P. L. TRAVERS

Mary Poppins kommt wieder

Berechtigte Übertragung aus dem Amerikanischen von Elisabeth Kessel Titel des Originals: Mary Poppins Comes Back Illustrationen von Emanuela Delignon.

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Cecilie Dressler Verlags, Berlin, für die Buchgemeinschaft Donauland, Wien, die Reinhard Mohn OHG Bertelsmann, Gütersloh, und den Europäischen Buch- und Phonoklub, Stuttgart Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die der Dramatisierung, Verfilmung, Funkübertragung und des Vortrags @ Copyright 1943 by P. L. Travers Schutzumschlag: Emanuela Delignon Einband: Antonia Enzenhofer Druck: Wiener Verlag, Wien

Mary Poppins kommt wieder

1. Kapitel. Der Drachen

Es war eine jener frühen Morgenstunden, wo die Welt so blank, so sauber und strahlend erscheint, als hätte man sie über Nacht frisch geputzt.

Im Kirschbaumweg blitzten die Fenster, als die Rolläden hochgingen, und die dünnen Schatten der Kirschbäume fielen in dunklen Streifen über die besonnte Straße. Kein Laut war zu hören, nur die Klingel des Eismannes, der mit seinem Karren hin und her fuhr.

»Bleib stehen und kauf eine Waffel« verkündete ein Plakat vorn an dem Karren. Kurz darauf bog ein Straßenfeger um die Ecke und hob winkend seine große Hand.

Der Eismann fuhr klingelnd zu ihm hin.

»Für 'n Penny«, sagte der Straßenfeger. Er blieb auf seinen Besen gestützt stehen, während er mit der Zungenspitze das Eis aus seiner Waffel leckte. Als er damit fertig war, wickelte er die tütenförmige Waffel in sein Taschentuch und steckte sie ein.

»Essen Sie keine Waffeltüten?« fragte der Eismann höchst überrascht.

»Nein. Ich sammle sie!« sagte der Straßenfeger. Und damit nahm er seinen Besen wieder auf und spazierte durch Admiral Booms vordere Gartenpforte, weil es einen Hintereingang nicht gab.

Der Eismann rollte seinen Karren weiter die Straße hinauf und klingelte; abwechselnd huschten Sonnen- und Schattenstreifen über seine dahinwandernde Gestalt.

»Hab's hier noch nie so ruhig gesehen«, murmelte er und hielt dabei, von rechts nach links blickend, Ausschau nach neuen Kunden.

Genau in diesem Augenblick erscholl aus Nummer siebzehn eine Stimme. Der Eismann eilte auf das Gitter zu, in der Hoffnung auf ein Geschäft.

»Ich halt das nicht aus! Ich halt das einfach nicht länger aus!« brüllte Mister Banks und stapfte wütend zwischen Haustür und Treppe hin und her.

»Was ist los?« erkundigte sich Mistreß Banks erschrocken und eilte aus dem Eßzimmer herbei. »Warum tobst du so in der Diele herum?«

Mister Banks holte mit dem Fuß aus, und etwas Schwarzes flog ein paar Stufen die Treppe hinauf.

»Mein Hut!« knirschte er zwischen den Zähnen. »Mein bester Ausgehhut!«

Er rannte die Treppe hinauf und beförderte ihn mit einem Fußtritt wieder hinunter. Der Hut trudelte über die Fliesen und landete vor Mistreß Banks' Füßen.

»Ist etwas nicht in Ordnung damit?« sagte Mistreß Banks nervös. Aber insgeheim fragte sie sich, ob vielleicht mit Mister Banks etwas nicht in Ordnung sei.

»Guck ihn dir an!« brüllte er.

Zitternd bückte sich Mistreß Banks und hob den Hut auf. Er war mit großen, glänzenden, klebrigen Flecken bedeckt und strömte, wie sie feststellte, einen merkwürdigen Geruch aus.

Sie schnüffelte an der Krempe.

»Das riecht doch wie Schuhwichse«, sagte sie.

»Es ist Schuhwichse«, erwiderte Mister Banks. »Robertson Ay hat meinen Hut mit der Schuhbürste behandelt — er hat ihn tatsächlich blank poliert.«

Mistreß Banks klappte vor Schreck die Kinnlade herunter.

»Ich weiß nicht, was über dieses Haus gekommen ist«, fuhr Mister Banks fort. »Nichts geht, wie es soll — seit Jahren nicht! Das Rasierwasser zu heiß, der Frühstückskaffee zu kalt. Und nun — auch das noch!«

Er riß Mistreß Banks seinen Hut aus der Hand und griff nach der Aktentasche. »Ich gehe!« sagte er. »Und ich weiß nicht, ob ich je wieder zurückkomme. Wahrscheinlich mache ich eine lange Seereise!«

Dann stülpte er sich den Hut auf den Kopf, schlug die Tür hinter sich zu und stürzte so rasch durchs Gartentor, daß er den Eismann über den Haufen rannte, der das Zwiegespräch mit höchstem Interesse verfolgt hatte.

»Das ist Ihre Schuld!« sagte Mister Banks schroff. »Sie haben kein Recht, hier zu stehen!« Und mit weit ausholenden Schritten wandte er sich der Stadt zu; sein polierter Hut glänzte wie ein Juwel in der Sonne.

Der Eismann stand vorsichtig auf, und nachdem er festgestellt hatte, daß seine Knochen noch alle heil waren, setzte er sich auf den Bordstein und tröstete sich mit einer großen Eiswaffel.

»Du meine Güte!« sagte Mistreß Banks, als sie die Tür zuschlagen hörte. »Es stimmt wahrhaftig. Nichts klappt mehr. Bald ist hier was los, bald dort. Seit Mary Poppins uns ohne Kündigung verlassen hat, geht alles schief.«

Sie setzte sich auf eine Stufe, zog ihr Taschentuch und schluchzte.

Und als sie so weinte, dachte sie an alles, was geschehen war, seit Mary Poppins so plötzlich und geheimnisvoll verschwand.

»Die eine Nacht noch hier und in der nächsten — fort, wie ärgerlich!« schluchzte Mistreß Banks.

Als erstes war ein Kindermädchen namens Green erschienen; es hatte sie am nächsten Wochenende wieder verlassen, weil Michael nach ihr gespuckt hatte. Die Nachfolgerin war eine Miß Brown, die eines Tages spazierenging und nicht wieder zurückkam. Erst einige Zeit später entdeckte man, daß sie alle Silberlöffel hatte mitgehen heißen.

Nach Miß Brown war Miß Quigley gekommen, die Hauslehrerin, der man hatte kündigen müssen, weil sie jeden Morgen vor dem Frühstück drei Stunden lang Tonleitern übte. Mister Banks machte sich nichts aus Musik.

»Und dann«, stöhnte Mistreß Banks in ihr Taschentuch, »bekam Jane die Masern, im Badezimmer platzte der Wasserspeicher, die Kirschbäume erfroren und ... «

»Ach bitte, Madam . . .!« Mistreß Banks blickte hoch und sah Mistreß Brill, die Köchin, vor sich stehen.

»In der Küche brennt's! Der Kamin!« verkündete Mistreß Brill düster.

»Um Himmels willen! Was jetzt?« rief Mistreß Banks. »Schnell, Sie müssen Robertson Ay rufen, zum Löschen. Wo steckt er?«

»Er schläft, Madam, im Besenschrank. Und wenn der einmal schläft, kann nichts ihn aufwecken — nicht einmal ein Erdbeben oder ein Regiment Trommler«, sagte Mistreß Brill, als sie hinter Mistreß Banks her die Küchentreppe hinabrannte.

Zu zweit brachten sie es fertig, das Feuer zu löschen, aber damit hörten für diesen Tag Mistreß Banks' Nöte noch lange nicht auf.

Sie hatten eben das Mittagessen beendet, als eine Treppe höher ein Krach ertönte, gefolgt von einem lauten Plumps.

»Was ist denn nun wieder los?« Mistreß Banks stürzte aus dem Zimmer, um nachzusehen, was es gab.

»Oh, mein Bein, mein Bein!« schrie Ellen, das Zimmermädchen.

Sie saß auf der Treppe, von zerbrochenem Geschirr umgeben, und stöhnte laut.

»Was ist mit dem Bein?« fragte Mistreß Banks scharf.

»Gebrochen«, wimmerte Ellen und lehnte sich ans Geländer.

»Unsinn, Ellen! Sie haben sich den Knöchel verstaucht, das ist alles!«

Aber Ellen stöhnte weiter.

»Ich hab mir das Bein gebrochen! Was mach ich nur?« jammerte sie immer wieder. In diesem Augenblick erscholl aus dem Kinderzimmer das gellende Geschrei der Zwillinge. Sie kämpften miteinander um den Besitz einer blauen Zelluloidente. Ihr schrilles Gezeter übertönte die Stimmen von Jane und Michael, die gerade Bilder an die Wand malten und darüber stritten, ob das grüne Pferd einen purpurfarbenen Schwanz bekommen sollte oder einen ziegelroten. Und den ganzen Lärm durchdrang unaufhörlich wie das Dröhnen einer Trommel das Gestöhn Ellens: »Ich hab mir das Bein gebrochen! Was mach ich nur?«

»Das«, sagte Mistreß Banks und rannte die Treppen hinauf, »das hat gerade noch gefehlt!«

Sie brachte Ellen ins Bett und machte ihr einen kalten Umschlag um den Knöchel. Dann ging sie hinüber ins Kinderzimmer.

Jane und Michael stürzten auf sie zu.

»Es muß doch einen ziegelroten Schwanz bekommen, nicht?« erkundigte sich Michael.

»Ach, Mutter! Das ist ja dumm! Kein Pferd hat einen ziegelroten Schwanz, oder doch?«

»Na, und welches Pferd hat denn einen purpurnen Schwanz? Kannst du mir das verraten?« schrie er.

»Das ist meine Ente!« kreischte John und riß Barbara die Ente aus der Hand.

»Meine, meine, meine!« brüllte Barbara und riß ihm die Ente wieder weg.

»Kinder, Kinder!« Mistreß Banks rang verzweifelt die Hände. »Seid still, oder ich werde verrückt!«

Einen Augenblick trat Ruhe ein, während alle gespannt auf die Mutter starrten. Wurde sie wirklich verrückt? fragte sie sich. Und was geschah dann?

»Nein«, sagte Mistreß Banks. »So benimmt man sich nicht. Die arme Ellen hat sich den Knöchel verstaucht, und es ist keiner mehr da, um auf euch aufzupassen. Ihr müßt in den Park hinüber und bis zum Tee dort spielen. Jane und Michael, gebt schön acht auf die beiden Kleinen! John, laß die Ente jetzt Barbara; du bekommst sie später, wenn du zu Bett gehst. Michael, du darfst deinen neuen Drachen mitnehmen. Nun holt eure Hüte, und fort mit euch!«

»Aber ich möchte mein Pferd fertigmalen . . .«, begann Michael zu maulen.

»Warum müssen wir in den Park?« beschwerte sich Jane. »Dort ist es so langweilig!«

»Weil ich endlich Ruhe haben muß!« sagte Mistreß Banks. »Wenn ihr jetzt weggeht und artige Kinder seid, gibt es Kokosnußmakronen zum Tee.«

Und bevor sie Zeit fanden, noch einmal aufzubegehren, hatte sie ihnen die Hüte aufgesetzt und schob sie die Treppe hinunter.

»Guckt erst nach beiden Seiten!« rief sie ihnen nach, als sie durchs Tor gingen. Jane schob den Kinderwagen mit den Zwillingen, und Michael trug seinen Drachen.

Die Kinder blickten nach rechts. Von dort kam nichts.

Sie blickten nach links. Dort war niemand, nur der Eismann, der am unteren Ende der Straße herumklingelte.

Jane eilte über die Straße.

Michael folgte ihr dicht auf dem Fuß.

»Ich hasse dieses Leben«, sagte er unglücklich zu seinem Drachen. »Immer geht alles schief.«

Jane schob den Kinderwagen bis zum Teich.

»Nun«, sagte sie, »gebt mir die Ente!«

Die Zwillinge kreischten und umklammerten krampfhaft ihr Spielzeug. Jane bog ihnen die Fingerchen auf.

»Guckt!« sagte sie und warf die Ente in den Teich. »Guckt, meine Herzchen, jetzt schwimmt sie nach Indien!«

Die Ente trieb auf dem Wasser davon. Die Zwillinge starrten ihr nach und schluchzten.

Jane rannte um den Teich herum, griff die Ente auf und schubste sie wieder ins Wasser.

»Jetzt«, sagte sie fröhlich, »ist sie auf dem Wege nach Southampton!«

Den Zwillingen schien es keinen Spaß zu machen.

»Jetzt geht's nach New York!« Die Zwillinge jammerten noch heftiger.

Jane zuckte ratlos die Achseln. »Michael, was machen wir bloß mit ihnen? Wenn wir ihnen die Ente geben, zanken sie sich darum, und tun wir's nicht, so heulen sie weiter.«

»Ich lasse den Drachen für sie steigen«, sagte Michael. »Guckt, Kinderchen, guckt!«

Er hielt den wundervollen gelbgrünen Drachen hoch und begann, die Schnur abzuwickeln. Die Zwillinge sahen mit tränenvollen Augen zu und zeigten keinerlei Interesse. Michael hob den Drachen über den Kopf und lief ein kleines Stück. Der Drachen flatterte einen Augenblick in der Luft und purzelte dann heimtückisch ins Gras.

»Versuch's noch mal!« sprach Jane ihm Mut zu.

»Halte du ihn hoch, während ich laufe«, sagte Michael.

Diesmal stieg der Drachen ein wenig höher. Aber als er in der Luft trieb, verfing sich sein langer, mit Papierstreifen besetzter Schweif in den Ästen einer Linde, und der Drachen baumelte hilflos zwischen den Zweigen.

Die Zwillinge jauchzten vor Wonne.

»Du meine Güte!« sagte Jane. »Nichts klappt heute!«

»Hallo, hallo, hallo! Was gibt's denn?« sagte hinter ihnen eine Stimme.

Sie drehten sich um und erblickten den Parkaufseher, der in seiner Uniform und seiner Schirmmütze sehr eindrucksvoll wirkte. Mit der Spitze seines Stocks spießte er die umherliegenden Papierfetzen auf. Jane zeigte mit dem Finger auf den Lindenbaum. Der Parkaufseher blickte hoch. Sein Gesicht wurde sehr ernst.

»Aber, aber! Ihr verletzt ja die Vorschriften. Wir dulden hier kein Gerümpel, das wißt ihr — weder auf der Erde noch auf den Bäumen. Das ist nicht gestattet.«

»Das ist kein Gerümpel. Das ist ein Drachen«, belehrte ihn Michael.

Ein milder, sanfter, törichter Ausdruck zeigte sich auf dem Gesicht des Parkaufsehers. Er trat an die Linde heran.

»Ein Drachen? Wahrhaftig! Und ich habe keinen Drachen mehr stei-gen lassen, seit ich ein kleiner Junge war!« Mit einem Sprung kletterte er in den Baum hinauf und kam, den Drachen zärtlich unterm Arm, wieder herunter.

»So«, sagte er aufgeregt, »nun wickeln wir die Schnur wieder auf, nehmen einen Anlauf und lassen ihn fliegen.« Er streckte die Hand nach der Spule aus.

Michael drückte sie heftig an sich.

»Besten Dank, aber ich möchte ihn selbst fliegen lassen.«

»Natürlich, aber ich darf dir doch dabei helfen, nicht wahr?« sagte der Parkaufseher bescheiden. »Wo ich doch für dich auf den Baum geklettert bin und keinen Drachen mehr hab steigen lassen, seit ich ein kleiner Junge war!«

»Na schön«, sagte Michael, denn er wollte nicht unfreundlich erscheinen.

»Ach, ich danke dir, ich danke dir!« rief der Parkaufseher fröhlich. »Jetzt nehme ich den Drachen und gehe zehn Schritte über den Rasen. Und wenn ich rufe >los<, dann fängst du an zu laufen. Verstanden?«

Der Parkaufseher entfernte sich und zählte dabei laut seine Schritte. »Acht, neun, zehn!«

Er machte kehrt und hob den Drachen über den Kopf. »Los!«

Michael begann zu laufen.

»Mehr Schnur geben!« brüllte der Parkaufseher.

Michael hörte hinter seinem Rücken ein sanftes Flattern. Er spürte einen Zug an der Schnur, als sich die Spule in seiner Hand drehte.

»Er fliegt!« rief der Parkaufseher.

Michael blickte zurück. Der Drachen segelte durch die Luft und stieg gleichmäßig. Höher und höher strebte er, ein winziger gelbgrüner Fleck, der sich im Blauen verlor. Dem Parkaufseher traten fast die Augen aus dem Kopf. »So was von Drachen hab ich noch nie gesehen. Selbst nicht als kleiner Junge«, murmelte er und starrte in die Höhe.

Ein lichtes Wölkchen zog über die Sonne und schwebte weiter am Himmel entlang. »Es treibt auf den Drachen zu«, flüsterte Jane aufgeregt.

Höher und höher stieg der unruhig schwänzelnde Drachen; wie ein Pfeil bohrte er sich in die Luft, bis er am Himmel nur noch als schwaches dunkles Pünktchen zu sehen war. Die Wolke trieb langsam auf ihn zu. Näher und näher!

»Weg ist er!« sagte Michael, als der Punkt hinter dem dünnen grauen Vorhang verschwand.

Jane stieß einen kleinen Seufzer aus. Die Zwillinge saßen friedlich in ihrem Kinderwagen. Eine seltsame Ruhe lag über ihnen allen. Die straff gespannte Schnur, die von Michaels Hand aufstieg, schien sie alle mit der Wolke zu verbinden und die Erde mit dem Himmel. Mit angehaltenem Atem warteten sie darauf, daß der Drachen wieder erschien.

Plötzlich konnte Jane es nicht länger aushalten.

»Michael«, schrie sie, »hol ein, hol ein!«

Sie legte die Hand auf die straff gespannte, zitternde Schnur.

Michael drehte den Stock und zog lang und heftig an der Schnur. Sie blieb straff und gab nicht nach. Wieder zog er, keuchend und schnaufend.

»Ich schaff's nicht«, sagte er. »Er kommt nicht.«

»Ich helfe!« sagte Jane. »Jetzt — zieh!«

Aber, sosehr sie sich auch anstrengten, die Schnur gab nicht nach, und der Drachen blieb hinter der Wolke versteckt.

»Laßt mich mal!« sagte der Parkaufseher wichtig. »Als ich ein Junge war, da machten wir es so!«

Er legte oberhalb von Janes Finger seine Hand auf die Schnur und zog kurz und scharf. Die Schnur schien ein wenig nachzugeben.

» Und jetzt — alle miteinander — zieht! « brüllte er.

Dem Parkaufseher fiel die Mütze vom Kopf, Jane und Michael stemmten ihre Füße fest ins Gras und zogen aus allen Kräften.

»Er kommt!« schnaufte Michael.

Plötzlich erschlaffte die Schnur; ein kleines wirbelndes Etwas schoß durch die graue Wolke und kam herabgesegelt.

»Winde die Schnur auf!« rief der Parkaufseher und warf Michael einen Blick zu.

Aber die Schnur wand sich schon von selbst um die Spule.

Langsam, ganz langsam kam der Drachen herunter, schlug Purzelbäume in der Luft und tanzte wild am Ende seiner zuckenden Schnur.

Jane japste plötzlich.

»Da ist etwas passiert!« schrie sie. »Das ist nicht unser Drachen. Es ist ein ganz anderer!«

Sie starrten hinauf.

Es war wirklich so. Der Drachen war nicht mehr gelbgrün. Er hatte die Farbe gewechselt und war jetzt marineblau. Er kam herunter, tanzend und hüpfend.

Plötzlich stieß Michael einen Schrei aus.

»Jane! Jane! Das ist gar kein Drachen. Es sieht aus wie — oh, es sieht aus wie —«

»Mach doch, Michael, schneller!« keuchte Jane. »Ich kann's kaum erwarten!«

Denn jetzt wurde über den höchsten Bäumen des Parkes das Gebilde am Ende der Drachenschnur deutlich. Keine Rede mehr von dem gelbgrünen Drachen! An seiner Stelle tanzte eine Gestalt, die ihnen bei aller Seltsamkeit dennoch bekannt vorkam, eine Gestalt, die einen blauen Mantel mit Silberknöpfen trug und einen mit Stiefmütterchen bekränzten Strohhut. Festgeklemmt unter dem Arm hatte sie einen Regenschirm mit einem Papageienkopf als Krücke; linker Hand baumelte eine braune

Plüschreisetasche, während die Rechte mit festem Griff das Ende der Drachenschnur hielt.

»Oh!« schrie Jane triumphierend. »Sie ist es!«

»Ich wußte es!« brüllte Michael; seine Hand zitterte beim raschen Aufwinden der Schnur.

»Seltsamer Vogel!« sagte der Parkaufseher und grinste. »Seltsamer Vogel!«

Immer näher segelte die merkwürdige Gestalt; ihre Füße streiften schon fast die Baumwipfel. Sie konnten jetzt ihr Gesicht erkennen und die wohlvertrauten Züge — kohlschwarzes Haar, blitzende blaue Augen und eine Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe. Als das letzte Stückchen Schnur sich um die Spule legte, glitt die Gestalt zwischen den Lindenbäumen zu Boden und setzte sauber aufs Gras auf.

Mit einem Schwung warf Michael die Drachenschnur weg und rannte drauflos, Jane eilig hinterher.

»Mary Poppins, Mary Poppins!« schrien sie durcheinander und stürzten auf sie zu.

Hinter ihnen krähten die Zwillinge wie Hähne in der Morgenfrühe, und der Parkaufseher machte abwechselnd den Mund auf und zu, als wollte er etwas sagen, fände aber nicht die richtigen Worte.

»Endlich! Endlich! Endlich!« brüllte Michael wie wild; er umklammerte ihren Arm, ihre Reisetasche, ihren Regenschirm, kurz, alles, was sich nur anfassen ließ, um sich zu überzeugen, daß sie es wirklich und leibhaftig war.

»Wir wußten, du würdest wiederkommen! Wir fanden deinen Brief mit dem >au revoir< am Ende!« rief Jane und warf ihre Arme um den blauen Mantel.

Ein befriedigtes Lächeln zuckte für einen Augenblick über Mary Poppins' Gesicht — vom Mund her, über die Stupsnase bis in die blauen Augen. Aber rasch verschwand es wieder.

»Ich wäre dir dankbar«, bemerkte sie und befreite sich aus Janes Händen, »wenn du dich daran erinnern wolltest, daß dies hier ein öffentlicher Park ist und kein Affenhaus. Was für ein Benehmen! Bin ich denn im Zoo? Und wo sind, wenn ich fragen darf, eure Handschuhe?«

Die Kinder prallten zurück und gruben in ihren Taschen.

»Hm! Zieht sie an, bitte.«

Zitternd vor Freude und Aufregung stopften Jane und Michael ihre Hände in die Handschuhe und setzten ihre Hüte auf.

Mary Poppins trat auf den Kinderwagen zu. Die Zwillinge glucksten vergnügt, als sie sie fester einwickelte und die Decke geradezog. Dann blickte sie sich um.

»Wer hat die Ente in den Teich geworfen?« erkundigte sie sich mit der strengen, unnahbaren Stimme, die alle so gut kannten.

»Ich war's«, sagte Jane. »Wegen der Zwillinge. Die Ente schwamm nach New York.«

»Na, dann hol sie mal wieder her!« sagte Mary Poppins. »Sie schwimmt nicht nach New York — wo immer das sein mag —, sondern nach Hause zum Tee.«

Nachdem sie ihre Reisetasche über den Griff des Kinderwagens hatte gleiten lassen, begann sie, die Zwillinge nach dem Ausgang zu schieben.

Der Parkaufseher, der plötzlich seine Stimme wiedergefunden hatte, stellte sich ihr in den Weg.

»Hören Sie mal«, sagte er und glotzte. »Ich muß einen Bericht machen. Es ist gegen alle Vorschriften. Geradewegs vom Himmel zu fallen, so wie Sie! Und woher, möchte ich gern wissen, woher?«

Er brach ab, denn Mary Poppins blickte an ihm hinauf und hinunter, auf eine Art, daß er sich weit weg wünschte.

»Wenn ich Parkaufseher wäre«, bemerkte sie kurz, »würde ich meine Mütze aufsetzen und mir den Rock zuknöpfen. Entschuldigen Sie.«

Und ihn hochnäsig zur Seite fegend, schob sie den Kinderwagen an ihm vorüber.

Mit rotem Kopf bückte sich der Aufseher, um seine Mütze aufzuheben. Als er wieder aufblickte, waren Mary Poppins und die Kinder bereits durch das Tor von Kirschbaumweg Nummer siebzehn verschwunden.

Er blickte verdutzt auf den Weg. Dann starrte er zum Himmel empor und danach wieder auf den Weg.

Er nahm die Mütze ab, kratzte sich den Kopf und setzte sie wieder auf.

»So was hab ich noch nicht erlebt!« sagte er kopfschüttelnd. »Nicht mal als kleiner Junge!« Und vor sich hin murmelnd ging er verstört davon.

»Ei, das ist ja Mary Poppins!« sagte Mistreß Banks, als sie in die Diele traten. »Wo kommen Sie denn her? Aus blauem Himmel?«

»Jawohl«, begann Michael vergnügt, »sie kam herunter am Ende einer . . .«

Er brach plötzlich ab, denn Mary Poppins hatte ihm einen ihrer fürchterlichen Blicke zugeworfen.

»Ich fand sie im Park, Madam«, sagte sie, sich an Mistreß Banks wendend, »und so brachte ich sie nach Haus.«

»Sie sind also gekommen, um zu bleiben?«

»Vorläufig, Madam.«

»Aber als Sie das letztemal hier waren, Mary Poppins, haben Sie mich ohne ein Wort der Kündigung verlassen. Woher soll ich denn wissen, daß Sie es diesmal nicht wieder tun?«

»Das können Sie nicht«, entgegnete Mary Poppins ungerührt.

Mistreß Banks sah reichlich verdutzt aus.

»Aber — aber, wollen Sie denn wirklich?« fragte sie unsicher.

»Ich kann's nicht sagen, Madam, wirklich nicht.«

»Ach!« sagte Mistreß Banks, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Aber ehe sie sich von ihrer Überraschung erholt hatte, hatte Mary Poppins schon ihre Reisetasche ergriffen und drängte die Kinder die Treppe hinauf.

Mistreß Banks, die ihnen nachblickte, hörte, wie die Tür zum Kinderzimmer sich leise schloß. Mit einem Seufzer der Erleichterung lief sie ans Telefon.

»Mary Poppins ist zurückgekommen!« rief sie glücklich in den Hörer.

»Ach wirklich?« sagte Mister Banks am anderen Ende. »Dann komm ich vielleicht auch.«

Und er hängte ab.

Eine Treppe höher zog Mary Poppins ihren Mantel aus. Sie hängte ihn an einen Haken hinter der Tür zum Kinderschlafzimmer. Dann legte sie den Hut ab und setzte ihn ordentlich auf einen der Bettpfosten.

Jane und Michael verfolgten die vertrauten Bewegungen. Alles an ihr war genauso wie immer. Sie konnten kaum noch glauben, daß sie jemals weg gewesen war.

Mary Poppins bückte sich und öffnete die Reisetasche.

Mit Ausnahme eines großen Thermometers war sie völlig leer.

»Wozu ist denn das?« fragte Jane neugierig.

»Für dich«, sagte Mary Poppins.

»Aber ich bin doch nicht krank«, protestierte Jane. »Es ist zwei Monate her, daß ich die Masern hatte.«

»Mund auf!« sagte Mary Poppins mit einer Stimme, vor der Jane schleunigst die Augen schloß und den Mund aufsperrte. Das Thermometer glitt hinein.

»Ich möchte wissen, wie du dich aufgeführt hast, während ich weg war«, bemerkte Mary Poppins streng. Dann nahm sie das Thermometer heraus und hielt es ans Licht.

»Unachtsam, gedankenlos und liederlich!« las sie ab.

Jane erstarrte.

»Hm!« sagte Mary Poppins und steckte Michael das Thermometer in den Mund. Er hielt es fest zwischen die Lippen geklemmt, bis sie es herauszog und ablas:

»Ein sehr geräuschvoller, mutwilliger und unruhiger Junge.«

»Das bin ich nicht«, sagte er aufgebracht.

Statt aller Antwort hielt sie ihm das Thermometer unter die Nase, und er entzifferte die großen roten Buchstaben.

»E—i—n s—e—h—r g—e—r-!«

»Siehst du wohl?« sagte Mary Poppins mit einem triumphierenden Blick. Sie öffnete John das Mäulchen und steckte das Thermometer hinein.

»Launisch und leicht aufgeregt.« Das war Johns Temperatur.

Und als Barbara gemessen war, las Mary Poppins folgende Worte ab: »Durch und durch verwöhnt.«

»Hm«, schnaufte sie. »Höchste Zeit, daß ich zurückkam.«

Dann steckte sie es schnell in ihren eigenen Mund, beließ es dort einen Augenblick und zog es heraus.

»Eine ausgezeichnete, höchst ehrenwerte Person, durchaus verläßlich in jeder Beziehung.«

Ein erfreutes und geschmeicheltes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie ihre Temperatur laut vorlas.

»Das dachte ich mir«, sagte sie, von sich selbst überzeugt.

Es dauerte ihrem Gefühl nach kaum mehr als eine Minute, bis die Kinder ihre Milch ausgetrunken und ihre Kokosnußplätzchen gegessen hatten, bis sie danach gebadet und wieder abgetrocknet waren. Wie üblich, geschah alles, was Mary Poppins tat, mit Blitzgeschwindigkeit. Haken und Ösen lösten sich wie von selbst, Knöpfe sprangen eifrig aus ihren Löchern, Schwamm und Seife glitten auf und ab wie geölt, und Handtücher trockneten ab ohne langes Rubbeln. Mary Poppins wanderte die Reihe der Betten entlang und steckte alle unter die Decken. Ihre gestärkte weiße Schürze knisterte, und sie roch höchst angenehm nach frisch geröstetem Toast.

Als sie an Michaels Bett kam, bückte sie sich und fuhrwerkte eine Weile darunter herum. Dann zog sie vorsichtig ein Feldbett hervor, auf dem ihre Habseligkeiten sorgfältig aufgestapelt lagen: das große Stück Sunlichtseife, die Zahnbürste, das Paket Haarnadeln, die Parfümflasche, der kleine, zusammenlegbare Armsessel, die Schachtel mit Hustenpastillen. Außerdem die sieben Flanellnachthemden, die vier baumwollenen, die Stiefel, die Dominosteine, die beiden Bademützen und das Postkartenalbum.

Jane und Michael setzten sich auf und staunten.

»Woher kommt das alles denn her?« fragte Michael. »Ich bin mindestens hundertmal unter mein Bett gekrochen, und ich weiß bestimmt, das war vorher nicht da.«

Mary Poppins antwortete nicht. Sie hatte angefangen, sich auszuziehen.

Jane und Michael wechselten heimliche Blicke. Sie wußten, es hatte keinen Zweck zu fragen, Mary Poppins erklärte nie etwas.

Sie nahm den gestärkten weißen Kragen ab und fingerte am Verschluß einer Kette herum, die sie um den Hals trug.

»Was ist denn da drin?« erkundigte sich Michael und blickte auf ein kleines goldenes Medaillon am Ende der Kette.

»Ein Bild.«

»Wessen Bild?«

»Das erfahrt ihr, wenn es an der Zeit ist — nicht eher«, versetzte sie kurz.

»Wann ist es Zeit?«

»Wenn ich weggehe.«

Sie starrten sie mit erschreckten Augen an.

»Aber, Mary Poppins«, schrie Jane, »du willst uns doch nicht wieder verlassen, oder doch? Ach bitte, sag nein!«

Mary Poppins warf ihr einen Blick zu.

»Ein schönes Leben wäre das für mich«, bemerkte sie, »wenn ich all meine Tage mit euch verbringen müßte!«

»Aber du bleibst, gelt?« setzte Jane ihr eifrig zu.

Mary Poppins ließ das Medaillon auf ihrer Handfläche tanzen.

»Ich bleibe, bis die Kette bricht«, erklärte sie kurz.

Und das Nachthemd über den Kopf streifend, begann sie, sich darunter auszuziehen.

»Dann ist alles in Ordnung«, flüsterte Michael zu Jane hinüber. »Ich hab gesehen, die Kette ist sehr stark!«

Er nickte ihr aufmunternd zu. Sie kuschelten sich in ihre Betten und sahen zu, wie Mary Poppins geheimnisvoll unter dem Zelt ihres Nachthemdes herumhantierte. Und sie dachten an den Abend ihrer ersten Ankunft im Kirschbaumweg und an all die seltsamen und wunderbaren Abenteuer, die sich danach ereignet hatten; wie sie an ihrem Schirm davongeflogen war, als der Wind umschlug; an die langen, trübseligen Tage ohne sie und daran, wie sie heute nachmittag auf so wunderbare Weise vom Himmel herabgestiegen war.

Plötzlich fiel Michael etwas ein. »Mein Drachen!« sagte er und setzte sich im Bett auf. »Den habe ich ganz vergessen! Wo ist mein Drachen?«

Mary Poppins' Kopf tauchte über dem Halsausschnitt ihres Nachthemds auf. »Drachen?« fragte sie unwirsch. »Welcher Drachen? Was für ein Drachen?«

»Mein gelbgrüner Drachen mit dem langen Schwanz. Der, mit dem du heruntergekommen bist, am Ende der Schnur.«

Mary Poppins starrte ihn an. Er hätte nicht sagen können, ob sie mehr erstaunt war oder mehr böse, aber sie sah aus, als wäre sie beides.

Und als sie sprach, war ihre Stimme noch fürchterlicher als ihr Blick.

»Hab ich recht gehört, du sagtest, daß . . .«, wiederholte sie die Worte langsam zwischen den Zähnen — »daß ich von irgendwo herunterkam und gar am Ende einer Schnur?«

»Aber so war's doch!« stotterte Michael. »Heute. Aus einer Wolke heraus. Wir haben dich gesehen.«

»Am Ende einer Schnur? Wie ein Affe, oder wie ein Brummkreisel? Ich, Michael Banks?«

In ihrer Wut schien Mary Poppins zu doppelter Größe anzuwachsen.

Sie schwebte in ihrem Nachthemd drohend über ihm, großmächtig und zornig, in Erwartung seiner Antwort.

Er zog hilfesuchend die Bettdecke über den Kopf.

»Sag ja nichts mehr, Michael!« wisperte Jane warnend aus ihrem Bett herüber. Aber er war zu weit gegangen, um noch einhalten zu können.

»Dann — wo ist dann mein Drachen?« sagte er vorwitzig. »Wenn du nicht herabgeschwebt bist auf — auf die Art, wie ich sagte —, wo ist dann mein Drachen? Er war nicht mehr am Ende der Schnur.«

»Oho! Und ich war's, nehme ich an?« fragte sie mit einem spöttischen Lachen.

Jetzt sah er ein, daß es keinen Zweck hatte, weiter zu gehen. Er konnte sich nicht deutlich genug ausdrücken. Also mußte er aufgeben.

»N . . . ein«, sagte er kleinlaut. »Nein, Mary Poppins.«

Sie drehte sich um und knipste das elektrische Licht aus.

»Eure Manieren«, bemerkte sie scharf, »sind auch nicht besser geworden, seit ich wegging! Am Ende einer Schnur, so was! Nie im Leben bin ich so beleidigt worden. Niemals!«

Und mit einer wütenden Armbewegung schlug sie ihre Bettdecke zurück, plumpste ins Bett hinein und zog die Decke bis über die Ohren.

Michael lag ganz still, fest in seine Bettdecke gewickelt.

»Und sie hat's doch getan. Wir haben's ja gesehen«, flüsterte er nach einer kleinen Weile zu Jane hinüber.

Aber Jane antwortete nicht. Statt dessen deutete sie nach der Tür des Kinderschlafzimmers.

Vorsichtig hob Michael den Kopf.

Hinter der Tür, an einem Haken, hing Mary Poppins' Mantel; die silbernen Knöpfe schimmerten im Schein des Nachtlichts. Und aus der Tasche hing eine Schnur mit Papierschnitzeln, die Schnur eines gelbgrünen Drachens.

Lange Zeit starrten sie unverwandt darauf hin.

Dann nickten sie sich zu. Sie wußten, es ließ sich nichts darüber sagen, denn bei Mary Poppins gab es Dinge, die sie niemals verstehen würden. Aber — sie war wieder da. Das war die Hauptsache. Ihr gleichmäßiger Atem drang vom Feldbett zu ihnen herüber. Sie fühlten sich friedvoll und glücklich und wohl aufgehoben.

»Ich hab nichts dagegen, Jane, wenn es einen purpurfarbenen Schwanz bekommt«, flüsterte Michael dann.

»Nein, Michael!« sagte Jane. »Ich glaube wirklich, ein ziegelroter wäre schöner.«

Danach wurde es still im Kinderzimmer, und nichts war mehr zu hören als der ruhige Atem der Schlafenden . ..

»P—p! P—p!« machte Mister Banks' Pfeife'.

»Klick, klick!« machten Mistreß Banks' Stricknadeln.

Mister Banks setzte seine Füße aufs Kamingitter in seinem Arbeitszimmer und schnarchte ein bißchen.

Nach einem Weilchen sprach Mistreß Banks.

»Hast du immer noch vor, eine lange Seereise zu machen?« fragte sie.

»Hm, ich glaube nicht. Ich werde zu leicht seekrank. Und mein Hut ist wieder ganz in Ordnung. Ich hab ihn vom Schuhputzer an der Ecke ganz und gar überpolieren lassen, und jetzt sieht er wieder aus wie neu. Sogar noch besser. Außerdem wird jetzt, wo Mary Poppins wieder da ist, mein Rasierwasser nicht mehr zu heiß sein.«

Mistreß Banks lächelte vor sich hin und strickte weiter.

Sie war recht froh darüber, daß Mister Banks ein schlechter Seefahrer und daß Mary Poppins wieder da war.

Unten in der Küche machte Mistreß Brill einen frischen Umschlag um Ellens Knöchel.

»Ich hab nicht viel von ihr gehalten, als sie damals hier war!« sagte Mistreß Brill. »Aber ich muß sagen, seit heute nachmittag ist dies hier ein anderes Haus geworden. So ruhig wie ein Sonntagmorgen und so sauber wie ein neues Nickelstück. Ich bin nicht traurig darüber, daß sie wieder da ist.«

»Ich auch nicht, wahrhaftig!« meinte Ellen dankbar.

»Und ich ebensowenig«, sagte Robertson Ay, der durch die Wand des Besenschranks die Unterhaltung belauschte. »Jetzt werd ich wieder ein bißchen mehr Ruhe haben.«

Er setzte sich auf dem umgestülpten Kohleneimer bequem zurecht und fiel, den Kopf an eine Bürste gelehnt, wieder in Schlaf.

Wie Mary Poppins darüber dachte, das erfuhr jedoch keiner, denn sie behielt ihre Gedanken für sich und erzählte keine m Menschen ein Wort.

2. Kapitel. Miß Andrews Lerche

Es war Sonntagnachmittag.

In der Diele des Kirschbaumweges Nummer siebzehn klopfte Mister Banks eifrig am Barometer herum und teilte Mistreß Banks mit, welches Wetter zu erwarten war. »Leichter Südwind; mittlere Temperatur; örtliche Gewitter; leicht bewegte See«, sagte er. »Weitere Entwicklung ungewiß. Hallo — was ist das?«

Er brach ab, denn über seinem Kopf ertönte ein bummsendes, wumm-sendes und plumpsendes Geräusch.

An der Treppenbiegung tauchte Michael auf, der höchst übel gelaunt und störrisch aussah, während er die Treppe herabpolterte. Hinter ihm, in jedem Arm einen Zwilling, erschien Mary Poppins; sie stieß ihm das Knie in den Rücken und beförderte ihn mit einem scharfen Schubs von einer Stufe zur nächsten. Jane folgte; sie trug die Hüte.

»Frisch begonnen, ist halb gewonnen. Hinunter mit dir, bitte«, sagte Mary Poppins streng.

Mister Banks wandte sich vom Barometer ab und blickte hoch, als sie auftauchten.

»Na, was ist denn los mit euch?« erkundigte er sich.

»Ich will nicht Spazierengehen! Ich will mit meiner neuen Eisenbahn spielen«, sagte Michael und schluchzte, als Mary Poppins' Knie ihn eine Stufe tiefer beförderte.

»Unsinn, mein Herz!« sagte Mistreß Banks. »Natürlich willst du. Spazierengehen macht lange und kräftige Beine.«

»Aber ich möchte lieber kurze Beine«, brummte Michael und stolperte schwer die nächste Stufe hinunter.

