallen und sank auf die Knie. Die Grotte schien vor seinen Augen umzukippen, und sein Blick verengte sich zu einem Tunnel.

Die Morrigan landeten links und rechts und vor ihm. Jede hielt ein leuchtendes Seelenschiffchen in der Klaue und rieb es auf ihre Wunden.

»Das war großartig, Liebster«, sagte die Rabenfrau, die dem gefallenen Dämon am nächsten stand. Charlie erkannte sie aus der Gasse. Man konnte zusehen, wie der Stich verheilte, den er ihr mit seinem Degen beigebracht hatte. Sie gab dem toten Stierkopfdämon einen Tritt. »Siehst du, ich hab doch gesagt, Schusswaffen sind scheiße.«

»Es war aber wirklich gut gemacht«, sagte die eine rechts von Charlie. Ihr Hals wuchs immer noch zusammen. Er hatte sie auf das Kajütendach geschossen.

»Ihr Mädels habt einen Charme wie Karl der Koyote«, sagte Charlie. Er grinste, fühlte sich wie betrunken, als beobachtete er das alles aus der Ferne.

»Er ist so süß«, sagte die Sexhexe. »Ich könnte ihn glatt fressen.«

»Klingt gut«, sagte die Morrigan links von ihm, deren Kopf noch immer Schlagseite hatte.

Charlie sah das Gift von ihren Klauen tropfen, dann warf er einen Blick auf die Wunde unter seinem Brustpanzer.

»Ja, Schätzchen«, sagte Sexy, »ich fürchte, Nemain hat dich erwischt. Du bist wirklich ein echter Krieger, dass du so lange durchgehalten hast.«

»Ich bin der Luminatus«, sagte Charlie.

Die Morrigan lachten. Die eine, die vor Charlie stand, machte ein paar Tanzschrittchen. Da hob der stierköpfige Dämon seinen Schädel aus dem Wasser.

»Ich bin der Luminatus«, sagte der Dämon mit schwarzem Glibber und Wasser im Maul.

Die Morrigan hörte auf zu tanzen, packte ein Horn des Dämons und riss seinen Kopf zurück. »Meinst du?«, sagte sie. Dann schlug sie dem Dämon ihre Klauen in den Hals. Er rollte zur Seite und stieß sie von sich, warf sie zehn Meter durch die Luft, so dass sie gegen den Rumpf des Schiffes prallte.

Die Morrigan hinter Charlie tätschelte seinen Kopf, als sie an ihm vorüberkam. »Wir sind gleich wieder bei dir, Schätzchen. Ich bin übrigens Macha, und wir sind der Luminatus! Zumindest werden wir es gleich sein.«

Die Morrigan fielen über den stierköpfigen Dämon her und rissen mit jedem Klauenhieb große Brocken von Fleisch und Knochen aus seinem Leib. Zwei erhoben sich in die Lüfte und stießen herab, hackten auf den Dämon ein, der nach ihnen schlug und sie auch manchmal traf, von Charlies Schüssen jedoch zu geschwächt war, als dass er sich wirksam wehren konnte. Nach zwei Minuten war er am Ende und hatte kaum noch Fleisch auf den Rippen. Macha hielt seinen Kopf bei den Hörnern, während der Dämon nach wie vor ins Leere schnappte.

»Jetzt du, Seelendieb«, sagte Macha.

»Ja, jetzt bist du an der Reihe«, sagte Nemain und legte ihre Klauen frei.

Macha lenkte den Dämonenkopf auf Charlie zu. Er wich zurück, als die Zähne nach seinem Gesicht schnappten.

»Einen Moment mal«, sagte Babd.

Die anderen beiden blieben stehen und drehten sich zu ihrer Schwester um, die sich über die Reste des toten Dämons beugte. »Wir waren noch gar nicht ganz fertig.«

Sie trat einen Schritt vor, da schlug eine Kugel Finsternis nach ihr und riss sie mit sich. Charlie sah den Dämonenschädel auf sich zukommen, dann einen lauten Knall, und Macha wurde seitlich weggefegt, als wäre ein Bungeeseil an ihrem Knöchel festgebunden.

Wieder ging dieses Kreischen los, und Charlie sah, wie die Morrigan durch die Dunkelheit gepeitscht wurden, ein Platschen, Tohuwabohu… er konnte nicht erkennen, was da vor sich ging. Er konnte nicht scharf sehen.

Er warf einen Blick zu Nemain hinüber, die ihm mit gifttropfenden Klauen entgegenkam. Am Rande seines Blickfelds tauchte eine kleine Hand auf, und der Kopf der Morrigan explodierte zu etwas, das wie tausend Sterne aussah.