»Als ich ein kleiner Junge war«, sagte Mister Banks, »war ich wild aufs Spazierengehen. Ich ging mit meiner Erzieherin jeden Tag bis zum zweiten Laternenpfosten und zurück. Und ich brummte nie!«

Michael blieb stehen und blickte zweifelnd auf Mister Banks.

»Warst du überhaupt mal ein kleiner Junge?« fragte er, höchst überrascht.

Mister Banks schien schwer verletzt.

»Natürlich war ich das. Ein süßer kleiner Junge mit langen blonden Locken, kurzen Sammethosen und Knöpfstiefelchen.«

»Kaum zu glauben!« sagte Michael, der jetzt aus eigenem Antrieb die Treppe heruntersprang, um Mister Banks aus der Nähe anzustaunen.

Er konnte sich seinen Vater einfach nicht als kleinen Jungen vorstellen. Es schien ihm unfaßlich, daß Mister Banks jemals anders gewesen sein könnte als sechs Fuß hoch, gesetzten Alters und nahezu kahl.

»Wie hieß denn deine Erzieherin?« fragte Jane, die hinter Michael die Treppe herunterlief. »War sie nett?«

»Sie hieß Miß Andrew und war ein heiliger Schrecken!«

»Pschst!« machte Mistreß Banks vorwurfsvoll.

»Ich meine . . .«, verbesserte sich Mister Banks, »na, sie war — sie war — sehr streng. Und sie hatte stets recht. Und sie setzte jeden anderen gern ins Unrecht. Bis er sich wie ein Wurm fühlte. Ja, so war sie — Miß Andrew!«

Mister Banks wischte sich die Stirn beim bloßen Gedanken an diese Erzieherin.

Kling! Kling! Kling!

An der Vordertür klingelte es und widerhallte im ganzen Haus.

Mister Banks ging zur Tür und öffnete sie. Auf der Vordertreppe stand, sehr eindrucksvoll wirkend, ein Telegraphenbote.

»Dringendes Telegramm. Für Banks. Soll ich die Antwort gleich mitnehmen?« Er überreichte einen orangefarbenen Umschlag.

»Wenn's eine gute Nachricht ist, kriegen Sie sechs Pence«, sagte Mister Banks, während er das Telegramm aufriß und die Botschaft las. Sein Gesicht wurde bleich.

»Keine Antwort«, sagte er kurz.

»Und keine sechs Pence?«

»Bestimmt nicht!« sagte Mister Banks bitter. Der Telegraphenbote warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und ging bekümmert davon.

»Oh, was ist?« fragte Mistreß Banks, der aufging, daß es eine sehr schlechte Nachricht sein mußte. »Ist jemand krank?«

»Schlimmer«, sagte Mister Banks unglücklich.

»Haben wir unser Vermögen verloren?« Jetzt wurde auch Mistreß Banks blaß und unruhig.

»Noch schlimmer! Sagte das Barometer nicht Gewitter voraus? Und weitere Entwicklung ungewiß? Hör zu.«

Er glättete das Telegrammformular und las vor:

»Besuche euch für einen Monat. Ankomme heute fünfzehn Uhr. Bitte Schlafzimmer heizen. Euphemia Andrew.«

»Andrew? Aber das ist doch der Name deiner Erzieherin!« sagte Jane.

»Es ist meine Erzieherin«, sagte Mister Banks; er lief auf und ab und fuhr mit den Händen nervös durch den Rest seiner Haare. »Mit Vornamen hieß sie Euphemia. Und sie kommt heute nachmittag um drei!«

Er stöhnte laut auf.

»Das nenne ich doch keine schlechte Nachricht«, sagte Mistreß Banks sehr erleichtert. »Natürlich müssen wir das Fremdenzimmer herrichten, doch das macht nichts. Ich habe die gute alte Seele ...«

»Die gute alte Seele!« brüllte Mister Banks. »Du weißt nicht, wovon du sprichst. Gute alte... heiliger Bimbam! Warte ab, bis du sie siehst, sag ich bloß. Warte ab, bis du sie siehst!« Er griff nach Hut und Regenmantel.

»Aber, mein Lieber!« schrie Mistreß Banks, »du mußt hierbleiben und sie begrüßen. Es würde so unhöflich aussehen. Wo gehst du hin?«

»Irgendwohin. Überallhin. Sag ihr, ich bin tot!« entgegnete er bitter. Und damit eilte er aus dem Haus. Er sah außerordentlich nervös und niedergeschlagen aus.

»Meine Güte, Michael, wie kann sie denn sein?« fragte Jane.

»Neugier bringt selbst 'ne Katze um«, sagte Mary Poppins. »Setzt bitte eure Hüte auf!« Sie verstaute die Zwillinge im Kinderwagen und schob ihn den Gartenweg hinunter. Jane und Michael folgten ihr auf die Straße.

»Wo gehen wir heut hin, Mary Poppins?«

»Durch den Park und dem Neunzehner-Bus nach, die Hochstraße hinauf, über die Brücke und zurück durch die Eisenbahnunterführung«, sagte sie kurz.

»Wenn wir so gehen, wandern wir die ganze Nacht«, wisperte Michael, der mit Jane etwas zurückblieb. »Und wir verpassen Miß Andrew.«

»Sie bleibt doch einen ganzen Monat«, erinnerte ihn Jane.

»Aber ich möchte sie ankommen sehen«, beschwerte er sich; er zog die Füße nach und schlurfte über das Pflaster.

»Macht, bitte, ein bißchen schneller«, sagte Mary Poppins aufmunternd, »sonst denke ich, ich gehe mit zwei Schnecken spazieren.«

Doch als sie sie eingeholt hatten, ließ sie sie ganze fünf Minuten lang vor einem Fischgeschäft warten, während sie sich in der Schaufensterscheibe besah. Sie trug ihre neue weiße Bluse mit den roten Tupfen, und daher zeigte ihr Gesicht einen befriedigten Ausdruck, als sie ihr Spiegelbild begutachtete, das sich reizvoll von einem Hintergrund gebackener Fische abhob. Sie schob ihren Mantel ein wenig zurück, so daß etwas mehr von der Bluse zu sehen war, und dabei fand sie, daß Mary Poppins alles in allem noch niemals hübscher ausgesehen hatte. Selbst die gebackenen Fische, die ihre eigenen gebackenen Schwänze im Maul hielten, schienen sie aus runden, bewundernden Augen anzustarren.

Mary Poppins nickte leise geschmeichelt ihrem Spiegelbild zu und eilte davon. Sie hatten die Hochstraße hinter sich und schritten jetzt über die Brücke. Bald darauf kamen sie zur Unterführung, und Jane und Michael liefen eifrig vor dem Kinderwagen her und rannten die ganze Zeit über, bis sie beim Kirschbaumweg um die Ecke bogen.

»Da kommt ein Taxi«, schrie Michael begeistert. »Das muß Miß Andrew sein!« Sie blieben an der Ecke stehen und warteten auf Mary Poppins, während sie Miß Andrew im Auge behielten.

Ein Taxi kam langsam die Straße herabgefahren und hielt vor dem

Tor von Nummer siebzehn. Es keuchte und ratterte, als der Motor stoppte. Und das war kein Wunder, denn von den Reifen bis zum Dach war der Wagen schwer mit Gepäck beladen. Das Taxi selbst war kaum noch zu sehen unter all den Koffern auf dem Dach, den Koffern, die hinten angeschnallt waren, und den Koffern zu beiden Seiten.

Reisenecessaires und -körbe hingen halb zu den Fenstern heraus. Hutschachteln waren auf das Trittbrett geschnallt, und zwei große Schrankkoffer schienen neben und auf dem Fahrer zu liegen.

Endlich kroch der Fahrer unter ihnen hervor. Er stieg vorsichtig aus, als kletterte er einen steilen Berg hinunter, und öffnete die Tür.

Eine Schuhschachtel purzelte ihm entgegen, gefolgt von einem großen braunen Karton, und danach kamen ein Schirm und ein Spazierstock, die mit einer Schnur zusammengebunden waren. Schließlich fiel krachend eine kleine Waage vom Gepäckrost, die den Fahrer beinahe erschlagen hätte.

»Seien Sie vorsichtig! Vorsichtig!« ertönte aus dem Inneren des Taxis eine gewaltig trompetende Stimme. »Das Gepäck ist wertvoll!«

»Und ich bin auch wertvoll!« erwiderte der Fahrer; er sammelte seine Gebeine und rieb sich den Knöchel. »Das scheinen Sie vergessen zu haben.«

»Machen Sie Platz, machen Sie Platz! Ich komme 'raus!« ertönte die mächtige Stimme wieder.

Und gleich darauf erschien auf dem Trittbrett des Taxis der mächtigste Fuß, den die Kinder je gesehen hatten. Ihm folgte der beachtliche Rest von Miß Andrew.

Ein weiter Mantel mit Pelzkragen war um ihren Körper geschlungen, ein Männerfilzhut thronte auf ihrem Kopf, und von diesem Hut herab wehte ein langer, grauer Schleier.

Die Kinder krochen vorsichtig an der Hecke entlang und staunten die ungeheure Gestalt an, samt ihrer Hakennase, dem grimmigen Mund und den kleinen Augen, die wütend durch eine Brille stachen. Während sie mit dem Fahrer stritt, machte ihre Stimme die Kinder fast taub.

»Vier Shilling und drei Pence!« sagte sie. »Unverschämt! Für das Geld kann ich halbwegs rund um die Welt fahren. Das bezahle ich nicht! Ich werde Sie bei der Polizei anzeigen.«

Der Fahrer zuckte die Achseln. »Es ist der Tarif«, sagte er ruhig. »Wenn Sie lesen können, es steht auf dem Taxameter. Sie können nicht umsonst Taxi fahren, nicht mit dieser Masse Gepäck.«

Miß Andrew knurrte, und ihre Hand tief in ihre große Tasche tauchend, brachte sie eine sehr kleine Börse zum Vorschein. Sie überreichte dem Fahrer eine Münze. Der Fahrer blickte darauf nieder und drehte sie in der Hand um und um, als hielte er sie für eine Kuriosität. Dann lachte er grob.

»Soll wohl das Trinkgeld sein?« bemerkte er sarkastisch.

»Gewiß nicht. Es ist Ihr Fahrgeld. Ich bin nicht für Trinkgeld«, sagte Miß Andrew.

»Sie nicht!« sagte der Fahrer und starrte sie an.

Und insgeheim dachte er: >Genug Gepäck, um den halben Park zu füllen, und sie ist nicht für Trinkgelder — dieser Geizkragen.<

Aber das ließ er Miß Andrew nicht hören. Die Kinder waren am Tor angelangt, und sie drehte sich um, um sie zu begrüßen; ihr Fuß dröhnte auf dem Pflaster, und der Schleier wehte hinter ihr her.

»Na?« sagte sie brummig. »Ihr wißt wohl nicht, wer ich bin?«

»O doch!« sagte Michael. Er sprach in seinem freundlichsten Ton, denn er freute sich sehr, Miß Andrew kennenzulernen. »Sie sind der >Heilige Schrecken<!«

Von Miß Andrews Nacken stieg es dunkelrot auf und überflutete ihr Gesicht.

»Du bist ein sehr frecher, ungezogener Junge. Ich werde das deinem Vater erzählen!«

Michael sah überrascht aus. »Ich wollte nicht frech sein«, begann er. »Vater hat das . . .«

»Pst, schweig! Untersteh dich nicht, mit mir zu streiten!« sagte Miß Andrew. Sie wandte sich Jane zu. »Und du bist Jane, nehme ich an? Hm. Ich mache mir nichts aus dem Namen.«

»Guten Tag!« sagte Jane höflich, aber sie dachte im stillen, daß sie sich aus dem Namen Euphemia auch nichts machte.

»Dein Kleid ist viel zu kurz!« trompetete Miß Andrew. »Und du solltest Strümpfe tragen. Zu meiner Zeit liefen kleine Mädchen nicht mit nackten Beinen herum. Ich werde mit deiner Mutter reden.«

»Ich kann Strümpfe nicht leiden«, sagte Jane. »Ich trage sie nur im Winter.«

»Sei nicht vorlaut! Kinder darf man sehen, aber nicht hören«, sagte Miß Andrew. Sie beugte sich über den Kinderwagen und zwickte zur Begrüßung die Zwillinge in die Backen. John und Barbara begannen sofort zu schreien.

»Ts-ts! Was für Manieren!« rief Miß Andrew aus. »Fenchelsirup und Lebertran, das brauchen sie!« fuhr sie zu Mary Poppins gewandt fort. »Kein richtig gepflegtes Kind schreit so. Fenchelsirup und Lebertran. Und das reichlich. Vergessen Sie's nicht!«

»Danke, Madam«, sagte Mary Poppins mit eisiger Höflichkeit. »Aber ich pflege die Kinder auf meine Weise aufzuziehen und lasse mir von niemandem hineinreden.«

Miß Andrew erstarrte. Sie sah aus, als traute sie ihren Ohren nicht.

Mary Poppins starrte zurück, ruhig und unerschrocken.

»Junge Dame!« sagte Miß Andrew und richtete sich zu ihrer vollen

Höhe auf. »Sie vergessen sich. Wie können Sie sich unterstehen, mir so zu antworten! Ich werde dafür sorgen, daß Sie aus dem Haus fliegen. Merken Sie sich das!«

Sie stieß das Tor auf und stürzte den Gartenweg hinauf; ein unausgesetztes »Ts-ts« ausstoßend, schwenkte sie wütend einen runden, mit einem karierten Tuch bedeckten Gegenstand in der Hand.

Mistreß Banks kam aus dem Haus gerannt, um sie zu begrüßen.

»Willkommen, Miß Andrew, willkommen!« sagte sie höflich. »Wie lieb von Ihnen, uns zu besuchen. Welch unerwartetes Vergnügen! Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise.«

»Eine scheußliche. Ich hasse das Reisen«, sagte Miß Andrew. Sie blickte sich gereizt und scharfäugig im Garten um.

»Schrecklich verwahrlost!« bemerkte sie verächtlich. »Lassen Sie sich raten und graben Sie diese Dinger unter . . .« Sie deutete auf die Sonnenblumen. »Pflanzen Sie statt dessen Immergrün. Viel weniger Arbeit. Spart Zeit und Geld. Und sieht ordentlich aus. Besser wäre allerdings überhaupt kein Garten. Nur ein glatter, zementierter Hof.«

»Aber«, widersprach Mistreß Banks sanft, »ich habe Blumen so gern!«

»Lächerlich! Glatter Unsinn! Sie sind ein törichtes Weib. Und Ihre Kinder sind sehr schlecht erzogen — besonders der Junge.«

»O Michael, ich muß mich wundern! Warst du frech zu Miß Andrew? Du mußt dich sofort entschuldigen.« Mistreß Banks wurde langsam merklich nervös und unsicher.

»Nein, Mutter, ich war nicht frech. Ich wollte nur . . .« Er begann zu erklären, aber Miß Andrews laute Stimme fiel ein.

»Er hat mich schwer beleidigt«, beteuerte sie. »Er muß sofort in eine Erziehungsanstalt geschickt werden. Und das Mädchen braucht eine Erzieherin. Ich selbst werde eine aussuchen. Und was die junge Person betrifft, die sie zur Zeit beaufsichtigt« — sie deutete mit einem Nicken auf Mary Poppins —, »der müssen Sie auf der Stelle kündigen. Sie ist frech, unfähig und völlig unzuverlässig.«

Mistreß Banks war sichtlich entsetzt. »Oh, Sie irren sich bestimmt, Miß Andrew! Wir halten sie geradezu für ein Juwel.«

»Davon verstehen Sie nichts. Ich irre mich nie! Kündigen Sie ihr!«

Miß Andrew fegte weiter über den Gartenpfad.

Mistreß Banks eilte hinter ihr her; sie sah sehr beunruhigt und aufgeregt aus.

»I — ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohl fühlen, Miß Andrew!« versicherte sie höflich. Aber innerlich zweifelte sie schon daran.

»Hm. Mit dem Haus ist es nicht weit her«, entgegnete Miß Andrew. »Es ist in einem fürchterlichen Zustand. Überall fällt der Putz ab, er ist schon ganz bröcklig. Sie müssen einen Maurer holen lassen. Und werden diese Steinstufen hier jemals gewaschen? Sie sind reichlich dreckig.«

Mistreß Banks biß sich auf die Lippen. Miß Andrew verwandelte ihr reizendes, bequemes Haus in eine gemeine und schäbige Bude, und das machte sie sehr unglücklich.

»Sie werden morgen gescheuert«, sagte sie kleinlaut.

»Warum nicht heute?« fragte Miß Andrew. »Das wäre doch viel richtiger. Und warum ist Ihre Haustür weiß gestrichen? Dunkelbraun — so gehört sich's für eine Tür. Es ist billiger und läßt den Schmutz nicht so sehen. Sehen Sie nur diese Flecken!«

Sie setzte den runden Gegenstand nieder und deutete mit den Fingern auf die Flecken an der Haustür.

»Hier! Und hier! Und hier! Überall! Es ist eine Schande!«

»Ich werde sofort dafür sorgen . . . « , sagte Mistreß Banks schwach. »Wollen wir jetzt nicht nach oben in Ihr Zimmer gehen?«

Miß Andrew stampfte hinter ihr her in die Diele.

»Ich hoffe, es brennt ein Feuer im Kamin.«

»Gewiß doch. Ein schönes Feuerchen. Hier geht's entlang, Miß Andrew. Robertson Ay bringt Ihnen gleich Ihr Gepäck.«

»Schön, sagen Sie ihm aber, er soll vorsichtig damit umgehen. Die Koffer stecken voller Medizinflaschen. Ich muß sehr auf meine Gesundheit achten!« Miß Andrew bewegte sich auf die Treppe zu. Sie blickte in der Diele umher.

»Die Wände müssen neu tapeziert werden. Ich werde mit George darüber sprechen. Warum war er zu meiner Begrüßung nicht hier, das möcht ich gern wissen? Sehr unhöflich von ihm. Seine Manieren sind, wie ich sehe, nicht besser geworden.«

Die Stimme wurde ein bißchen leiser, als Miß Andrew Mistreß Banks die Treppe hinauf folgte. Von fern konnten die Kinder die schwache Stimme ihrer Mutter hören, die kleinlaut in alles einwilligte, was Miß Andrew wünschte.

Michael wandte sich an Jane.

»Wer ist George?« erkundigte er sich.

»Vati.«

»Aber der heißt doch Mister Banks.«

»Gewiß, aber sein Vorname ist George.«

Michael seufzte auf.

»Ein Monat ist eine schrecklich lange Zeit, Jane, wie?«

»Jawohl — vier Wochen und etwas mehr«, sagte Jane in dem Gefühl, daß ein Monat mit Miß Andrew ihr wie ein Jahr vorkommen würde.

Michael rückte näher.

»Hör mal. . .«, begann er ängstlich zu flüstern, »das kann sie doch nicht durchsetzen, daß Mary Poppins fortgeschickt wird, oder doch?«

»Nein, ich glaube nicht. Aber sie ist sehr merkwürdig. Ich wundere mich nicht mehr, daß Vati davonlief.«

»Merkwürdig!«

Das Wort knallte hinter ihrem Rücken wie ein Schuß.

Sie fuhren herum. Mary Poppins verfolgte Miß Andrew mit einem Blick, der sie hätte töten können.

»Merkwürdig!« wiederholte sie und zog nachdrücklich die Luft durch die Nase. »Das ist nicht die richtige Bezeichnung für sie. Hmpf! Ich versteh also nichts von Kindererziehung? Ich bin frech, unfähig und völlig unzuverlässig? Das werden wir ja sehen!«

Jane und Michael waren bei Mary Poppins an Drohungen gewöhnt, aber heute war ein Klang in ihrer Stimme, wie sie ihn noch nie zuvor gehört hatten. Sie starrten sie schweigend an und fragten sich, was nun wohl geschehen würde.

Ein zarter Laut, halb Seufzen, halb Pfeifen, schwang durch die Luft.

»Was war das?« fragte Jane rasch.

Der Laut kam wieder, diesmal ein bißchen deutlicher. Mary Poppins hob den Kopf und lauschte. Abermals ertönte ein leises Zirpen, anscheinend von der Türschwelle her.

»Aha!« rief Mary Poppins triumphierend. »Das hätt ich mir denken können!«

Und mit einer plötzlichen Bewegung sprang sie zu dem runden Gegenstand hin, den Miß Andrew hatte stehenlassen, und riß die Decke ab.

Darunter befand sich ein messingner Vogelkäfig, sehr sauber und glänzend. An dem einen Ende seiner Stange saß, in seine Flügel gekuschelt, ein hellbraunes Vögelchen. Es zwinkerte ein bißchen, als die Nachmittagssonne ihm in die Augen, fiel. Dann blickte es mit runden dunklen Augen besorgt rundum. Sein Blick fiel auf Mary Poppins, und in plötzlichem Wiedererkennen öffnete es den Schnabel und stieß ein trauriges, heiseres, kleines Zirpen aus. Jane und Michael hatten nie einen so unglücklichen Laut vernommen.

»Hat sie das wirklich getan? Ts-ts-ts! Was du nicht sagst!« nickte Mary Poppins ihm mitfühlend zu.

»I schirp — irrup!« zirpte der Vogel und schüttelte niedergeschlagen die Schwingen.

»Was? Zwei Jahre? In diesem Käfig? Sie soll sich was schämen!« sagte Mary Poppins zu dem Vögelchen, und ihr Gesicht wurde rot vor Ärger.

Die Kinder staunten. Der Vogel sprach in keiner ihnen bekannten Sprache, und dennoch unterhielt sich Mary Poppins mit ihm, als verstünde sie jedes Wort.

»Was sagt er ...?« begann Michael.

»Pst!« sagte Jane und kniff ihn, um ihn ruhig zu halten, in den Arm.

Sie starrten schweigend auf den Vogel. Er hüpfte auf seiner Stange ein wenig näher zu Mary Poppins hin und sang ein paar Töne mit leiser, fragender Stimme.

Mary Poppins nickte. »Ja, natürlich kenne ich das Feld. Hat sie dich dort gefangen?«

Der Vogel nickte. Dann schlug er ein paar rasche Triller, was sich wie eine Frage anhörte.

Mary Poppins dachte einen Augenblick nach. »Nein«, sagte sie. »Es ist nicht sehr weit. Du könntest es in einer Stunde schaffen. Wenn du von hier nach Süden fliegst.«

Der Vogel schien froh. Er hüpfte ein wenig auf seiner Stange und schlug aufgeregt mit den Flügeln. Dann ertönte sein Gesang aufs neue; ein Strom runder, klarer Töne entquoll seiner Kehle, während er Mary Poppins bittend ansah.

Sie wandte den Kopf und blickte vorsichtig die Treppe hinauf.

»Soll ich? Was hältst du davon? Hast du gehört, wie sie mich eine >junge Dame< nannte? Mich!?« Sie schnaubte verächtlich.

Die Schultern des Vogels zuckten, als lachte er.

Mary Poppins beugte sich nieder.

»Was machst du denn da, Mary Poppins?« rief Michael, unfähig, sich noch länger zu beherrschen. »Was ist das für ein Vogel?«

»Eine Lerche!« sagte Mary Poppins kurz und drehte den Riegel an der kleinen Tür. »Zum erstenmal seht ihr hier eine Lerche im Käfig — und zum letztenmal!« Bei diesen Worten flog die Tür des Käfigs auf. Flatternd entwischte die Lerche und ließ sich mit einem schrillen Schrei auf Mary Poppins' Schulter nieder.

»Hmpf!« sagte sie und wandte den Kopf. »So ist's doch besser, sollte ich meinen.«

»I schirr-rupp!« bestätigte die Lerche mit einem Nicken.

»Na, dann mach, daß du wegkommst«, warnte Mary Poppins. »Sie wird gleich wieder da sein.«

Daraufhin ließ die Lerche ihrer Kehle eine Flut perlender Töne entströmen, winkte ihr mit den Flügeln zu und verbeugte sich wieder und immer wieder.

»Aber, aber«, brummte Mary Poppins. »Danke mir nicht. Es hat mir Spaß gemacht, das zu tun. Ich kann keine Lerche im Käfig sehen! Außerdem hast du ja gehört, wie sie mich genannt hat!«

Die Lerche warf den Kopf zurück und flatterte mit den Flügeln. Sie schien herzlich zu lachen. Dann legte sie den Kopf auf die Seite und lauschte.

»Ach, das hab ich ganz vergessen!« ertönte eine Trompetenstimme von oben. »Ich habe Caruso draußen gelassen. Auf diesen schmutzigen Stufen. Ich muß ihn holen.«

Miß Andrews schwerer Tritt dröhnte auf der Treppe.

»Was?« rief sie zurück, wohl als Antwort auf eine Frage von Mistreß Banks. »Ach, es ist meine Lerche, meine Lerche Caruso! Ich nenne sie so, weil sie früher ein so wunderbarer Sänger war. Was? Nein, sie singt jetzt nicht mehr, seit ich sie auf dem Feld gefangen und in einen Käfig gesteckt habe. Ich weiß gar nicht, warum.«

Die Stimme näherte sich und wurde im Näherkommen immer lauter.

»Bestimmt nicht!« rief sie zu Mistreß Banks zurück. »Ich hole sie selbst. Ich vertraue sie diesen frechen Kindern nicht an. Ihr Geländer müßte frisch poliert werden. Das sollte gleich geschehen.«

Trapp — trapp. Trapp — trapp. Feste Schritte dröhnten durch die Diele.

»Da kommt sie!« zischte Mary Poppins. »Fort mit dir!« Sie schüttelte ein wenig die Schulter.

»Schnell!« rief Michael angstvoll.

»Beeil dich!« drängte Jane.

Mit einer raschen Bewegung duckte die Lerche den Kopf und zupfte sich mit dem Schnabel eine Schwungfeder aus.

»Tschirr — tschirr — tschirr — irrup!« zwitscherte sie und steckte die Feder hinter das Band von Mary Poppins' Hut. Dann breitete sie die Flügel aus und schwang sich in die Luft.

Im gleichen Augenblick erschien Miß Andrews in der Tür.

»Was?« rief sie, als sie Jane und Michael und die Zwillinge erblickte. »Noch nicht im Bett? Das geht nicht! Alle gut erzogenen Kinder.. .«, sie blickte Mary Poppins vorwurfsvoll an, »sollten um fünf Uhr im Bett sein. Ich spreche bestimmt mit eurem Vater darüber.« Sie blickte sich um.

»Nun, laßt mal sehen. Wo habe ich meine . . .« Sie brach plötzlich ab. Der aufgedeckte Käfig mit seiner offenen Tür stand vor ihren Füßen. Sie starrte hinunter, als könnte sie ihren Augen nicht trauen.

»Wie? Wann? Wo? Was? Wer?« stammelte sie. Dann fand sie ihre volle Stimme wieder. »Wer hat die Decke abgenommen?« donnerte sie. Die Kinder zitterten bei diesem Getöse. »Wer hat den Käfig geöffnet?«

Keine Antwort.

»Wo ist meine Lerche?«

Immer noch blieb alles stumm; Miß Andrew starrte ein Kind nach dem andern an. Schließlich fiel ihr anklagender Blick auf Mary Poppins.

»Sie waren es!« brüllte sie und deutete mit ihrem großen Finger auf sie. »Das sehe ich Ihnen an der Nasenspitze an! Was unterstehen Sie sich! Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch heute nacht das Haus verlassen — mit Sack und Pack! Sie vorlaute, freche, unwürdige . . .«

»Tschirp — irrup!«

Aus der Luft kam ein kleiner Lachtriller. Miß Andrew blickte hoch. Die Lerche wiegte sich auf leichten Schwingen, dicht über den Sonnenblumen.

»Ach, Caruso — da bist du ja!« rief Miß Andrew. »Na, komm schon! Laß mich nicht warten. Komm zurück in deinen hübschen, sauberen Käfig, Caruso, und laß mich das Türchen schließen!«

Aber die Lerche blieb in der Luft hängen und ließ ihre Lachtriller steigen; sie warf den Kopf zurück und klatschte mit den Flügeln.

Miß Andrew bückte sich, ergriff den Käfig und hielt ihn hoch über ihren Kopf.

»Caruso — was hab ich gesagt? Sofort kommst du zurück!« befahl sie und schwang lockend den Käfig. Aber Caruso witschte daran vorbei und streifte Mary Poppins' Hut.

»Tschirp — irrup!« sagte er im Vorbeisausen.

»Ganz recht«, nickte Mary Poppins zur Antwort.

»Caruso, hast du gehört?« rief Miß Andrew. Aber schon klang eine leichte Bestürzung durch ihre Stimme. Sie setzte den Käfig hin und versuchte, die Lerche mit den Händen zu fangen. Doch die wich aus, flatterte an ihr vorbei und stieg mit einem Flügelschlag höher in den Himmel. Ein rasches Gezwitscher strömte zu Mary Poppins hernieder.

»Fertig!« rief sie zurück.

Und dann passierte etwas Seltsames.

Mary Poppins heftete ihre Augen auf Miß Andrew, und Miß Andrew, von dem merkwürdigen, dunklen Blick plötzlich gebannt, begann zu zittern. Sie tat einen kleinen Seufzer, stolperte unsicher vorwärts und stürzte schließlich in ungestümer Wut zum Käfig hin. Dann — wurde etwa Miß Andrew kleiner oder wuchs der Käfig? Jane und Michael hätten es nicht zu sagen vermocht. Sie wußten nur eines genau, daß sich nämlich die Käfigtür mit leisem Klicken hinter Miß Andrew schloß.

»Oh, oh, oh!« schrie sie, als die Lerche niederstieß und den Käfig am Tragring ergriff.

»Was ist los? Wohin soll ich denn?« schrie Miß Andrew, als sich der Käfig in die Luft erhob.

»Ich hab ja keinen Platz, mich zu bewegen! Ich kann kaum atmen!« rief sie.

»Caruso konnte es auch nicht!« sagte Mary Poppins ungerührt.

Miß Andrew rüttelte an den Stäben des Käfigs.

»Macht auf! Macht auf! Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!«

»Hmpf. Schwerlich«, sagte Mary Poppins mit leiser spöttischer Stimme.

Weiter und weiter flog die Lerche, höher und höher stieg sie mit fröhlichem Zwitschern. Und der schwere Käfig mit Miß Andrew darin schwankte, von der Vogelklaue herabbaumelnd, gefährlich in der Luft hin und her.

Durch den klaren Lerchengesang hindurch hörten sie Miß Andrew gegen die Käfigstäbe hämmern und schreien:

»Ich mit meiner guten Erziehung! Ich, die immer recht hatte! Ich, die sich niemals irrte. Mir muß so etwas passieren!«

Mary Poppins stieß ein seltsames, zufriedenes kleines Lachen aus.

Die Lerche sah jetzt schon ganz winzig aus, aber immer noch stieg sie kreisend höher und sang laut und triumphierend. Und immer noch kreisten Miß Andrew und ihr Käfig schwerfällig unter ihr, rollend und stampfend wie ein Schiff im Sturm.

»Laßt mich 'raus, sag ich! Laßt mich 'raus!« Kreischend tönte ihre Stimme durch die Luft.

Plötzlich änderte die Lerche ihre Richtung. Ihr Gesang verstummte einen Augenblick, als sie seitwärts abbog. Dann setzte er wieder ein, wild und klar, als sie, den Tragring des Käfigs aus den Klauen lassend, der Sonne zuflog.

»Weg ist sie!« sagte Mary Poppins.

»Wohin?« riefen Jane und Michael.

»Nach Hause — zu ihren Wiesen«, erwiderte sie und blickte hoch.

»Aber sie hat den Käfig fallen lassen!« sagte Michael und staunte.

Und dazu hatte er allen Grund, denn der Käfig kam jetzt herabgesaust, taumelnd und schwankend und sich immer wieder überschlagend. Sie konnten Miß Andrew deutlich erkennen; bald stand sie auf dem Kopf, bald auf den Füßen, je nachdem der Käfig sich in der Luft drehte. Tiefer, immer tiefer fiel er, schwer wie ein Stein, und schließlich landete er mit einem Plumps auf der obersten Treppenstufe.

Schäumend vor Wut stieß Miß Andrew die Tür auf. Und als sie herauskam, schien sie Jane und Michael ebenso groß wie zuvor und beinahe noch schrecklicher.

Einen Augenblick stand sie da, keuchend, unfähig zu sprechen, mit einem Gesicht, noch röter als zuvor.

»Wie können Sie es wagen!?« flüsterte sie heiser und deutete mit einem zitternden Finger auf Mary Poppins. Aber Jane und Michael entdeckten, daß ihre Augen nicht mehr zornig blickten, sondern angstvoll.

»Sie — Sie!« stammelte Miß Andrew mit trockener Kehle. »Sie grausame, unhöfliche, unfreundliche, verdorbene, halsstarrige Person — wie konnten Sie nur, wie konnten Sie nur!«

Mary Poppins sah ihr fest ins Auge. Mit halbgeschlossenen Lidern starrte sie Miß Andrew eine Weile rachsüchtig an.

»Sie haben gesagt, ich verstünde es nicht, Kinder aufzuziehen«, sagte sie leise und deutlich.

Miß Andrew fuhr zurück. »En — entschuldigen Sie«, sagte sie.

»Ich sei unverschämt, unfähig und völlig unzuverlässig«, fuhr die ruhige, unbeugsame Stimme fort.

Miß Andrew duckte sich unter dem unverwandten Blick.

»Das war ein Irrtum. E — es tut mir leid«, stammelte sie.

»Ich sei eine >junge Dame<!« zählte Mary Poppins unerbittlich auf.

»Ich nehme es zurück«, keuchte Miß Andrew. »Ich nehme alles zurück. Bloß lassen Sie mich gehen. Mehr will ich gar nicht.« Sie faltete die

Hände und blickte Mary Poppins beschwörend an. »Ich kann nicht bleiben«, flüsterte sie. »Nein, nein! Hier nicht! Ich bitte Sie, lassen Sie mich gehen!«

Mary Poppins warf ihr einen langen und nachdenklichen Blick zu. Dann machte sie eine kleine Bewegung mit der Hand. »Gehen Sie!«

Miß Andrew stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Oh, danke schön! Besten Dank!« Die Augen fest auf Mary Poppins geheftet, stolperte sie rückwärts die Stufen hinunter; dann machte sie kehrt und humpelte unsicher den Gartenpfad entlang.

Der Taxichauffeur, der die ganze Zeit über das Gepäck ausgeladen hatte, ließ gerade seinen Motor an und rüstete sich zur Abfahrt.

Miß Andrew hob eine zitternde Hand.

»Warten Sie!« rief sie mit gebrochener Stimme. »Warten Sie auf mich. Sie bekommen zehn Shilling Trinkgeld, wenn Sie mich gleich wieder wegfahren.«

Der Mann starrte sie an.

»Es ist mein Ernst!« sagte sie dringend. »Sehen Sie«, sie fummelte aufgeregt in ihrer Tasche, »hier sind sie. Stecken Sie sie ein — und fahren Sie los.«

Miß Andrew stolperte in das Taxi und fiel schwer auf den Sitz.

Der Fahrer, immer noch mit aufgerissenem Mund, schloß hinter ihr die Tür. Dann machte er sich eilig ans Wiederaufladen des Gepäcks. Robertson Ay war auf einem Stapel von Koffern eingeschlafen, doch der Fahrer nahm sich nicht erst die Zeit, ihn zu wecken. Er fegte ihn aufs Pflaster und beendete die Arbeit allein.

»Sieht aus, als hätte das alte Mädchen 'nen Nervenschock gekriegt! Hab noch nie jemand in solchem Zustand gesehn. Nie!« murmelte er in sich hinein, als er abfuhr.

Doch welcherart dieser Schock gewesen war, das ahnte der Taximann nicht; er hätte es auch nicht erraten können, selbst wenn er hundert Jahre alt geworden wäre . . .

»Wo ist denn Miß Andrew?« sagte Mistreß Banks, die auf der Suche nach ihrem Gast zur Haustür gerannt kam.

»Weg«, sagte Michael.

»Was meinst du mit — weg?« Mistreß Banks sah höchst überrascht aus.

»Sie hatte, scheint's, keine Lust zu bleiben«, sagte Jane.

Mistreß Banks runzelte die Stirn.

»Was soll das heißen, Mary Poppins?« erkundigte sie sich.

»Ich weiß es selbst nicht, Madam, bestimmt nicht«, sagte Mary Poppins ruhig, als ginge es sie gar nichts an. Sie blickte auf ihre neue Bluse und strich glättend über einen Kniff.

Mistreß Banks blickte von einem zum andern und schüttelte den Kopf.

»Höchst merkwürdig! Das versteh ich nicht.«

Da öffnete sich die Gartentür und fiel mit sanftem Klicken wieder ins Schloß. Auf Zehenspitzen kam Mister Banks angeschlichen. Als alle sich nach ihm umwandten, stutzte er und blieb nervös auf einem Fuß stehen.

»Na? Ist sie da?« erkundigte er sich, vor Angst flüsternd . . .

»Sie ist schon wieder weg«, antwortete Mistreß Banks.

Mister Banks war verblüfft.

»Weg? Meinst du wirklich weg? Miß Andrew?«

Mistreß Banks nickte.

»Hurra!« schrie Mister Banks, nahm die Zipfel seines Regenmantels in die Hände und begann mitten auf dem Gartenpfad einen Schottischen zu tanzen. Plötzlich machte er halt.

»Aber wieso? Wann? Warum?« fragte er.

»Eben jetzt — in einem Taxi. Weil die Kinder frech zu ihr waren, nehme ich an. Darüber beklagte sie sich bei mir. Ich kann es mir nicht anders erklären. Können Sie's, Mary Poppins?«

»Nein, Madam«, sagte Mary Poppins und bürstete sorgfältig ein Staubflöckchen von ihrer Bluse.

Mister Banks wandte sich vorwurfsvoll an Jane und Michael.

»Ihr wart frech zu Miß Andrew? Zu meiner Erzieherin? Dieser guten alten Seele? Ich schäme mich für euch beide — schäme mich gründlich.« Er sprach mit Strenge, doch seine Augen zwinkerten lustig.

»Ich bin ein geschlagener Mann«, fuhr er fort und steckte die Hände in die Taschen. »Da plage ich mich nun tagein, tagaus, um euch eine anständige Erziehung zu verschaffen, und wie dankt ihr's mir? Indem ihr frech seid zu Miß Andrew! Es ist eine Schande! Es ist ein Skandal! Ich weiß nicht, ob ich euch das jemals verzeihen kann. Aber . . .«, fügte er hinzu und holte zwei Sechspencestücke aus der Tasche, von denen er jedem feierlich eins reichte, »ich will es nach Kräften versuchen!« Und er wandte sich lächelnd ab.

»Hoppla!« rief er, über den Vogelkäfig stolpernd. »Wo kommt denn der her? Wem gehört er?«

Jane und Michael und Mary Poppins blieben stumm.

»Na, ist ja egal«, sagte Mister Banks. »Der gehört jetzt mir. Ich will ihn in den Garten stellen und meine Wicken daran hochziehen.«

Und damit ging er, fröhlich vor sich hin pfeifend, mit dem Käfig davon . . .

»So etwas«, sagte Mary Poppins streng, als sie den Kindern ins Kinderzimmer folgte. »Das ist mir ein schönes Benehmen, muß ich sagen. Den Gast eures Vaters so ruppig zu behandeln.«

»Wir waren nicht ruppig«, widersprach Michael. »Ich sagte bloß, sie wäre ein heiliger Schrecken, und er hat sie selbst so genannt.«

»Sie so wegzuschicken, nachdem sie gerade erst gekommen war — nennt ihr das etwa nicht ruppig?« fragte Mary Poppins.

»Aber wir waren's doch nicht«, sagte Jane. »Das warst du . . .«

»Ich war ruppig zu einem Gast eures Vaters?« Die Hände in die Hüften gestemmt, blickte Mary Poppins Jane wütend an. »Du wagst es, hier zu stehen und mir das zu erzählen?«

»Nein, nein! Du warst nicht ruppig, aber ...«

»Das wollt ich doch meinen«, entgegnete Mary Poppins, nahm den Hut ab und entfaltete ihre Schürze. »Ich bin gut erzogen!« fügte sie verschnupft hinzu, während sie schon die Zwillinge auszog.

Michael seufzte. Er wußte, es hatte keinen Zweck, mit Mary Poppins zu streiten. Er warf Jane einen Blick zu. Sie drehte ihr Sechspencestück in der Hand herum.

»Michael!« sagte sie. »Ich hab mir's eben überlegt.«

»Was?«

»Vati gab uns das Geld, weil er glaubte, wir hätten Miß Andrew weggeschickt.«

»Ich weiß.«

»Aber wir waren's doch nicht. Es war Mary Poppins!«

Michael scharrte mit den Füßen. »Du denkst also . . .«, begann er unbehaglich, in der Hoffnung, daß sie nicht das meinte, was er annahm.

»Natürlich«, nickte sie.

»Aber — aber, ich wollte meines doch ausgeben.«

»Ich auch. Aber es wäre nicht anständig. In Wirklichkeit gehört das Geld ihr.«

Michael überdachte die Angelegenheit eine Weile. Dann seufzte er.

»Na schön«, sagte er bedauernd und zog sein Sechspencestück aus der Tasche.

Miteinander traten sie vor Mary Poppins hin.

Jane streckte ihr die Münzen entgegen.

»Da, nimm!« sagte sie atemlos, »wir denken, du mußt sie bekommen.«

Mary Poppins nahm die Geldstücke und drehte sie in der Hand hin und her. Einmal lag der Kopf oben und einmal das Wappen. Dann fing ihr Auge den Blick der Kinder, und es schien ihnen, als dringe dieses Auge bis tief in ihre Herzen und sähe, was sie dachten. Lange Zeit stand sie so und starrte in Janes und Michaels Gedanken hinein.

»Hmpf!« sagte sie schließlich und steckte die Münzen in ihre Schürzentasche. »Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.«

»Ich hoffe, du kannst sie gut gebrauchen«, sagte Michael und starrte trauervoll auf die Tasche.

»Das hoffe ich auch«, erwiderte sie streng, während sie davonging, um das Bad einzulassen.

3. Kapitel. Schlimmer Mittwoch

Ticktack! Ticktack!

Das Pendel der Uhr im Kinderzimmer schwang hin und her, wie eine alte Dame, die mit dem Kopf nickt.

Ticktack! Ticktack!

Dann hörte die Uhr auf zu ticken und begann zu surren und zu brummen, leise zuerst und dann immer lauter, als täte ihr etwas weh. Und wie sie so surrte, schüttelte sie sich so heftig, daß der ganze Kaminsims ins Zittern geriet. Das leere Marmeladenglas hüpfte und schüttelte sich und schauderte, Johns Haarbürste, über Nacht liegengeblieben, ließ ihre Borsten tanzen, die große, bunte Porzellanschale, die Großtante Karoline Mistreß Banks zu Weihnachten geschenkt hatte, glitt zur Seite, so daß auf ihrem Grund die drei kleinen, pferdchenspielenden Jungen auf ihren gemalten Köpfen standen.

Und ganz zuletzt, als es schon aussah, als wollte die Uhr gleich zerbersten, begann sie zu schlagen.

Eins! Zwei! Drei! Vier! Fünf! Sechs! Sieben!

Beim letzten Schlag wachte Jane auf.

Durch einen Schlitz in den Vorhängen strömte die Sonne herein und fiel in goldenen Streifen über ihre Decke. Jane setzte sich auf und blickte sich im Kinderzimmer um. Kein Laut kam von Michaels Bett. Die Zwillinge in ihrer Wiege lutschten am Daumen und atmeten tief.

»Ich bin ganz allein wach«, stellte sie höchst vergnügt fest. »Alles schläft noch außer mir. Ich kann hier ganz ungestört liegen und denken und denken und denken.« Und sie zog ihre Knie bis ans Kinn und rollte sich im Bett zusammen, als kuschelte sie sich in ein Nest.

»Jetzt bin ich ein Vogel!« sagte sie zu sich selbst. »Ich habe gerade sieben reizende weiße Eier gelegt, und nun sitze ich mit ausgebreiteten Flügeln über ihnen und brüte. Gluck, gluck! Gluck, gluck!«

Sie erzeugte ein leise gurrendes Geräusch in ihrer Kehle.

»Nach einer ganzen Weile, sagen wir, nach einer halben Stunde, gibt es ein leises Gezirp und ein kleines Pochen, und die Schalen bersten. Und heraus gucken sieben kleine Küken, drei gelbe, zwei braune und zwei. . .«

»Zeit, aufzustehen!« Mary Poppins, die plötzlich aus dem Nichts auftauchte, zog Jane die Bettdecke von den Schultern.

»Ach nein. Nein!« grollte Jane und zog die Decke wieder hoch.

Sie war sehr böse auf Mary Poppins, weil diese sie so jäh unterbrochen und ihren schönen Traum zerstört hatte. »Ich mag nicht aufstehen!« sagte sie und steckte das Gesicht ins Kissen.

»Ach wirklich?« sagte Mary Poppins ungerührt, als wäre diese Bemerkung für sie ohne Interesse. Sie zog die Bettdecke ganz aus dem Bett, und Jane fand sich auf dem Fußboden stehen.

»Du liebes bißchen«, murrte sie, »warum muß gerade ich immer zuerst aufstehen?«

»Du bist die Älteste — deshalb.« Mary Poppins drängte sie zum Badezimmer.

»Aber ich mag nicht die Älteste sein. Warum kann Michael es nicht manchmal sein?«

»Weil du zuerst geboren bist — kapiert?«

»Ich hab mich nicht darum gerissen. Ich hab's satt, zuerst geboren zu sein. Ich wollte nachdenken.«

»Du kannst nachdenken, während du dir die Zähne putzt.«

»Nicht die gleichen Gedanken.«

»Na, kein Mensch möchte immerzu das gleiche denken!«

»Ich doch.«

Mary Poppins warf ihr rasch einen finsteren Blick zu.

»Das reicht, besten Dank!« Und aus dem Ton ihrer Stimme erkannte Jane, daß sie meinte, was sie sagte.

Mary Poppins eilte davon, um Michael zu wecken.

Jane ließ ihre Zahnbürste sinken und setzte sich auf den Rand der Badewanne. »Das ist nicht anständig«, murrte sie und stieß mit den Zehenspitzen gegen das Linoleum. »Mir ausgerechnet alles Unangenehme zuzuschieben, nur weil ich die Älteste bin! Ich will mir die Zähne nicht putzen!«

Plötzlich wunderte sie sich über sich selbst. Gewöhnlich war sie recht froh darüber, daß sie älter war als Michael und die Zwillinge. Sie fühlte sich dadurch überlegen und sehr viel bedeutender. Aber heute — was war heute nur los, daß sie sich so unwirsch und verdrossen fühlte?

»Wäre Michael zuerst geboren, so hätte ich Zeit gehabt, meine Eier auszubrüten!« Sie brummte vor sich hin, im Gefühl, daß der Tag schlecht angefangen hatte. Unglücklicherweise wurde es immer schlimmer statt besser.

Beim Frühstück entdeckte Mary Poppins, daß nur noch für drei genügend Puffreis da war. »Na, dann kriegt Jane eben Porridge«, sagte sie und stellte die Teller hin; sie war verschnupft, weil sie nicht gern Por-ridge machte. Er wurde immer so leicht klumpig.

»Warum ich?« beklagte sich Jane. »Ich möchte auch Puffreis.«

Mary Poppins warf ihr einen strengen Blick zu.

»Weil du die Älteste bist!«

Da war es wieder! Das verhaßte Wort. Sie trat unterm Tisch gegen das Stuhlbein, in der Hoffnung, die Politur zu zerkratzen, und aß ihren Haferbrei so langsam, wie sie es nur wagte. Immer wieder drehte sie ihn im Mund herum und schluckte immer nur eine möglichst kleine Portion hinunter. Den anderen geschah es recht, wenn sie sich zu Tode hungerte. Dann würden sie schön traurig sein!

»Was für 'n Tag ist heute?« erkundigte sich Michael fröhlich und kratzte den letzten Rest Puffreis vom Teller.

»Mittwoch«, sagte Mary Poppins. »Laß bitte das Muster noch auf dem Teller!«

»Dann gehen wir heute zum Tee zu Miß Lark!«

»Wenn ihr artig seid«, erklärte Mary Poppins düster, als hielte sie so etwas kaum für möglich.

Aber Michael war in vergnügter Stimmung und achtete nicht darauf.

»Mittwoch!« rief er und hieb den Löffel auf den Tisch. »Das ist der Tag, an dem Jane geboren wurde. Mittwochskinder sind Unheilkinder. Deshalb kriegt sie auch Porridge statt Reis!« sagte er boshaft.

Jane krauste die Stirn und trat unter dem Tisch nach ihm. Aber er schwang seine Beine zur Seite und lachte.

»Montagskinder ohne Harm, Dienstagskinder reich an Scharm!« sang er. »Das stimmt sogar. Die Zwillinge sind reich an Scharm, und die wurden am Dienstag geboren. Und ich am Montag — ohne Harm.«

Jane lachte zornig.

»Das bin ich«, beharrte er. »Das hörte ich sogar Miß Brill sagen. Sie behauptete Ellen gegenüber, ich sei so harmlos wie 'n Igel.«

»Na, so harmlos ist der ja gar nicht«, sagte Jane, »außerdem hast du 'ne Stupsnase.«

Michael blickte sie vorwurfsvoll an. Und wieder wunderte sich Jane über sich selbst. Zu jeder anderen Zeit hätte sie ihm zugestimmt, denn sie hielt Michael für einen sehr gutartigen und hübschen kleinen Jungen, aber jetzt sagte sie grausam:

»Jawohl, und deine Fußspitzen stehen nach innen. O-Beiner! O-Bei-ner!«

Michael stürzte sich auf sie.

»Jetzt hab ich genug von dir!« sagte Mary Poppins und blickte Jane zornig an. »Wenn an einem Menschen hier im Haus nichts auszusetzen ist. . .«, sie unterbrach sich und blickte mit zufriedenem Lächeln auf ihr eigenes Spiegelbild, »so ist es . . .«

»Wer?« fragten Michael und Jane wie aus einem Mund.

»Keiner mit dem Namen Banks!« erwiderte Mary Poppins.

Michael warf Jane einen Seitenblick zu, wie immer, wenn Mary Poppins eine ihrer seltsamen Bemerkungen machte. Aber obwohl sie seinen Blick spürte, tat sie doch so, als merkte sie nichts. Sie wandte sich ab und nahm ihren Tuschkasten aus dem Spielzeugschrank.

»Willst du nicht Eisenbahn mitspielen?« fragte Michael, in dem Bemühen, freundlich zu sein.

»Nein, ich mag nicht. Ich möchte allein sein.«

»Guten Morgen, Kinder, wie geht es euch heute?«

Mistreß Banks kam ins Zimmer gerannt und küßte sie eilig. Sie war immer so geschäftig, daß sie sich nie Zeit ließ, ruhig zu gehen.

»Michael«, sagte sie, »du mußt neue Pantoffeln haben — dir schauen vorn schon die Zehen heraus. Mary Poppins, Johns Locken müssen herunter, fürchte ich. Barbara, mein Häschen, lutsch nicht immer am Daumen! Jane, lauf hinunter in die Küche und sag Mistreß Brill, sie soll den Pflaumenkuchen nicht mit Schlagsahne garnieren, ich möchte ihn einfach haben.«

Da brach schon wieder einer in ihre Welt ein! Sobald sie etwas vorhatte, mußte sie aufhören und etwas anderes tun.

»Ach Mutter, muß ich das sein? Kann nicht Michael. . .?«

Mistreß Banks sah überrascht drein.

»Aber ich dachte, das Helfen macht dir Spaß! Und Michael vergißt immer, was er ausrichten soll. Außerdem bist du die Älteste. Nun lauf schon!«

Jane ging nach unten, so langsam wie nur möglich. Sie hoffte, daß sie mit ihrem Auftrag zu spät käme und Mistreß Brill den Kuchen schon mit Schlagsahne garniert hätte.

Und die ganze Zeit über wunderte sie sich über ihr eigenes Betragen. Als gäbe es in ihrem Innern eine zweite Person — jemand mit sehr schlechter Laune und bösem Gesicht, der an ihrer Verdrossenheit schuld war.

Sie richtete Mistreß Brill ihren Auftrag aus und war enttäuscht, daß sie noch früh genug kam.

»Na, das spart mir 'nen Haufen Umstände«, bemerkte Mistreß Brill. »Kindchen«, fuhr sie fort, »du könntest schnell mal in den Garten springen und diesem Robertson beibringen, daß er vergessen hat, die Messer zu putzen. Meine Füße tun mir weh, und ich hab nur das eine Paar.«

»Kann nicht. Hab zu tun.«

Jetzt war es an Mistreß Brill, überrascht auszusehen.

»Ach, sei ein gutes Kind — ich kann grad noch stehen, aber nicht mehr laufen!«

Jane seufzte. Warum konnte man sie nicht in Ruhe lassen? Sie stieß die Küchentüre mit dem Fuß auf und trottete in den Garten.

Robertson Ay lag auf dem Gartenweg mit dem Kopf auf der Gießkanne und schlief. Sein strähniges Haar wehte auf und nieder, so schnarchte er. Es war Robertson Ays besondere Gabe, überall und jederzeit schlafen zu können. Tatsächlich schlief er lieber, als daß er wachte. Und für gewöhnlich verhinderten Jane und Michael, sooft sie konnten, daß man ihn dabei ertappte. Aber heute war es anders. Dem schlechtge-launten Wesen in ihrem Innern war es völlig egal, was Robertson Ay passierte.

»Ich hasse alle!« sagte sie und klopfte scharf auf die Gießkanne.

Robertson Ay fuhr mit einem Ruck hoch.

»Hilfe! Feuer! Mord!« brüllte er, wild um sich schlagend.

Dann rieb er sich die Augen und erblickte Jane.

»Ach, du bist's nur«, sagte er enttäuscht, als 'hätte er etwas viel Aufregenderes erwartet.

»Du mußt sofort die Messer putzen«, befahl sie.

Robertson Ay kam langsam auf die Füße und schüttelte sich.

»Ach«, sagte er traurig, »immer gibt's was zu tun. Bald dies, bald das. Ich müßte eigentlich ausruhen. Aber nicht einen Augenblick läßt man mich in Frieden!«

»O doch!« sagte Jane grausam. »Man läßt dir überhaupt nichts als Frieden. Immerzu schläfst du.«

Ein verletzter, vorwurfsvoller Ausdruck trat in Robertson Ays Gesicht, und zu jeder anderen Zeit hätte sie sich deswegen geschämt. Aber heute tat es ihr kein bißchen leid.

»So was zu sagen!« beschwerte sich Robertson Ay traurig. »Wo du doch die Älteste bist. Das hätt ich nicht von dir gedacht — selbst wenn ich bis zu meinem Lebensende nichts anderes täte als nachdenken.«

Und mit betrübtem Blick schlurfte er langsam davon, hinüber in die Küche.

Sie fragte sich, ob er ihr jemals vergeben würde. Und wie zur Antwort sagte das verdrießliche Geschöpf in ihrem Innern: »Es ist mir ganz egal, ob er mir verzeiht!«

Sie warf den Kopf in den Nacken und ging langsam zurück ins Kinderzimmer; mit ihren klebrigen Händen fuhr sie dabei über die frisch geweißte Mauer, weil ihr das ein für allemal verboten war.

Mary Poppins bearbeitete die Möbel mit dem Flederwisch.

»Hast du ein Begräbnis mitgemacht?« erkundigte sie sich, als Jane auftauchte.

Jane blickte verdrossen vor sich hin und blieb stumm.

»Ich kenne jemanden, der durchaus einen Grund zum Bocken sucht. Und wer sucht, der findet auch!«

»Das kümmert mich nicht!«

»Herr >Kümmertmichnicht< lernte Kummer bald kennen, Herr >Küm-mertmichnicht< wurde gehängt«, stichelte Mary Poppins und legte den Staubwedel weg.

»Und nun...«, sie blickte Jane warnend an, »geh ich zum Mittagessen. Du mußt auf die Kleinen aufpassen, und wenn ich auch nur ein Wort höre . ..!« Sie beendete den Satz nicht, sondern schnaubte nur drohend durch die Nase, als sie aus dem Zimmer ging.

John und Barbara liefen auf Jane zu und ergriffen ihre Hände. Aber sie machte sich frei und stieß sie mürrisch zurück.

»Ich wünschte, ich wäre ein einziges Kind«, sagte sie bitter.

»Warum läufst du denn nicht davon?« schlug Michael vor. »Vielleicht adoptiert dich einer.«

Jane blickte auf, verdutzt und überrascht.

»Aber ihr würdet mich doch vermissen!«

»Nein! Ich nicht«, sagte er finster. »Nicht, wenn du immerzu mürrisch bist. Außerdem bekäme ich dann deinen Tuschkasten.«

»Nein, den bekämst du nicht«, sagte sie eifersüchtig. »Den würde ich mitnehmen.«

Und nur um ihm zu zeigen, daß der Tuschkasten ihr gehörte und nicht ihm, holte sie die Pinsel und das Malbuch hervor und legte sie vor sich hin auf den Fußboden.

»Mal die Uhr«, empfahl Michael.

»Nein.«

»Na, dann die große Porzellanschale.«

Jane blickte hoch. Die drei kleinen Jungen ritten über das Feld auf dem Grund der grünumrandeten Schale. Sonst hätte es ihr Spaß gemacht, sie zu malen, aber heute hatte sie keine Lust, freundlich zu sein.

»Ich mag nicht. Ich will malen, was ich möchte.«

Und sie begann ein Bild zu malen von sich selbst, wie sie ganz allein über ihren Eiern brütete.

Michael und John und Barbara hockten auf dem Fußboden und sahen zu. Jane war so von ihren Eiern in Anspruch genommen, daß sie ihre schlechte Laune fast vergessen hätte.

Michael beugte sich vor. »Warum nicht noch eine Henne hineinzeichnen — schau hier.«

Er deutete auf einen leeren weißen Fleck und stieß dabei mit dem Arm gegen John. John purzelte um, und sein Fuß streifte das Wasserglas. Es schwappte über. Das farbenbeschmutzte Wasser ergoß sich über das Bild.

Mit einem Aufschrei sprang Jane auf die Füße.

»Du Tolpatsch! Jetzt hast du alles verdorben!«

Und auf Michael losfahrend, bearbeitete sie ihn so wütend mit den Fäusten, daß auch er das Gleichgewicht verlor und über John fiel. Die Zwillinge quietschten auf vor Schmerz und Schrecken, und über ihrem Gebrüll erhob Michael seine jammernde Stimme. »Ich hab mir den Kopf zerbrochen! Was mach ich nur? Ich hab mir den Kopf zerbrochen!«

»Das ist mir egal, das ist mir egal!« schrie Jane. »Ihr wolltet mich ja nicht in Ruhe lassen und habt mir mein Bild verdorben. Ich hasse euch, ich hasse euch, ich hasse . . .!«

Die Tür flog auf.

Mary Poppins überflog die Szene mit wütenden Augen.

»Was hab ich dir gesagt?« fragte sie Jane. Ihre Stimme war so ruhig, daß es zum Fürchten war. »Auch nur ein Wort, hab ich gesagt. . . und nun schau her, was du angestellt hast! Ich glaube nicht, daß du heute mit zu Miß Lark gehst. Nicht einen Schritt wirst du heute nachmittag aus diesem Zimmer tun, oder ich will Hans heißen.«

»Ich will gar nicht gehen. Ich bleib viel lieber hier.« Jane steckte die Hände hinter ihren Rücken. Sie war nicht eine Spur traurig.

»Na schön.«

Mary Poppins' Stimme klang sanft, hatte aber einen höchst bedrohlichen Unterton.

Jane sah zu, wie sie die anderen für die Einladung anzog. Als sie fertig waren, nahm Mary Poppins ihren besten Hut aus einer braunen Papiertüte und setzte ihn flott etwas schräg auf den Kopf. Sie schlang die Kette mit dem goldenen Medaillon um den Hals und darüber den rot und weiß karierten Schal, den Mistreß Banks ihr geschenkt hatte. An einem Ende war ein weißes Monogramm eingestickt, ein großes >M. P.<, und Mary Poppins lächelte sich im Spiegel beifällig zu, als sie das Monogramm im Mantel verschwinden ließ.

Dann holte sie ihren Schirm mit der Papageienkopfkrücke aus dem Schrank und eilte mit den Kleinen die Treppe hinunter.

»Jetzt hast du ja Zeit genug zum Nachdenken!« bemerkte sie herausfordernd und schloß mit verächtlichem Schnauben die Tür hinter sich.

Eine ganze Weile saß Jane und starrte vor sich hin. Sie versuchte, an ihre sieben Eier zu denken. Aber irgendwie interessierten sie die plötzlich gar nicht mehr. »Was sie wohl jetzt bei Miß Lark machen?« fragte sie sich. Vielleicht spielten sie mit Miß Larks Hunden, oder sie hörten zu, wie Miß Lark ihnen erzählte, daß Andry einen großartigen Stammbaum habe, wohingegen Willibald zur Hälfte ein Airedale sei und nur zur andern Hälfte ein Jagdhund! Von beiden hätte er jeweils das schlechtere Teil abbekommen. Und schließlich würde allen, selbst den Hunden, Schokoladenkekse und Nußtörtchen zum Tee gereicht werden.

Der Gedanke an das, was ihr alles entging, rumorte in ihr. Als sie sich eingestand, daß es im Grunde ihre eigene Schuld war, fühlte sie sich verbiesterter denn je.

Ticktack! Ticktack! machte die Uhr laut.

»Ach, sei still!« schrie Jane wütend, hob ihren Tuschkasten auf und schleuderte ihn quer durchs Zimmer.

Er krachte gegen das Uhrglas und schlug aufblitzend nieder auf die große Porzellanschale.

Krrrrrrack! Die Schale rollte seitwärts gegen die Uhr.

Oh! Oh! Was hatte sie da angerichtet?

Jane kniff die Augen zu und wagte nicht hinzublicken.

»Das hat verdammt weh getan — muß ich sagen!«

Eine klare, vorwurfsvolle Stimme tönte durch den Raum.

Jane fuhr hoch und riß die Augen auf.

»Jane!« sagte die Stimme. »Das war mein Knie!«

Sie wandte rasch den Kopf. Es war niemand im Zimmer.

Sie rannte zur Tür und öffnete sie. Auch da niemand!

»Hier, Dummerchen!« sagte die Stimme wieder. »Hier oben!«

Sie blickte zum Kaminsims hoch. Neben der Uhr lag die Porzellanschale; mittendurch lief ein großer Sprung, und zu ihrer Überraschung entdeckte Jane, daß einer der gemalten Jungen die Zügel hatte fallen lassen und sich mit beiden Händen das Knie hielt. Die beiden anderen hatten sich umgewandt und betrachteten ihn mitleidig.

»Aber . . .«, begann Jane, halb zu sich selbst und halb zu der unbekannten Stimme. »Das verstehe ich nicht.« Der Junge auf der Schale hob den Kopf und lächelte ihr zu.

»Nein? Wahrscheinlich nicht. Ich hab schon gemerkt, daß ihr sehr oft die einfachsten Dinge nicht versteht — oder?«

Er drehte sich lachend zu seinen Brüdern um.

»Nein«, sagte der eine, »nicht einmal, wie man die Zwillinge ruhig hält!«

»Und auch nicht, wie man Vogeleier richtig zeichnet — sie waren alle ganz krakelig«, sagte der andere.

»Woher weißt du das mit den Zwillingen — und den Eiern?« fragte Jane errötend.

»Du meine Güte«, sagte der erste Junge, »du glaubst doch nicht, daß wir nicht alles wüßten, was in diesem Zimmer hier vorgeht. Wo wir euch doch die ganze Zeit beobachten können! Wir können allerdings nicht ins Kinderschlafzimmer hineinsehen und auch nicht ins Badezimmer. Welche Farbe haben die Kacheln?«

»Rosa«, sagte Jane.

»Bei uns sind sie blau und weiß. Möchtest du es sehen?«

Jane zögerte. Sie wußte nicht recht, was sie antworten sollte.

»Komm doch! William und Everard sollen deine Pferdchen sein, wenn du möchtest, und ich werde die Peitsche halten und nebenher laufen. Ich heiße Valentin, falls du es nicht wissen solltest. Wir sind Drillinge. Und natürlich ist auch Christine noch da.«

»Wo ist Christine?« Jane suchte die Schale mit dem Blick ab. Aber sie sah nur die grüne Wiese und ein kleines Erlengehölz, und außerdem Valentin, William und Everard, die beieinander standen.

»Komm mit und sieh!« redete Valentin ihr zu und streckte die Hand aus. »Warum sollen die andern allen Spaß haben? Du kommst mit uns — in die Schale.«

Das gab den Ausschlag. Sie wollte es Michael und den Zwillingen schon zeigen. Sie wollte sie eifersüchtig machen, damit sie bereuten, daß sie sie so schlecht behandelt hatten.

»Schön«, sagte sie und streckte die Hand aus. »Ich komme!«

Valentins Hand schloß sich um ihr Handgelenk und zog sie zu der Schale hin. Und plötzlich stand sie nicht länger in dem kühlen Kinderzimmer, sondern auf einer weiten, besonnten Wiese, und statt des zerschlissenen Teppichs dehnte sich ein üppiger grüner, mit Gänseblümchen durchsetzter Rasen unter ihren Füßen.

»Hurra!« riefen Valentin, William und Everard und tanzten um sie herum. Sie bemerkte, daß Valentin hinkte.

»Oh«, sagte Jane. »Ich vergaß! Dein Knie!«

Er lächelte sie an. »Macht nichts. Schuld daran ist der Sprung. Ich weiß, du wolltest mir nicht weh tun!«

Jane zog ihr Taschentuch und band es ihm ums Knie.

»Das tut gut!« sagte er höflich und legte die Zügel in ihre Hand.

William und Everard warfen die Köpfe zurück und wieherten — dann stoben sie über die Wiese, Jane feuerte sie mit den Zügeln an.

Neben ihr, einmal schwer, einmal leicht auftretend wegen seines Knies, rannte Valentin. Und im Laufen sang er:

»Mein Herz, du bist in meinem Strauß Die schönste Blüte stets für mich; Ich nehm dich froh an meine Brust, Denn sieh, mein Herz, ich liebe dich!«

William und Everard fielen mit ein:

»Denn sieh, mein Herz, ich liebe dich!«

Jane fand das Lied ein wenig altmodisch, aber schließlich war alles an den Drillingen ein wenig altmodisch — das lange Haar, ihre merkwürdigen Anzüge und die höfliche Art, in der sie sprachen.

»Es ist merkwürdig«, sagte sie zu sich selbst. Aber sie fand es hübscher hier als bei Miß Lark und war sicher, daß Michael sie beneiden würde, wenn sie ihm alles erzählte.

Vorwärts galoppierten die Pferde, zogen Jane hinter sich her und führten sie immer weiter vom Kinderzimmer fort.

Schließlich hielt sie keuchend die Zügel an und blickte auf die Spuren zurück, die ihre Füße im Gras hinterlassen hatten. Ganz hinten, am anderen Ende der Wiese, konnte sie den Außenrand der Schale sehen. Er schien schmal und sehr weit weg. Eine innere Stimme mahnte sie, daß es Zeit sei, umzukehren.

»Ich muß heim«, sagte sie und ließ die Zügel fallen.

»Ach, nein, nein!« riefen die Drillinge und umringten sie eng.

Und plötzlich erweckte etwas in ihren Stimmen ihr Unbehagen.

»Sie werden mich zu Hause vermissen. Ich fürchte, ich muß gehen.«

»Es ist noch früh«, protestierte Valentin. »Sie sitzen noch bei Miß Lark. Komm mit. Ich zeige dir meinen Tuschkasten.«

Das lockte Jane. »Ist Chinesisch-Weiß dabei?« erkundigte sie sich, denn gerade das fehlte in ihrem Kasten.

»Ja, in einer silbernen Tube. Komm!«

Wider ihren Willen ließ Jane sich von ihm weiterziehen. Sie wollte nur einen Blick auf seinen Tuschkasten werfen und dann gleich heimeilen. Sie wollte nicht einmal fragen, ob sie ihn einmal probieren dürfte.

»Aber wo ist denn euer Haus? Es ist nicht in der Schale!«

»Natürlich ist es hier! Aber du kannst es nicht sehen, weil es hinter dem Gehölz steckt. Komm weiter!«

Sie zogen sie nun unter die dunklen Erlenzweige. Das tote Laub knisterte unter ihren Füßen, und ab und zu schwang eine Taube sich mit lautem Flügelschlagen von einem Ast auf den andern. William zeigte Jane ein Rotkehlchennest, unter Zweigen versteckt, und Everard brach eine Blattranke ab und wand sie ihr um den Kopf. Aber trotz aller Freundlichkeit war Jane scheu und nervös und fühlte sich sehr erleichtert, als sie den Ausgang des Wäldchens erreichten.

»Hier ist es!« sagte Valentin und winkte.

Und vor sich sah sie, hoch aufragend, ein mächtiges Steinhaus, von Efeu umrankt. Es war älter als alle Häuser, die sie bisher gesehen, und ihr war, als beugte es sich ihr drohend entgegen. Zu beiden Seiten der Treppe duckte sich je ein steinerner Löwe, als wollte er sie jeden Augenblick anspringen.

Jane schauderte, als der Schatten des Hauses über sie fiel.

»Ich kann nicht lange bleiben . . .«, sagte sie unbehaglich. »Es wird spät.«

»Nur fünf Minuten!« bat Valentin und zog sie in die Halle.

Hohl hallten ihre Schritte auf dem steinernen Fußboden wider. Nichts deutete auf das Vorhandensein eines menschlichen Wesens. Von ihr und den Drillingen abgesehen, schien das Haus verlassen zu sein. Ein kalter Wind strich pfeifend die Gänge entlang.

»Christine! Christine!« rief Valentin und drängte Jane die Treppe hinauf. »Sie ist da!« Sein Ruf pflanzte sich durchs ganze Haus fort, und jede Mauer schien ihn drohend zurückzuwerfen:

»SIE IST DA!«

Eilige Schritte ertönten, und eine Tür flog auf. Ein kleines Mädchen, nur wenig größer als die Zwillinge und mit einem altmodischen, geblümten Kleid angetan, stürzte herein und warf sich auf Jane.

»Endlich! Endlich!« schrie sie triumphierend. »Eine Ewigkeit schon lauern die Jungen dir auf! Aber sie haben dich bisher nicht erwischt — du hast immer Glück gehabt!«

»Nicht erwischt?« sagte Jane. »Das verstehe ich nicht.«

Sie begann sich zu fürchten und wünschte, sie hätte sich von Valentin nicht in die Schale hineinlocken lassen.

»Urgroßvater wird dir's erklären«, sagte Christine mit seltsamem Lachen. Sie zog Jane über den Treppenabsatz und zu einer Tür hinein.

»He! He! He! Was ist denn das?« fragte eine dünne, krächzende Stimme.

Jane fuhr zurück und drängte sich an Christine. Denn am anderen Ende des Zimmers saß auf einem Sessel neben dem Kamin eine Gestalt, die sie mit Schrecken erfüllte. Der Widerschein des Feuers zuckte über einen sehr alten Mann, so alt, daß er eher wie ein Schatten aussah als wie ein menschliches Wesen. Um seinen dünnen Mund hing ein schütterer grauer Bart, und obwohl er ein Hauskäppchen trug, konnte Jane doch sehen, daß er so kahl war wie ein Ei. Gekleidet war er in einen langen, altvaterischen Morgenrock aus verschossener Seide, und an seinen mageren Füßen schlappte ein Paar gestickter Pantoffeln.

»So!« sagte die schattenhafte Gestalt und nahm eine lange, geschwungene Pfeife aus dem Mund. »Jane ist endlich da.«

Er stand auf und trat auf sie zu; sein Lächeln flößte Furcht ein, seine Augen lagen tief im Kopf, aber sie leuchteten in einem hellen, stählernen Feuer.

»Ich hoffe, du hast eine gute Reise gehabt, mein Kind!« krächzte er. Und Jane mit einer knochigen Hand an sich ziehend, küßte er sie auf die Backe. Bei der Berührung seines grauen Barts fuhr sie mit einem Aufschrei zurück.

»He! He! He!« Er lachte ein meckerndes, furchteinflößendes Lachen.

»Sie kam mit den Jungen durchs Erlengehölz, Urgroßvater«, sagte Christine.

»Aha! Und wie haben sie sie erwischt?«

»Sie war bockig, weil es ihr nicht paßte, die Älteste zu sein. Deshalb warf sie mit ihrem Tuschkasten nach der Schale und verletzte Valentin am Knie.«

»So, so!« flötete die schreckliche, alte Stimme. »Das nennt man Temperament, wie? Na ja...!« Er lachte dünn. »Dafür wirst du jetzt die Jüngste sein, mein Kind. Meine jüngste Urenkelin. Aber Temperamentsausbrüche gestatte ich hier nicht! He! He! He! O nein, Kindchen. Na, komm schon her und setz dich. Möchtest du Tee oder Kirschsaft?«

»Nein, nein!« brach es aus Jane heraus. »Ich fürchte, hier ist ein Irrtum geschehen. Ich muß jetzt nach Hause. Ich wohne Kirschbaumweg Nummer siebzehn.«

»Das war einmal«, erklärte Valentin. »Jetzt wohnst du hier.«

»Aber du verstehst mich nicht!« sagte Jane verzweifelt. »Ich will hier nicht wohnen. Ich möchte nach Hause.«

»Unsinn!« krächzte der Urgroßvater. »Nummer siebzehn ist ein schreckliches Haus, billig und stickig und modern. Außerdem bist du dort nicht einmal glücklich. He! He! He! Ich weiß, was es heißt, die Älteste zu sein — nur Arbeit und kein Vergnügen. He! He! Aber hier ... « — er fuhr mit seiner Pfeife hin und her —, »hier bist du das Nesthäkchen, das Goldkind, der Augapfel, und brauchst nie wieder nach Hause zurück!«

»Nie wieder!« wiederholten William und Everard und tanzten um sie herum.

»Aber ich muß doch nach Hause. Ich will!« Jane weinte, die Tränen stürzten ihr aus den Augen.

Der Urgroßvater lächelte sein schreckliches, zahnloses Lächeln.

»Bildest du dir etwa ein, wir ließen dich gehen?« erkundigte er sich mit flammenden Augen. »Du hast unsere Schale zerbrochen. Nun mußt du die Folgen tragen. Christine, Valentin, William und Everard wünschen dich als jüngere Schwester. Und ich wünsche dich als jüngste Urenkelin. Außerdem bist du uns etwas schuldig. Du hast Valentins Knie verletzt.«

»Ich will's an ihm gutmachen. Ich gebe ihm meinen Tuschkasten.«

»Er hat schon einen.«

»Meinen Reifen.«

»Er ist übers Reifenspielen hinaus.«

»Ja, dann . . .«, stammelte Jane, »dann heirate ich ihn, wenn ich groß bin.«

Der Urgroßvater wieherte vor Lachen.

Jane wandte sich bittend an Valentin. Der schüttelte den Kopf.

»Ich fürchte, dafür ist es zu spät«, sagte er traurig. »Ich bin schon lange erwachsen.«

»Aber wieso, aber warum ... ach, ich versteh das alles nicht. Wo bin ich denn?« schrie Jane, erschrocken um sich blickend.

»Weit fort von zu Hause, mein Kind, weit fort von zu Haus«, krächzte der Urgroßvater. »Du bist in die Vergangenheit zurückversetzt — in die Zeit vor sechzig Jahren, als Christine und die Jungen noch klein waren.«

Durch ihre Tränen hindurch sah Jane, wie seine alten Augen vor Stolz leuchteten.

»Aber wie komme ich denn da nach Hause?« flüsterte sie.

»Gar nicht. Du mußt hier bleiben. Du kannst sonst nirgendwohin. Vergiß nicht, du bist in die Vergangenheit zurückversetzt! Die Zwillinge und Michael, selbst dein Vater und deine Mutter sind noch gar nicht geboren, auch Nummer siebzehn ist noch nicht gebaut. Du kannst nicht nach Hause!«

»Nein! Nein!« schrie Jane. »Das ist nicht wahr! Das ist unmöglich!«

Das Herz pochte ihr in der Brust. Niemals mehr Michael sehen, niemals mehr die Zwillinge, weder Vater noch Mutter noch Mary Poppins!

Und plötzlich begann sie zu rufen, mit lauter Stimme, so daß es in den steinernen Gängen widerhallte:

»Mary Poppins! Es tut mir leid, daß ich so bockig war! Oh, Mary Poppins, hilf mir, hilf mir!«

»Schnell! Haltet sie fest! Umringt sie!«

Sie hörte den scharfen Befehl des Urgroßvaters. Sie fühlte, wie die vier Kinder sich um sie drängten. Fest schloß sie die Augen.

»Mary Poppins!« schrie sie noch einmal. »Mary Poppins!«

Eine Hand ergriff die ihre und entriß sie den umklammernden Armen von Christine, Valentin, William und Everard.

»He! He! He!«

Das meckernde Gelächter des Urgroßvaters schallte durch den Raum. Der Griff um ihre Hand wurde fester, und sie fühlte sich fortgezogen. Aus Angst vor den furchteinflößenden Augen wagte sie die ihren nicht aufzuschlagen; sie wehrte sich nur heftig gegen die Hand, die sie fortzog.

»He! He! He!« Abermals ertönte das Gelächter, und die Hand zerrte sie weiter, die steinernen Treppen hinab und über die widerhallenden Korridore. Jetzt hatte sie keine Hoffnung mehr. Hinter ihr verstummten die Stimmen Christines und der Drillinge. Von dieser Seite war keine Hilfe mehr zu erwarten. Verzweifelt stolperte sie hinter den fliehenden Fußtritten her und fühlte, da ihre Augen immer noch geschlossen waren, dunkle Schatten über dem Kopf und feuchte Erde unter ihren Füßen.

Was geschah mit ihr? Wohin, ach wohin wurde sie geschleppt? Wäre sie doch bloß nicht so bockig gewesen!

Die starke Hand zog sie vorwärts, und nach einer Weile spürte sie warmes Sonnenlicht auf ihrem Gesicht; während sie weitergezerrt wurde, schnitt scharfes Gras ihr in die Beine. Dann plötzlich legten sich zwei starke Arme wie Eisenbänder um ihren Leib, hoben sie auf und schwangen sie hoch in die Luft.

»Hilfe! Hilfe!« schrie sie; wie wahnsinnig drehte und wand sie sich in den fremden Armen. Sie wollte nicht ohne Kampf nachgeben, sie wollte um sich schlagen, immer wieder um sich schlagen . ..

»Ich wäre dir dankbar«, raunte ihr eine bekannte Stimme ins Ohr, »wenn du dich daran erinnern wolltest, daß das mein bester Rock ist, der den Sommer über halten muß!«

Jane öffnete die Augen. Zwei grimmige blaue Augen blickten sie unverwandt an.

Die Arme, die sie so eng umschlangen, waren Mary Poppins' Arme, und die Beine, gegen die sie so wütend trat, waren Mary Poppins' Beine.

»Ach!« stammelte sie. »Du bist das! Ich dachte, du hättest mich nicht gehört, Mary Poppins. Ich dachte, die würden mich für immer dabehalten. Ich dachte . . .«

»Manche Leute«, bemerkte Mary Poppins und ließ sie sanft nieder, »denken viel zuviel. Das ist mal sicher. Wisch dir das Gesicht ab, bitte!«

Sie drückte Jane ihr blaues Taschentuch in die Hand und begann, das Kinderzimmer für die Nacht aufzuräumen.

Jane beobachtete sie, während sie ihr tränenüberströmtes Gesicht mit dem großen blauen Taschentuch trocknete. Sie blickte sich in dem wohlbekannten Zimmer um. Da war der zerschlissene Teppich, da der Spielzeugschrank und da Mary Poppins' Armstuhl. Beim Anblick dieser Dinge fühlte sie sich sicher, warm und getröstet. Sie horchte auf die gewohnten Geräusche, mit denen Mary Poppins ihre Arbeit tat, und ihr Entsetzen legte sich. Eine Welle des Glücks überflutete sie.

»Das war ich doch gar nicht, die so bockig war!« sagte sie erstaunt zu sich selbst. »Das muß jemand anderer gewesen sein.«

Mary Poppins ging zu einer Schublade und nahm saubere Nachthemden für die Zwillinge heraus.

Jane lief zu ihr hin.

»Darf ich sie anwärmen, Mary Poppins?«

Mary Poppins zog die Luft durch die Nase.

»Mach dir keine Umstände, schönen Dank. Du bist sicherlich viel zu beschäftigt! Michael wird mir helfen, wenn er nach oben kommt.«

Jane wurde rot.

»Bitte, laß mich«, sagte sie. »Ich helfe dir gern. Außerdem bin ich die Älteste.«

Mary Poppins stemmte die Arme in die Hüften und blickte Jane einen Augenblick nachdenklich an.

»Hmpf!« sagte sie schließlich. »Aber verbrenn sie nicht! Ich hab so schon genug zu flicken.«

Und sie überließ Jane die Nachthemden.

»Aber das ist doch alles nicht wahr!« höhnte Michael, als er ein wenig später von Janes Abenteuer erfuhr. »Du bist doch viel zu groß für die Schale.«

Sie überlegte kurz. Irgendwie schien die Geschichte, die sie da erzählt hatte, ihr selbst recht unwahrscheinlich. »Vielleicht hast du recht«, gab sie zu. »Aber vorhin kam mir alles ganz wirklich vor.«

»Ich nehme an, du hast es dir nur ausgedacht. Du denkst dir ja immer alles mögliche aus.« Er fühlte sich etwas überlegen, denn er selbst dachte überhaupt nicht.