Charlie starrte dorthin, wo die Hand vor seinen Augen erschienen war.

»Hi, Daddy«, sagte Sophie.

»Hi, Baby«, sagte Charlie.

Jetzt sah er, was vor sich ging: Die Höllenhunde fielen über die Morrigan her. Eine von ihnen riss sich los, sprang in die Luft und öffnete die Flügel, dann stieß sie kreischend auf Sophie herab.

Sophie hob ihre Hand, als winkte sie zum Abschied, und die Morrigan verdampfte zu einem Nebel von schwarzem Glibber. Die ungezählten Seelen, die sie im Laufe der Millennien verspeist hatte, schwebten in der Luft, rote Lichter, die durch die Grotte kreiselten, so dass es schien, als sei der ganze riesige Raum mitten in einem Feuerwerk erstarrt.

»Du solltest gar nicht hier sein, Süße«, sagte Charlie.

»Doch, sollte ich«, sagte Sophie. »Ich musste das klären und sie alle zurückschicken. Ich bin der Luminatus.«

»Du…?«

»Ja«, sagte sie nüchtern mit dieser Stimme einer Herrin über Tod und Finsternis, die bei Sechsjährigen so irritierend ist.

Die Höllenhunde waren mittlerweile bei der letzten Morrigan und rissen sie in Stücke.

»Nein, Süße«, sagte Charlie.

Sophie hob die Hand, und Babd verdampfte wie die anderen. Die gefangenen Seelen stiegen auf wie Glut von einem Freudenfeuer.

»Lass uns nach Hause gehen, Daddy«, sagte Sophie.

»Nein«, sagte Charlie, der kaum seinen Kopf hochhalten konnte. »Wir müssen noch was holen.« Er taumelte vorwärts, und einer der Höllenhunde war da, um ihn zu stützen. Die ganze Armee der Hörnchenmenschen kam um den Bug des Schiffes gelaufen, und jeder von ihnen trug ein leuchtendes Seelenschiffchen, das er aus der Kajüte geholt hatte.

»Meinst du das hier?«, sagte Sophie. Sie nahm von Bob eine CD entgegen und reichte sie an Charlie weiter.

Er drehte und wendete sie und drückte sie an seine Brust. »Weißt du, was das ist, Süße?«

»Ja. Lass uns nach Hause gehen, Daddy.«

Charlie sank auf Alvins Rücken. Sophie und die Hörnchenmenschen stützten ihn, bis sie die Unterwelt verlassen hatten.

Minty Fresh trug Charlie zum Auto.

Ein Arzt war gekommen und gegangen. Als Charlie zu sich kam, lag er zu Hause auf dem Bett, und Audrey wischte ihm die Stirn mit einem feuchten Lappen ab.

»Hi«, sagte er.

»Hi«, sagte Audrey.

»Hat Sophie es dir erzählt?«

»Ja.«

»Sie werden so schnell groß«, sagte Charlie.

»Ja.« Audrey lächelte.

»Ich hab das hier.« Er griff unter seinen Brustpanzer und zog die leuchtende Sarah-McLachlan-CD hervor.

Audrey nickte und griff nach der CD. »Stellen wir sie hier hin, damit du sie im Auge behalten kannst.« Sobald ihre Finger die Hülle berührten, erlosch das Licht, und ein Schauer durchfuhr Audrey. »Oh…«, sagte sie.

»Audrey.« Charlie versuchte, sich aufzusetzen, doch die Schmerzen hielten ihn zurück. »Au. Audrey, was ist passiert? Haben sie sie bekommen? Haben sie ihre Seele geholt?«

Sie betrachtete ihre Brust, dann blickte sie zu Charlie auf, mit Tränen in den Augen. »Nein, Charlie. Ich bin’s.«

»Aber du hattest die CD doch schon mal angefasst, an diesem Abend in der Speisekammer. Wieso ist da nichts passiert?«

»Wahrscheinlich war ich noch nicht reif dafür.«

Charlie nahm ihre Hand und drückte sie, dann drückte er sie viel fester, als er wollte, weil eine Woge des Schmerzes über ihn hinwegging. »Gottverdammt!«, sagte er. Jetzt keuchte er und atmete, als würde er gleich hyperventilieren.

»Ich dachte, es wäre alles finster, Audrey. Das ganze spirituelle Zeug war mir unheimlich, aber du hast mich das Sehen gelehrt.«

»Das freut mich«, sagte Audrey.

»Es führt mich zu der Überlegung, dass ich mit einer Dichterin hätte schlafen sollen, um zu verstehen, wie sich die Welt in Worte destillieren lässt.«

»Ja, ich glaube, du hast die Seele eines Dichters, Charlie.«

»Außerdem hätte ich mit einer Malerin ins Bett gehen sollen, um den Schwung eines Pinselstrichs zu fühlen, um ihre Farben und Strukturen aufzusaugen und wirklich zu sehen.«

»Ja«, sagte Audrey und strich mit den Fingern durch sein Haar. »Du hast eine so wundervolle Phantasie.«

»Ich glaube«, sagte Charlie mit hoher Stimme, weil er immer angestrengter atmete, »ich hätte mit einer Wissenschaftlerin schlafen sollen, um zu begreifen, was die Welt im Innersten zusammenhält, um es selbst zu spüren.«

»Ja, damit du die Welt fühlen kannst«, sagte Audrey.

»Mit großen Titten«, fügte Charlie hinzu und bog vor Schmerz den Rücken durch.

»Natürlich, Baby«, sagte Audrey.

»Ich liebe dich, Audrey.«

»Ich weiß, Charlie. Ich dich auch.«

Und dann tat Charlie Asher, Betamännchen, Ehemann von Rachel, Bruder von Jane, Vater von Sophie (dem Luminatus, der den Tod beherrschte), Geliebter von Audrey, Totenbote und Händler feiner alter Kleider und Accessoires, seinen letzten Atemzug und starb.

Audrey blickte auf und sah Sophie ins Zimmer kommen. »Er ist gegangen, Sophie.«

Sophie legte eine Hand auf Charlies Stirn. »Bye, Daddy«, sagte sie.

Epilog

DIE MÄDCHEN

In die Stadt der Zwei Brücken kehrte wieder Ruhe ein, und alle finsteren Götter, die auferstanden waren, um über die Welt herzufallen, erinnerten sich daran, woher sie gekommen waren, und kehrten in die Domänen ihrer Unterwelt zurück.

Jane und Cassie gingen in einer schlichten Zeremonie den Bund der Ehe ein, der im Laufe der Jahre mehrmals aufgelöst und wieder bekräftigt wurde. Dennoch waren sie glücklich, und es wurde viel gelacht in ihrem Haus.

Sophie lebte bei ihren Tanten Jane und Cassandra. Sie wuchs heran und wurde eine große, schöne Frau und nahm schließlich ihren Platz als Luminatus ein, doch bis dahin ging sie zur Schule und spielte mit ihren Hündchen und amüsierte sich prächtig, während sie darauf wartete, dass ihr Daddy sie abholte.

DIE LADENHÜTER

Zwar hatte Minty Fresh stets an den Spruch geglaubt, dass jeder Augenblick eine Krise in sich birgt, doch war seine Sicht der Dinge eher akademischer Natur, bis er Lily Severo näher kennen lernte. Von da an wurde sie doch sehr real. Auf der Spannungsskala stieg das Leben ein paar Stufen aufwärts, bis die Sache mit dem Totenboten zum eher alltäglichen Teil seines Daseins wurde. Die beiden waren stadtbekannt: der Riese in Pastell, immer in Begleitung der kleinen Gruftiköchin, und die Stadt spitzte die Ohren und erwies ihnen die Ehre, als sie eine Jazz- amp;-Gourmet-Pizzeria in North Beach eröffneten, in dem Gebäude, in dem sich früher Ashers Secondhand befunden hatte.

Was Ray Macy angeht, so verkuppelte ihn Inspector Rivera mit einer Pfandleiherin namens Carrie Lang von der Fillmore. Zwischen den beiden funkte es sofort, da sie sowohl die Begeisterung für Detektivfilme und Schusswaffen, als auch ein abgrundtiefes Misstrauen der Menschheit gegenüber teilten. Ray verliebte sich Hals über Kopf und war ihr – seinem Betamännchenwesen entsprechend – treu wie ein Hund, obwohl er sie insgeheim immer in Verdacht hatte, eine Serienkillerin zu sein.

RIVERA

Inspector Alphonse Rivera versuchte sein Leben lang, sein Leben zu ändern. Er hatte in einem halben Dutzend verschiedener Polizeidezernate gearbeitet, in einem Dutzend unterschiedlicher Funktionen, und obwohl er ein sehr guter Cop war, machte er doch stets den Eindruck, als wollte er ausbrechen. Nach dem Debakel mit den Totenboten und den merkwürdigen, unerklärlichen Dingen, die in diesem Zusammenhang passierten, war er schlicht und einfach erschöpft. Es hatte eine kurze Zeit gegeben, in der er den Polizeidienst quittiert und ein Antiquariat für seltene Bücher geführt hatte, und es kam ihm vor, als wäre es die glücklichste Zeit in seinem Leben gewesen. Jetzt, mit neunundvierzig Jahren, war er bereit, es noch einmal zu versuchen: sich vorzeitig pensionieren zu lassen und einfach nur zu lesen und in der stillen, ereignislosen Welt der Bücher zu leben.