»Ihr zwei mit eurer Denkerei!« sagte Mary Poppins streng und drängte sie beiseite, um die Zwillinge energisch in ihre Bettchen zu stekken.

»Und nun«, sagte sie bissig, als John und Barbara sicher verstaut waren, »hab ich vielleicht mal einen Augenblick Zeit für mich selbst.«

Sie zog die Nadeln aus ihrem Hut und steckte ihn zurück in seine braune Papiertüte. Sie öffnete die Kette des Medaillons und legte es sorgsam in eine Schublade. Dann schüttelte sie ihren Mantel aus und hängte ihn an seinen Haken hinter der Tür.

»Ei, wo ist denn dein neuer Schal?« fragte Jane. »Hast du ihn etwa verloren?«

»Das ist nicht möglich«, sagte Michael. »Sie hatte ihn noch um, als sie nach Hause kam. Ich sah ihn.«

Mary Poppins drehte sich zu ihm um.

»Seid so gut und kümmert euch um eure eigenen Angelegenheiten«, sagte sie patzig, »um meine kümmere ich mich schon selbst!«

»Ich wollte doch nur helfen . . .«, begann Jane.

»Ich kann mir selbst helfen, besten Dank!« sagte Mary Poppins und schnupfte auf.

Jane wandte sich Michael zu, um einen Blick mit ihm zu wechseln. Aber diesmal merkte er nichts davon. Er starrte nach dem Kaminsims, als traute er seinen Augen nicht.

»Was ist, Michael?«

»Du hast es dir doch nicht ausgedacht!« flüsterte er und deutete mit dem Finger.

Jane blickte zum Kaminsims hoch. Dort lag die große Porzellanschale mit dem Sprung, der mittendurch lief. Da waren die grasige Wiese und das Erlengehölz. Und da waren drei kleine Jungen, die Pferdchen spielten; zwei liefen voraus, und einer rannte mit der Peitsche hinterher.

Aber — um das Bein des Kutschers war ein kleines weißes Taschentuch geknüpft, und auf dem Gras ringelte sich, als hätte ihn jemand beim Laufen verloren, ein rot und weiß karierter Schal. An seinem einen Ende war ein großes Monogramm eingestickt; es trug die Initialen M. P.

»Da hat sie ihn also verloren!« sagte Michael und nickte weise mit dem Kopf. »Sollen wir ihr sagen, daß wir ihn gefunden haben?«

Jane blickte um sich. Mary Poppins knöpfte ihre Schürze zu, mit einem Ausdruck, als wäre sie von der ganzen Welt beleidigt worden.

»Lieber nicht«, sagte Jane leise. »Ich nehme an, sie weiß es.«

Eine kleine Weile blieb sie vor dem Kamin stehen und betrachtete die zersprungene Schale, das geknotete Taschentuch und den Schal.

Dann rannte sie mit jähem Entschluß durchs Zimmer und stürzte sich auf die Gestalt mit der weißgestärkten Schürze.

»Ach«, rief sie, »ach, Mary Poppins, ich will nie wieder unartig sein.«

Ein leises Lächeln kräuselte Mary Poppins' Mundwinkel, während sie die Falten ihrer Schürze glattstrich.

»Hmpf«, war alles, was sie sagte.

4. Kapitel. Kopfüber — kopfunter

»Bleibt, bitte, dicht hinter mir«, sagte Mary Poppins; sie stieg aus dem Autobus und spannte ihren Schirm auf, denn es regnete furchtbar.

Jane und Michael kletterten hinter ihr her.

»Wenn ich dicht bei dir bleibe, rinnen mir die Tropfen von deinem Regenschirm in den Nacken«, beschwerte sich Michael.

»Dann mach mir keinen Vorwurf, wenn du mich verlierst und einen Schutzmann fragen mußt«, fuhr Mary Poppins ihn an, während sie sorgfältig eine Pfütze vermied.

Sie blieb vor der Drogerie an der Ecke stehen, so daß sie in den drei riesigen Flaschen im Schaufenster ihr Spiegelbild sehen konnte. Sie sah eine grüne Mary Poppins, eine blaue Mary Poppins und eine rote Mary Poppins, alle auf einmal. Und eine jede trug eine funkelnagelneue, mit Messingknöpfen verzierte Lederhandtasche.

Mary Poppins spiegelte sich in den drei Flaschen und lächelte wohlgefällig und zufrieden. Ein paar Minuten verbrachte sie damit, die Handtasche bald in die rechte, bald in die linke Hand zu nehmen, um auf jede nur denkbare Weise festzustellen, was am vorteilhaftesten aussah. Schließlich entschied sie, daß die Tasche, unter den Arm geklemmt, den größten Eindruck machte. Deshalb ließ sie sie dort.

Jane und Michael standen neben ihr und wagten nicht, etwas zu sagen, doch warfen sie sich heimliche Blicke zu und seufzten innerlich. Von zwei Zacken des Regenschirms mit der Papageienkrücke tröpfelte ihnen der Regen unbehaglich in den Nacken.

»Vorwärts, laßt mich nicht warten!« sagte Mary Poppins ärgerlich und wandte sich von ihrem grünen, blauen und roten Spiegelbild ab. Jane und Michael wechselten einen vielsagenden Blick. Jane gab Michael einen Wink, ruhig zu sein. Sie schüttelte den Kopf und runzelte die Brauen. Doch da war es ihm schon entfahren:

»Wir nicht. Du hast uns warten lassen ...!«

»Halte den Mund!«

Michael wagte nichts mehr zu sagen. Er trottete mit Jane weiter, einer rechts, einer links von Mary Poppins. Manchmal mußten sie laufen, um mit ihren langen, raschen Schritten mitzukommen. Und manchmal mußten sie warten und traten dann von einem Fuß auf den andern, während Mary Poppins in ein Schaufenster spähte, um sich davon zu überzeugen, daß die Handtasche wirklich so hübsch aussah, wie sie sich's einbildete.

Es goß in Strömen, und der Regen spritzte vom Schirmdach auf Janes und Michaels Hüte. Unterm Arm trug Jane die sorgfältig in Papier eingeschlagene Porzellanschale. Sie brachten sie zu Mary Poppins' Vetter,

Mister Kuddelmuddel, dessen Beruf es war, alles mögliche zu reparieren, wie Mary Poppins Mistreß Banks versichert hatte.

»Na«, hatte Mistreß Banks etwas zweifelnd erklärt, »ich hoffe nur, er macht es ordentlich, denn solange sie nicht repariert ist, kann ich meiner Großtante Karoline nicht in die Augen sehen.«

Großtante Karoline hatte Mistreß Banks die Schale geschenkt, als diese kaum drei Jahre alt war, und alle wußten genau, daß Großtante Karoline eine ihrer berühmten Szenen machen würde, wenn es sich herausstellte, daß die Schale zerbrochen war.

»Die Leute in meiner Familie, Madam«, hatte Mary Poppins naserümpfend erwidert, »arbeiten immer zur Zufriedenheit.« Und sie hatte so grimmig ausgesehen, daß sich Mistreß Banks höchst unbehaglich fühlte; sie hatte sich hinsetzen und nach einer Tasse Tee läuten müssen.

Platsch! Da stand Jane mitten in einer Pfütze.

»Paß gefälligst auf, wo du hintrittst!« fuhr Mary Poppins sie an; dabei schüttelte sie ihren Schirm und sprühte die Tropfen über Jane und Michael. »Dieser Regen kann einem ja das Herz brechen.«

»Wenn er das täte, könnte Mister Kuddelmuddel es reparieren?« erkundigte sich Michael. Er wollte brennend gern wissen, ob Mister Kuddelmuddel alle zerbrochenen Gegenstände reparieren könnte oder nur bestimmte. »Könnte er das, Mary Poppins?«

»Noch ein Wort«, sagte Mary Poppins, »und es geht zurück nach Hause!«

»Ich frag ja bloß . .. « , sagte Michael düster.

Mary Poppins stieß einen ärgerlichen Laut aus, bog elegant um die Ecke und klopfte, nachdem sie ein altes Eisengitter geöffnet hatte, an die Tür eines kleinen, wackligen Hauses.

»Tapp — tapp — tappity — tapp!« Der Ton des Klopfers schallte hohl durch das Haus.

»Oje«, flüsterte Jane Michael zu, »wie schrecklich, wenn er nicht zu Hause wäre!«

Doch im gleichen Augenblick ertönten schwere Fußtritte, die ihnen entgegenstapften, und mit lautem Knarren öffnete sich die Tür.

Eine rundliche, rotgesichtige Frau, die eher aussah wie zwei aufein-andergesetzte Äpfel als wie ein menschliches Wesen, stand auf der Schwelle. Ihr glattes Haar war oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammengedreht, und ihr dünner Mund hatte einen eigensinnigen und mürrischen Ausdruck.

»Na!« sagte sie und glotzte. »Da sind Sie ja wieder!«

Sie schien nicht besonders erfreut zu sein, Mary Poppins zu sehen. Ebensowenig schien Mary Poppins erfreut, sie zu sehen.

»Ist Mister Kuddelmuddel da?« fragte sie, ohne auf die Bemerkung der rundlichen Frau einzugehen.

»Hm«, sagte die Frau mit unfreundlicher Stimme, »das ist nicht ganz heraus. Vielleicht, oder vielleicht auch nicht. Wie man's nimmt!«

Mary Poppins trat durch die Tür und spähte umher.

»Das ist doch sein Hut, oder nicht?« fragte sie und deutete auf einen alten Filzhut, der an einem Haken in der Diele hing.

»Natürlich ist er's — sozusagen.« Unwillig gab die rundliche Frau die Tatsache zu.

»Dann ist er da«, sagte Mary Poppins. »Keiner von meiner Familie geht je ohne Hut aus. Wir wissen zu genau, was sich gehört.«

»Alles, was ich Ihnen verraten kann, ist das, was er heute morgen zu mir sagte«, erklärte die rundliche Frau. »>Miß Törtchen<, sagte er, vielleicht bin ich heute nachmittag zu Hause, vielleicht auch nicht. Ich kann's wirklich nicht sagen.< Das hat er gesagt. Aber gehen Sie lieber hinauf und sehen Sie selbst nach. Ich bin kein Bergsteiger.«

Die rundliche Frau blickte auf ihren rundlichen Leib nieder und schüttelte den Kopf. Jane und Michael begriffen recht gut, daß eine Person von ihrer Größe und ihrem Umfang nicht dauernd Mister Kuddelmuddels enge und wacklige Treppen auf und ab klettern wollte.

Mary Poppins schnüffelte verächtlich.

»Folgt mir, bitte!« befahl sie Jane und Michael, und sie rannten hinter ihr her die knarrenden Treppen hinauf. Miß Törtchen blieb in der Diele stehen und verfolgte sie mit überlegenem Lächeln.

Oben auf dem Treppenabsatz klopfte Mary Poppins mit der Schirmkrücke an die Tür. Es kam keine Antwort. Abermals klopfte sie, lauter diesmal. Immer noch keine Antwort.

»Vetter Artur!« rief sie durchs Schlüsselloch, »Vetter Artur, bist du da drin?«

»Nein, ich bin draußen!« kam von innen eine Stimme wie aus weiter Ferne.

»Wie kann er draußen sein? Ich höre ihn doch!« flüsterte Michael Jane zu.

»Vetter Artur!« Mary Poppins rüttelte an der Türklinke. »Ich weiß, du bist da drin.«

»Nein, nein«, kam die weit entfernte Stimme. »Ich bin draußen, sag ich dir. Es ist der zweite Montag!«

»Oje! — das hab ich vergessen!« sagte Mary Poppins und drückte ärgerlich auf die Türklinke; die Tür flog auf.

Zunächst sahen Jane und Michael nur ein großes Zimmer, das, abgesehen von einer Hobelbank am anderen Ende, völlig leer zu sein schien. Auf dieser Bank lag ein Haufen seltsamer Dinge: Porzellanhunde ohne Nasen, Holzpferde, denen der Schwanz fehlte, angeschlagene Teller, zerbrochene Puppen, Messer ohne Knauf, Stühle mit nur zwei Beinen — kurz gesagt, ungefähr alles, was man überhaupt noch zu reparieren ver-suchen konnte. An den Wänden entlang standen Regale, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, und auch sie waren vollgestopft mit zerbrochenem Porzellan, zersprungenem Glas und kaputtem Spielzeug.

Aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen.

»Oh«, sagte Jane enttäuscht. »Er ist also doch ausgegangen!«

Aber Mary Poppins war an das Fenster gestürzt.

»Komm sofort herein, Artur! Bei diesem Regen draußen sein, und das mit deiner Bronchitis vom vorvorigen Winter!«

Und zu ihrer Verwunderung sahen Jane und Michael, wie sie nach einem langen Bein griff, das über dem Fenstersims hing, und wie sie von draußen einen langen, dünnen, traurig aussehenden Mann mit lang herabhängendem Schnurrbart hereinholte.

»Du solltest dich schämen«, sagte Mary Poppins barsch; während sie mit einer Hand Mister Kuddelmuddel festhielt, schloß sie mit der anderen das Fenster. »Wir haben dir eine wichtige Arbeit mitgebracht, und dabei benimmst du dich so.«

»Aber ich kann doch nichts dafür«, entschuldigte sich Mister Kuddelmuddel und wischte seine Augen mit einem großen Taschentuch. »Ich sagte doch gleich, daß heute der zweite Montag ist.«

»Was soll das heißen?« fragte Michael, der Mister Kuddelmuddel interessiert anstarrte.

»Ach«, sagte Mister Kuddelmuddel und wandte sich ihm zu, um ihm schlaff die Hand zu schütteln. »Es ist freundlich von dir, danach zu fragen. Sehr freundlich. Ich weiß es zu schätzen, wahrhaftig.« Er hielt inne, um sich erneut die Augen zu wischen. »Sieh mal«, fuhr er fort, »es ist so: an jedem zweiten Montag im Monat geht bei mir alles schief.«

»Was alles?« fragte Jane voll Mitgefühl für Mister Kuddelmuddel, aber auch sehr neugierig.

»Na, zum Beispiel heute!« sagte Mister Kuddelmuddel. »Heute ist zufällig der zweite Montag im Monat. Und wenn ich daheim bleiben möchte, weil ich so viel zu tun habe, bin ich unwillkürlich draußen. Und wenn ich gern draußen wäre, dann wäre ich drin. Das ist mal sicher.«

»Ich verstehe«, sagte Jane, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht recht begriff. »Deshalb also . . .?«

»Jawohl«, nickte Mister Kuddelmuddel. »Ich hörte euch die Treppe heraufkommen und wollte so gern hierbleiben. Aber natürlich, sobald ich mir das wünschte, da war ich auch schon draußen! Und wäre noch draußen, wenn Mary Poppins mich nicht beim Schlafittchen gefaßt hätte.« Er seufzte schwer.

»Natürlich ist es nicht immer so. Nur in den Stunden zwischen drei und sechs, aber selbst das kann sehr unangenehm sein.«

»Bestimmt«, sagte Jane mitfühlend.

»Und es handelt sich nicht nur um drinnen und draußen . ..«, fuhr

Mister Kuddelmuddel unglücklich fort. »Mit anderen Dingen ist es genauso. Wenn ich eine Treppe hinaufsteigen möchte, laufe ich sie statt dessen hinunter. Ich muß bloß nach rechts gehen wollen, und schon geh ich nach links. Und ich mache mich nie auf den Weg nach dem Westen, ohne daß ich mich plötzlich im Osten wiederfände.«

Mister Kuddelmuddel schneuzte sich die Nase.

»Und das Allerschlimmste ist«, erzählte er weiter, während seine Augen sich abermals mit Tränen füllten, »meine ganze Natur verändert sich. Seht mich jetzt an — ihr würdet kaum glauben, daß ich in Wirklichkeit ein glücklicher und zufriedener Mensch bin, wie?«

Und wahrhaftig sah Mister Kuddelmuddel so melancholisch und verzweifelt aus, daß man ihn sich unmöglich glücklich und zufrieden vorstellen konnte.

»Aber warum? Warum nur?« fragte Michael und starrte zu ihm empor.

Mister Kuddelmuddel schüttelte traurig den Kopf.

»Ach!« sagte er feierlich. »Ich hätte eigentlich ein Mädchen werden sollen.«

Jane und Michael starrten erst ihn und dann sich gegenseitig an. Was konnte er damit meinen?

»Seht mal«, erklärte Mister Kuddelmuddel, »meine Mutter wünschte sich ein Mädchen, und als ich ankam, stellte sich's heraus, daß ich ein Junge war. So ging es von Anfang an mit mir schief — vom Tage meiner Geburt an. Und das war der zweite Montag im Monat.«

Wieder begann Mister Kuddelmuddel zu weinen; er schluchzte leise in sein Taschentuch.

Jane tätschelte ihm freundlich die Hand.

Das schien ihm zu gefallen, obwohl er nicht lächelte.

»Und natürlich«, fuhr er fort, »ist es sehr hinderlich für meine Arbeit. Seht mal dorthin!«

Er deutete auf eines der größeren Regale; dort stand eine ganze Reihe von Herzen, verschieden in Größe und Farbe, jedes einzelne mit einem Sprung oder angeschlagen oder völlig zerbrochen.

»Gerade die hier«, sagte Mister Kuddelmuddel, »werden möglichst rasch gebraucht. Ihr ahnt gar nicht, wie böse die Leute werden, wenn ich ihnen ihre Herzen nicht sofort wieder zurückschicke. Sie schlagen deswegen mehr Lärm als um alles andere. Und ich wage es einfach nicht, sie vor sechs Uhr anzurühren. Ich würde sie ruinieren — wie die Sachen dort!«

Er deutete mit einem Nicken auf ein anderes Regal. Jane und Michael blickten hin und sahen, daß es vollgestopft war mit Gegenständen, die falsch repariert worden waren. Eine Porzellanschäferin war von ihrem Porzellanschäfer getrennt worden, und ihre Arme klebten jetzt an einem Messinglöwen, den sie umhalste; eine Matrosenpuppe, die jemand aus ihrem Boot herausgebrochen hatte, war jetzt auf einer Porzellanplatte befestigt; und in dem Boot befand sich, den Rüssel um den Mast geringelt und mit Heftpflaster festgeklebt, ein grauer Stoffelefant. Zerbrochene Saucenschüsseln waren mit anders gemusterten Scherben zusammengekittet, und das Bein eines Holzpferdchens bildete den Henkel eines silbernen Taufbechers.

»Seht ihr wohl?« sagte Mister Kuddelmuddel hoffnungslos, mit einer unbestimmten Handbewegung.

Jane und Michael nickten. Mister Kuddelmuddel tat ihnen leid.

»Aber darum geht's jetzt nicht«, mischte sich Mary Poppins ungeduldig ein. »Sieh dir diese Schale hier an! Wir haben sie dir zur Reparatur mitgebracht.«

Sie nahm Jane die Schale ab, und Mister Kuddelmuddel immer noch mit einer Hand festhaltend, knüpfte sie mit der anderen die Schnur auf.

»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel. »Aus der Königlichen Porzellanfabrik. Ein böser Sprung. Sieht aus, als hätte jemand was draufgewor-fen.«

Jane fühlte, wie sie bei diesen Worten rot wurde.

»Immerhin«, fuhr er fort, »wenn's an einem anderen Tag wäre, könnte ich sie reparieren. Aber heute . . .« Er zögerte.

»Ach, Unfug! Es ist doch ganz einfach. Du brauchst nur hier und hier und da ein bißchen zu kitten!«

Mary Poppins deutete auf den Sprung und ließ dabei Mister Kuddelmuddels Hand fallen.

Sofort drehte er sich wie ein Rad durch die Luft.

»Oh!« schrie Mister Kuddelmuddel. »Warum hast du losgelassen? Ich Armer, jetzt treibt es mich wieder fort!«

»Rasch, die Tür zu!« rief Mary Poppins. Jane und Michael stürzten davon und schlossen die Tür gerade noch, bevor Mister Kuddelmuddel sie erreichte. Er stieß heftig dagegen, prallte wieder ab und überschlug sich mit äußerst traurigem Blick graziös in der Luft.

Plötzlich erstarrte er in einer höchst seltsamen Stellung. Anstatt auf die Füße zu kommen, stand er auf dem Kopf.

»Oje, oje!« sagte Mister Kuddelmuddel und strampelte mit den Beinen, »oje, oje!«

Aber trotzdem kam er mit den Füßen nicht auf den Boden. Sie blieben, wo sie waren, und schwebten sanft in der Luft.

»Na schön«, bemerkte Mister Kuddelmuddel melancholisch. »Vielleicht sollte ich froh sein, daß es nicht noch schlimmer ist. Das hier ist bestimmt besser, wenn auch nicht viel besser, als draußen im Regen zu hängen, ohne einen Stuhl zum Sitzen und ohne Mantel. Nun seht ihr's«, er blickte Jane und Michael an, »ich möchte so gern aufrecht stehen, und deshalb — mein Pech! — steh ich auf dem Kopf. Na schön, macht auch nichts. Ich sollte langsam daran gewöhnt sein. Hatte fünfundvierzig Jahre Zeit dazu. Gib mir die Schale.«

Michael rannte zu Mary Poppins hin, holte die Schale und setzte sie neben Mister Kuddelmuddels Kopf auf den Fußboden. Dabei überkam ihn plötzlich ein seltsames Gefühl. Ihm war, als würden seine Füße vom Fußboden weggestoßen und in die Luft gekippt.

»Oh!« schrie er. »Mir ist so merkwürdig. Was geschieht mit mir?«

Denn inzwischen drehte auch er sich wie ein Rad in der Luft, flog im Raum auf und ab und landete schließlich kopfunter neben Mister Kuddelmuddel auf dem Fußboden.

»Nun brat mir einer 'nen Storch!« sagte Mister Kuddelmuddel überrascht und warf Michael aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Ich wußte nicht, daß es ansteckend ist. Du auch? Bei allen . . . halt, halt, sag ich! Bleib ruhig! Du stößt mir sonst die Sachen von den Regalen, wenn du nicht vorsichtig bist, und ich muß ersetzen, was kaputtgeht. Was machst du bloß?«

Er wandte sich jetzt an Jane, deren Füße plötzlich vom Teppich weggerissen wurden und in schwindelerregender Weise über ihrem Kopf her-umzuwirbeln begannen. Um und um drehte es sie — bald den Kopf, bald die Füße in der Luft —, bis sie schließlich auf der anderen Seite von Mister Kuddelmuddel wieder herunterkam und auch auf dem Kopf stand.

»Weißt du«, sagte Mister Kuddelmuddel, sie feierlich anstarrend, »das ist aber sehr seltsam. Meines Wissens ist das noch keinem andern passiert. Auf mein Wort, niemals! Hoffentlich nimmst du es nicht übel?«

Jane lachte, wandte ihm den Kopf zu und strampelte mit den Beinen in der Luft. »I bewahre, besten Dank. Ich hab mir immer schon gewünscht, auf dem Kopf stehen zu können, und hab es bisher niemals fertiggebracht. Es ist sehr bequem.«

»Hm«, sagte Mister Kuddelmuddel mit leichtem Zweifel. »Ich bin froh, daß es wenigstens einem gefällt. Von mir kann ich das nicht behaupten.«

»Aber ich«, sagte Michael, »ich wünschte, ich könnte mein ganzes Leben lang so bleiben. Alles sieht so vergnügt und anders aus.«

Und in der Tat, alles war anders. Von ihrer seltsamen Stellung auf dem Fußboden aus konnten Jane und Michael sehen, daß die Gegenstände auf der Hobelbank alle umgekehrt lagen — Porzellanhunde, zerbrochene Puppen, Holzstühle, alles stand auf dem Kopf.

»Guck!« flüsterte Jane Michael zu. Er drehte, so weit er konnte, den Kopf. Und da, aus einem Loch in der Bodenleiste, kam eine kleine Maus herausgekrochen. Sie hüpfte, Purzelbaum schlagend, mitten ins Zimmer, kippte hoch und balancierte auf der Nasenspitze zierlich vor ihnen herum. Sie beobachteten sie eine Weile. Dann sagte Michael plötzlich:

»Guck mal aus dem Fenster, Jane!«

Sie wandte vorsichtig den Kopf, was ziemlich schwierig war, und entdeckte zu ihrer Verblüffung, daß außerhalb des Zimmers alles ebenso verdreht war wie drin. Draußen auf der Straße standen die Häuser kopf. Ihre Schornsteine ruhten auf dem Pflaster, und ihre Vortreppen, aus denen kleine Rauchwölkchen emporkräuselten, ragten in die Luft. Etwas weiter entfernt war eine Kirche gekentert und balancierte, reichlich kopflastig, auf ihrer Kirchturmspitze. Und der Regen, der bisher stets vom Himmel herabgeströmt war, drang jetzt in einem gleichmäßigen, alles durchnässenden Rieseln aus der Erde.

»Ach«, sagte Jane. »Wie wundervoll seltsam ist das alles! Als wären wir in einer andern Welt. Wie bin ich froh, daß wir gerade heute kamen.«

»Na«, sagte Mister Kuddelmuddel traurig, »du bist sehr freundlich, das muß ich sagen. Du verstehst es, Komplimente zu machen. Und nun, was machen wir mit der Schale?«

Er streckte die Hand aus, um sie aufzunehmen, aber im gleichen Augenblick kippte die Schale um und lag auf der Nase. Das geschah so schnell und wirkte so komisch, daß Jane und Michael unwillkürlich lachen mußten.

»Für mich«, erklärte Mister Kuddelmuddel unglücklich, »ist das nicht zum Lachen. Das versichere ich euch. Ich muß sie von der falschen Seite kitten — und wenn es zu sehen ist, so ist es halt zu sehen. Ich kann's nicht ändern.« Er zog sein Werkzeug aus der Tasche und reparierte die Schale, bei der Arbeit leise vor sich hin weinend.

»Hmpf«, sagte Mary Poppins und bückte sich, um die Schale aufzuheben. »Das wäre geschehen. Und jetzt wollen wir gehen.«

Da fing Mister Kuddelmuddel erbarmungswürdig an zu schluchzen.

»So ist's recht, geht nur!« sagte er bitter. »Bleibt nur ja nicht hier und steht mir in meinem Unglück bei. Streckt mir keine freundliche Hand entgegen. Ich bin es ja nicht wert. Ich hatte gehofft, ihr würdet mir die Ehre antun und ein paar Erfrischungen zu euch nehmen. Es ist ein Pflaumenkuchen da. Er liegt in einem Blechkasten oben auf dem Regal. Aber ich hab wohl kein Recht, so etwas zu erwarten. Ihr müßt euer eigenes Leben leben, und ich darf euch nicht bitten, bei mir zu bleiben und mir das meine zu erleichtern. Heute ist nicht mein Glückstag ...«

»Nun...«, begann Mary Poppins und hörte auf, ihre Handschuhe weiter zuzuknöpfen.

»Ach, bleib doch, Mary Poppins, bleib!« riefen Jane und Michael wie aus einem Munde und tanzten fröhlich auf ihren Köpfen.

»Du kannst leicht zum Kuchen hinaufgelangen, wenn du dich auf einen Stuhl stellst!« sagte Jane hilfreich.

Zum erstenmal lachte Mister Kuddelmuddel. Es klag reichlich melancholisch, aber immerhin lachte er.

»Die braucht keinen Stuhl«, sagte er und kicherte kläglich. »Die bekommt, was sie will und wie sie es will. — Die bestimmt.«

Da tat, vor den erstaunten Augen der Kinder, Mary Poppins etwas Seltsames. Sie reckte sich steif auf den Zehenspitzen hoch und hielt sich einen Augenblick in der Schwebe. Dann, ganz langsam und auf höchst merkwürdige Art, schlug sie sieben Saltos durch die Luft. Und so — die Röcke umspannten dabei ihre Fesseln, der Hut saß kerzengerade auf ihrem Kopf — wirbelte sie am Regal hoch, ergriff den Kuchen und landete vor Mister Kuddelmuddel und den Kindern auf dem Kopf.

»Hurra! Hurra! Hurra!« schrie Michael begeistert. Doch vom Fußboden her warf Mary Poppins ihm einen Blick zu, daß er wünschte, er wäre lieber ruhig gewesen und hätte nichts gesagt.

»Danke, Mary«, murmelte Mister Kuddelmuddel traurig, doch keineswegs überrascht.

»So!« sagte Mary Poppins. »Das ist das letzte, was ich heute für euch tue!« Sie stellte die Blechdose vor Mister Kuddelmuddel hin.

Sofort kippte sie mit leichtem Schwanken um. Jedesmal, wenn Mister Kuddelmuddel sie wieder mit dem Deckel nach oben vor sich hinstellte, drehte sie sich um und fiel wieder auf den Kopf.

»Ach«, sagte er entmutigt, »das hätte ich wissen können! Nichts hat heute seine Richtigkeit, nicht einmal die Kuchenbüchse. Wir werden den Boden aufschneiden müssen. Ich werde mal. . .«

Und er stolperte auf seinem Kopf zur Tür und rief durch den Spalt an der Schwelle: »Miß Törtchen! Miß Törtchen! Es tut mir leid, daß ich Sie stören muß; könnten Sie ... würden Sie ... macht es Ihnen was aus, einen Büchsenöffner zu bringen?«

Von weitem, aus dem unteren Stockwerk, ertönte Miß Törtchens Stimme, die grimmig protestierte.

»Ruhe!« krächzte plötzlich eine Stimme laut durch das Zimmer. »Ruhe! Und Schluß mit dem Unfug! Störe die Frau nicht! Laß Polly das tun! Die hübsche Polly! Die kluge Polly!«

Den Kopf wendend, stellten Jane und Michael zu ihrer Überraschung fest, daß die Stimme aus der papageienköpfigen Krücke von Mary Poppins' Schirm kam, der gerade radschlagend zu dem Kuchen hinrollte. In zwei Sekunden hatte der Schnabel ein großes Loch hineingehackt.

»So!« kreischte der Papageienkopf selbstgefällig. »Polly hat's fertiggebracht! Die hübsche Polly!« Und ein glückliches, selbstzufriedenes Lächeln breitete sich um seinen Schnabel, als er sich kopfunter neben Mary Poppins auf dem Fußboden niederließ.

»Nun, das war sehr freundlich, wirklich sehr freundlich«, sagte Mister Kuddelmuddel mit seiner düsteren Stimme, als die dunkle Kruste des Kuchens zum Vorschein kam.

Er zog ein Messer heraus und schnitt ein Stück ab. Plötzlich stutzte er und untersuchte den Kuchen genauer. Dann blickte er Mary Poppins vorwurfsvoll an.

»Das ist dein Werk, Mary! Leugne es nicht. Dieser Kuchen war beim letzten Öffnen ein Pflaumenkuchen, und nun . . .«

»Biskuit ist sehr viel bekömmlicher«, sagte Mary Poppins spitz. »Eßt gefälligst langsam. Ihr seid keine halbverhungerten Wilden!« fuhr sie Jane und Michael an, jedem ein kleines Stück reichend.

»Alles schön und gut«, murrte Mister Kuddelmuddel verbittert, während er sein Stück mit zwei Bissen verschlang. »Aber ich äße gern ein Stückchen Pflaumenkuchen oder zwei, das muß ich gestehen. Na schön, es ist halt nicht mein Glückstag heute!« Er brach ab, denn es pochte laut an der Tür. »Herein!« rief er mürrisch.

Miß Törtchen, die wenn möglich noch runder aussah und vom Treppensteigen keuchte, stürzte ins Zimmer.

»Der Büchsenöffner, Mister Kuddelmuddel...«, begann sie barsch. Dann hielt sie inne und staunte.

»Aijai«, sagte sie, den Mund sperrangelweit offen, während ihr der Büchsenöffner aus den Fingern glitt. »So was hab ich mein Lebtag nicht gesehen. Und auch nicht erwartet!«

Sie trat einen Schritt vor und starrte mit tiefster Verachtung auf die vier Paar in der Luft zappelnden Füße.

»Kopfunter — alle miteinander — wie Fliegen an der Decke! Und Sie bilden sich ein, anständige Menschen zu sein? Für eine Dame von meinem Stand ist hier kein Platz. Ich werde das Haus augenblicklich verlassen, Mister Kuddelmuddel. Nehmen Sie das zur Kenntnis, bitte!«

Sie rauschte ärgerlich zur Tür.

Doch bei ihren ersten Schritten hoben ihre weiten wogenden Röcke sie plötzlich in einen Wirbel vom Fußboden auf.

Ein tödliches Erschrecken malte sich auf ihrem Gesicht.

»Mister Kuddelmuddel! Mister Kuddelmuddel! Fangen Sie mich! Halten Sie mich fest! Hilfe! Hilfe!« schrie Miß Törtchen, als auch sie radzuschlagen begann.

»Oh, oh, die Welt ist zu einer Spindel geworden! Was mach ich nur? Hilfe! Hilfe!« kreischte sie, als es sie wieder herumzudrehen begann.

Bei diesem Herumwirbeln verwandelte sie sich auf seltsame Weise. Ihr rundes Gesicht verlor den mürrischen Ausdruck und begann lächelnd zu strahlen. Und Jane und Michael sahen zu ihrer höchsten Überraschung, wie sich ihr straffes Haar in zahllosen kleinen Löckchen kräuselte, während sie so durchs Zimmer drehte und wehte. Als sie wieder zu sprechen begann, klang ihre mürrische Stimme süß wie ein Honigbonbon.

»Was ist denn los mit mir?« rief Miß Törtchens neue Stimme. »Ich fühle mich wie ein Ball! Oder vielleicht wie ein Ballon oder wie ein Kirschtörtchen!« Sie brach in ein glückliches Gelächter aus.

»Du meine Güte, wie glücklich ich bin!« trillerte sie, durch die Luft trudelnd. »Noch nie hab ich mein Leben so genossen wie jetzt; wenn es nach mir ginge, ich hörte gar nicht mehr auf. Was für ein angenehmes Gefühl! Ich werde das nach Hause schreiben, meiner Schwester, meinen Kusinen und Onkeln und Tanten. Ich werde ihnen erklären, daß es die einzig vernünftige Art ist, so zu leben: kopfüber, kopfunter, kopfüber, kopfunter, kopfüber, kopfunter . . .«

Und fröhlich vor sich hin summend trudelte Miß Törtchen immer rundum. Jane und Michael beobachteten sie entzückt und Mister Kuddelmuddel erstaunt, denn er hatte Miß Törtchen nie anders als mürrisch und unfreundlich kennengelernt.

»Höchst seltsam! Höchst seltsam!« bemerkte Mister Kuddelmuddel zu sich selbst und schüttelte, obwohl er darauf stand, den Kopf.

Wieder klopfte es an der Tür.

»Wohnt hier jemand namens Kuddelmuddel?« erkundigte sich eine Stimme. Auf der Schwelle stand der Postbote mit einem Brief in der Hand und blickte verdutzt auf das Bild, das sich ihm bot.

»Heiliger Strohsack!« bemerkte er und rückte seine Mütze ins Genick. »Ich muß verkehrt gegangen sein. Ich suche einen vornehmen, ruhigen Herrn namens Kuddelmuddel. Ich habe einen Brief für ihn. Außerdem hab ich meiner Frau versprochen, früh zu Hause zu sein, und ich habe mein Wort gebrochen und dachte . . .«

»Ha!« sagte Mister Kuddelmuddel vom Fußboden. »Ein gebrochenes Versprechen ist etwas, was ich nicht reparieren kann. Tut mir leid!«

Der Briefträger blickte starr zu ihm hinunter.

»Träum ich oder nicht?« murmelte er. »Mir scheint, ich bin in eine Gesellschaft von wirbelnden Verrückten geraten!«

»Geben Sie mir den Brief, lieber Herr Briefträger! Geben Sie Topsy Törtchen den Brief und schlagen Sie Rad mit mir. Mister Kuddelmuddel ist beschäftigt, wie Sie sehen!«

Miß Törtchen trudelte auf den Briefträger zu und ergriff ihn bei den Händen. Sowie sie ihn berührte, schlitterten seine Füße vom Fußboden in die Luft. Und fort ging's; der Briefträger und Miß Törtchen, Hand in Hand, rollten herum wie zwei Fußbälle. »Wie herrlich ist das!« rief Miß Törtchen glücklich. »Ach, lieber Herr Briefträger, wir genießen unser Leben zum erstenmal und auf die angenehmste Weise! Achtung, wir kippen wieder! Ist das nicht wundervoll?«

»Jawohl!« jauchzten Jane und Michael und beteiligten sich an dem wirbelnden Tanz des Briefträgers mit Miß Törtchen.

Bald darauf schloß sich auch Mister Kuddelmuddel an, der sich seltsam hüpfend und springend durch die Luft bewegte. Mary Poppins und ihr Schirm folgten; höchst würdevoll drehten sie sich gleichmäßig und genau um und um. Da waren sie nun alle dabei, sich drehend und radschlagend, während die Welt um sie her Karussell fuhr und Miß Törtchens glückliche Juchzer durchs Zimmer schallten.

»Vom Fuß bis zum Schopf, Die Stadt steht kopf!«

sang sie hüpfend und springend.

Und oben auf den Regalen wirbelten die angeknacksten und zersprungenen Herzen und drehten sich wie die Brummkreisel; die Schäferin tanzte graziös mit ihrem Löwen, der graue Tuchelefant stand auf den Vorderbeinen im Boot und schlug mit den Hinterfüßen in die Luft, und die Matrosenpuppe tanzte ihren Schottischen, nicht auf den Füßen, sondern auf dem Kopf, der auf der Porzellanplatte immer wieder zierlich aufschlug.

»Wie bin ich heute glücklich!« sang Jane, während sie durchs Zimmer sauste.

»Und ich erst!« schrie Michael, der Saltos durch die Luft drehte.

Mister Kuddelmuddel wischte sich die Augen mit dem Taschentuch, als er vom Fenstersims abprallte.

Mary Poppins und ihr Schirm sagten gar nichts; sie segelten nur, Kopf nach unten, ruhig rundum.

»Wie sind wir alle glücklich!« sang Miß Törtchen.

Aber der Briefträger hatte inzwischen die Sprache wiedergefunden und war nicht ihrer Meinung.

»Halt!« brüllte er, als er gerade wieder hintenüber kippte. »Hilfe! Hilfe! Wo bin ich? Wer bin ich? Was bin ich? Ich habe keine Ahnung! Ich bin verloren! Hilfe!«

Aber keiner half ihm, und von Miß Törtchen festgehalten, wirbelte er weiter.

»Immer ein ruhiges Leben geführt, das hab ich!« seufzte er. »Mich wie ein anständiger Bürger benommen, das auch. Ach, was wird meine Frau dazu sagen! Und wie komm ich nach Hause? Hilfe! Feuer! Diebe!«

Und mit einer gewaltigen Anstrengung riß er seine Hand aus der von Miß Törtchen. Er ließ den Brief fallen, rollte aus der Tür und die Treppe hinunter, immer noch Hals über Kopf und laut schreiend:

»Ich werde Sie verklagen! Ich rufe die Polizei! Ich spreche mit dem Oberpostdirektor!«

Seine Stimme erstarb, je weiter er die Treppe hinabbumste.

»Ping ping ping ping ping ping!«

Die Uhr draußen auf dem Platz schlug sechs.

Im gleichen Augenblick stießen Janes und Michaels Füße mit einem Plumps auf den Fußboden; plötzlich standen sie wieder aufrecht, fühlten sich aber noch etwas schwindlig.

Graziös landete Mary Poppins rechts von ihnen, so elegant und untadelig anzusehen wie eine Schaufensterpuppe.

Der Schirm machte noch eine Umdrehung und blieb auf der Spitze stehen. Mister Kuddelmuddel krabbelte, heftig strampelnd, auf die Füße.

Die Herzen oben auf den Regalen standen wieder still und stumm, und auch die Schäferin und ihr Löwe bewegten sich nicht, sowenig wie der graue Tuchelefant oder die Matrosenpuppe. Wenn man sie ansah, hätte man niemals vermuten können, daß sie noch vor kurzem alle miteinander auf dem Kopf herumgetanzt waren.

Nur Miß Törtchen kreiselte noch durchs Zimmer, kopfüber, kopfunter, glücklich lachend und ihr Lied vor sich hin summend:

»Vom Fuß bis zum Schopf, Die Stadt steht kopf! Was soll das nur heute, Ihr ulkigen Leute!«

»Miß Törtchen! Miß Törtchen!« rief Mister Kuddelmuddel und rannte, ein seltsames Licht in den Augen, auf sie zu. Er hielt sie am Arm fest, als sie vorbeiwirbelte, und ließ nicht eher los, als bis sie auf beiden Füßen neben ihm stand.