Daher freute er sich in gewisser Weise, als er zwei Wochen nach Charlie Ashers Tod zum Briefkasten ging und einen mittelgroßen Umschlag herausholte, bei dem es sich nur um ein Buch handeln konnte. Es war wie ein Omen, dachte er, als er sich an seinen Küchentisch setzte und das Päckchen öffnete. Er war ein Buch… sah aus wie ein seltenes, bizarres Kinderbuch. Er schlug es auf und blätterte zum ersten Kapitel. Jetzt bist Du also der Tod: Folgendes musst Du wissen.

DER KAISER

Der Kaiser erfreute sich einer glücklichen Wiedervereinigung mit seinen Truppen und herrschte bis ans Ende seiner Tage wohlwollend über San Francisco. Weil er Charlie in die Unterwelt geführt hatte – und ganz allgemein für seinen unbändigen Heldenmut – schenkte der Luminatus Bummer die Kraft und Strapazierfähigkeit eines Höllenhundes. Der Kaiser musste von nun an erklären, wieso sein mittlerweile pechschwarzer Gefährte, der selbst triefnass nicht mehr als dreieinhalb Kilo wog, schneller lief als ein Gepard und mit einem Bissen die Reifen von einem Toyota zerreißen konnte.

AUDREY

Audrey setzte ihre Arbeit im Buddhistischen Zentrum fort und schneiderte Kostüme für eine lokale Theatergruppe, aber sie arbeitete auch auf freiwilliger Basis für ein Hospiz, wo sie den Menschen auf die andere Seite hinüberhalf, wie sie es so lange im Tibet getan hatte. Die Arbeit im Hospiz ermöglichte ihr außerdem den Zugang zu Leichen, die kürzlich von ihren Seelen verlassen worden waren, und sie nutzte die Gelegenheit, die Hörnchenmenschen wieder in den Fluss von Geburt und Wiedergeburt einzufädeln. Eine Weile kam es zu bemerkenswerten Zwischenfällen, bei denen Menschen in der Stadt unheilbare Krankheiten überstanden, da sie das P’howa der Unsterblichkeit anwendete.

Ihre Arbeit mit den Hörnchenmenschen gab sie jedoch nie auf, denn es war eine Gabe, die sie sich im Laufe langer Jahre mit viel Arbeit angeeignet hatte, und sie konnte ausgesprochen befriedigend sein. So zumindest war Audrey zumute, als sie ihr neuestes Meisterstück im Meditationsraum des Buddhistischen Zentrums des Diamantwegs betrachtete.

Er hatte das Gesicht eines Krokodils, achtundsechzig spitze Zähne und Augen, die wie schwarze Glasperlen leuchteten. Seine Hände waren Raubtierklauen, die bösen, schwarzen Nägel mit getrocknetem Blut verkrustet. An den Füßen hatte er Schwimmhäute wie ein Wasservogel und Klauen, um Beute aus dem Schlamm zu stochern. Er trug einen roten Seidenrock, mit Zobel besetzt, dazu einen passenden Hut, auf dem mit Goldfaden ein großer Stern gestickt war.

»Es ist nur vorübergehend, bis wir jemanden gefunden haben«, sagte Audrey. »Aber glaub mir, du siehst klasse aus.«

»Nein, tu ich nicht. Ich bin nur vierzig Zentimeter groß.«

»Ja, aber ich hab dir einen dreißig Zentimeter langen Eumel verpasst.«

Er klappte seinen langen Mantel auf und sah an sich herab. »Wow! Das muss man gesehen haben«, sagte Charlie. »Schick.«

Hinweise des Autors undDanksagungen

Wie bei allen Büchern schulde ich sowohl denen Dank, die mich zu diesem Buch inspiriert haben, als auch denjenigen, die gewillt waren, handfest zur Recherche und Herstellung beizutragen.

Was die Inspiration betrifft, gilt mein Dank vor allem der Familie und den Freunden von Patricia Moss, die bereit waren, mich an ihren Gedanken und Gefühlen während Pats Heimgang teilhaben zu lassen. Außerdem danke ich den Hospizmitarbeitern in jeglicher Funktion, die tagtäglich ihr Leben und ihr Herz den Sterbenden und ihren Familien schenken.