»Wie sagten Sie, daß Sie heißen?« fragte Mister Kuddelmuddel, keuchend vor Anstrengung.

Miß Törtchen wurde plötzlich rot. Scheu blickte sie ihn an.

»Ach, Törtchen, Topsy Törtchen!«

Mister Kuddelmuddel ergriff ihre Hand.

»Wollen Sie mich heiraten, Miß Törtchen, und Topsy Kuddelmuddel werden? Es würde für mich so sehr viel bedeuten. Und mir scheint, Sie sind so glücklich geworden, daß Sie vielleicht auch nachsichtig genug sein werden, sich über meine zweiten Montage hinwegzusetzen.«

»Hinwegsetzen, Mister Kuddelmuddel? Ei, sie werden künftig mein größtes Vergnügen sein!« sagte Miß Törtchen. »Ich habe heut die ganze Welt kopfstehen sehen und dadurch einen neuen Blickpunkt gewonnen. Ich versichere Ihnen, ich werde mich jeden Monat auf den zweiten Montag freuen!«

Sie lachte schüchtern und reichte Mister Kuddelmuddel auch ihre andere Hand. Und auch Mister Kuddelmuddel lachte, wie Jane und Michael freudig feststellten.

»Es ist sechs Uhr vorbei, ich glaube, jetzt kann er wieder er selbst sein«, wisperte Michael Jane zu.

Jane antwortete nicht. Sie beobachtete gerade die Maus. Die stand nicht länger auf der Nase, sondern eilte, mit einem großen Kuchenkrümel in der Schnauze, zu ihrem Loch zurück.

Mary Poppins hob die große Porzellanschale auf und begann sie einzuwickeln.

»Hebt eure Taschentücher auf, bitte — und setzt euch den Hut gerade«, sagte sie barsch.

»Und nun .. .«, sie ergriff ihren Schirm und schob die neue Handtasche unter den Arm.

»Aber wir gehen doch noch nicht, Mary Poppins?« fragte Michael.

»Wenn du gewöhnt bist, die ganze Nacht aufzubleiben, ich bin's nicht«, bemerkte sie und drängte ihn zur Tür.

»Müßt ihr wirklich gehen?« sagte Mister Kuddelmuddel, doch wie es schien, mehr aus Höflichkeit. Er hatte nur noch Auge n für Miß Törtchen.

Aber Miß Törtchen kam auf sie zu, lächelnd und ihre Locken schüttelnd.

»Kommt wieder«, sagte sie und reichte jedem die Hand. »Tut es auch wirklich! Mister Kuddelmuddel und ich...«, sie schlug errötend die Augen nieder, »wir werden an jedem zweiten Montag um die Teezeit zu Hause sein, nicht wahr, Artur?«

»Nun«, sagte Mister Kuddelmuddel, »wir werden zu Hause sein, wenn wir nicht draußen sind — das ist mal sicher!« Und er lachte, und Jane und Michael lachten auch.

Er und Miß Törtchen blieben oben auf der Treppe stehen und winkten Mary Poppins und den Kindern ein Lebewohl nach. Miß Törtchen errötete glücklich, und Mister Kuddelmuddel hielt Miß Törtchen an der Hand und sah sehr stolz aus und nahm sich wichtig.

»Ich wußte gar nicht, daß es so leicht ist«, sagte Michael zu Jane, als sie unter Mary Poppins' Schirm durch den Regen platschten.

»Was leicht ist?« fragte Jane.

»Auf dem Kopf stehen. Ich werd's zu Hause noch weiter üben.«

»Ich wünschte, wir hätten auch einen zweiten Montag«, meinte Jane.

»Macht gefälligst, daß ihr hineinkommt!« sagte Mary Poppins; sie schloß ihren Schirm und drängte die Kinder vor sich her, die Wendeltreppe zum Oberdeck des Autobusses hinauf.

Nebeneinander saßen die beiden hinter ihr und unterhielten sich leise über alles, was sie am Nachmittag erlebt hatten.

Mary Poppins drehte sich um und starrte sie an.

»Flüstern ist unhöflich«, sagte sie streng. »Und haltet euch grade beim Sitzen. Ihr seid doch keine Mehlsäcke!«

Ein paar Minuten lang blieben sie stumm. Mary Poppins, auf ihrem Sitz halb umgewandt, beobachtete sie ärgerlich.

»Was für eine komische Familie du doch hast«, bemerkte Michael zu ihr, mit dem Versuch, Konversation zu machen.

Ihr Kopf flog mit einem Ruck hoch.

»Komisch? Was meinst du bitte mit — komisch?«

»Na, eben — seltsam. Mister Kuddelmuddel beim Radschlagen und Kopfstehen ...«

Mary Poppins starrte ihn an, als traute sie ihren Ohren nicht.

»Habe ich recht verstanden«, begann sie und zerbiß gleichsam die Worte, »sagtest du wirklich, mein Vetter hätte radgeschlagen? Und hätte auf ... «

»Aber er hat es doch getan«, protestierte Michael nervös. »Wir haben es doch gesehen.«

»Auf dem Kopf? Ein Verwandter von mir? Auf dem Kopf? Und herumwirbelnd wie ein Feuerwerkskörper?« Mary Poppins schien kaum imstande, eine so fürchterliche Behauptung zu wiederholen, sie blickte Michael durchdringend an.

»Das ist doch . . .«, begann sie, und er schrak vor der Drohung ihrer wild flammenden Augen zurück. »Das ist wohl das Letzte! Erst bist du frech zu mir, und dann beleidigst du meinen Verwandten. Es fehlt nur noch ein kleines bißchen — ein ganz kleines bißchen —, und ich kündige. So — ich hab dich gewarnt.«

Mit diesen Worten fuhr sie auf ihrem Sitz herum und drehte ihnen den Rücken zu. Und selbst von hinten sah sie ärgerlicher aus, als die beiden sie jemals gesehen hatten.

Michael beugte sich vor. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er.

Von dem Sitz vor ihnen kam keine Antwort.

»Es tut mir leid, Mary Poppins!«

»Hmpf!«

»Schrecklich leid!«

»Das will ich hoffen!« erwiderte sie, blickte aber immer noch stracks vor sich hin.

Michael beugte sich zu Jane hinüber.

»Aber ich hab doch die Wahrheit gesagt. Oder nicht?« flüsterte er.

Jane schüttelte verweisend den Kopf und legte einen Finger auf die Lippen. Sie blickte starr auf Mary Poppins' Hut. Und als sie sicher war, daß Mary Poppins nichts bemerkte, deutete sie auf die Krempe.

Da lagen, auf dem schwarzen Stroh glänzend, ein paar verstreute Krumen, gelbe Krümel von einem Biskuit, genau die Art Krümel, die man auf dem Hut einer Person zu finden erwartete, die ihren Tee im Kopfstand eingenommen hatte.

Michael blickte einen Augenblick stumm auf die Krümel. Dann drehte er sich um und nickte Jane verständnisvoll zu.

So saßen sie denn, auf und ab hopsend, während der Bus heimwärts rumpelte. Mary Poppins' Rücken, steif und ärgerlich, war wie eine schweigende Drohung. Sie wagten es nicht, sie anzusprechen. Aber jedesmal, wenn der Autobus um eine Ecke bog, sahen sie, wie die Krümel auf der Hutkrempe radschlugen . ..

5. Kapitel. Der Neuankömmling

»Aber warum müssen wir denn mit Ellen Spazierengehen?« brummte Michael und schlug das Gattertor zu. »Ich kann sie nicht leiden. Ihre Nase ist mir zu rot.«

»Pst!« sagte Jane. »Sie kann dich hören.«

Ellen, die den Kinderwagen vor sich herstieß, drehte sich um.

»Du bist ein gräßlicher, unfreundlicher Junge, Michael. Ich tue nur meine Pflicht, das ist mal sicher. Es ist für mich kein Vergnügen, bei dieser Hitze spazierenzugehen — so, da hast du's!«

Sie schneuzte ihre rote Nase in ein grünes Taschentuch.

»Warum gehst du denn dann?« fragte Michael.

»Weil Mary Poppins keine Zeit hat. Na, komm schon weiter, sei ein guter Junge, und ich kauf dir für einen Penny Bonbons.«

»Ich will keine Bonbons«, murrte Michael. »Ich will Mary Poppins.«

Plopp —plopp. Plopp —plopp. Ellens Füße wanderten langsam und schwer die Straße hinunter.

»Ich kann durch jede Ritze meines Strohhutes einen Regenbogen sehen«, sagte Jane.

»Ich nicht«, sagte Michael unwirsch. »Ich kann nur mein Seidenfutter sehen.«

Ellen blieb an der Ecke stehen und sah sich ängstlich den Verkehr auf der Straße an.

»Kann ich helfen?« erkundigte sich der Schutzmann, hilfreich hinzuspringend.

»Ach«, sagte Ellen errötend, »wenn Sie uns auf die andere Seite hinüberbringen wollten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mit meiner starken Erkältung und den vier Kindern, auf die ich aufpassen muß, weiß ich selbst nicht, ob ich auf dem Kopf stehe oder auf den Füßen.« Wieder schneuzte sie sich.

»Aber das mußt du doch wissen! Du brauchst doch nur nachzusehen!« sagte Michael und dachte darüber nach, wie wahrhaft scheußlich Ellen war.

Aber der Schutzmann war augenscheinlich anderer Meinung, denn er ergriff mit der einen Hand Ellens Arm und mit der anderen den Griff des Kinderwagens und führte sie so zärtlich über die Straße, als wäre sie seine Braut.

»Haben Sie mal 'nen Tag frei?« erkundigte er sich und blickte Ellen gespannt in das rote Gesicht.

»Na«, sagte Ellen. »Sagen wir 'nen Nachmittag. Jeden zweiten Sonnabend.« Sie putzte sich nervös die Nase.

»Komisch«, sagte der Schutzmann. »Das sind auch meine Ausgehtage. Und gewöhnlich bin ich gegen zwei Uhr mittags hier in der Gegend.«

»Oh!« sagte Ellen und machte den Mund sperrangelweit auf.

»So!« sagte der Schutzmann mit einem höflichen Nicken.

»Schön, ich will sehen«, sagte Ellen. »Leben Sie wohl.«

Und sie ging schwerfällig weiter, sich hin und wieder umsehend, ob der Schutzmann ihr immer noch nachblickte.

Und das tat er.

»Mary Poppins braucht nie einen Schutzmann«, beschwerte sich Michael. »Was hat sie nur heute zu tun?«

»Zu Hause geht etwas sehr Wichtiges vor«, sagte Jane. »Das ist mal sicher.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab so ein ungewisses, leeres Gefühl innerlich.«

»Puh«, machte Michael. »Wahrscheinlich bist du hungrig! Können wir nicht schneller gehen, Ellen, und es hinter uns bringen?«

»Der Junge«, sprach Ellen zum Parkgitter, »hat ein Herz von Stein. — Nein, das geht nicht, Michael, wegen meiner Füße.«

»Was fehlt ihnen denn?«

»Die wollen nicht schneller gehen.«

»Ach, meine liebe Mary Poppins!« sagte Michael bitter.

Seufzend trollte er hinter dem Kinderwagen her. Jane ging neben ihm und zählte die Regenbogen durch ihre Hutritzen.

Ellens langsame Füße stampften gemächlich weiter. Eins, zwei — eins, zwei. Plopp-plopp. Plopp-plopp . . .

Und fern von ihnen, hinten im Kirschbaumweg, trug sich das bedeutende Ereignis zu.

Von außen gesehen, wirkte Nummer siebzehn ebenso friedlich und verschlafen wie die anderen Häuser. Doch hinter den herabgezogenen Rolläden herrschte eine so wilde Geschäftigkeit, daß, wäre es nicht Sommer gewesen, ein Passant hätte glauben können, die Bewohner des Hauses hielten ihren Frühjahrsputz oder bereiteten eine Weihnachtsbescherung vor.

Das Haus selber stand blitzend im Sonnenschein und kümmerte sich um nichts. Schließlich, dachte es, hab ich schon öfters solche Geschäftigkeit erlebt, und es wird wohl auch nicht das letztemal sein; warum soll ich mir deswegen graue Haare wachsen lassen?

Aber da gerade riß Mistreß Brill die Türe auf, und Doktor Simpson kam eilig heraus. Mistreß Brill blieb auf den Zehenspitzen stehen und blickte ihm nach, wie er, seine kleine braune Tasche hin und her schwenkend, den Gartenweg hinunterging. Dann eilte sie in ihr Küchenreich und rief laut:

»Wo stecken Sie, Robertson? Machen Sie rasch, wenn Sie überhaupt kommen wollen!«

Sie huschte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, während hinter ihr ein gähnender Robertson Ay sich reckte und streckte.

»Pst!« zischte Mistreß Brill. »Pst!«

Sie legte den Finger auf die Lippen und schlich auf Zehenspitzen an Mistreß Banks Tür.

»Tz, tz! Es ist nichts zu sehen außer dem Schrank«, klagte sie, zum Schlüsselloch hinuntergebeugt. »Der Schrank und ein kleines Stückchen Fenster.«

Doch gleich darauf fuhr sie heftig zurück.

»Allmächtiger!« kreischte sie, als die Tür plötzlich aufflog und sie rücklings auf Robertson Ay fiel.

Denn vor ihr, vom Licht umrissen, stand Mary Poppins; sie sah sehr ernst und mißtrauisch aus. In ihrem Arm trug sie mit großer Vorsicht ein Etwas, das wie ein Bündel Leintücher aussah.

»Ach«, sagte Mistreß Brill atemlos. »Wahrhaftig, Sie sind's! Ich polierte gerade die Türklinke, wollte ihr 'n bißchen Glanz geben sozusagen, als Sie herauskamen.«

Mary Poppins blickte auf die Türklinke. Sie war reichlich dreckig.

»Das Schlüsselloch poliert, das hätte ich gesagt!« bemerkte sie herausfordernd.

Aber Mistreß Brill überhörte es. Sie blickte zärtlich auf das Bündel. Mit ihrer großen roten Hand zog sie in einem der Tücher eine Falte beiseite, und ein befriedigtes Lächeln stahl sich über ihr Gesicht.

»Ach«, gurrte sie. »Aach, unser Lämmchen! Aach, unser Entchen! Aach, unser Schätzchen! Macht soviel Freude, möcht ich wetten, wie 'ne Woche lang Sonntag!«

Robertson Ay gähnte wieder einmal und glotzte mit leicht geöffnetem Mund auf das Bündel.

»Noch ein Paar Schuhe mehr zum Putzen!« sagte er traurig. Und lehnte sich hilfesuchend gegen das Treppengeländer.

»Daß Sie's ja nicht fallen lassen!« sagte Mistreß Brill besorgt, als Mary Poppins an ihr vorbeifegte.

Mary Poppins warf beiden einen tief verachtungsvollen Blick zu.

»Wenn ich Sie wäre«, bemerkte sie säuerlich, »würde ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern!«

Damit schob sie das Tuch über dem Bündel wieder zurecht und ging hinauf ins Kinderzimmer.

»Entschuldigen Sie, bitte! Entschuldigen Sie!« Mister Banks kam die Treppe heraufgerast und rannte Mistreß Brill fast über den Haufen, als er in Mistreß Banks Schlafzimmer stürzte.

»Na«, sagte er und ließ sich am Fußende des Bettes nieder, »das ist eine heikle Geschichte. Recht heikel, in der Tat. Ich weiß nicht, ob ich mir das leisten kann. Mit fünfen hatte ich nicht gerechnet.«

»Es tut mir ja so leid!« sagte Mistreß Banks und lächelte ihn glücklich an.

»Es tut dir gar nicht leid, nicht die Spur. In Wirklichkeit bist du höchst erfreut und außerordentlich stolz darauf. Und dazu besteht gar kein Grund. Es ist ein sehr kleines Exemplar.«

»So hab ich sie gern«, sagte Mistreß Banks. »Außerdem wird es wachsen.«

»Ja, leider!« erwiderte er, nicht ohne Bitterkeit. »Und ich werde ihm Schuhe kaufen müssen und Kleider und ein Dreirad. Ja, und dann muß ich es zur Schule schicken und ihm einen guten Start im Leben sichern. Eine ziemlich kostspielige Sache. Und dann, zum Schluß, wenn ich als alter Mann am Kamin sitze, wird es fortgehen und mich verlassen. Daran hast du wohl nicht gedacht?«

»Nein«, sagte Mistreß Banks; sie versuchte traurig auszusehen, doch ohne Erfolg. »Daran nicht.«

»Das dacht ich mir. Na, da kann man nichts machen. Aber ich warne dich, ich kann es mir jetzt nicht leisten, das Badezimmer neu kacheln zu lassen.«

»Mach dir deshalb keine Sorgen«, tröstete ihn Mistreß Banks. »Mir gefallen die alten Kacheln noch recht gut.«

»Dann bist du eine sehr törichte Frau. Das kann ich nur sagen.«

Und Mister Banks ging fort; er murrte und brummte im Haus herum. Aber als er aus der Haustür trat, drückte er die Schultern zurück, reckte die Brust und steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund. Und bald darauf hörte man, wie er die Neuigkeit Admiral Boom erzählte; seine Stimme klang dabei sehr laut und selbstgefällig, ja direkt prahlerisch.

Mary Poppins beugte sich über die neue Wiege zwischen Johns und Barbaras Gitterbettchen und legte das Bündel achtsam hinein. »Da bist du ja endlich! Bei allem, was einen Schnabel und Schwanzfedern hat, ... ich dachte schon, du kämst überhaupt nicht. Was ist es denn?« schrie eine krächzende Stimme vom Fenster.

Mary Poppins blickte hoch.

Der Star, der oben auf dem Schornstein wohnte, hüpfte begeistert auf dem Fenstersims.

»Ein Mädchen. Annabel«, sagte Mary Poppins kurz. »Und ich wäre dir dankbar, wenn du etwas leiser sein wolltest. Quiekst und krächzt hier herum wie 'ne getroffene Schießbudenfigur!«

Aber der Star hörte nicht zu. Er wirbelte auf dem Fenstersims herum und klatschte jedesmal, wenn er mit dem Kopf wieder hochkam, wild mit den Flügeln Beifall.

»Was für ein Spaß!« keuchte er, als er schließlich wieder aufrecht stand. »Was für ein SPASS! Ach, ich könnte singen vor Vergnügen!«

»Das könntest du nicht. In alle Ewigkeit nicht«, höhnte Mary Poppins.

Aber der Star war viel zu glücklich, um sich zu ärgern.

»Ein Mädchen!« kreischte er und tanzte auf den Fußspitzen. »Ich habe dreimal gebrütet in diesem Sommer, und — ob du's glaubst oder nicht — jedesmal waren es nur Jungen. Aber Annabel wird mich dafür entschädigen.«

Er hüpfte ein Stückchen den Sims entlang. »Annabel!« schmetterte er wieder. »Das ist ein hübscher Name. Ich hatte eine Tante, die hieß Annabel. Sie lebte auf Admiral Booms Schornstein, und das arme Ding starb daran, daß sie grüne Äpfel und Birnen aß. Ich hatte sie gewarnt, ich hatte sie gewarnt! Aber sie glaubte mir nicht. Und natürlich . . .«

»Willst du wohl still sein!« befahl Mary Poppins und schlug mit der Schürze nach ihm.

»Das will ich nicht!« schrie er, geschickt ausweichend. »Es ist jetzt keine Zeit zum Schweigen. Ich mach mich auf, um die Nachricht zu verkünden.« Er witschte zum Fenster hinaus.

»Bin gleich wieder da!« rief er beim Davonfliegen über die Schulter zurück.

Mary Poppins ging leise durchs Kinderzimmer und stapelte Annabels neue Wäsche zu sauberen Bündeln auf.

Ein Sonnenstrahl schlüpfte durchs Fenster und kroch durchs Zimmer bis zur Wiege hin.

»Mach die Augen auf!« sagte er sanft, »und ich streue einen Schimmer hinein!«

Das Deckchen in der Wiege bewegte sich. Annabel schlug die Augen auf.

»Braves Kind!« sagte der Sonnenstrahl. »Sie sind blau, wie ich sehe. Meine Lieblingsfarbe! Da! Du wirst nirgends ein Paar leuchtendere Augen finden!«

Er glitt leicht von Annabels Augen weg und seitlich an der Wiege herab.

»Schönen Dank!« sagte Annabel höflich.

Ein warmes Lüftchen ließ die Musselinvorhänge über ihrem Kopf flattern.

»Locken oder glattes Haar?« flüsterte es und ließ sich neben ihr in der Wiege nieder.

»Ach, Locken, bitte!« sagte Annabel sanft.

»Macht weniger Umstände, was?« stimmte das Lüftchen zu. Und es wehte über ihrem Kopf hin und her und drehte sorgfältig die flaumigen Enden ihres Haars hoch, bevor es aus dem Zimmer flatterte.

»Da sind wir! Da sind wir!«

Eine schrille Stimme ertönte vom Fenster. Der Star war aufs Fenstersims zurückgekehrt. Und hinter ihm landete mit unsicherem Flügelschlag ein ganz junger Vogel.

Mary Poppins trat drohend auf sie zu.

»Macht, daß ihr fortkommt!« sagte sie böse. »Ich will keine Spatzen hier im Kinderzimmer herumlungern sehen . . .«

Aber der Star, mit dem Jungen an der Seite, fegte hochnäsig an ihr vorbei.

»Bedenke gefälligst, Mary Poppins«, sagte er eisig, »daß meine ganze Familie sehr gut erzogen ist. >Herumlungern<, was für ein Ausdruck!«

Er landete elegant auf dem Wiegenrand und half dem Vogeljungen neben ihm, das Gleichgewicht wiederzufinden. Der junge Vogel blickte mit runden, forschenden Augen um sich. Der alte Star hüpfte zum Kissen hin.

»Annabel, liebe«, begann er mit einer heiseren, schmeichlerischen Stimme, »ich habe viel übrig für ein hübsches, knuspriges, krachendes Stückchen Zwieback.« Seine Augen funkelten gierig. »Du hast wohl nicht zufällig einen bei dir?«

Das lockige Köpfchen bewegte sich unruhig auf dem Kissen.

»Nein? Na, du bist vielleicht noch 'n bißchen jung für Zwieback. Deine Schwester Barbara, das war ein nettes Mädchen, freigebig und freundlich — dachte immer an mich. Wenn du dir also in Zukunft für einen alten Knaben wie mich ein Krümchen oder zwei vom Munde absparen . . .«

»Natürlich werde ich das«, sagte Annabel aus ihrer Decke heraus.

»Gutes Kind!« krächzte der Star beifällig. Er legte den Kopf auf eine Seite und blickte sie mit seinen runden, blanken Augen an. »Ich hoffe«, bemerkte er höflich, »die Reise hat dich nicht allzusehr ermüdet.«

Annabel schüttelte den Kopf.

»Wo ist sie hergekommen — aus einem Ei?« piepste das Vogeljunge plötzlich.

»Haha!« höhnte Mary Poppins. »Denkst du vielleicht, das ist ein Star?«

Der Star warf ihr einen ebenso hochmütigen wie verletzten Blick zu.

»Na, was ist sie denn dann? Und wo kommt sie her?« schrillte das Vogeljunge, flatterte mit seinen kurzen Flügeln und starrte hinunter in die Wiege.

»Erzähl du es ihm, Annabel!« krächzte der Star.

Annabel bewegte unter der Decke die Hände.

»Ich bin Erde und Luft und Feuer und Wasser!« sagte sie sanft. »Ich komme aus dem Dunkel, worin alle Dinge ihren Anfang nehmen.«

»Ach, solch ein Dunkel!« sagte der Star milde und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

»Auch im Ei war es dunkel«, piepste das Vogeljunge.

»Ich komme von der See und ihren Gezeiten«, fuhr Annabel fort. »Ich komme vom Himmel und seinen Sternen, ich komme von der Sonne und ihrer Helligkeit. . .«

»Ach, und wie hell!« sagte der Star und nickte.

»Ich komme von den Wäldern der Erde.«

Wie im Traum schaukelte Mary Poppins die Wiege — hin und her, hin und her — gleichmäßig und schwingend.

»Ja?« flüsterte das Vogeljunge.

»Zuerst bewegte ich mich langsam«, sagte Annabel, »immerfort schlafend und träumend. Ich erinnerte mich an alles, was gewesen war, und dachte an alles, was kommen sollte. Und als ich meinen Traum ausgeträumt hatte, wachte ich auf.«

Sie hielt einen Augenblick inne, die blauen Augen voller Erinnerungen.

»Und dann?« wollte das Vogeljunge wissen.

»Ich hörte die Sterne singen und fühlte mich von warmen Schwingen umhegt. Ich begegnete den Tieren der Wildnis und schritt durch tiefe und dunkle Wasser. Es war eine lange Reise.«

Annabel schwieg.

Das Vogeljunge betrachtete sie mit hellen, forschenden Augen.

Mary Poppins' Hand lag ruhig auf dem Rand der Wiege. Sie hatte mit dem Schaukeln aufgehört.

»Eine lange Reise, wahrhaftig!« sagte der Star milde und hob den Kopf von der Brust. »Und ach, wie bald vergessen!«

Annabel bewegte sich unruhig unter der Decke.

»Nein!« sagte sie zuversichtlich. »Ich werde es niemals vergessen.«

»Papperlapapp, bei allen Schnäbeln und Klauen! Natürlich wirst du vergessen! Nach Ablauf einer Woche wirst du dich an nichts mehr erinnern — weder an das, was du bist, noch woher du kamst!«

Unter ihrem Flanelltuch trat Annabel wütend um sich.

»Doch, doch! Wie könnt ich je vergessen?«

»Weil es alle tun«, höhnte der Star gellend. »Jeder törichte Mensch, nur sie nicht« — er deutete mit einem Kopfnicken auf Mary Poppins —, »sie ist anders, sie ist die Abweichung, die Ausnahme . . .«

»Du unverschämter Star!« schrie Mary Poppins und stürzte sich auf ihn.

Doch mit sprödem Gelächter scheuchte er sein Vogeljunges vom Wiegenrand und hüpfte mit ihm zum Fenstersims.

»Hasch mich, wenn du kannst!« sagte er unverschämt, als er an ihr vorbeiwitschte. »Nanu, was ist denn das?«

Draußen auf dem Treppenabsatz waren Stimmen zu hören und auf den Stufen ein Getrappel von Füßen.

»Ich glaube dir nicht! Ich will dir nicht glauben!« schrie Annabel wild.

Im gleichen Augenblick stürzten Jane und Michael und die Zwillinge ins Zimmer.

»Mistreß Brill behauptet, du hättest uns etwas zu zeigen!« sagte Jane und riß sich den Hut ab.

»Was ist es?« erkundigte sich Michael, im Zimmer umherblickend.

»Zeig's mir!« — »Mir auch!« quiekten die Zwillinge.

Mary Poppins blickte sie ärgerlich an. »Sind wir hier in einem anständigen Kinderzimmer oder im Zoo?« fragte sie streng. »Antwortet, bitte!«

»Im Zoo — iii — ich meine —« Eilig brach Michael ab, denn er hatte Mary Poppins' Blick aufgefangen. »Ich meine, im Kinderzimmer«, schloß er lahm.

»Ach guck, Michael, guck!« schrie Jane aufgeregt. »Ich sagte euch ja, daß etwas Wichtiges geschehen würde! Es ist ein neues Baby! Ach, Mary Poppins, darf ich es einmal halten?«

Mary Poppins, mit einem furchtbaren Blick auf sie alle, bückte sich, hob Annabel aus der Wiege und setzte sich mit ihr in den alten Armsessel.

»Vorsichtig, bitte, vorsichtig!« sagte sie warnend, als sie sich von allen Seiten umdrängt sah. »Das ist ein Baby und kein Schlachtschiff!«

»Ein männliches?« fragte Michael.

»Nein, ein Mädchen — Annabel.«

Michael und Annabel starrten einander an. Er steckte seinen Finger in ihre Hand, und sie umklammerte ihn fest.

»Meine Puppe!« sagte John und stieß gegen Mary Poppins' Knie.

»Mein Kaninchen!« sagte Barbara und zog an Annabels Wickeltuch.

»Ach!« seufzte Jane und berührte zaghaft das Haar, das der Wind gekräuselt hatte. »Wie winzig und süß. Wie ein Sternchen. Wo kommst du denn her, Annabel?«

Sehr angenehm berührt von dieser Frage, begann Annabel, ihre Geschichte von vorn zu erzählen.

»Ich kam aus dem Dunkeln . . . « , wiederholte sie sanft.

Jane lachte. »Was für komische kleine Töne!« rief sie. »Ich wünschte, sie könnte sprechen und uns erzählen.«

Annabel staunte.

»Aber ich erzähle euch ja«, protestierte sie, um sich schlagend.

»Haha!« kreischte der Star unverschämt vom Fenster her. »Was hab ich gesagt? Verzeiht, daß ich lache!«

Das Vogeljunge kicherte hinter seinem Flügel.

»Vielleicht kommt sie aus einem Spielzeugladen«, meinte Michael.

Wütend stieß Annabel seinen Finger weg.

»Sei nicht töricht!« sagte Jane. »Doktor Simpson muß sie in seiner kleinen braunen Tasche mitgebracht haben!«

»Hatte ich recht oder nicht?« Die alten, dunklen Starenaugen zwinkerten Annabel zu.

»Sag mir das!« stichelte er und schlug triumphierend mit den Flügeln.

Doch statt aller Antwort drehte Annabel ihr Gesicht nach Mary Poppins' Schürze und weinte. Ihre ersten Schreie, dünn und einsam, klangen durchdringend durch das Haus.

»Na, na!« sagte der Star mürrisch, »stell dich nicht an! Dagegen läßt sich nichts machen. Du bist schließlich nur ein Menschenbaby. Aber das nächste Mal wirst du vielleicht Klügeren glauben! Älteren und Klügeren! Älteren und Klügeren!« schrie er und hüpfte aufgeplustert umher.

»Michael, hol bitte meinen Staubwedel und fege diese Vögel vom Fensterbrett!« sagte Mary Poppins bedeutsam.

Ein amüsiertes Gepiepse war die Antwort des Stars.

»Wir können uns selbst wegfegen, Mary Poppins, besten Dank! Wir waren ohnehin grad dabei. Komm mit, Junge!«

Und mit lautem Gekicher stieß er das Vogeljunge vom Fensterbrett und flog mit ihm davon.

In erstaunlich kurzer Zeit hatte sich Annabel im Kirschbaumweg eingelebt. Sie genoß es, Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein, und es gefiel ihr stets, wenn jemand sich über ihre Wiege beugte und sagte, wie hübsch sie sei, wie gut oder wie wohlgeartet.

»Bewundert mich nur!« sagte sie lächelnd. »Das hab ich so gern!«

Und dann beeilte sich jeder, ihr zu erzählen, wie lockig ihr Haar war und wie blau ihre Augen, und Annabel lächelte so zufrieden, daß sie ausriefen: »Wie klug sie doch ist! Man könnte denken, sie versteht alles!«

Aber gerade das langweilte sie dann wieder, und sie wandte sich voll Verachtung von soviel Albernheit ab. Das war töricht von ihr, denn wenn sie verachtungsvoll aussah, wirkte sie so bezaubernd, daß die anderen sich immer alberner aufführten.

Eine Woche verging, bevor der Star zurückkehrte. Mary Poppins schaukelte im dämmrigen Schein des Nachtlichtes die Wiege, als er auftauchte.

»Wieder da?« fuhr Mary Poppins ihn an und beobachtete sein Umherstolzieren. »Du bist so schlecht wie ein falscher Penny!« Sie zog verächtlich die Luft durch die Nase.

»Ich hatte zu tun«, sagte der Star. »Ich muß meine Angelegenheiten in Ordnung halten. Und wie du dir denken kannst, ist das nicht das einzige Kinderzimmer, auf das ich aufpassen muß!« Seine kleinen, runden, glänzenden Augen zwinkerten mutwillig.

»Hmpf!« machte sie kurz. »Die andern können mir leid tun!«

Er kicherte und schüttelte den Kopf.

»So was gibt's nicht ein zweites Mal!« bemerkte er zirpend zur Vorhangquaste. »Die ist einzig! Auf alles hat sie eine Antwort!« Er streckte den Kopf zur Wiege hin. »Nun, wie steht's? Schläft Annabel?«

»Nicht dein Verdienst, wenn sie's tut!« sagte Mary Poppins.

Der Star überhörte die Bemerkung. Er hüpfte ans Ende des Fensterbretts.

»Ich werde Wache halten«, flüsterte er. »Geh du hinunter und hol eine Tasse Tee.«

Mary Poppins stand auf.

»Aber gib acht, daß du sie nicht aufweckst!«

Der Star lachte mitleidsvoll.

»Mein liebes Kind, ich habe mit der Zeit mindestens zwanzigmal junge Brut aufgezogen. Man braucht mir nicht zu sagen, wie man auf ein Baby aufpaßt.«

»Hmpf!« Mary Poppins ging an den Schrank und steckte sehr betont die Keksbüchse unter den Arm, bevor sie hinausging und die Tür hinter sich schloß.

Der Star stolzierte auf dem Fensterbrett hin und her, vor und zurück, und hielt dabei die Flügelspitzen unter den Schwanzfedern gefaltet.

In der Wiege regte es sich. Annabel schlug die Augen auf.

»Hallo!« sagte sie. »Ich habe schon auf dich gewartet.«

»Aha«, sagte der Star und flatterte zu ihr hin.

»Ich möchte mich gern an etwas erinnern«, sagte Annabel, die Stirn runzelnd, »und ich dachte, du könntest mich darauf bringen.«

Er horchte auf. Seine schwarzen Augen glitzerten.

»Wie klang es?« fragte er sanft. »Etwa so?«

Und mit heiserem Flüstern begann er: »Ich bin Erde und Luft und Feuer und Wasser . . .«

»Nein, nein«, unterbrach ihn Annabel ungeduldig. »Natürlich nicht.«

»Na schön«, sagte der Star beunruhigt. »Wie wär's dann mit deiner Reise? Du kamst von der See und ihren Gezeiten, du kamst vom Himmel und . . .«

»Ach, sei doch nicht albern!« rief Annabel. »Die einzige Reise, die ich unternahm, ging in den Park heute morgen und wieder zurück. Nein, nein — es war etwas Wichtiges. Es fing mit B an.«

Plötzlich krähte sie.

»Jetzt hab ich's!« rief sie. »Biskuit war's. Ein halber Kinderzwieback oben auf dem Kaminsims. Michael hat ihn nach dem Tee dort vergessen!«

»Und das ist alles?« fragte traurig der Star.

»Ja, natürlich«, sagte Annabel gereizt. »Ist das etwa nicht genug? Ich dachte, du würdest dich freuen über ein schönes Stück Zwieback!«

»Das tu ich auch, das tu ich!« sagte der Star hastig. »Aber . . .«

Annabel drehte den Kopf auf dem Kissen und schloß die Augen.

»Sprich bitte nicht mehr«, sagte sie. »Ich möchte schlafen.«

Der Star blickte zum Kaminsims hinüber und dann wieder auf Annabel.

»Biskuit!« sagte er kopfschüttelnd. »Arme Annabel, so was!«

Mary Poppins kam leise herein und schloß die Tür. »Ist sie wach geworden?« erkundigte sie sich flüsternd.

Der Star nickte.

»Nur für eine Minute«, sagte er traurig. »Aber es langte.«

Mary Poppins warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Sie hat vergessen«, sagte er und hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle. »Sie hat alles vergessen. Ich wußte es im voraus. Aber ach, meine Liebe, wie schade!«

»Hmpf!«

Mary Poppins ging ruhig im Kinderzimmer umher und räumte das Spielzeug weg. Sie blickte nach dem Star. Er stand auf dem Fensterbrett, den Rücken ihr zugekehrt, und seine gesprenkelten Schultern bebten.

»Wieder mal erkältet?« bemerkte sie anzüglich.

Er fuhr herum.

»Das nicht. Es ist — hm — die Nachtluft. Bißchen frostig, weißt du. Treibt einem das Wasser in die Augen. Nun — ich muß weg.«

Er watschelte unsicher zum Rand des Fensterbretts. »Ich werde alt«, krächzte er traurig. »Das ist's! Nicht mehr so jung, wie wir waren. Was, Mary Poppins?«

»Ich weiß nicht, wie es mit dir steht...« Mary Poppins reckte sich hochmütig. »Aber ich bin immer noch so jung wie früher, besten Dank für die Nachfrage!«

»Ach«, sagte der Star kopfschüttelnd. »Du bist ein Wunder. Ein wahres, erstaunliches, großartiges Wunder!« Seine runden Augen zwinkerten mutwillig.

»Man sollt's nicht denken!« rief er herausfordernd zurück, als er aus dem Fenster schoß.

»Unverschämter Spatz!« schrie sie ihm nach und schloß mit einem Knall das Fenster .. .

6. Kapitel. Die Geschichte von Robertson Ay

»Geht weiter, bitte!« sagte Mary Poppins und stieß den Kinderwagen mit den Zwillingen an dem einen und Annabel am anderen Ende zu ihrem Lieblingsplatz im Park. Das war eine grüne Bank, dicht am Teich, und sie hatte sie erwählt, weil sie sich hin und wieder vorbeugen und ihr Spiegelbild im Wasser begutachten konnte. Der Anblick ihres Gesichts, das zwischen zwei Wasserlilien hervorschimmerte, erzeugte in ihr stets ein Gefühl angenehmer Befriedigung.

Michael zottelte hinterdrein.

»Wir gehen und gehen«, flüsterte er Jane brummig zu, wobei er wohl achtgab, daß Mary Poppins ihn nicht hörte, »aber es scheint, wir kommen nirgends hin.«

Mary Poppins drehte sich um und sah ihn scharf an.

»Setz deinen Hut gerade!«

Michael zog seinen Hut bis über die Augen. Auf dem Band stand >SMS Trompeter<, und er fand, daß der Hut ihn recht gut kleidete.

Aber Mary Poppins blickte verächtlich auf die beiden.

»Hmpf!« machte sie. »Ein hübsches Bild gebt ihr ab, das muß ich sagen! Kriecht dahin wie zwei Schildkröten, und nicht mal die Schuhe sind geputzt!«

»Och, Robertson Ay hat seinen freien Nachmittag«, sagte Jane. »Er hat wohl keine Zeit gehabt, sie zu putzen, ehe er wegging.«

»Tz-tz! Ein träger, fauler Tunichtgut — das ist er. Das war er schon immer und wird's immer bleiben!« sagte Mary Poppins und stieß ungestüm den Kinderwagen auf ihre grüne Bank zu.

Sie hob die Zwillinge heraus und zog das Wickeltuch fester um Annabel. Sie spähte nach ihrem sonnenhellen Spiegelbild im Teich und lächelte überlegen, während sie ihre neue Bandschleife am Hals zurecht-zupfte. Dann nahm sie ihren Strickbeutel aus dem Wagen.

»Woher weißt du, daß er immer faul war?« fragte Jane. »Hast du Robertson Ay denn schon gekannt, bevor er zu uns kam?«

»Wer viel fragt, kriegt viel Antwort!« sagte Mary Poppins von oben herab und begann, die Maschen zu einem wollenen Wämschen für John aufzunehmen.

»Sie erzählt uns nie etwas!« beschwerte sich Michael.

»Ich weiß!« seufzte Jane.

Aber bald vergaßen sie Robertson Ay und begannen, >Vater und Mutter und Kinder< zu spielen. Dann verwandelten sie sich in rote Indianer, und John und Barbara waren die Squaws. Und danach stellten sie Seiltänzer vor, wobei die Banklehne ihnen als Seil diente.

»Gebt gefälligst acht auf meinen Hut!« sagte Mary Poppins. Es war ein brauner Hut, hinter dessen Band eine Taubenfeder steckte.

Michael setzte auf der Banklehne vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Als er am Ende angelangt war, riß er den Hut vom Kopf und winkte damit.

»Jane!« rief er, »ich bin der Schloßkönig und du die ... «

»Still, Michael!« unterbrach sie ihn und deutete über den Teich. »Schau mal da hinüber!«

Den Pfad am Rande des Teiches entlang kam eine hochgewachsene, magere Gestalt in seltsamer Kleidung, ein Mann in gelb und rot geringelten Strümpfen und einem rot-gelben Umhang mit runden Zacken. Auf dem Kopf trug er einen breitkrempigen rot-gelben Hut, auf dem eine spitze Krone saß.

Jane und Michael blickten ihm gespannt entgegen. Er ging mit lässigen, schwankenden Schritten, die Hände in den Taschen und den Hut bis über die Augen gezogen.

Er pfiff laut vor sich hin, und als er näher kam, sahen die Kinder, daß die Zacken seines Umhangs und seine Hutkrempe mit kleinen Schellen besetzt waren, die bei jeder Bewegung melodisch klingelten. Etwas so Seltsames hatten sie noch nie gesehen — und dennoch berührte etwas an der Erscheinung sie merkwürdig vertraut.

»Mir kommt es vor, als hätte ich ihn schon einmal gesehen«, sagte Jane stirnrunzelnd und suchte in ihrer Erinnerung.

»Mir auch. Aber ich weiß nicht mehr, wo!« Michael balancierte auf der Banklehne und sah nachdenklich vor sich hin.

Pfeifend und klingelnd schlenderte der seltsame Mann zu Mary Poppins hin und lehnte sich gegen den Kinderwagen.

»Tag, Mary!« sagte er. »Wie geht es dir?«

Mary Poppins blickte von ihrem Strickzeug auf. »Keineswegs besser durch deine Frage«, sagte sie abweisend.

Jane und Michael konnten das Gesicht des Mannes nicht sehen, denn die Hutkrempe war tief herabgezogen, aber am Geklingel der Glöckchen merkten sie, daß er lachte.

»Wieder einmal beschäftigt, ich seh schon«, bemerkte er mit einem Blick auf das Strickzeug. »Aber das warst du ja immer, selbst damals bei Hof. Wenn du nicht gerade den Thron abstaubtest, machtest du dem König das Bett, und wenn es das nicht war, putztest du die Kronjuwelen. So was von einem Arbeitstier gibt's nicht noch einmal.«

»Na, das kann man von dir nicht gerade behaupten«, sagte Mary Poppins unwirsch.

»Ach«, lachte der Fremde. »Darin irrst du dich aber! Ich bin immer beschäftigt. Nichtstun nimmt eine Menge Zeit in Anspruch! Genaugenommen meine ganze Zeit!«

Mary Poppins schob die Lippen vor und antwortete nicht.

Der Fremde kicherte vergnügt. »Nun, ich muß weiter«, sagte er. »Auf Wiedersehen, bei Gelegenheit!«

Er fuhr mit dem Finger über die Schellen an seinem Hut und trollte sich gemächlich, beim Gehen vor sich hin pfeifend.

Jane und Michael sahen ihm nach, bis sie ihn aus den Augen verloren.

»Hanswurst!« entfuhr es Mary Poppins scharf, und als die Kinder sich nach ihr umdrehten, stellten sie fest, daß auch sie ihm nachblickte.

»Wer war das, Mary Poppins?« erkundigte sich Michael und hüpfte aufgeregt auf der Bank herum.

»Ich hab's ja eben gesagt«, fuhr sie ihn an. »Du hast vorhin behauptet, du wärst der Schloßkönig — und das bist du nicht, gar nicht daran zu denken! Aber der da, das ist der Hanswurst.«

»Du meinst den aus dem Kinderreim?« fragte Jane atemlos.

»Aber Kinderreime sind doch nicht wahr!« widersprach Michael. »Und wenn doch, wer ist dann der Schloßkönig?«

»Seht!« sagte Jane und legte ihm die Hand auf den Arm.

Mary Poppins hatte ihr Strickzeug sinken lassen; sie blickte geistesabwesend über den Teich.

Jane und Michael verhielten sich mäuschenstill, in der Hoffnung, daß sie ihnen die ganze Geschichte erzählen würde, wenn sie keinen Mucks von sich gaben. Die Zwillinge kuschelten sich dicht aneinander und guckten Mary Poppins erwartungsvoll an. Annabel schlief fest.

»Der König auf seinem Schloß«, begann Mary Poppins; die Hände über dem Wollknäuel gefaltet, blickte sie durch die Kinder hindurch, als wären sie gar nicht vorhanden. »Der König auf seinem Schloß lebte in einem Land, so weit weg, daß die meisten Menschen nie davon gehört haben. Denkt, so weit, wie ihr könnt, und es ist immer noch weiter; denkt, so hoch, wie ihr könnt, und es ist immer noch höher; denkt, so tief, wie ihr könnt, und es ist immer noch tiefer.

Und wenn ich euch aufzählen wollte, was er alles besaß, würden wir bis nächstes Jahr hier sitzen und hätten erst die Hälfte seiner Reichtümer kennengelernt. Er war ungeheuer reich. In der Tat gab es auf der ganzen Welt nur eins, was ihm fehlte: und das war Verstand.«

Nach einer kleinen Pause fuhr Mary Poppins fort:

»Sein Land steckte voller Goldminen, sein Volk war höflich, wohlhabend und im allgemeinen wohlgeraten. Er hatte eine gute Frau und vier wohlgenährte Kinder — vielleicht waren es auch fünf. Er konnte sich nie auf die genaue Zahl besinnen, denn sein Gedächtnis war schlecht.

Sein Schloß war aus Silber und Granit, seine Kisten voller Gold, und die Edelsteine in seiner Krone waren so groß wie Enteneier.

Er besaß wunderbare Städte und auf dem Meer einen Haufen Segel-schiffe. Als rechte Hand stand ihm ein Staatskanzler zur Seite, der sich überall auskannte und den König entsprechend beriet.

Aber der König war ohne Verstand. Er war schrecklich töricht, um nicht zu sagen: dumm, und mehr noch, er wußte es auch. Tatsächlich konnte er gar nicht anders, denn von der Königin und dem Staatskanzler angefangen rieb es ihm jeder dauernd unter die Nase. Selbst Autobusfahrer und Lokomotivführer und die Verkäufer in den Läden konnten sich's nicht verkneifen, ihn merken zu lassen, daß sie wußten, wie wenig klug er war. Sie hatten nichts gegen ihn, sie verachteten ihn bloß.

Es war nicht seine Schuld, daß er so dumm war. Von frühester Kindheit an hatte er immer wieder versucht, etwas zu lernen. Aber mitten in den Unterrichtsstunden brach er, selbst noch als Erwachsener, plötzlich in Tränen aus und rief, sich die Augen mit seinem Hermelinmantel wischend:

>Ich weiß, ich schaffe es nicht — nie! Weshalb nörgelt ihr denn an mir herum?<

Aber seine Lehrer fuhren trotzdem fort, sich alle Mühe zu geben. Aus der ganzen Welt eilten Professoren herbei, um dem König auf seinem Schloß etwas beizubringen — und wäre es auch nur das Einmaleins oder das Abc. Aber keiner hatte Erfolg.

Dann hatte die Königin einen Einfall.

>Laßt uns<, so sagte sie zu dem Staatskanzler, >eine Prämie aussetzen für jeden Professor, der dem König ein wenig Wissen beibringt! Wenn er aber am Ende eines Monats keinen Erfolg aufzuweisen hat, so soll man ihm den Kopf abschlagen und auf einem Spieß am Schloßtor aufpflanzen, als Warnung für die anderen Professoren, damit sie sehen, was ihnen blüht, wenn sie versagen.<

Und da die meisten Gelehrten ziemlich arm waren und die Belohnung aus einer großen Summe Geldes bestand, kamen immer wieder Professoren, richteten nichts aus und verloren ihren Kopf. Und am Schloßtor mehrten sich die Spieße mit den abgeschlagenen Köpfen.

Es wurde immer schlimmer. Und zu guter Letzt sagte die Königin zum König:

>Adalbert< — so hieß der König mit Vornamen —, >ich glaube wirklich, es wäre besser, du überließest das Regieren mir und dem Staatskanzler, denn wir beide wissen über alles Bescheid!<

>Aber das wäre nicht gerecht!< wehrte sich der König. Schließlich ist es doch mein Königreich.<

Aber endlich gab er nach, denn er wußte, daß sie die Klügere war. Indessen litt er so darunter, in seinem eigenen Schloß herumkommandiert zu werden und ein altes, verbogenes Zepter benutzen zu müssen, weil er von dem richtigen Zepter immer den Knauf abnagte, daß er auch weiterhin Professoren empfing, um etwas von ihnen zu lernen. Wenn sich wieder einmal herausstellte, daß alles vergeblich war, dann weinte er bitterlich. Er weinte um ihretwillen nicht weniger als um seinetwillen, denn es machte ihn unglücklich, wenn er ihre Köpfe am Schloßtor sah.

Jeder neue Professor traf voll Zuversicht ein und begann mit einigen Fragen, die sein Vorgänger nicht gestellt hatte.

>Was macht sechs und sieben, Euer Majestät?< wollte ein junger, hübscher Professor von ihm wissen, der von weit her gekommen war.

Und der König strengte sich nach Kräften an und dachte eine Weile nach. Dann beugte er sich eifrig vor und antwortete:

>Zwölf natürlich!<

>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler.

Der Professor seufzte.

>Sechs und sieben macht dreizehn, Euer Majestät! <

>Ooh, das tut mir aber leid! Versuchen Sie's bitte mit einer anderen Frage, Professor. Ich bin sicher, diesmal gebe ich die richtige Antwort.<

>Na schön. Was macht dann fünf und acht?<

>Hm, hm, warten Sie mal! Verraten Sie's nicht, es liegt mir schon auf der Zunge. Ja! Fünf und acht macht elf!<

>Tz-tz-tz!< ließ sich der Staatskanzler hören.

>Dreizehn<, rief der junge Professor entmutigt.

>Aber, mein lieber Herr! Soeben sagten Sie, daß sechs und sieben dreizehn macht, wie kann dann fünf und acht das gleiche ergeben? Es gibt doch sicherlich nicht zwei Dreizehnen?<

Doch der junge Professor schüttelte nur den Kopf, knöpfte sich den Kragen auf und ging niedergeschlagen mit dem Henker davon.

>Gibt es denn mehr als eine Dreizehn?< fragte der König nervös.

Der Staatskanzler wandte sich verächtlich ab.

>Tut mir leid<, sagte der König zu sich selbst. >Mir gefiel sein Gesicht so gut. Es ist ein Jammer, daß es auf einem Spieß landen muß.<

Und dann stürzte er sich hartnäckig wieder auf seine Rechenaufgaben, in der Hoffnung, daß er bei der Ankunft des nächsten Professors imstande sein würde, die richtige Antwort zu geben.

Er setzte sich dabei gern auf die oberste Stufe der Schloßtreppe, dicht neben die Zugbrücke; auf seinen Knien lag das Rechenbuch, und er wiederholte das Einmaleins still für sich selbst. Und solange er in das Buch guckte, ging alles gut, aber wenn er die Augen schloß und aus dem Gedächtnis aufsagen wollte, ging alles schief.

>Einmal sieben ist sieben, zweimal sieben ist dreiunddreißig, dreimal sieben ist vierundfünfzig . . .<, begann er eines Tages, und als er feststellte, daß wieder alles falsch war, warf er das Buch angeekelt fort und barg den Kopf in seinem Mantel.

>Es nützt nichts, es nützt nichts! Ich werde nie gescheit werden!< rief er verzweifelt.

Schließlich aber, weil er doch nicht ewig weinen konnte, wischte er sich die Augen und lehnte sich in seinen goldenen Stuhl zurück. Gleich darauf fuhr er überrascht hoch. Denn ein Fremder hatte die Wache am Schloßtor zur Seite gestoßen und kam jetzt den Pfad herauf, der zum Schloß führte.

>Hallo<, sagte der König, >wer bist du?<

>Wenn's darum geht<, erwiderte der Fremde, >wer bist denn du?<

>Ich bin der König hier im Schloß<, sagte der König; er nahm das verbogene Zepter auf und gab sich Mühe, bedeutend auszusehen.

>Und ich bin der Hanswurst<, kam die Antwort.

Der König sperrte vor Verwunderung die Augen auf.

>Es gibt dich also wirklich? Wie interessant! Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Weißt du, wieviel sieben mal sieben ist?<

>Nein. Warum sollte ich?<

Da stieß der König einen Schrei des Entzückens aus, und die Stufen hinabeilend, umarmte er den Fremden.

>Endlich! Endlich!< rief der König. »Ich habe einen Freund gefunden. Du sollst bei mir bleiben! Was mir gehört, soll auch dir gehören! Wir wollen unser ganzes Leben lang zusammenbleiben!<

>Aber, Adalbert<, widersprach die Königin, »das ist doch ein ganz gewöhnlicher Kerl! Den kannst du nicht hierbehalten.<

>Euer Majestät<, sagte der Staatskanzler streng. >Das geht nicht.<

Doch zum erstenmal bot ihm der König die Stirn.

>Das geht sehr wohl!< sagte er gebieterisch. »Wer ist hier der König? Du oder ich?<

>Nun, natürlich, sozusagen bist du es, das soll wohl sein, Majestät, aber . . .<

>Nun gut. Gib dem Mann eine Schellenkappe; er soll mein Narr sein!<

>Ein Narr!< schrie die Königin und rang die Hände. »Haben wir den hier noch nötig?<

Aber der König antwortete nicht. Er legte dem Fremden den Arm um die Schulter, und beide tänzelten davon, hinüber zum Eingangstor.

>Gehdu voran!< sagte der König höflich.

>Nein, bitte du!< sagte der Fremde.

>Dann also beide zugleich!< entschied der König großzügig, und sie schritten Seite an Seite durch das Tor.

Von diesem Tage an machte der König keine Anstrengungen mehr, seine Aufgaben zu lernen. Er warf all seine Bücher auf einen großen Haufen und verbrannte sie im Schloßhof. Er und sein Freund tanzten um das Feuer und sangen:

>Ich bin der König hier im Schloß . . .

Und ich der Hanswurst, dein Genoss'!<

>Ist das das einzige Lied, das du kennst?< fragte der Narr eines Tages. >Ich fürchte, ja!< sagte der König ein wenig traurig. > Kennst du noch andere?<

»Du liebe Güte, natürlich!< sagte der Narr. Und er sang mit frischer Stimme:

>Flieg, Bienlein, flieg, Damit ich Honig krieg. Und bringst du nur ein Tröpfchen, Ich sammle es in mein Töpfchen, Da hab ich was aufs Frühstücksbrot: Honig macht die Wangen rot.<

Und:

>Hat Scheren, aber schneidet nicht, Den Panzer trägt er nur zum Spaß. Wer ist das wohl? Sag, weißt du das? Ach du Dummer — ein Hummer!<

Und:

>Die Buben, die Mädchen, alle die vielen, Kommen gerannt zu fröhlichen Spielen. Das Schaf auf der Wiese, im Stalle die Kuh, Alles fällt um: Baby — Wiege — und du.<

>Großartig!< rief der König und klatschte Beifall. »Aber jetzt hör zu! Ich habe mir grad selber was ausgedacht. Das geht so:

Alle Hunde mit großen Pratzen Hassen die Katzen, Dideldideldum!<

>Hm!< sagte der Narr. »Gar nicht so schlecht!<

>Warte mal!< sagte der König. >Mir ist grad noch was anderes eingefallen. Ich denke, das ist besser. Hör gut zu!< Und er sang:

>Pflück mir eine Blume, Pflück mir einen Stern, Brat sie mir recht knusprig, So esse ich sie gern. Trallalala!

So esse ich sie gern!<

>Bravo!< rief der Narr. »Jetzt wollen wir es mal zusammen singen!< Und der König und er tanzten durch das ganze Schloß und sangen die beiden Lieder des Königs, eines nach dem anderen, nach einer höchst

eigenartigen Melodie. Und als sie genug gesungen hatten, fielen sie im großen Wandelgang um, fielen übereinander und schliefen ein.

>Es wird immer schlimmer mit ihm<, sagte die Königin zum Staatskanzler. >Was machen wir nur?<

>Ich habe eben erfahren<, erwiderte der Staatskanzler, >daß der klügste Mann im ganzen Königreich, der berühmteste von allen Professoren, morgen hier eintrifft. Vielleicht kann der uns helfen!<

Am nächsten Tag kam der große Professor an; er wanderte, eine kleine schwarze Aktentasche in der Hand, flink den Weg zum Schloß empor. Es regnete ein bißchen, aber der ganze Hof hatte sich oben auf der Treppe versammelt, um ihn zu empfangen.

>Glaubst du, er hat sein Wissen in der kleinen schwarzen Tasche mit?< flüsterte der König. Aber der Narr, der in ein Spiel vertieft neben dem Thron saß, lächelte nur und würfelte weiter.

>Nun, wenn Euer Majestät geruhen<, sagte der große Professor mit geschäftsmäßiger Stimme, >dann fangen wir mit Rechnen an. Kann Euer Majestät folgendes beantworten: Wenn zwei Männer und ein Junge Mitte Februar einen Schubkarren über ein Kleefeld rollen, wieviel Beine haben sie dann zwischen sich?<

Der König blickte ihn eine Weile nachdenklich an und rieb sich mit dem verbogenen Zepter die Backe.

Der Narr warf ein Würfelknöchelchen in die Luft und fing es geschickt mit dem Handrücken auf.

>Ist das wichtig?< sagte der König und lächelte freundlich. Der große Professor stutzte und blickte den König erstaunt an. >Genaugenommen<, sagte er ruhig, >ist es das nicht. Aber ich werde Euer Majestät etwas anderes fragen. Wie tief ist das Meer?< >Tief genug, um ein Schiff zu tragen.<

Wieder stutzte der berühmte Professor, und sein langer Bart zitterte. >Welcher Unterschied ist zwischen einem Stern und einem Stein, einem Vogel und einem Menschen, Euer Majestät?<

>Überhaupt kein Unterschied, Professor. Ein Stein ist ein Stern, der nicht strahlt. Ein Mann ist ein Vogel ohne Flügel.<

Der große Professor starrte den König verwundert an. >Wasist das Beste in der Welt?< fragte er ruhig.

>Nichts tun<, entgegnete der König und wedelte mit seinem verbogenen Zepter.

>Oje, oje!< jammerte die Königin. »DAS IST JA FURCHTBAR!< >Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler.

Aber der berühmte Professor rannte die Stufen empor und stellte sich dicht vor den Königsthron.

>Werhat Euch diese Dinge gelehrt, Majestät?< fragte er. Der König deutete mit seinem Zepter auf den Narren.

>Der da<, sagte er und drückte sich damit nicht gerade gewählt aus. Der große Professor hob die buschigen Brauen. Der Narr blickte zu ihm auf und lächelte. Er warf ein Würfelknöchlein in die Luft, und der Professor fing es, sich vorbeugend, mit dem Handrücken auf.

>Ha!< rief er. >Dich kenne ich. Schon an der Schellenkappe erkenne ich den Hanswurst!<

>Haha!< lachte der Narr.

>Was hat er Euch sonst noch beigebracht, Majestät?< wandte sich der große Professor wieder an den König. >Singen!< erwiderte der König. Und er erhob sich und sang:

>Eine Kuh, schwarz und weiß, Untern Baum legt sie sich, Und wäre ich sie, So wär ich nicht ich!<

>Sehr wahr<, sagte der Professor. >Und was noch?<

Und wieder sang der König, mit einer angenehmen, etwas zittrigen Stimme:

>Die Erde dreht sich, Ohne zu kippen. Darum läuft das Meer Nicht über die Klippen.<

>Das stimmt<, bemerkte der Professor. >Noch etwas?<

>Du meine Güte, natürlich!< sagte der König, sehr stolz auf seinen Erfolg. >Da ist noch das hier:

Wollt ich nur immer lernen, Wär ich bald neunmalklug. Um dann noch nachzudenken, Hätt ich nicht Zeit genug.

Aber vielleicht mögen Sie das hier noch lieber, Professor?

Die Fahrt um die Welt, Sie zahlt sich nicht aus, Denn der Weg führt zuletzt Doch wieder nach Haus!<

Der berühmte Professor klatschte Beifall.

>Ich weiß noch eins<, sagte der König. >Wenn Sie das hören möchten?<

Der König legte den Kopf zur Seite und bunkerte dem Narren zu. Mit spitzbübischem Lächeln sang er:

>Die großen Professoren, Die sollt man allesamt In dem Trog ersäufen, Aus dem ihr Wissen stammt.<

Am Schluß des Liedes lachte der Professor hellauf und fiel dem König zu Füßen.

>O König<, sagte er, >du sollst lange leben! Du hast mich nicht nötig!<

Und ohne ein weiteres Wort rannte er die Schloßtreppe hinunter und riß sich den Mantel, den Rock und die Weste vom Leibe. Dann warf er sich ins Gras und rief nach einer Schüssel Erdbeeren mit Schlagsahne und nach einem großen Glas Bier.

>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler entsetzt. Denn jetzt rannten alle Höflinge die Treppe hinunter, rissen sich die Röcke vom Leibe und wälzten sich im regennassen Gras.

>Erdbeeren und Bier! Erdbeeren und Bier!< riefen sie durstig.

>Gebt dem den Preis!< sagte der große Professor, sein Bier durch einen Strohhalm saugend, und deutete mit dem Kopf auf den Narren.

>Puh!< sagte der Narr. >Ich will ihn nicht haben. Was soll ich damit?<

Und er krabbelte auf die Füße, steckte seine Würfelknöchlein in die Tasche und trollte sich davon.

>He! Wohin gehst du?< rief der König ängstlich.

>Ach, irgendwohin, irgendwohin! < sagte der Narr unbestimmt und entfernte sich hüpfend und springend.

>Wart auf mich, wart auf mich!< rief der König und stolperte über seine Mantelschleppe, als er die Stufen hinabrannte.

>Adalbert! Was tust du nur? Du vergißt dich!< schrie die Königin.

>Keineswegs, meine Liebe!< rief der König zurück. >Im Gegenteil, ich besinne mich zum erstenmal auf mich selbst.<

Er rannte den Weg hinunter, holte den Narren ein und umarmte ihn.

>Adalbert!< schrie die Königin wieder.

Der König beachtete es nicht.

Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war immer noch feucht. Und plötzlich bildete die Sonne einen Regenbogen, der sich in mächtigem Schwung zum Schloß niedersenkte.

»Ich denke, wir nehmen diesen Weg<, sagte der Narr und deutete mit dem Finger auf den Bogen.

>Was? Den Regenbogen? Ist der denn fest genug? Wird er uns tra-gen?<

>Versuch's!<

Der König blickte auf die schimmernden Streifen von Violett, Blau, Grün, Gelb, Hell- und Dunkelrot. Und dann auf den Narren.

>Na schön<, sagte er. >Mir soll's recht sein! Komm!<

Er betrat die farbenfrohe Brücke.

>Sie hält!< rief er entzückt. Und behende rannte er mit hochgehobener Schleppe den Regenbogen hinauf.

>Ich bin der König hier im Schloß!< sang er triumphierend.

>Und ich der Hanswurst, dein Genoss'!< rief der Narr und rannte hinterdrein.

>Aber — das ist doch unmöglich!< sagte der Staatskanzler.

Der große Professor lachte und verdrückte noch eine Erdbeere.

>Wie kann etwas, was wirklich geschieht, unmöglich sein?< fragte er.

>Aber es ist nicht möglich! Es ist nicht! Es verstößt gegen alle Naturgesetze^ Das Gesicht des Staatskanzlers wurde rot vor Wut.

Die Königin stieß einen Schrei aus.

>Ach, Adalbert, komm doch zurück!< flehte sie. >Es soll mir gleich sein, wie töricht du bist, wenn du nur wiederkommst!<

Der König blickte über die Schulter zurück und schüttelte den Kopf. Der Narr lachte laut. Immer höher stiegen sie miteinander, gleichmäßigen Schrittes kletterten sie den Regenbogen hinauf.

Etwas Schweres und Glitzerndes fiel der Königin vor die Füße. Es war das verbogene Zepter. Einen Augenblick später folgte die Königskrone.

Flehend streckte sie die Arme aus.

Aber statt aller Antwort stimmte der König mit seiner hohen und trällernden Stimme nun folgendes Lied an:

>Sag: leb wohl, mein Lieb, Weine nicht, mein Lieb, Du bist klug, mein Lieb, Und ich bin's auch!<

Der Narr warf ihr mit verächtlicher Handbewegung ein Würfelknöch-lein hinunter. Dann gab er dem König einen kleinen Stoß und drängte ihn vorwärts. Der König hob seine Mantelschleppe auf und rannte davon, der Narr dicht auf seinen Fersen. Immer weiter entfernten sie sich über die strahlende, farbenprächtige Brücke, bis sich eine Wolke davor schob und sie den Augen der Königin entzog.

>Du bist klug, mein Lieb, Und ich bin's auch!<

Wie ein Widerhall klang das Lied des Königs noch einmal zurück. Sie hörte den letzten dünnen Triller, als der König schon verschwunden war.

>Tz-tz-tz!< machte der Staatskanzler. >So etwas gibt es einfach nicht!<

Aber die Königin setzte sich auf den leer gewordenen Thron und schluchzte bitterlich.

>O weh<, weinte sie leise hinter den vorgehaltenen Händen. >Mein König ist fort, und ich bin ganz verzweifelt. Niemals wird es wieder, wie es war!<

Unterdessen hatten der König und der Narr den höchsten Punkt des Regenbogens erreicht.

>Was für ein Gekletter!< sagte der König, setzte sich nieder und zog den Mantel enger um die Schultern. >Ich denke, ich bleibe hier ein bißchen sitzen — vielleicht auch länger. Geh du nur ruhig weiter!<

>Wird es dir nicht zu einsam?< fragte der Narr.

>Ach nein. Warum denn? Es ist hier oben hübsch friedlich und still. Und ich kann nachdenken — oder besser noch — schlafen.< Und damit streckte er sich auf dem Regenbogen aus und stopfte den Mantel unter den Kopf.

Der Narr beugte sich nieder und gab ihm einen Kuß.

>So leb denn wohl, König<, sagte er sanft, >du brauchst mich nicht länger.<

Er verließ den ruhig Schlafenden und stieg pfeifend den Regenbogen auf der anderen Seite hinab.

Und dann wanderte er weiter durch die Welt, wie er es vor seiner Begegnung mit dem König getan hatte, singend und pfeifend und nicht weiter denkend als bis zum nächsten Augenblick.

Zuweilen diente er einem anderen König und seinem Volk, zuweilen aber mischte er sich auch unter die einfachen Leute, die in engen Straßen oder Seitengäßchen lebten. Manchmal trug er eine prächtige Livree und manchmal Kleider, so armselig wie kaum ein anderer. Aber ganz gleich, wohin er sich wandte, stets brachte er Wohlstand und Glück unter das Dach, das ihn beherbergte ... «

Mary Poppins verstummte. Eine Weile noch lagen ihre Hände ruhig in ihrem Schoß, und ihre Augen starrten blicklos ins Weite.

Dann seufzte sie, schüttelte ein wenig die Schultern und stand auf.

»Also denn!« sagte sie munter, »nehmt die Füße in die Hand und ab nach Hause!«

Als sie sich umdrehte, entdeckte sie, daß Jane sie unverwandt ansah.

»Hoffentlich erkennst du mich beim nächsten Mal wieder«, bemerkte sie spöttisch. »Und du, Michael, mach, daß du von der Bank herunterkommst! Du willst dir wohl den Hals brechen, damit ich in Ungelegenheiten gerate und einen Schutzmann holen muß?«

Sie schnallte die Zwillinge im Kinderwagen fest und schob ihn dann ungeduldig vor sich her. Jane und Michael marschierten hinterdrein.

»Ich möchte wissen, wohin der König geriet, als der Regenbogen verschwand«, sagte Michael nachdenklich.

»Wahrscheinlich begleitete er ihn, wohin er auch ging«, meinte Jane. »Aber was ich wissen möchte: was geschah mit dem Narren?«

Mary Poppins hatte den Kinderwagen in die Ulmenallee geschoben. Als die Kinder um die Ecke bogen, packte Michael Jane an der Hand.

»Da ist er ja!« schrie er aufgeregt und deutete die Ulmenallee hinunter nach dem Parktor.

Eine hochgewachsene, hagere Gestalt, seltsam rot und gelb gekleidet, schwankte auf den Ausgang zu. Am Kirschbaumweg blieb sie stehen und blickte pfeifend nach rechts und links. Dann schlurfte sie über die Straße und schwang sich auf der anderen Seite lässig über eine Gartenmauer.

»Das ist doch bei uns!« sagte Jane, denn sie erkannte die Mauer an einem ausgebrochenen Ziegelstein. »Er ist in unsern Garten gesprungen. Lauf, Michael, wir wollen ihn einholen!«

Sie rannten im Galopp hinter Mary Poppins her.

»Nanu, nanu! Hier wird nicht Pferdchen gespielt!« sagte Mary Poppins und hielt Michael am Arm fest, als er an ihr vorbei wollte.

»Aber wir möchten . . . « , begann er, sich unter ihrem Griff windend.

»Was hab ich gesagt?« fragte sie mit einem so strengen Blick, daß er sich nicht zu widersetzen wagte. »Bleib gefälligst neben mir und benimm dich. Und du, Jane, du kannst mir den Kinderwagen schieben helfen!«

Unwillkürlich fiel Jane mit ihr in gleichen Schritt.

Für gewöhnlich erlaubte Mary Poppins keinem anderen, den Kinderwagen zu schieben. Aber heute schien es Jane, als wollte sie mit Absicht verhindern, daß sie beide vorausliefen. Denn Mary Poppins, die sonst so schnell ging, daß es schwerfiel, mit ihr Schritt zu halten, kroch so langsam wie eine Schnecke durch die Ulmenallee, hielt alle Augenblicke an, um Umschau zu halten, und blieb mindestens eine Minute vor einem Abfallkorb stehen. Stunden schien es zu dauern, bis sie endlich ans Parktor gelangten. Auch dann noch ließ sie Jane und Michael nicht von ihrer Seite, bis endlich Nummer siebzehn erreicht war. Nun aber waren die beiden nicht mehr zu halten und stoben durch den Garten davon.

Sie schauten hinter den Fliederbaum. Da war niemand. Sie suchten zwischen den Rhododendronbüschen und spähten ins Treibhaus, in den Geräteschuppen und die Wassertonne. Sie guckten sogar in den aufgerollten Gartenschlauch. Der Schellenmann war nirgends zu entdecken.

Nur ein Mensch war im Garten, und das war Robertson Ay. Mitten auf dem Rasen, die Wange gegen die Mähmaschine gepreßt, lag er und schlief.

»Wir haben ihn verfehlt!« sagte Michael. »Er muß den Weg abgekürzt haben und ist zur Hintertür hinaus. Jetzt sehen wir ihn nie wieder.«

Er kehrte zum Rasenmäher zurück. Dort stand Jane und blickte liebe-voll auf Robertson Ay nieder. Sein Filzhut war tief übers Gesicht gezogen; der zerbeulte Kopf lief in eine hakenförmig gebogene Spitze aus.

»Ich möchte wissen, ob ihm sein freier Nachmittag Spaß gemacht hat«, sagte Michael flüsternd, um ihn nicht zu stören.

So leise er gesprochen hatte, Robertson Ay mußte ihn dennoch gehört haben. Denn plötzlich regte er sich im Schlaf und rückte, eine bequemere Lage suchend, näher an den Rasenmäher heran. Gleichzeitig ertönte ein zartes Klimpern, als ob ganz in der Nähe kleine Glöckchen läuteten.

Überrascht hob Jane den Kopf und sah Michael an.

»Hast du gehört?« flüsterte sie.

Er nickte erstaunt.

Wieder rührte sich Robertson Ay und murmelte im Schlaf vor sich hin. Sie bückten sich, um zuzuhören.

»Kuh, schwarz und weiß«, murmelte er undeutlich. »Untern Baum legt sie sich . . . mm, mmm, mmh ... so wär ich nicht ich! Hmm . . .!«

Über den Schlafenden hinweg blickten sich Jane und Michael verwundert in die Augen.

»Hmpf! Der hat's gut, das muß ich schon sagen!«

Mary Poppins hatte sie inzwischen eingeholt, und auch sie starrte jetzt auf Robertson Ay nieder. »Dieser liederliche, faule Nichtsnutz!« sagte sie böse.

Aber in Wirklichkeit konnte sie gar nicht so böse sein, wie es klang, denn sie nahm ihr Taschentuch und schob es Robertson Ay unter die Backe.

»So hat er wenigstens ein sauberes Gesicht, wenn er aufwacht!« sagte sie bissig.

Aber Jane und Michael hatten gesehen, wie behutsam sie vermieden hatte, Robertson Ay aufzuwecken, und wie sanft ihre Augen blickten, als sie sich von ihm wegwandte.

Sie folgten ihr auf Zehenspitzen, sich gegenseitig verständnisvoll zunickend. Jeder wußte den anderen im Bilde.

Mary Poppins zog den Kinderwagen über die Stufen und in die Diele hinein. Die Haustür fiel mit einem kleinen Klicken ins Schloß.

Draußen im Garten schlief Robertson Ay den Schlaf des Gerechten. An diesem Abend, als Jane und Michael gute Nacht sagen kamen, tobte Mister Banks vor Wut. Er zog sich gerade um, denn er wollte ausgehen, und konnte seinen besten Kragenknopf nicht finden.

»Zum Kuckuck, da ist er ja!« rief er plötzlich. »In einer Büchse mit Ofenschwärze — ausgerechnet! Auf meinem Toilettentisch. Dieser Robertson Ay macht Sachen! Den Kerl schmeiß ich nächstens 'raus. Er ist nichts als ein schmieriger Hanswurst.«

Und er verstand durchaus nicht, warum Jane und Michael bei diesen Worten so furchtbar lachen mußten . . .

7- Kapitel. Der Abendausgang

»Was, keinen Pudding?« beschwerte sich Michael, als Mary Poppins, den Arm voller Teller, Becher und Messer, den Tisch für den abendlichen Tee zu decken begann.

Sie drehte sich um und warf ihm einen strengen Blick zu.

»Heute abend«, sagte sie kurz, »hab ich Ausgang. Deshalb wirst du Brot und Butter und Erdbeermarmelade essen und Gott dankbar sein. Manch kleiner Junge wäre froh, wenn er das hätte!«

»Ich nicht«, murrte Michael. »Ich möchte Reispudding mit Honig drin.«

»Du möchtest! Du möchtest! Immer möchtest du was. Bald dies, bald das, bald das eine, bald das andere. Nächstens möchtest du noch den Mond haben.«

Er steckte die Hände in die Taschen und ging verdrossen zur Fensterbank. Dort kniete Jane und blickte in den hellen, frostklaren Himmel. Er kletterte neben sie, immer noch mit verdrossener Miene.

»Na schön! Dann möchte ich eben den Mond haben. Nun gerade!« rief er Mary Poppins über die Schulter zu. »Aber ich weiß, ich kriege ihn nicht. Nie gibt mir einer was.«

Vor ihrem bösen Blick wandte er sich eilends ab.

»Jane«, sagte er, »es gibt keinen Pudding.«

»Stör mich jetzt nicht, ich zähle gerade!« sagte Jane, das Gesicht ans Fenster gepreßt, so daß ihre kleine Nasenspitze ganz breitgequetscht wurde.

»Was zählst du denn?« fragte er, nicht allzu interessiert. Ihm lag immer noch sein Reispudding mit Honig im Sinn.

»Sternschnuppen. Guck, da ist wieder eine! Das ist die siebente. Und noch eine! Acht. Und eine über dem Park — das sind neun!«

»O — o — oohh, und dort fällt eine in Admiral Booms Schornstein!« sagte Michael, sich plötzlich aufrichtend, und schon hatte er den Pudding vergessen.

»Und da eine kleine — guck! Sie schießt quer über die Straße. Was für ein kaltes Licht!« rief Jane. »Ach, ich wünschte, wir wären draußen! Wer schießt denn die Sternschnuppen ab, Mary Poppins?«

»Kommen sie aus einer Kanone?« erkundigte sich Michael.

Mary Poppins zog verächtlich die Luft durch die Nase.

»Wofür haltet ihr mich? Für ein Konversationslexikon? Von A bis Z?« fragte sie böse. »Kommt gefälligst und eßt euer Abendbrot!« Sie schob beide zu ihren Stühlen hin und ließ den Rolladen herunter. »Und keinen Unfug mehr. Ich hab's eilig!«

Und sie zwang sie, so rasch zu essen, daß die Kinder Angst hatten, sich zu verschlucken.

»Kann ich noch 'ne Schnitte haben?« fragte Michael und streckte die Hand nach dem Teller mit Butterbroten aus.

»Nein, nicht mehr Du hast schon mehr gegessen, als dir guttut. Nimm einen Ingwerkeks und geh zu Bett.«

»Aber . ..«

»Kein >Aber<, oder es wird dir leid tun!« fuhr sie ihn heftig an.

»Ich werde Bauchweh kriegen, ich weiß es genau«, sagte er zu Jane, doch nur ganz leise, denn wenn Mary Poppins so aussah, war es klüger den Mund zu halten. Jane überhörte seine Klage. Sie kaute langsam an ihrem Ingwerkeks und spähte dabei vorsichtig durch eine Ritze im Rollladen in den frostklaren Himmel.

»Dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn .. .«

»Sagte ich >Bett< oder nicht?« fragte eine vertraute Stimme hinter ihnen.

»Ja doch, ich geh schon! Gleich, Mary Poppins!«

Und mit lautem Geschrei rannten sie ins Kinderschlafzimmer, gefolgt von Mary Poppins, die ein einfach abscheuliches Gesicht machte.

Kaum eine halbe Stunde später hatte Mary Poppins sie alle in ihren Bettchen verstaut und stopfte Leintücher und Decken energisch unter die Matratzen.

»So!« stieß sie zwischen den Zähnen hervor. »Das wäre alles für heute. Und wenn ich noch einen Mucks höre . . .«

Sie führte den Satz nicht zu Ende, aber ihr Blick sprach Bände.

». . . dann setzt's was!« ergänzte Michael. Aber er flüsterte es nur in sein Bettuch, denn er wußte, was ihm blühen würde, wenn sie es hörte. Sie rauschte aus dem Zimmer, ihre gestärkte Schürze knisterte und krachte, und sie ließ die Türe ärgerlich hinter sich zufallen. Die Kinder hörten, wie ihre Füße leicht die Treppe hinabeilten — tapp, tapp — tapp, tapp — von Absatz zu Absatz.

»Sie hat vergessen, das Nachtlicht anzuzünden«, sagte Michael und spähte um die Ecke seines Kopfkissens. »Muß die es heute eilig haben! Ich möchte zu gern wissen, wo sie hingeht!«

»Und hier hat sie den Rolladen oben gelassen!« sagte Jane, die sich im Bett aufgesetzt hatte. »Hurra, jetzt können wir die Sternschnuppen beobachten!«

Die spitzen Dächer des Kirschbaumwegs schimmerten im Frost, und das Mondlicht glitt schräg und leuchtend an ihnen herab und fiel lautlos in die dunklen Buchten zwischen den Häusern. Alles glitzerte und glänzte. Die Erde war ebenso hell wie der Himmel.

»Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig. . .«, sagte Jane und zählte eifrig die niederfallenden Sternschnuppen. Kaum war die eine ver-schwunden, da zeigte sich schon eine andere, bis endlich der ganze Himmel von tanzenden und taumelnden Sternschnuppen zu wimmeln schien.

»Wie beim Feuerwerk«, sagte Michael. »Ach, guck mal die hier! Oder wie beim Zirkus. Glaubst du, es gibt auch im Himmel einen Zirkus, Jane?«

»Ich weiß nicht recht«, meinte Jane unsicher. »Natürlich gibt es den Großen und den Kleinen Bären und Taurus, den Stier. Und Leo, den Löwen. Aber von einem Zirkus weiß ich nichts.«

»Mary Poppins wüßte es«, nickte Michael weise.

»Ja, aber sie würde es uns nicht erzählen«, sagte Jane und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wo war ich stehengeblieben? War es nicht bei einundzwanzig? Ach, Michael, so etwas Schönes — hast du gesehen? Siehst du es?« Erregt hüpfte sie im Bett auf und ab und deutete auf das Fenster.

Ein ungewöhnlich heller Stern, größer als alle, die sie bisher gesehen, schoß quer über den Himmel auf den Kirschbaumweg Nummer siebzehn zu. Er verhielt sich anders als die übrigen, denn anstatt geradeaus durch die Finsternis zu schießen, schlug er einen Purzelbaum nach dem anderen und beschrieb in der Luft seltsame Kurven.

»Duck dich, Michael!« schrie Jane plötzlich. »Er kommt hier herein!«

Sie verschwanden unter der Bettdecke und bohrten den Kopf in die Kissen.

»Glaubst du, er ist wieder weg?« kam es nach einer Weile mit erstickter Stimme von Michaels Bett. »Ich kriege keine Luft mehr!«

»Natürlich bin ich noch da!« antwortete ihm eine leise, klare Stimme. »Wofür hältst du mich denn?«

Aufs höchste überrascht stießen Jane und Michael ihre Bettdecken von sich und setzten sich auf. Dort, am Rande des Fensterbretts, gestützt auf ihren glitzernden Schweif und fröhlich leuchtend, stand die Sternschnuppe.

»Kommt mit, ihr beiden! Beeilt euch!« sagte sie und leuchtete eisig durchs Zimmer.

Michael staunte sie an.

»Aber — ich verstehe nicht. . .«, begann er.

Ein fröhliches, glitzerndes Gekicher klang auf.

»Das passiert dir wohl öfters?« sagte der Stern.

»Meinst du wirklich, wir sollen mitkommen?« fragte Jane.