Die Stadt San Francisco ist immer eine Inspiration, und ich danke ihren Bewohnern, dass sie mich in ihren Vierteln herumstrolchen ließen und sich meinen Witzen gegenüber verständnisvoll zeigten. Zwar habe ich versucht, das Gefühl der verschiedenen Stadtviertel darzustellen, aber ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, dass sich die tatsächlichen Orte im Buch – wie etwa Charlies Laden und das Buddhistische Zentrum des Diamantwegs – nicht an den angegebenen Adressen befinden. Sollten Sie es für unerlässlich halten, mir zu schreiben, um mich auf meine Ungenauigkeiten hinzuweisen, sähe ich mich gezwungen, hervorzuheben, dass man in North Beach auch keine riesigen, shampooschlürfenden Höllenhunde findet.

Ich bin nicht in die Kanalisation gestiegen, um sicherzugehen, dass die Details der Szenen stimmen, die dort stattfinden, vor allem WEIL ES DIE KANALISATION IST! San Francisco ist eine der wenigen Küstenstädte mit kombiniertem Abwasser- und Regensystem – ein Umstand, den ich in meiner Beschreibung der Unterwelt gänzlich ignoriert habe. Sollten Sie sich tatsächlich deshalb Gedanken machen, wie es dort unten in der Kanalisation aussieht – also – urks. Nehmen Sie mich einfach beim Wort, da unten könnte alles passieren, und machen Sie sich die Geschichte nicht selbst kaputt, indem Sie an Details kleben. Kind Gottes, es geht um ein Eichhörnchen im Ballkleid! Vergessen Sie die Sache mit den Gullys einfach.

Was weitere faktische Fauxpas angeht, so weiß ich nicht, ob man einem Kind tatsächlich den Kopf mit dem elektrischen Fensterheber eines 1957er Cadillac Eldorado abtrennen könnte. Ich fand es einfach nur cool und wollte es in diesem Buch verwenden. Bitte versuchen Sie es gar nicht erst.

Mein tief empfundener Dank geht an Monique Motil, auf deren erstaunlicher Kunstfertigkeit meine Idee für die Hörnchenmenschen beruht. Auf ihre Skulpturen, die sie als Sartorial Creatures bezeichnet, bin ich rein zufällig bei Paxton Gate gestoßen, einer Galerie im Mission District von San Francisco, und ich war dermaßen fasziniert von dieser makaberen Verschrobenheit, dass ich Monique schrieb und sie fragte, ob ich ihre Figuren in Ein todsicherer Job zum Leben erwecken dürfte. Was sie mir großzügigerweise erlaubte. Moniques Kunst lässt sich auf der Website http://www.moniquemotil.com/sartcre.html bewundern. Dort können Sie über ihre Nebenbeschäftigung als Zombie-Lounge-Sängerin (kein Witz) und ihre Leidenschaft nachlesen, den Zombies die sinnliche Würde zu verleihen, derer sich die Vampire bereits bei zombiepinups.com erfreuen.

Mein Dank gilt Betsy Aubrey für ihren Satz: »Ich mag meine Männer so wie meinen Tee. Schwach und grün«, was ich, als ich es hörte, unbedingt in einem Buch unterbringen musste. (Und danke auch Sue Nash, deren Tee tatsächlich schwach und grün war.)

Dafür dass er mir ein Notpaket mit Büchern über tibetischen Buddhismus und Phowa geschickt hat, als ich unter Druck kam und mir das Hintergrundwissen ausging, geht mein Dank an Rod Meade Sperry bei Wisdom Press.

Weil sie mich am Leben erhalten, danke ich meinem Agenten Nick Ellison und Abby Koons und Jennifer Cayea bei Nicholas Ellison Inc.

Außerdem danke ich meiner brillanten Lektorin Jennifer Brehl, die mich immer klüger dastehen lässt, ohne mir das Gefühl zu geben, blöd zu sein. Vielen Dank Michael Morrison, Lisa Gallagher, Mike Spradlin, Jack Womack, Leslie Cohen, Dee Dee DeBartolo und Debbie Stier, die sich allesamt den Glauben bewahrt und den Lesern meine Bücher unter die Nase gehalten haben.

Und wie üblich gilt mein Dank Charlee Rodgers sowohl für ihre Toleranz und ihr Verständnis während der Zeit, in der ich dieses Buch geschrieben habe, als auch für ihre außergewöhnliche Tapferkeit und ihr Mitgefühl bei der Pflege, als unsere beiden Mütter starben, was mit Sicherheit die Seele dieser Geschichte entscheidend geprägt hat.