»Natürlich! Und zieht euch warm an. Es ist kalt draußen!«

Sie sprangen aus den Betten und rannten zu ihren Mänteln.

»Habt ihr Geld?« fragte die Sternschnuppe kurz.

»In meiner Manteltasche hab ich zwei Pence«, sagte Jane unsicher.

»Kupferstücke? Die nützen euch nichts. Hier, fangt!« Und mit leisem Zischen, wie eine Wunderkerze, die abbrennt, begann die Sternschnuppe

Funken zu sprühen. Zwei dieser Funken flogen durchs Zimmer und landeten einer in Janes und einer in Michaels Hand.

»Beeilt euch, oder wir kommen zu spät!«

Die Sternschnuppe fuhr durchs Zimmer, durch die geschlossene Tür und die Treppe hinunter, gefolgt von Jane und Michael, die ihr glitzerndes Geld fest in der geballten Faust hielten.

»Ob das ein Traum ist, möchte ich wissen«, sagte Jane zu sich selbst, als sie über den Kirschbaumweg eilten.

»Folgt mir!« rief der Stern, als er sich am Ende der Straße, dort, wo der frostige Himmel das Pflaster zu berühren schien, in die Luft schwang und verschwand.

»Folgt mir! Folgt mir!« kam die Stimme irgendwoher aus dem Himmel. »Tretet auf einen Stern! Wollt ihr mit, so wagt den Schritt!«

Jane ergriff Michael bei der Hand und hob unentschlossen den Fuß. Zu ihrer Überraschung fand sie, daß der unterste Stern am Himmel ganz leicht zu erreichen war. Vorsichtig balancierend stieg sie hinauf. Der Stern schien fest und tragfähig.

»Komm, Michael!«

Sie eilten an dem frostklaren Himmel empor, wobei sie größere Zwischenräume übersprangen.

»Folgt mir!« rief die Stimme weit voraus. Jane machte halt und blickte hinunter; es verschlug ihr den Atem, als sie sah, wie hoch sie schon waren. Der Kirschbaum weg, ja die ganze Welt wirkte wie eine kleine, glitzernde Christbaumkugel.

»Wird dir schwindlig, Michael?« fragte sie und sprang auf einen großen flachen Stern hinüber.

»Nmm — nein, nicht, wenn du mich festhältst.«

Wieder machten sie halt. Hinter ihnen führte die große Sternentreppe zur Erde nieder, aber vor ihnen war nichts mehr zu sehen, nichts als ein dicker, blauer Fleck nackten Himmels.

Michaels Hand zitterte in der Janes.

»Www — was machen wir jetzt?« sagte er und versuchte, den Schrek-ken in seiner Stimme nicht merken zu lassen.

»Weitergehen! Weitergehen! Immer heran, meine Herrschaften! Schaut her, was wir zu bieten haben! Zahlt euer Eintrittsgeld und trefft eure Wahl! Der doppelschwänzige Drache oder das geflügelte Pferd! Magische Wunder! Wunder des Weltalls! Weitergehen! Weitergehen!«

Eine laute Stimme schien ihnen unmittelbar in die Ohren zu brüllen. Sie blickten verdutzt rundum. Es war niemand zu sehen.

»Immer 'ran, meine Herrschaften! Laßt euch den goldenen Stier und den komischen Clown nicht entgehen! Die Vorstellung der weltberühmten Sternbildertruppe! Einmal gesehen und nie wieder vergessen! Schiebt den Vorhang zur Seite und tretet ein!«

Wieder erklang die Stimme dicht neben ihnen. Jane streckte die Hand aus. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, daß das, was sie für einen leeren Sternenlosen Fleck Himmel gehalten hatten, in Wirklichkeit ein dicker dunkler Vorhang war. Sie drückte dagegen und fühlte, wie er nachgab; sie griff in eine Falte und, Michael hinter sich her ziehend, schob den Vorhang zur Seite.

Ein starker Lichtstrahl blendete sie für einen Augenblick. Als sie wieder sehen konnte, entdeckten sie, daß sie am Rande einer mit leuchtendem Sand bestreuten Manege standen. Der große blaue Vorhang hüllte die Manege von allen Seiten ein und war in der Mitte zu einer Spitze hochgezogen wie bei einem Zelt.

»Na also! Wißt ihr, daß ihr fast zu spät gekommen wärt? Habt ihr schon Eintrittskarten?«

Sie fuhren herum. Neben ihnen — sein leuchtender Fuß glitzerte im Sand — stand ein seltsamer, mächtiger Riese. Er sah aus wie ein Jäger, denn er trug ein sternengeflecktes Leopardenfell über der Schulter und an seinem mit drei großen Sternen geschmückten Gürtel ein Schwert.

»Die Eintrittskarten, bitte!« Er streckte die Hand aus.

»Ich fürchte, wir haben keine. Wissen Sie, wir wußten nicht. . .«, begann Jane.

»Oje, oje, wie unvorsichtig! Kann euch ohne Eintrittskarten leider nicht hineinlassen. Aber was habt ihr denn da in der Hand?«

Jane hielt ihm den goldenen Funken hin.

»Na, wenn das keine Eintrittskarte ist!« Er drückte den Funken zwischen die drei großen Sterne. »Noch ein Glanzstück für Orions Gürtel!« bemerkte er vergnügt.

»Bist du das?« sagte Jane und starrte ihn an.

»Natürlich — wußtest du das nicht? Aber — entschuldigt mich jetzt, ich muß auf die Tür aufpassen. Geht weiter, bitte.«

Die Kinder, die sich ziemlich gehemmt fühlten, gingen Hand in Hand weiter. Zu Rängen geordnet, stiegen rechts die Sitzreihen an, während links ein goldenes Seil den Gang von der Manege trennte. Dort stießen und drängten sich die seltsamsten Tiere; alle schimmerten wie pures Gold. Ein Pferd mit großen goldenen Flügeln tänzelte auf glitzernden Hufen vorbei. Ein goldener Fisch wirbelte mit einer Flosse den Manegensand auf. Drei kleine Böcklein sprangen mutwillig umher, auf zwei Beinen statt auf allen vieren. Und als Jane und Michael genauer hinsahen, kam es ihnen vor, als wären all die Tiere aus Sternen gemacht. Die Flügel des Pferdes bestanden aus Sternen, nicht aus Federn, die drei Böcklein hatten einen Stern auf der Nase und am Schwanz, und der Fisch war mit sternglitzernden Schuppen bedeckt.

»Guten Abend!« sagte er und verbeugte sich im Vorbeistolzieren höflich vor Jane.

»Ein schöner Abend für die Vorstellung!«

Noch ehe Jane antworten konnte, war er schon weg.

»Das ist aber seltsam«, sagte sie. »Solche Tiere hab ich noch nie gesehen!«

»Wieso seltsam?« sagte hinter ihnen eine Stimme.

Zwei Kinder, beides Knaben, ein wenig älter als Jane, standen da und lächelten. Sie waren in schimmernde Kittel gekleidet, und von ihren spitzen Kappen baumelte statt einer Quaste ein Stern.

»Entschuldigt«, sagte Jane höflich. »Aber, wißt ihr, wir sind an — an Pelze und Federn gewöhnt, und diese Tiere sehen aus, als wären sie aus Sternen gemacht.«

»Aber das sind sie ja auch!« sagte der erste Junge mit weit aufgerissenen Augen. »Woraus denn sonst? Es sind die Sternbilder!«

»Aber selbst das Sägemehl ist Gold . . .«, begann Michael.

Der zweite Junge lachte auf. »Sternenstaub, meinst du wohl! Warst du noch nie in einem Zirkus?«

»In so einem nicht.«

»Ein Zirkus ist wie der andere«, sagte der erste Junge. »Unsere Tiere leuchten mehr, das ist alles.«

»Doch wer seid ihr?« fragte Michael.

»Die Zwillinge. Das da ist Pullux, und ich bin Cator. Wir sind unzertrennlich.«

»Wie die siamesischen Zwillinge?«

»Ja. Doch in weit höherem Maß. Die siamesischen Zwillinge hängen nur körperlich aneinander, wir aber sind ein Herz und eine Seele. Wir denken einer des anderen Gedanken und träumen einer des anderen Träume. Aber wir dürfen hier nicht stehenbleiben und schwätzen. Wir müssen uns fertigmachen — wir sehen uns später noch!«

Die Zwillinge rannten weg und verschwanden durch einen Spalt im Vorhang.

»Hallo!« klang eine düstere Stimme mitten aus der Manege. »Ihr habt wohl nicht zufällig ein Korinthenbrötchen in der Tasche?«

Ein Drache mit zwei großen Schuppenschwänzen kam auf sie zu und stieß Dampf aus den Nüstern.

»Leider nicht«, sagte Jane.

»Auch keine Kekse?« fragte der Drache ärgerlich.

Sie schüttelten die Köpfe.

»Das dachte ich mir«, sagte der Drache und vergoß eine goldene Träne.

»So geht es mir immer in den Zirkusnächten. Ich werde erst nach der Vorstellung gefüttert. Für gewöhnlich bekomme ich ein knuspriges Mädchen zum Abendbrot. . .«

Jane trat rasch einen Schritt zurück und zog Michael an sich.

»Ach, reg dich nicht auf!« beschwichtigte sie der Drache. »Ihr wärt beide viel zu klein. Außerdem seid ihr Menschenkinder, und die schmek-ken nicht. — Man läßt mich hungern«, erklärte er, »damit ich meine Kunststücke besser ausführe. Aber nach der Vorstellung . . .« Ein gieriges Licht trat in seine Augen, und mit weit heraushängender Zunge trollte er sich davon. »Yum, yum!« zischte er leise und gierig vor sich hin.

»Ich bin froh, daß wir nur Menschenkinder sind«, wandte sich Jane an Michael. »Es muß schrecklich sein, von einem Drachen gefressen zu werden!«

Aber Michael war schon vorausgeeilt und sprach eifrig mit den drei kleinen Böcklein.

»Wie geht es?« fragte er gerade, als Jane hinzutrat.

Und das älteste Böcklein, das sich offensichtlich zum Vorsingen bereit erklärt hatte, räusperte sich und begann:

»Horn und Huf, Huf und Horn ... «

»Na, ihr Böcklein!« fuhr Orions laute Stimme dazwischen. »Ihr könnt euer Verschen aufsagen, wenn's soweit ist. Jetzt macht euch fertig, es fängt gleich an! — Folgt mir, bitte!« forderte er die Kinder auf.

Gehorsam trotteten sie hinter der glitzernden Gestalt her, und wo sie vorübergingen, drehten sich die goldenen Tiere um und starrten sie an. Fetzen der geflüsterten Unterhaltung erreichten ihr Ohr.

»Wer ist das?« fragte ein mächtiger, sternfunkelnder Stier; er blieb stehen und wirbelte mit seinen Hufen den Manegensand auf, während er ihnen nachblickte. Und ein Löwe wandte sich um und flüsterte dem Bullen etwas ins Ohr. Sie verstanden »Banks« und »Ausgehabend«, aber mehr nicht. Inzwischen war auf den Rängen jeder Platz mit einer schimmernden, funkelnden Gestalt besetzt. Nur drei Sitze waren noch leer, und zu ihnen führte Orion jetzt die Kinder.

»Das sind eure Plätze. Wir haben sie für euch freigehalten. Direkt unter der Hofloge. Ihr werdet ausgezeichnet sehen. Paßt auf! Es fängt gerade an!«

Jane und Michael wandten den Kopf und sahen, daß die Manege sich geleert hatte, während sie zu ihren Sitzen emporgeklettert waren. Sie knöpften ihre Mäntel auf und beugten sich aufgeregt vor.

Von irgendwoher ertönte eine Trompetenfanfare. Sie schallte durch das ganze Zelt, dazwischen hörte man ein hohes, melodisches Wiehern.

»Die Kometen!« sagte Orion und setzte sich neben Michael. Ein heftig nickendes Haupt erschien am Eingang, und hintereinander galoppierten neun Kometen in die Manege, mit goldgeflochtenen Mähnen und einem silbernen Federbusch auf dem Kopf.

Plötzlich blies die Musik einen Tusch, und wie mit einem Schlag fielen die Kometen auf die Knie und beugten die Köpfe. Ein warmer Lufthauch strich durch die Manege.

»Wie heiß es wird!« rief Jane.

»Pscht, er kommt!« sagte Orion.

»Wer?« flüsterte Michael.

»Der Zirkusdirektor!«

Orion wies mit einer Kopfbewegung nach dem Eingang. Dort erschien jetzt ein gleißendes Licht, das an Helligkeit die Sternbilder überstrahlte. Immer stärker wurde sein Leuchten.

»Da ist er!« Orions Stimme klang merkwürdig sanft.

Bei seinen Worten tauchte zwischen den Vorhängen eine hochragende, goldene Gestalt auf, das volle, strahlende Antlitz von flammenden Lokken umrahmt. Gleichzeitig drang eine Welle warmer Luft in die Manege, die sich kreisförmig immer weiter ausbreitete. Halb unbewußt, von der Hitze ganz benommen, schlüpften die Kinder aus ihren Mänteln.

Orion sprang auf die Füße und hielt die rechte Hand hoch über den Kopf.

»Heil, Sonne, heil!« rief er. Und von den Sternenrängen widerhallte der Ruf: »Heil!«

Die Sonne blickte sich in dem weiten, dunklen Ringzelt um und schwang als Antwort auf die Begrüßung dreimal eine lange, goldene Peitsche um ihr Haupt. Als die Schnur so durch die Luft sauste, gab es ein scharfes, schnelles Klatschen. Mit einem Satz sprangen die Kometen auf und trabten hinaus; ihre golddurchflochtenen Schwänze schwangen eifrig hin und her, und sie reckten stolz ihre federgeschmückten Köpfe.

»Da bin ich wieder, da bin ich wieder!« krähte laut eine heisere Stimme, und in die Manege hüpfte ein komisches Wesen mit silbern bemaltem Gesicht, einem breiten, roten Mund und einer silbernen Halskrause.

»Saturn — der Clown!« flüsterte Orion hinter der Hand den Kindern

zu.

»Wann ist eine Tür keine Tür?« fragte der Clown ins Publikum, schlug einen Purzelbaum und endete im Handstand.

»Wenn sie offensteht!« antworteten Jane und Michael laut.

Ein enttäuschter Ausdruck malte sich auf dem Gesicht des Clowns.

»Ach, den kennt ihr schon?« sagte er vorwurfsvoll. »Das ist aber unfair!«

Die Sonne klatschte mit ihrer Peitsche.

»Schon gut, schon gut«, sagte der Clown. »Ich weiß noch was anderes: Warum rennt eine Henne über die Straße?« fragte er und setzte sich mit einem Plumps in den Sternenstaub.

»Um auf die andere Seite zu kommen!« riefen Jane und Michael.

Die geschwungene Peitschenschnur ringelte sich dem Clown um die Knie.

»Oh — oh — oh! Mach das nicht! Du tust dem armen Jockel ja weh! Guck! wie sie mich alle auslachen! Aber die kriege ich schon! Hört zu!« Er wirbelte in einem doppelten Salto durch die Luft.

»Welches ist der kälteste Vogel? Wer weiß das?«

»Der Zeisig — er ist hinten eisig!« schrien Michael und Jane gellend.

»Hinaus mit dir!« rief die Sonne, und ihre Peitschenschnur ringelte sich um die Schultern des Clowns; dieser schlug Purzelbäume rund um die Manege und schrie:

»Ich armer Jockel! Wieder umsonst! Die kennen meine schönsten Witze, ach, ich armer Kerl, ich armer, alter . . . Ach, Verzeihung, Miß, Verzeihung!« Er brach ab, denn er war gegen Pegasus, das geflügelte Pferd, geprallt, das soeben hereingesprengt kam, eine leuchtend flimmernde Gestalt auf dem Rücken.

»Venus, der Abendstern«, erklärte Orion.

Atemlos sahen Jane und Michael zu, wie die flimmernde Gestalt leicht durch die Manege ritt. Eine Runde um die andere ritt sie, sich vor der Sonne verbeugend, sooft sie an ihr vorbeikam, bis schließlich die Sonne ihr in den Weg trat und einen großen, mit Goldpapier zugeklebten Reifen hochhielt.

Eine Sekunde lang balancierte Venus auf den Zehenspitzen. »Hopp!« sagte die Sonne, und mit unnachahmlicher Grazie sprang Venus durch den Reifen und landete wieder auf dem Pferderücken.

»Hurra!« schrien Jane und Michael, und das Sternenpublikum stimmte mit ein in den Ruf. »Hurra!«

»Laß mich's noch einmal versuchen, laß den armen Jockel noch einen Witz machen, just einen, der selbst eine Katze zum Lachen bringt!« schrie der Clown. Aber Venus schüttelte nur lachend den Kopf und ritt aus der Manege.

Kaum war sie verschwunden, da kamen die drei Böcklein hereinspaziert; sie wirkten ziemlich scheu und verbeugten sich unbeholfen vor der Sonne. Dann stellten sie sich in einer Reihe vor ihr auf die Hinterbeine und sangen in hohen, dünnen Tönen folgendes Lied:

»Horn und Huf, Huf und Horn, In jeder Nacht

Werden drei Böcklein gebor'n.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Blau und schwarz,

Schwarz und blau

Ist es am Abend,

Wenn ich die Böcklein erschau.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Mild und süß,

Süß und mild

Mundet die Milch,

D i e a u s d e r Milchstraße quillt.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie ein Tänzchen.

Am Himmelsrain

Stehn sie und weiden.

Beim Morgenrot

Müssen die Böcklein scheiden.

Mit den Schnipperschnupper-Schnäuzchen Und den Wickelwackel-Schwänzchen Drehen sie schnell noch ein Tänzchen.

Sind sie nicht zu beneiden?«

Die letzte Zeile sangen sie mit langgezogenen, meckernden Tönen und tanzten aus der Manege.

»Was kommt jetzt?« erkundigte sich Michael, aber Orion brauchte nicht zu antworten, denn schon stand der Drache da. Dampf strömte aus seinen Nüstern, und seine zwei schuppigen Schwänze wirbelten den Ster-nenstaub auf. Hinter ihm trugen Castor und Pollux einen großen, schimmernden Globus herein, auf dem Berge und Flüsse eingezeichnet waren.

»Sieht aus wie der Mond!« meinte Jane.

»Natürlich ist es der Mond«, sagte Orion.

Der Drache stand jetzt auf seinen Hinterbeinen, und die Zwillinge legten ihm zum Balancieren den Mond auf die Nase. Er schwankte einen Augenblick unsicher und kam dann zur Ruhe. Der Drache begann in der Manege einen Walzer zu tanzen, begleitet von der Sternenmusik. Rundum tanzte er, einmal — zweimal — dreimal.

»Das genügt!« sagte die Sonne und knallte mit der Peitsche. Und mit einem Seufzer der Erleichterung schüttelte der Drache den Kopf und ließ den Mond durch die Manege fliegen. Er landete mit einem Schwung auf Michaels Schoß.

»Herrje!« rief er verblüfft. »Was soll ich denn damit?«

»Was du willst«, sagte Orion. »Ich dachte, du wolltest ihn haben.«

Und plötzlich erinnerte sich Michael an seine Unterhaltung mit Mary Poppins heute abend. Da hatte er sich den Mond gewünscht, und jetzt hatte er ihn. Und nun wußte er nicht, was er damit anfangen sollte. Wie komisch!

Aber es blieb ihm keine Zeit, sich Gedanken zu machen, denn abermals ließ die Sonne ihre Peitsche knallen. Michael setzte den Mond auf seine Knie, umschloß ihn mit den Armen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Manege zu.

»Was macht zwei und drei?« fragte die Sonne gerade den Drachen.

Fünfmal fegten die zwei Schwänze über den Sternenstaub.

»Und sechs und vier?« Der Drache dachte eine Weile nach. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun . . . Die beiden Schwänze machten halt.

»Falsch!« sagte die Sonne. »Ganz falsch! Du gehst heut ohne Abendbrot zu Bett!«

Da brach der Drache in bittere Tränen aus und stürzte schluchzend aus der Manege.

»Herrje — herrje — herrjemine, Buhu! Buhu! Buhu!«

Er weinte bitterlich.

»Ich möcht ein Sternenmädchen, Ein würziges, saftiges Brätchen, Vom besten, vom besten, Vom allerbesten Stück.

Buh!

Die Augen: goldene Sterne, Kometenschweif das Haar, Das schmeckte, das schmeckte, Das schmeckte wunderbar.

Buhu!

Und wären es auch zwei, Da fand ich nichts dabei, Im Gegenteil, so 'n großes Stück, Das war ein rechtes Glück.

Denn ich bin ja sooo hungrig! Buuh — hu — uh!«

»Kriegt er nicht wenigstens ein ganz kleines Mädchen?« fragte Michael, dem der arme Drache leid tat.

»Pscht!« sagte Orion, denn gerade sprang eine funkelnde Gestalt in den Ring. Als der Sternenstaub sich wieder gesenkt hatte, fuhren die Kinder erschrocken zurück. Da stand der Löwe und brüllte.

Michael drängte sich ein wenig dichter an Jane.

Der Löwe kauerte sich zusammen und schlich langsam auf die Sonne zu. Seine lange Zunge hing ihm aus dem Maul und schlabberte gefährlich. Aber die Sonne lachte nur, hob den Fuß und versetzte dem Löwen einen freundschaftlichen Tritt auf die goldene Nase. Mit einem Gebrüll, als hätte sie sich verbrannt, sprang die funkelnde Bestie hoch.

Klatschend fuhr die Peitsche durch die Luft. Langsam, widerwillig, die ganze Zeit über grollend, stellte sich der Löwe auf die Hinterbeine. Die Sonne warf ihm ein Springseil zu, das der Löwe zwischen den Vorderpfoten festhielt, während er sang:

»Ich bin der Löwe, Leo — der Löwe.

Der schöne, noble Leo-Löwe.

Blick auf zu mir: in kalter Nacht

Halt ich am Fuß Orions Wacht.

Weit leuchtend, schimmernd, gleißend und

Das schönste Bild am Himmelsrund!«

Am Ende des Liedes schwang er das Seil und hüpfte seilspringend durch die Manege; dabei rollte er die Augen und brüllte.

»Beeil dich, Leo, wir kommen dran!« ertönte eine grollende Stimme hinter dem Vorhang hervor.

»Mach voran, du große Katze!« fügte eine schrille Stimme hinzu.

Der Löwe ließ das Seil fallen und sprang brüllend auf den Vorhang zu, aber die beiden Tiere, die jetzt eintraten, wichen vorsichtig aus, so daß der Löwe sie nicht erreichte.

»Der Große und der Kleine Bär«, sagte Orion.

Langsam trotteten die beiden Bären herein, hielten sich bei den Vorderpfoten und tanzten nach einer langsamen Melodie. Sie tanzten einmal um die Manege herum, wobei sie höchst ernsthaft und feierlich drein-sahen, und machten, als der Tanz zu Ende war, eine schwerfällige Verbeugung vor dem Publikum. Dann sangen sie:

»Der Brummbär und der Quiekebär, Das sind wir! Ach, wie schön es war, Wenn einer eine Wabe hätt; Die steckten wir uns unters Bett Und leckten uns an Honig fett.

Und Brummbrummbär und Quiekebär Und . .,

Und . . .

Und...«

Der Große und der Kleine Bär blieben stecken, stammelten und blickten einander an.

»Hast du vergessen, wie's weitergeht?« brummte Brummbär.

»Ja, ich weiß nicht mehr!« Der Quiekebär schüttelte verzweifelt den Kopf und stierte auf den Sternenstaub hinunter, als hoffte er den vergessenen Text dort zu finden.

In diesem Augenblick rettete das Publikum die Situation. Ein Regen von Honigwaben ergoß sich aus den Rängen und hagelte den beiden Bären um die Ohren. Der Brummbär und der Quiekebär sahen sehr erleichtert aus, bückten sich und hoben die Waben auf.

»Fein!« brummte der Große Bär und grub seine Nase in eine Wabe.

»Ausgezeichnet!« quiekte der Kleine Bär und versuchte auch eine. Dann verbeugten sie sich feierlich vor der Sonne und trollten davon.

Die Sonne winkte mit der Hand, und die Musik wurde lauter und dröhnte triumphierend durch das Zelt.

»Das Signal für die Große Parade«, sagte Orion, während Castor und Pollux schon als Anführer des Aufzuges hereintanzten.

Die Bären kamen wieder und drehten miteinander einen schwerfälligen Walzer. Ihnen auf den Fersen folgte Leo, der Löwe, der immer noch ärgerlich grollte und ihre Spuren beschnüffelte. Dann glitt ein funkelnder Schwan herein, der einen hohen, klaren Gesang anstimmte.

Und nach dem Schwan kam der goldene Fisch, der die drei Böcklein an einer silbernen Leine führte, und hinterher der Drache, der immer noch bitterlich schluchzte. Ein lautes und fürchterliches Gebrüll übertönte die Musik. Das war Taurus, der schnaubende Stier, der wild in die Manege stürmte, wobei er versuchte, den Clown Saturn von seinem Rük-ken zu schütteln. Hintereinander strömten alle Tiere herein, um ihre Plätze einzunehmen. Die Manege war eine hin und her wogende Masse von goldenen Hufen und Hörnern, Mähnen und Schweifen.

»Ist es jetzt aus?« flüsterte Jane.

»Bald«, erwiderte Orion. »Heute wird früh Schluß gemacht. Sie muß um halb elf wieder zurück sein.«

»Wer?« fragten beide Kinder wie aus einem Mund. Doch Orion hörte nicht. Er war aufgestanden und winkte mit dem Arm.

»Kommt, beeilt euch, macht weiter!« rief er.

Und herein kam Venus geritten, auf ihrem geflügelten Pferd, gefolgt von einer glitzernden Schlange, die ihr Schwanzende vorsichtig im Maul hielt und wie ein Reifen dahinrollte.

Zuletzt kamen die Kometen. Stolz trabten sie durch den Vorhang und wippten mit den golddurchflochtenen Schweifen. Die Musik wurde lauter und wilder, und von dem Sternenstaub in der Manege stieg ein goldfarbener Rauch auf, während die Sternbilder, rufend, singend, brüllend und brummend, sich zu einem Kreis ordneten. In der Mitte, als wagten sie sich nicht in ihre Nähe, ließen sie einen Raum frei für die Sonne.

Da stand sie, hoch über alle hinwegragend, die Peitsche zwischen den verschränkten Armen. Sie nickte jedem Tier freundlich zu, wenn es mit gesenktem Haupt an ihr vorbeizog. Und dann sahen Jane und Michael, wie sich der leuchtende Blick von der Manege hob und über die sternen-besetzten Zuschauerränge hinwegglitt, bis er sich der Hofloge zuwandte. Sie fühlten, wie ihnen wärmer wurde, als der Blickstrahl sie erreichte, und mit höchster Überraschung merkten sie, daß die Sonne die Peitsche hob und ihnen zunickte.

Als die Peitsche in die Luft fuhr, machten alle Sterne und Sternbilder kehrt. Dann verbeugten sie sich wie auf Kommando.

»Verbeugen die sich etwa vor uns?« flüsterte Michael.

Ein vertrautes Lachen klang hinter ihnen. Sie drehten sich um. Dort saß, ganz allein in der Hofloge, eine wohlbekannte Gestalt in Strohhut und blauem Mantel und mit einem goldenen Medaillon um den Hals.

»Heil, Mary Poppins, Heil!« ertönte der Chor der Stimmen aus der Zirkusmanege.

Jane und Michael blickten sich an. So also verbrachte Mary Poppins ihren freien Abend! Fast trauten sie ihren Augen nicht — doch da saß sie wirklich, ihre Mary Poppins, in voller Lebensgröße und mit höchst überlegener Miene.

»Heil!« erscholl es abermals.

Mary Poppins hob grüßend die Hand.

Stolz und würdevoll verließ sie die Loge. Sie schien nicht im mindesten überrascht, Jane und Michael hier zu Sehen, aber sie schnaubte, als sie an ihnen vorbeiging.

»Wie oft«, warf sie ihnen über Orions Kopf zu, »habe ich euch gesagt, daß es unhöflich ist, jemanden anzustarren!«

Sie stieg an ihnen vorbei in die Manege hinunter. Der Große Bär hob das goldene Absperrseil hoch. Die Sternbilder wichen zur Seite, und die Sonne trat einen Schritt vor. Als sie zu sprechen begann, klang ihre Stimme warm und voller Wohllaut.

»Mary Poppins, meine Liebe, du bist uns willkommen!«

Mary Poppins versank in einen tiefen und feierlichen Knicks.

»Die Planeten jubeln dir zu, und die Sternbilder grüßen dich. Steh auf, mein Kind!«

Sie stand auf und neigte voller Achtung den Kopf.

»Deinetwegen, Mary Poppins«, fuhr die Sonne fort, »haben sich die

Sterne in diesem dunkelblauen Zelt versammelt, deinetwegen wurde es ihnen erlassen, heute nacht auf die Erde niederzuscheinen. Deshalb hoffe ich, du hast deinen Ausgehabend genossen!«

»Ich habe nie einen schöneren erlebt. Nie!« sagte Mary Poppins und hob lächelnd den Kopf.

»Liebes Kind!« Die Sonne beugte sich vor. »Aber die Stunden verrinnen, und du mußt um halb elf zu Hause sein. Deshalb wollen wir vor deinem Aufbruch nach alter Gewohnheit den Tanz des kreisenden Himmels tanzen!«

»Hinunter mit euch!« sagte Orion zu den erstaunten Kindern und gab ihnen einen kleinen Schubs. Sie stolperten die Stufen hinunter und fielen fast in die mit Sternenstaub bestreute Manege.

»Wo habt ihr eure Manieren gelassen, wenn ich fragen darf?« zischte eine wohlbekannte Stimme Jane ins Ohr.

» Was soll ich tun?« stammelte Jane.

Mary Poppins blickte sie streng an und deutete mit einer kleinen Handbewegung auf die Sonne. Plötzlich begriff Jane. Sie packte Michael am Arm und, ihn mit sich ziehend, kniete nieder. Die Wärme der Sonne überflutete sie wohlig.

»Steht auf, Kinder«, sagte diese freundlich. »Seid mir herzlich willkommen. Ich kenne euch gut — ich habe manchen Sommertag auf euch hinabgeblickt!«

Jane hob sich auf die Füße und wollte auf sie zulaufen, doch eine Bewegung der Peitsche hielt sie zurück. »Rühr mich nicht an, Kind der Erde!« rief sie warnend und bedeutete ihr durch einen Wink, weiter zurückzutreten. »Das Leben ist süß, und niemand darf der Sonne zu nahe kommen — rühr mich nicht an!«

»Bist du denn wirklich die Sonne?« fragte Michael und staunte.

Die Sonne streckte die Hand aus.

»Sagt, ihr Sterne und Himmelszeichen: wer bin ich? Das Kind hier möchte es wissen.«

»Die Herrin über alle Sterne, o Sonne!« antworteten tausend leuchtende Stimmen.

»Sie ist die Königin von Süd und Nord«, rief Orion, »und die Beherrscherin von Ost und West. Sie umwandert den äußersten Rand der Welt, und die Pole schmelzen vor ihrer Herrlichkeit. Sie treibt den Keim aus der Saat und segnet die Erde mit Fruchtbarkeit. Sie ist wirklich die Sonne.«

Die Sonne lächelte Michael zu.

»Glaubst du es nun?«

Michael nickte.

»So erhebe dich! Und ihr, Himmelsbilder, wählt eure Tanzpartner!«

Die Sonne schwang ihre Peitsche. Die Musik begann wieder zu spie-len, eine rasche und fröhliche Weise. Michael klopfte mit den Füßen den Takt, während er den Mond in seinen Armen wiegte. Aber er drückte ihn wohl ein wenig zu stark, denn plötzlich gab es einen lauten Knall, und der Mond begann zu schrumpfen.

»Oh, oh, seht, was geschehen ist!« rief Michael; er weinte fast.

Kleiner und immer kleiner wurde der Mond, schrumpfte in sich zusammen, bis er kaum noch so groß war wie eine Seifenblase; jetzt war er nur noch ein Lichtfünkchen und jetzt.. . Michaels Hände umschlossen nur noch die leere Luft.

»Das kann doch nicht der wirkliche Mond gewesen sein, oder doch?« erkundigte er sich.

Jane blickte über den schmalen, mit Sternenstaub bestreuten Zwischenraum hinweg fragend auf die Sonne. Die warf das flammende Haupt zurück und lächelte ihr zu.

»Was ist wirklich und was nicht? Wer könnte das sagen? Vielleicht werden wir niemals mehr wissen als das: eine Sache denken, heißt, sie wahr machen. Und wenn Michael gedacht hat, er hielte den Mond in den Armen — nun, dann hat er ihn eben wirklich in den Armen gehalten.«

»Also — ist es wahr«, sagte Jane nachdenklich, »daß wir heute nacht hier sind, oder denken wir das nur?«

Wieder lächelte die Sonne, diesmal ein wenig traurig.

»Kind«, sagte sie, »zerbrich dir nicht weiter den Kopf! Seit Anbeginn der Welt haben alle Menschen diese Frage gestellt. Und ich, die ich den Himmel beherrsche — selbst ich kenne die Antwort nicht. Ich weiß nur eines: daß dies der Ausgehabend ist, daß die Sternbilder in eure Augen scheinen, und daß es Wirklichkeit ist, wenn ihr es dafür haltet.. .«

»Kommt, tanzt mit uns, Jane und Michael!« riefen die Zwillinge.

Und Jane vergaß ihre Frage, denn zu viert glitten sie jetzt durch die Manege, im Gleichtakt mit der himmlischen Melodie; aber sie hatte kaum eine halbe Runde getanzt, als sie plötzlich stehenblieb.

»Schau doch! Schau doch! Sie tanzt mit ihr!«

Michael folgte ihrem Blick; seine kurzen, dicken Beinchen blieben am Boden haften, und er starrte hemmungslos.

Mary Poppins und die Sonne tanzten miteinander. Aber nicht so, wie Jane und er mit den Zwillingen tanzten, Brust an Brust und Hand an Hand. Mary Poppins und die Sonne berührten sich nie, sondern drehten sich, einander gegenüberstehend, mit ausgestreckten Armen, wobei sie, trotz des Zwischenraums zwischen sich, genauen Takt hielten.

Um sie herum wirbelten die tanzenden Sternbilder: Venus, die mit ihren Armen Pegasus umhalste, der Stier und der Löwe Arm in Arm, und die drei Böcklein, die in einer Reihe stolz umherhüpften. Der schimmernde Glanz blendete die Kinder, als sie so standen und schauten.

Plötzlich wurde der Tanz langsamer und die Musik leiser. Die Sonne und Mary Poppins, zusammengehörig, obwohl jeder für sich, blieben stehen. Im gleichen Augenblick brachen auch die Tiere ihren Tanz ab und machten halt. Ruhe trat ein. Schweigen legte sich über die Manege.

Die Sonne sprach.

»Nun«, sagte sie ruhig, »die Zeit ist gekommen. Zurück auf eure Plätze am Himmel, meine lieben Sterne und Bilder. Nach Hause zum Schlafen, meine lieben sterblichen Gäste. Gute Nacht, Mary Poppins! Ich sage nicht Lebewohl, denn wir treffen uns wieder; doch bis dahin: laß es dir gut gehen!«

Dann beugte die Sonne auf zugleich erhabene und graziöse Weise den Kopf und küßte, den Zwischenraum zwischen sich und Mary Poppins überbrückend, diese sehr feierlich, vorsichtig, leicht und rasch auf die Wange.

»Aaahhh!« riefen die Sternbilder begeistert. »Der Kuß! Der Kuß!«

Doch als sie ihn empfing, flog Mary Poppins' Hand schützend zur Wange, als hätte der Kuß sie gebrannt. Ein Ausdruck des Schmerzes huschte über ihr Gesicht. Dann hob sie lächelnd den Kopf zur Sonne.

»Auf Wiedersehen!« sagte sie sanft, mit einer Stimme, wie sie Jane und Michael noch nie bei ihr vernommen hatten.

»Fort!« rief die Sonne und streckte die Peitsche aus. Gehorsam begannen die Sternbilder aus der Manege zu strömen. Schützend legten Castor und Pollux ihre Arme um die Kinder, damit der Große Bär sie im Vorüberrollen nicht streifte, das Horn des Stiers sie nicht verletzte und der Löwe ihnen nichts tat. Aber schon verhallten in Janes und Michaels Ohren die Geräusche der Manege. Der Kopf wurde ihnen schwer und sank auf die Schultern. Neue Arme umschlangen sie, und wie im Traum hörten sie die Stimme der Venus, die sagte: »Gib sie mir! Ich bin der Abendstern. Ich bringe das Lamm ins Stroh und das Kind zu seiner Mutter.«

Sie überließen sich den wiegenden Armen, die sie schaukelnd mit sich forttrugen wie die Flut ein Boot. Hin und her, hin und her.

Ein Licht flackerte über ihre Augen. War das der Drache, der flam-menzüngig vorbeistrich — oder die Kerze im Kinderzimmer, die jemand über sie hielt?

Hin und her, hin und her.

Sie kuschelten sich tiefer in die sanfte, wohlige Wärme. War es die einlullende Wärme der Sonne? Oder die Daunendecke im Kinderbett?

»Ich glaube, es ist die Sonne«, dachte Jane halb im Traum.

»Ich glaube, es ist meine Daunendecke«, dachte Michael.

Und eine weit, weit entfernte Stimme — sie klang wie ein Hauch — rief leise, leise: »Es ist das, was ihr glaubt! Lebt wohl... lebt wohl...«

Michael erwachte mit einem Ruck. Ihm war plötzlich etwas eingefallen.

»Mein Mantel! Mein Mantel! Ich hab ihn unter der Hofloge liegenlassen!«

Er schlug die Augen auf. Am Fußende des Bettes sah er die bunte Ente sitzen. Er sah den Kaminsims mit der Uhr und der großen Porzellanschale und den mit grünem Laubwerk gefüllten Marmeladentopf. Und er sah an dem Haken, an dem er gewöhnlich hing, seinen Mantel und den Hut darüber.

»Aber wo sind die Sterne?« rief er, setzte sich im Bett auf und staunte. »Ich möchte die Sterne und die Sternbilder!«

»Ach? Wirklich?« sagte Mary Poppins, die gerade ins Zimmer trat und in ihrer sauberen Schürze sehr steif und gestärkt aussah. »Ist das alles? Ich wundere mich nur, daß du nicht auch den Mond möchtest!«

»Aber den wollte ich doch!« erinnerte er sich vorwurfsvoll. »Und ich bekam ihn auch! Aber ich drückte ihn zu fest, und er patzte!«

»Platzte!«

»Na schön, platzte!«

»Unsinn!« sagte Mary Poppins und warf ihm seinen Schlafrock zu.

»Ist es schon Morgen?« fragte Jane; sie öffnete die Augen und blickte im Zimmer umher, höchst überrascht darüber, sich in ihrem eigenen Bett wiederzufinden. »Aber wie sind wir denn nach Hause gekommen? Ich tanzte mit dem Zwillingsgestirn, mit Castor und Pollux.«

»Ihr und eure Sterne«, sagte Mary Poppins ärgerlich und schlug die Decken zurück. »Ich werde euch helfen. Heraus aus den Betten! Ich bin sowieso spät daran.«

»Wahrscheinlich hast du heute nacht zu lange getanzt«, sagte Michael, der sich widerwillig aus den Bettdecken schälte, bis er auf dem Fußboden stand.

»Getanzt? Hmpf, ich hab wohl viel Gelegenheit, tanzen zu gehen! Ich, die ich auf die fünf unartigsten Kinder der Welt aufpassen muß!«

Verächtlich schnob Mary Poppins durch die Nase; sie sah unausgeschlafen aus und so, als bedauere sie sich selbst.

»Aber warst du nicht tanzen — an deinem Ausgehabend?« fragte Jane. Sie erinnerte sich, wie Mary Poppins und die Sonne inmitten der mit Sternenstaub bestreuten Manege zusammen getanzt hatten.

Mary Poppins riß die Augen auf.

»Ich hoffe«, bemerkte sie und reckte sich hochmütig, »ich habe an meinem Ausgehabend etwas Besseres zu tun als herumzuschnurren wie ein wild gewordener Kreisel.«

»Aber ich habe dich gesehen!« sagt Jane. »Oben im Himmel. Du sprangst aus der Hofloge hinunter in die Manege, um zu tanzen.«

Mit angehaltenem Atem sahen sie und Michael auf Mary Poppins, deren Gesicht vor Zorn langsam rot anlief.

»Da hast du ja«, sagte sie kurz angebunden, »einen ganz hübschen Alptraum gehabt, das muß ich sagen. Wer hat je so etwas gehört: eine Person in meiner Stellung und springt aus . . .«

»Aber ich hab auch einen Alptraum gehabt«, fiel Michael ein, »und der war wunderbar. Ich war mit Jane oben im Himmel und hab dich gesehen!«

»Was? Springen?«

»Hm — ja — und tanzen.«

»Im Himmel?« Er zitterte, als sie jetzt auf ihn zutrat. Ihr Gesicht war finster und furchteinflößend.

»Noch eine Beleidigung . . .«, sagte sie drohend. »Nur noch eine, und du kannst in die Ecke tanzen. Ich warne dich!«

Er blickte schleunigst zur Seite und machte sich an der Kordel seines Morgenrocks zu schaffen; Mary Poppins, bei der sogar die Schürze vor Zorn knisterte, rauschte durchs Zimmer, um die Zwillinge zu wecken.

Jane saß auf ihrem Bett und beobachtete Mary Poppins, wie sie sich über die Gitterbettchen beugte.

Michael schlüpfte langsam in seine Pantoffeln und seufzte.

»Wir müssen wohl doch geträumt haben«, sagte er traurig. »Ich wollte, es wäre wahr.«

»Es ist wahr«, flüsterte Jane vorsichtig, die Augen nicht von Mary Poppins lassend.

»Woher weißt du das? Bist du sicher?«

»Ganz sicher. Guck!«

Mary Poppins' Kopf war über Barbaras Bettchen gebeugt. Jane deutete mit einem Nicken hin. »Sieh dir ihr Gesicht an!« flüsterte sie ihm ins Ohr.

Aufmerksam betrachtete Michael Mary Poppins' Gesicht. Da war das schwarze, hinter die Ohren zurückgestrichene Haar; da die wohlbekannten blauen Augen, wie bei einer Holländerpuppe; da die Himmelfahrtsnase und die hellroten, glänzenden Backen.

»Ich sehe nichts . . .«, begann er und brach plötzlich ab. Denn jetzt, als Mary Poppins den Kopf wandte, entdeckte er, was Jane gesehen hatte.

Brennend rot, mitten auf ihrer Wange, saß ein kleines feuriges Mal. Und beim genaueren Hinsehen stellte Michael fest, daß es einen seltsamen Umriß hatte. Es war rund mit flammenzüngigen Zacken und glich einer ganz kleinen Sonne.

»Siehst du's?« sagte Jane sanft. »Das ist die Stelle, wohin sie sie geküßt hat.«

Michael nickte — ein-, zwei-, dreimal.

»Richtig«, sagte er; er stand ganz still und starrte auf Mary Poppins. »Ich seh's. Ich seh's . . .«

8. Kapitel. Allerlei Luftballons

»Ich wüßte gern, Mary Poppins«, sagte Mistreß Banks, als sie eines Morgens ins Kinderzimmer geeilt kam, »ob Sie Zeit haben, für mich ein paar Einkäufe zu erledigen.«

Und sie bedachte Mary Poppins mit einem liebenswürdigen, nervösen Lächeln, als wüßte sie nicht recht, wie die Antwort lauten würde.

Mary Poppins wandte sich vom Kaminfeuer weg, wo sie Annabels Windeln angewärmt hatte.

»Das könnte ich«, meinte sie, nicht allzu ermunternd.

»Ach, ich seh schon . . .«, sagte Mistreß Banks und sah nervöser aus denn je.

»Oder vielleicht auch nicht«, fuhr Mary Poppins fort, während sie ein wollenes Jäckchen ausschüttelte und über den Ofenschirm hängte.

»Nun, falls Sie Zeit haben sollten, so ist hier die Einkaufsliste und eine Pfundnote. Und den Rest können Sie für sich verwenden.«

Mistreß Banks steckte das Geld in die Kommodenschublade.

Mary Poppins sagte nichts. Sie zog nur die Luft durch die Nase.

»Ach!« sagte Mistreß Banks, da ihr plötzlich etwas einfiel, »die Zwillinge müssen heute laufen, Mary Poppins. Robertson Ay hat sich heute morgen in den Kinderwagen gesetzt, er hat ihn für einen Armsessel gehalten. Jetzt muß er repariert werden. Können Sie ohne ihn fertig werden? — und Annabel tragen?«

Mary Poppins öffnete den Mund, klappte ihn aber gleich wieder zu.

»Ich«, bemerkte sie verletzt, »kann mit allem fertig werden und mit noch mehr, wenn ich will!«

»Das ... weiß ich!« sagte Mistreß Banks und rückte näher zur Tür. »Sie sind ein Juwel — ein vollkommenes Juwel — eine -- -- -- wahrhaft wundervolle und in jeder Hinsicht zufriedenstellende... « Ihre Stimme erstarb, während sie die Treppe hinabeilte.

»Und doch — und doch — manchmal wünschte ich, sie wär nicht ganz so vollkommen!« bemerkte Mistreß Banks zur Fotografie ihrer Urgroßmutter, als sie im Wohnzimmer abstaubte. »Ihr gegenüber fühle ich mich ganz klein und häßlich, als wäre ich wieder ein kleines Mädchen. Und das bin ich doch nicht!« Mistreß Banks warf den Kopf zurück und blies ein Staubfusselchen von der gefleckten Kuh auf dem Kaminsims. »Ich bin eine bedeutende Persönlichkeit und Mutter von fünf Kindern. Das vergißt sie!« Und sie fuhr mit ihrer Arbeit fort, wobei sie sich alles mögliche ausdachte, was sie Mary Poppins gerne sagen würde; aber die ganze Zeit über wußte sie, daß sie dazu nie den Mut aufbringen würde.

Mary Poppins steckte die Einkaufsliste und die Pfundnote in ihre

Handtasche; im Nu hatte sie ihren Hut festgesteckt und eilte aus dem Haus, Annabel auf dem Arm und gefolgt von Jane und Michael, die jeweils einen Zwilling an der Hand führten.

»Nehmt bitte die Beine in die Hand!« sagte sie und drehte sich scharf nach ihnen um.

Sie beschleunigten ihre Schritte und schleiften dabei die armen Zwillinge über das Pflaster. Sie vergaßen, daß sie John und Barbara fast die Arme ausrenkten. Sie dachten nur an eines: nämlich daran, mit Mary Poppins Schritt zu halten und zu sehen, was sie mit dem Rest der Pfundnote anfangen würde.

»Zwei Pakete Kerzen, vier Pfund Reis, drei Pfund braunen Zucker und sechs Pfund Würfelzucker; zwei Büchsen Tomatensuppe, eine Herdbürste, ein Paar Gummihandschuhe, eine halbe Stange Siegellack, einen Beutel Mehl, einen Feueranzünder, zwei Schachteln Streichhölzer, zwei Köpfe Blumenkohl und ein Bund Rhabarber.«

Mary Poppins, die jenseits des Parks in den ersten Laden gerannt war, las die Liste laut vor.

Der Kolonialwarenhändler, ein fetter, kahler und etwas kurzatmiger Mann, schrieb die Bestellung auf, so rasch er konnte.

»Einen Beutel Gummihandschuhe . . . « , schrieb er nieder und leckte dabei nervös am falschen Ende seines Bleistiftstummels.

»Mehl, sagte ich!« berichtigte Mary Poppins spitz.

Der Händler wurde rot wie eine Himbeere.

»Oh, Verzeihung. Wollte Sie nicht beleidigen, gewiß nicht. Schöner Tag heute, wie? Ja. Mein Versehen. Ein Beutel Gummi. .. ähh... Mehl.«

Schleunigst schrieb er es nieder und fügte hinzu:

»Zwei Schachteln Herdbürsten .. .«

»Streichhölzer!« fuhr Mary Poppins ihn an.

Dem Händler begannen die Hände auf dem Pult zu zittern.

»Ach, natürlich. Der Bleistift muß daran schuld sein — er scheint alles falsch aufzuschreiben. Ich muß mir einen neuen zulegen. Streichhölzer natürlich! Was noch, bitte?« Nervös blickte er auf und dann wieder auf seinen kleinen Bleistiftstummel.

Mary Poppins entfaltete die Liste wieder und las sie ungeduldig und ärgerlich noch einmal vor.

»Tut mir leid«, sagte der Händler, als sie am Ende angelangt war. »Der Rhabarber ist ausgegangen. Tun's nicht auch Pflaumen?«

»Keinesfalls. Ein Paket Tapioka.«

»Ach nein, Mary Poppins — keinen Tapioka. Den hatten wir erst vorige Woche«, erinnerte Michael sie.

Sie warf erst ihm und dann dem Händler einen Blick zu, der ausdrückte, daß sie sich keine Hoffnung machen sollten. Tapioka, dabei blieb es. Der Händler, der immer röter wurde, ging nach hinten, um ihn zu holen.

»Wenn sie so weitermacht, bleibt von dem Geld nichts übrig«, sagte Jane, die zusah, wie der Haufen auf dem Ladentisch immer höher wuchs.

»Vielleicht bleibt noch genug für ein Päckchen saure Drops — aber mehr bestimmt nicht«, sagte Michael düster, als Mary Poppins die Pfundnote aus ihrer Tasche zog.

»Besten Dank«, sagte sie, als der Händler ihr das Wechselgeld herausgab.

»Habe Ihnen zu danken!« erwiderte er höflich und stemmte die Arme auf den Ladentisch. Er lächelte ihr auf liebenswürdige Weise zu und fuhr fort: »Es wird wohl schön bleiben, meinen Sie nicht auch?« Seine Stimme klang stolz, als wäre er höchstpersönlich für das Wetter verantwortlich und hätte extra für sie schönes Wetter bestellt.

»Uns wäre Regen lieber!« sagte Mary Poppins spitz und ließ gleichzeitig ihren Mund und ihre Tasche zuschnappen.

»Da haben Sie recht«, sagte der Händler schnell, im Bemühen, sie nicht zu verletzen. »Regen ist immer so unterhaltsam.«

»Das nie!« erwiderte Mary Poppins und rückte Annabel bequemer in ihrem Arm zurecht.

Der Händler machte ein langes Gesicht. Was er auch sagte, war falsch.

»Ich hoffe«, bemerkte er und öffnete höflich die Tür, »Sie beehren uns weiter mit Ihrer Kundschaft, Madam.«

»Guten Tag!« Mary Poppins rauschte hinaus.

Der Händler seufzte.

»Hier«, sagte er und krabbelte eifrig in einer Büchse neben der Tür herum. »Da nehmt! Ich wollte sie nicht ärgern, wahrhaftig nicht, ich wollte nur höflich sein.«

Jane und Michael streckten die Hand aus. Der Händler ließ in Michaels Hand drei und in Janes Hand zwei Schokoladenplätzchen gleiten.

»Eins für jeden von euch, eins für die beiden Kleinen, und eins .. .« Er nickte hinter Mary Poppins her. »Für sie.«

Sie bedankten sich und eilten, an ihren Schokoladenplätzchen lutschend, Mary Poppins nach.

»Was eßt ihr da?« fragte sie und blickte auf den dunklen Rand um Michaels Mund.

»Schokoladenplätzchen. Der Händler gab uns jedem eins. Und eins für dich.« Er streckte ihr das Plätzchen hin. Es war schon recht klebrig.

»Diese Frechheit sieht ihm ähnlich!« sagte Mary Poppins, nahm das Plätzchen aber trotzdem und verschlang es in zwei Happen; es schien ihr zu schmecken.

»Ist viel Geld übriggeblieben?« erkundigte sich Michael ängstlich.

»Das geht dich nichts an.«

Sie eilte in eine Drogerie und kam mit einem Stück Seife, einem Senfpflaster und einer Tube Zahnpasta wieder heraus.

Jane und Michael, die mit den Zwillingen vor der Tür gewartet hatten, seufzten schwer.

Die Pfundnote, so meinten sie, müßte bald ausgegeben sein.

»Ihr bleibt kaum noch genug, um eine Briefmarke zu kaufen, und wenn sie die hat, ist es nicht mehr interessant«, sagte Jane.

»Nun zu Mister Tip!« befahl Mary Poppins; an der einen Hand baumelten ihr die Päckchen aus der Drogerie und ihre Handtasche, und mit der anderen hielt sie Annabel an sich gepreßt.

»Aber was können wir denn da noch kaufen?« fragte Michael entmutigt. Denn in Mary Poppins' Börse klimperte es kaum noch.

»Kohlen — zweieinhalb Tonnen!« sagte sie und eilte weiter.

»Was kostet Kohle?«

»Zwei Pfund die Tonne.«

»Aber — Mary Poppins! Das können wir ja gar nicht mehr bezahlen!« Entsetzt blickte Michael sie an.

»Es geht auf Rechnung.«

Das bedeutete für Jane und Michael eine solche Erleichterung, daß sie neben ihr herhüpften, John und Barbara wurden im Trab mitgeschleift.

»Ist das nun alles?« fragte Michael, als sie Mister Tip und seine Kohlen ohne Schaden hinter sich gelassen hatten.

»Keksladen!« sagte Mary Poppins, die ihre Liste durchsah und dann auf eine dunkle Tür zueilte. Durchs Schaufenster beobachteten sie, wie sie auf einen Haufen Makronen deutete. Die Verkäuferin überreichte ihr eine große Tüte.

»Sie hat mindestens ein Dutzend gekauft«, sagte Jane traurig. Für gewöhnlich erfüllte sie der Anblick eines Menschen, der Makronen kaufte, mit Entzücken, aber heute wünschte sie heiß und innig, daß es auf der ganzen Welt keine Makronen gäbe.

»Wohin nun?« fragte Michael und hüpfte von einem Bein aufs andere vor Aufregung, weil er gern wissen wollte, ob von der Pfundnote noch etwas übrig war. Er war überzeugt, daß dies nicht der Fall sein könnte, aber dennoch — er hoffte.

»Nach Hause«, sagte Mary Poppins.

Sie machten lange Gesichter. Es war also kein Geld mehr übrig, nicht einmal ein Penny; sonst hätte Mary Poppins ihn sicherlich ausgegeben. Aber Mary Poppins, die die Tüte mit Makronen Annabel auf die Brust gesetzt hatte, machte ein solches Gesicht, daß sie keine Bemerkung mehr wagten. Sie wußten nur, daß sie zum erstenmal von ihr enttäuscht worden waren, und das, fühlten sie, konnten sie ihr nicht verzeihen.

»Aber hier entlang geht's ja gar nicht nach Hause«, beschwerte sich Michael, der lustlos über das Pflaster schlurfte.

»Liegt der Park nicht auf dem Weg nach Hause, möcht ich wissen?« fuhr sie ihm heftig über den Mund.

»Das schon — aber ...«

»Man kann auf mehr als einem Weg durch einen Park gehen«, bemerkte sie und führte sie durch einen Teil, den sie bisher noch nie besucht hatten.

Die Sonne schien warm hernieder. Die hohen Bäume beugten sich über die Gitterstäbe und raschelten mit den Blättern. In den Zweigen kämpften zwei Spatzen um einen Strohhalm. Ein Eichhörnchen hüpfte die Steinbalustrade entlang, setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte um eine Nuß.

Aber heute beachteten sie das alles nicht. Jane und Michael waren anderweitig in Anspruch genommen. Sie dachten nur daran, daß Mary Poppins die ganze Pfundnote für Kinkerlitzchen ausgegeben und nichts übrigbehalten hatte.

Müde und enttäuscht trotteten sie hinter ihr her zum Parktor. Über dem Eingang — er war ihnen fremd, sie hatten ihn bisher noch niemals benutzt — wölbte sich ein hoher Steinbogen, in den ein Löwe und ein Einhorn prächtig eingemeißelt waren. Unter dem Bogen saß eine uralte Frau; ihr Gesicht war so grau und verwittert wie der Stein und verrunzelt wie eine Walnuß. Auf ihren müden alten Knien hielt sie ein Brett, auf dem etwas aufgestapelt lag, das wie kleine, farbige Gummistreifchen aussah; über ihrem Kopf, fest ans Parkgitter gebunden, hüpfte und schwankte und tanzte ein Bündel hell leuchtender Luftballons.

»Luftballons! Luftballons!« rief Jane. Die Hand aus Johns klebrigen Fingern befreiend, lief sie auf die alte Frau zu. Michael rannte hinter ihr her und ließ Barbara einsam und verlassen mitten auf dem Wege stehen.

»Na, meine Täubchen!« sagte die Ballonfrau mit einer alten, zittrigen Stimme. »Welchen wollt ihr haben? Sucht euch einen aus! Und laßt euch Zeit.« Sie beugte sich vor und schüttelte das Brett vor ihrer Nase.

»Wir wollten nur mal gucken«, erklärte Jane. »Wir haben kein Geld.«

»Tz — tz — tz! Was nützt es, einen Ballon anzugucken? Einen Ballon muß man fühlen, einen Ballon muß man halten, man muß ihn kennenlernen! Kommen und angucken! Was habt ihr davon?«

Die Stimme des alten Weibleins zitterte wie ein Flämmchen. Sie wiegte sich auf ihrem Stuhl.

Jane und Michael starrten sie hilflos an. Sie wußten, daß sie recht hatte. Aber was war zu machen?

»Als ich klein war«, fuhr die alte Frau fort, »verstanden die Leute sich wirklich noch auf Ballons. Die kamen nicht bloß und guckten! Sie kauften — jawohl, sie kauften! Ohne Ballon ging kein Kind durch dieses Tor. Damals hätten sie die Ballonfrau nicht dadurch beleidigt, daß sie nur guckten und vorbeigingen!«

Sie beugte den Kopf in den Nacken und blickte zu den tanzenden Ballons hoch.

»Ach, meine lieben Täubchen!« rief sie. »Sie verstehen nichts mehr von euch — keiner versteht was, nur die alte Frau. Ihr seid aus der Mode gekommen. Keiner verlangt mehr nach euch!«

»Wir doch«, sagte Michael nachdrücklich. »Aber wir haben kein Geld. Sie hat die ganze Pfundnote ausgegeben, um ...«

»Und wer ist >sie<?« erkundigte sich eine Stimme dicht hinter ihnen.

Er drehte sich um und wurde rot.

»Ich meinte, äh — daß du — äh . . .«, begann er unsicher.

»Sprich höflich von anderen; vielleicht sind sie mehr wert als du!« bemerkte Mary Poppins zurechtweisend; über seine Schulter hinweg legte sie eine halbe Krone auf das Brett der Ballonfrau.

Verdutzt blickte Michael auf das Geldstück, das da schimmernd zwischen den leeren, schlaffen Ballonhüllen lag.

»Es ist also doch etwas übriggeblieben!« sagte Jane und wünschte, sie hätte nicht so unfreundlich von Mary Poppins gedacht.

Das Ballonweiblein nahm die Münze auf und betrachtete sie ein Weilchen mit ihren alten, glitzernden Augen.

»Es schimmert, es schimmert, König und Krone!« rief sie. »Ich habe keins dieser Dinger mehr gesehen, seit ich ein Kind war!«

Sie blickte Mary Poppins mit schief geneigtem Kopf an. »Möchtest du einen Ballon, mein Herzchen?«

»Wenn es Ihnen keine Mühe macht!« sagte Mary Poppins mit betonter Höflichkeit.

»Wieviel, mein Täubchen, wieviel?«

»Vier!«

Jane und Michael, die fast aus der Haut fuhren vor Freude, drehten sich um und flogen ihr um den Hals.

»Oh, Mary Poppins, ist das dein Ernst? Für jeden einen? Wirklich?«

»Ich denke, es ist mir stets Ernst mit dem, was ich sage«, sagte sie steif und sah dabei sehr selbstzufrieden aus.

Sie sprangen auf das Brett zu und begannen, die farbigen Ballonhüllen um und um zu wühlen.

Die Ballonfrau ließ die Silbermünze in ihre Schürzentasche gleiten. »So, mein Silberfüchslein!« sagte sie und klopfte liebevoll auf die Tasche. Dann half sie den Kindern beim Herumwühlen.

»Vorsichtig, meine Täubchen!« mahnte sie. »Denkt daran, es gibt verschiedene Ballons und für jeden nur einen! Trefft eure Wahl und laßt euch Zeit dabei. So manches Kind hat den falschen Ballon erwischt, und sein Leben war von da ab verpfuscht.«

»Ich möchte den hier!« sagte Michael, der einen gelben mit roten Tupfen ausgesucht hatte.

»Schön, dann will ich ihn dir aufblasen, und du kannst sehen, ob es der richtige ist!« sagte die Ballonfrau.

Sie nahm ihm den Ballon aus der Hand und blies ihn mit einem einzigen, mächtigen Atemstoß auf. Zip! Da war er! Kaum war es zu glauben, daß eine so winzige Person so viel Atem in Leibe hatte. Der gelbe Ballon mit den roten Punkten bäumte sich am Ende der Schnur.

»Na so was!« sagte Michael und sperrte den Mund auf. »Da steht ja mein Name drauf.« Die roten Punkte bildeten Buchstaben, die insgesamt die beiden Worte >Michael Banks< ergaben.

»Aha!« kicherte das Ballonweiblein. »Was hab ich dir gesagt? Du hast dir Zeit gelassen und den richtigen gewählt!«

»Sieh nach, wie es bei mir ist«, sagte Jane und reichte der alten Frau eine schlaffe blaue Ballonhülle.

Sie holte Luft und blies sie auf; da stand quer über der dicken blauen Kugel in großen weißen Buchstaben: >Jane Caroline Banks.<

»Heißt du so, mein Täubchen?« fragte die Ballonfrau.

Jane nickte.

Die Ballonfrau lachte in sich hinein, ein dünnes, altweiberhaftes Gekicher; Jane nahm ihr den Ballon aus der Hand und ließ ihn in die Luft steigen.

»Mir! Mir!« schrien John und Barbara und fuhren mit fetten Patschen in den Haufen Ballonhüllen. John zog einen rosafarbenen heraus, und als die Ballonfrau ihn aufblies, lächelte sie. Deutlich waren auf der runden Ballonhülle folgende Worte zu lesen: >John und Barbara Banks — einen für beide gemeinsam, weil sie Zwillinge sind.<

»Aber«, sagte Jane, »das verstehe ich nicht. Woher wußtest du das? Du hast uns doch noch nie gesehen.«

»Ach, mein Täubchen, sagte ich dir nicht, daß es vielerlei Arten Ballons gibt und diese hier etwas ganz Besonderes sind?«

»Aber hast du die Namen darauf gesetzt?« fragte Michael.

»Ich?« Das alte Weiblein kicherte. »Wie käm ich dazu?«

»Wer denn sonst?«

»Das darfst du mich nicht fragen, mein Täubchen! Alles, was ich weiß, ist, daß sie dastehen! Und daß es für jeden in der Welt einen Ballon gibt, vorausgesetzt, daß er den richtigen wählt!«

»Auch einen für Mary Poppins?«

Das Ballonweiblein legte den Kopf auf die Seite und sah Mary Poppins mit seltsamem Lächeln an.

»Sie kann's ja versuchen!« Die alte Frau schaukelte auf ihrem kleinen Stuhl hin und her. »Triff deine Wahl und laß dir Zeit! Such dir einen aus und sieh zu!«

Mary Poppins zog voller Wichtigkeit die Luft durch die Nase. Ihre Hand schwebte einen Augenblick über den Ballonhüllen und deutete dann auf eine rote. Sie streckte den leeren Ballon auf Armeslänge von sich, und zu ihrer Überraschung sahen die Kinder, wie er sich langsam, ganz von allein, mit Luft füllte. Größer und immer größer wurde er, bis er so groß war wie der von Michael. Aber immer noch schwoll er an, bis er dreimal größer war als die anderen. Und quer auf ihm stand in goldenen Buchstaben: >Mary Poppins.<

Der rote Ballon tanzte in der Luft, und das alte Weiblein band ihn an eine Schnur; mit leisem Kichern gab sie ihn Mary Poppins wieder zurück.

Hoch in die Luft stiegen die vier Ballons. Sie zogen an ihrer Schnur, als wollten sie sich von ihrer Fessel befreien. Der Wind ergriff sie und warf sie vor und zurück, nach Norden, Süden, Osten und Westen.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen! Für jeden einen, wenn sie's nur alle wüßten!« rief das Ballonweiblein glücklich.

Im gleichen Augenblick trat ein älterer Herr in steifem Hut durch das Parktor, blickte herüber und sah die Ballons. Die Kinder merkten, wie er ein wenig zögerte. Dann eilte er zu dem Ballonweiblein hin.

»Wieviel?« fragte er und klimperte mit seinem Geld in der Tasche.

»Sieben Pence und ein halber Penny. Treffen Sie Ihre Wahl und lassen Sie sich Zeit! «

Er nahm sich einen braunen, und die Ballonfrau blies ihn auf. In großen grünen Buchstaben erschienen die Worte: >Der ehrenwerte Wetherill Wilkins.<

»Lieber Himmel!« sagte der ältere Herr. »Lieber Himmel, das ist mein Name!«

»Du hast richtig gewählt, mein Täubchen. Unter vielerlei Arten von Ballons!« sagte die alte Frau.

Verblüfft betrachtete der ältere Herr seinen Ballon, der mit Macht an der Schnur zog.

»Höchst ungewöhnlich«, sagte er und schnaubte sich mit einem Trompetenton die Nase. »Vor vierzig Jahren, als ich noch ein kleiner Junge war, versuchte ich, hier einen Ballon zu kaufen. Aber man erlaubte mir's nicht. Es hieß, wir könnten uns das nicht leisten. Vierzig Jahre — und so lange hat er hier auf mich gewartet. Ich muß schon sagen, wirklich höchst merkwürdig!«

Er eilte davon, und weil seine Augen nur an dem Ballon hafteten, rannte er gegen einen Pfeiler. Die Kinder sahen ihn mehrmals aufgeregt in die Luft hüpfen.

»Da, schau hin!« schrie Michael, als der ältere Herr immer höher und höher hüpfte. Aber im gleichen Augenblick fing sein eigener Ballon an, mächtig an der Schnur zu ziehen, und er fühlte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.

»Hallo, hallo! Wie komisch! Mir geht's genauso!«

»Vielerlei Arten Ballons, mein Täubchen!« sagte die Ballonfrau und brach in ihr kicherndes Gelächter aus, während nun auch die Zwillinge, beide ihren Ballon an der einen Schnur festhaltend, vom Boden abstießen.

»Ich fliege! Ich fliege!« schrie Jane, als auch sie in die Luft getragen wurde.

»Nach Hause, bitte!« sagte Mary Poppins. Und sofort stieg auch der rote Ballon auf und schleppte Mary Poppins hinter sich her. Auf und ab hüpfte sie, Annabel und die Pakete im Arm. Durchs Tor und über den Pfad trug der rote Ballon Mary Poppins; ihr Hut saß ebenso gerade wie sonst, ihr Haar war ebenso straff, und ihre Füße wanderten ebenso energisch durch die Luft wie sonst über die Erde. Jane und Michael und die Zwillinge, von den Ballons gezogen, taumelten hinter ihr her.

»Oh, oh, oh!« schrie Jane, als sie durch die Zweige einer Ulme wirbelte. »Was für ein köstliches Gefühl!«

»Mir ist, als wäre ich aus lauter Luft!« sagte Michael, der gerade eine Parkbank streifte und sich daran wieder abstieß. »Was für eine spaßige Art, nach Hause zu gehen!«

»Oh, oh, oh! Ih, ih, ih!« quiekten die Zwillinge, die dauernd zusammenstießen und wieder auseinander fuhren.

»Beeilt euch und bummelt nicht herum!« sagte Mary Poppins und blickte streng über die Schulter zurück; es klang wahrhaftig, als wanderte sie gelassen über die feste Erde, statt durch die Luft gezogen zu werden.

Am Haus des Parkaufsehers vorbei ging es in die Lindenallee. Dort trafen sie den älteren Herrn, der vor ihnen her hoppelte. Michael wandte einen Augenblick den Kopf und blickte zurück.

»Guck, Jane, guck! Jeder hat einen!«

Sie drehte sich um. Hinter ihnen her trieb eine ganze Gruppe von Leuten, die, alle Ballons in der Hand, in der Luft auf und ab wippten.

»Auch der Eismann hat einen gekauft!« rief Michael und staunte so, daß er ums Haar eine Statue umgeworfen hätte.

»Ja, sogar der Straßenfeger. Und da — siehst du? —, da ist Miß Lark!«

Über den Rasen kam eine wohlbekannte Gestalt angehüpft, in Hut und Handschuhen und einen Ballon in der Hand, der den Namen >Lu-cinda Emily Lark< trug. Sie schwebte über die Ulmenallee, wobei sie ebenso würdig wie vergnügt aussah, und entschwand um die Ecke beim Springbrunnen.

Mittlerweile hatte sich der Park mit Leuten gefüllt, und jeder hielt einen Ballon mit einem Namen darauf, und jeder hüpfte in der Luft herum.

»Anker auf, ihr da! Platz für den Admiral! Wo ist mein Hafen? Anker auf!« rief eine mächtige Seemannsstimme, als Admiral Boom und

Frau durch die Luft schlingerten. Sie hielten einen großen, weißen Ballon an der Schnur, auf dem in blauen Buchstaben ihr Name stand.

»Backen und Wanten! Austern und Krabben! Ändert den Kurs, meine Lieben!« brüllte der Admiral, der gerade vorsichtig an einer großen Eiche vorbeisteuerte.

Immer größer wurde der Haufen von Ballonleuten. Im ganzen Park gab es kaum noch einen Flecken in der Luft, in dem nicht bunt wie ein Regenbogen die Ballons trieben. Jane und Michael sahen, wie Mary Poppins sich energisch einen Weg bahnte, und auch sie wanden sich eilig durchs Gedränge, John und Barbara ihnen auf den Fersen.

»Oje, oje, mein Ballon hüpft nicht mit mir! Ich muß den falschen gewählt haben!« sagte eine Stimme nahe bei Jane.

Eine altmodische Dame mit einem Federgesteck am Hut und einer Federboa um den Hals stand gerade unter Jane auf dem Gehsteig.

Zu ihren Füßen lag ein purpurfarbener Ballon, auf dem in Goldbuchstaben >Der Premierminister stand.

»Was mach ich nun?« rief sie. »Die alte Frau am Parktor sagte: >Triff deine Wahl und laß dir Zeit, mein Täubchen!<, und das tat ich. Aber ich hab den falschen erwischt. Ich bin nicht der Premierminister!«

»Verzeihung, aber ich!« sagte neben ihr eine Stimme; ein hochgewachsener Herr, sehr elegant gekleidet und einen zusammengerollten Regenschirm über dem Arm, trat auf sie zu.

Die Dame drehte sich um. »Ach, dann ist das Ihr Ballon! Lassen Sie mal sehen, ob Sie nicht meinen haben!«

Der Premierminister, dessen Ballon ihn gleichfalls nicht tragen wollte, zeigte ihn her. Die Aufschrift lautete >Lady Muriel Brighton-Jones<.

»Ja, das ist er! Wir sind verwechselt worden!« rief sie und, dem Premierminister seinen Ballon überreichend, ergriff sie den ihren. Gleich darauf lösten sie sich vom Erdboden und schwebten, sich lebhaft unterhaltend, zwischen den Bäumen dahin.

»Sind Sie verheiratet?« hörten Jane und Michael Lady Muriel fragen.

Und der Premierminister antwortete: »Nein. Ich kann keine passende Dame mittleren Alters finden — nicht zu jung und nicht zu alt und ein bißchen munter, denn ernst bin ich selbst.«

»Wäre ich wohl die Rechte?« fragte Lady Muriel Brighton-Jones. »Ich bin fast immer vergnügt.«

»Ja, ich glaube, wir passen zusammen«, sagte der Premierminister, und Hand in Hand gesellten sie sich zu der herumhüpfenden Menge.

Jetzt war der Park schon ziemlich überfüllt. Jane und Michael hopsten hinter Mary Poppins her über die Wiesen und stießen dauernd mit anderen Leuten zusammen, die von der alten Frau Ballons gekauft hatten. Ein hochgewachsener Mann, der einen langen Schnurrbart, eine blaue Uniform und einen Helm trug, wurde von einem Ballon gezogen, der ihn als >Polizeiinspektor< auswies. Ein anderer mit der Aufschrift Oberbürgermeister schleifte eine runde, fette Gestalt mit einem Dreispitz, einem roten Umhang und einer großen Messinghalskette.

»Bitte weitergehen! Keinen Auflauf im Park! Beachten Sie die Vorschriften! Allen Abfall in die Papierkörbe!«

Der Parkaufseher, brummend und schimpfend, einen kleinen kirsch-farbenen Ballon mit der Aufschrift >F. Smith< in der Hand, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Mit einer Handbewegung verscheuchte er zwei Hunde — eine Bulldogge, auf deren Ballon >CD< stand, und einen Foxterrier, der >Albertine< zu heißen schien.

»Lassen Sie meine Hunde in Ruhe! Oder ich schreibe mir Ihre Nummer auf und melde Sie!« schrie eine Dame, deren Ballon bekanntgab, daß sie die Herzogin von Maifeld war.

Aber der Parkaufseher beachtete sie nicht und trieb hüpfend vorbei; dabei rief er dauernd: »Alle Hunde an die Leine! Keinen Auflauf im Park! Rauchen verboten! Vorschriften beachten!«, bis er ganz heiser war.

»Wo ist Mary Poppins?« fragte Michael und winkte Jane.

»Da! Gerade vor uns!« erwiderte sie und deutete auf die steife, adrette Gestalt, die an dem größten Ballon im ganzen Park hing. Sie folgten ihr nach Hause.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« rief eine zitternde Stimme hinter ihnen her.

Und sich umblickend, sahen sie die Ballonfrau. Ihr Brett war leer und nirgends in ihrer Nähe ein Ballon zu sehen; dennoch flog sie durch die Luft, als würde sie von hundert unsichtbaren Ballons fortgezogen.

»Alle verkauft!« schrie sie im Vorbeigleiten. »Für jeden ist ein Ballon da, wenn sie's nur alle wüßten. Sie würden ihre Wahl treffen und sich Zeit lassen! Und ich wäre den ganzen Bestand los! All die verschiedenen Ballons.«

In ihren Taschen klimperte es gewaltig, als sie vorüberflog; Jane und Michael machten in der Luft halt und sahen zu, wie die kleine, verschrumpelte Gestalt zwischen den tanzenden Ballons hindurchschoß, vorbei am Premierminister und am Oberbürgermeister, vorbei an Mary Poppins und Annabel, bis sie immer winziger wurde und in der Ferne verschwand.

»Vielerlei Arten Ballons, meine Täubchen!« klang es wie ein leises Echo zu ihnen zurück.

»Macht vorwärts, bitte!« sagte Mary Poppins. Alle vier umdrängten sie. Annabel, von Mary Poppins' Ballon gewiegt, kuschelte sich dichter an sie und schlief ein.

Das Tor von Nummer siebzehn stand offen, die Haustür gleichfalls. Mary Poppins schwebte steif und leicht anstoßend hindurch und die Treppe hinauf. Die Kinder folgten, hüpfend und wippend. Und als sie die Tür zum Kinderzimmer erreichten, setzten sich die vier Paar Füße mit einem Klapp auf den Fußboden. Mary Poppins schwebte nieder und landete geräuschlos.

»Ach, was für ein reizender Nachmittag!« sagte Jane und flog Mary Poppins um den Hals.

»Reizend? — Na, von dir kann man das im Augenblick nicht sagen. Bürste dir gefälligst das Haar. Ich wünsche keine Vogelscheuchen«, sagte Mary Poppins scharf.

»Ich fühle mich wie ein Ballon«, sagte Michael vergnügt. »Ganz leuchtend, luftig und locker!«

»Wenn einer so leuchtend aussieht wie du, dann kann er mir leid tun«, sagte Mary Poppins. »Geh und wasch dir die Hände. Du siehst aus wie ein Schornsteinfeger!«

Als sie sauber und wohlgebürstet zurückkamen, schwebten die vier Ballons an der Decke, ihre Schnüre waren hinter dem Bild über dem Kamin sicher verankert.

Michael blickte hoch, zu seinem eigenen gelben, Janes blauem, dem rosafarbenen der Zwillinge und Mary Poppins' rotem. Sie rührten sich nicht; kein Lüftchen bewegte sich. Leicht und leuchtend, stetig und still schwebten sie unter die Decke.

»Wissen möchte ich aber doch . . .«, sagte Michael leise, halb zu sich selbst.

»Was möchtest du wissen?« fragte Mary Poppins, die ihre Pakete sortierte.

»Ich möchte wissen, ob all das passiert wäre, wenn du nicht bei uns gewesen wärst.«

Mary Poppins zog die Luft hoch.

»Ich möchte wissen, ob du nicht viel zuviel wissen möchtest«, sagte sie.

Und damit mußte Michael sich zufriedengeben.

9. Kapitel. Nelly Rubina

»Ich glaube, das hört nie wieder auf!«

Jane ließ ihren >Robinson Crusoe< sinken und blickte düster zum Fenster hinaus.

Draußen fiel gleichmäßig der Schnee, senkte sich in großen, weichen Flocken und deckte den Park und die Bürgersteige und die Häuser im Kirschbaumweg mit seinem dicken, weißen Mantel zu. Seit einer Woche hatte es nicht aufgehört zu schneien, und die ganze Zeit über hatten die Kinder nicht an die Luft gehen können.

»Mir macht das nichts — jedenfalls nicht viel«, sagte Michael vom Fußboden herauf, wo er gerade eifrig die Tiere aus seiner Arche Noah aufstellte. »Wir können ja Eskimo spielen und Wale essen.«

»Blödsinn — wie können wir an Wale kommen, wenn es so schneit, daß wir uns nicht einmal Hustenbonbons holen können!«

»Sie können ja herkommen. Das tun Wale manchmal«, erwiderte er.

»Woher weißt du das?«

»Na, ich weiß es nicht gerade. Aber sie könnten doch, Jane! Wo ist die zweite Giraffe? Ach, da ist sie — unter dem Tiger!«

Er stellte die beiden Giraffen nebeneinander in die Arche.

»Die Paare traten ein im Nu, Der Elefant und 's Känguruh«,

sang Michael. Und weil er kein Känguruh besaß, führte er eine Antilope mit dem Elefanten hinein und dahinter Mister und Mistreß Noah, um Ordnung zu halten.

»Ich frage mich, warum sie eigentlich keine Verwandten haben!« bemerkte er nach einer Weile.

»Wer?« fragte Jane ungnädig, denn sie wollte nicht gestört werden.

»Die Noahs. Ich habe sie nie mit einer Tochter oder einem Sohn gesehen oder mit einem Onkel oder mit einer Tante. Warum?«

»Weil sie keine haben«, sagte Jane. »Und jetzt halt den Mund.«

»Na, ich hab doch bloß eine Bemerkung gemacht. Darf ich das etwa nicht?«

Nun wurde er ungnädig und bekam es satt, im Kinderzimmer eingesperrt zu sein. Er stand auf und stolperte zu Jane hinüber.

»Ich sagte ja nur . . . « , begann er hartnäckig und schüttelte die Hand, die das Buch hielt.

Jetzt aber riß Jane die Geduld, und sie schleuderte Robinson Crusoe quer durchs Zimmer.

»Was fällt dir ein, mich zu stören?« schrie sie und fuhr auf Michael los.

»Was fällt dir ein, mich keine Bemerkung machen zu lassen?«

»Das habe ich ja gar nicht!«

»Doch!«

Im nächsten Augenblick hatte Jane Michael bei der Schulter gepackt und schüttelte ihn wütend, während er ihr mit beiden Händen ins Haar fuhr.

»WAS SOLL DAS HEISSEN?«

In der Tür stand Mary Poppins und blickte düster auf sie nieder.

Sie ließen voneinander ab.

»S — s — sie hat mich geschüttelt!« jammerte Michael, blickte Mary Poppins aber schuldbewußt an.

»E — er hat mich an den Haaren gezogen!« schluchzte Jane, das Gesicht in den Armen verborgen, denn sie traute sich nicht, dem strengen Blick zu begegnen.

Mary Poppins kam ins Zimmer. Über dem Arm trug sie einen Haufen Mäntel, Mützen und Schals, und ihr auf den Fersen folgten die Zwillinge, mit runden Augen und höchst interessiert.

»Lieber«, schnaubte sie verächtlich, »lieber würde ich eine Kannibalenfamilie beaufsichtigen, die wären menschlicher!«

»Aber sie hat mich geschüttelt. . .«, fing Michael wieder an.

»Erzähl das deiner Großmutter!« fuhr Mary Poppins ihn an. Und dann, als er aufbegehren wollte, warnte sie: »Untersteh dich, mir zu widersprechen!« Damit warf sie ihm seinen Mantel zu. »Zieht bitte eure Sachen an! Wir gehen aus.«

»Aus?«

Sie trauten ihren Ohren nicht, doch beim Klang dieses Wortes schmolz ihre schlechte Laune sofort. Michael, der seine Gamaschen zuknöpfte, tat es leid, daß er Jane gereizt hatte, und als er zu ihr hinblickte, sah er sie ihre Kappe aufsetzen und ihm zulächeln.

»Hurra! Hurra! Hurra!« schrien sie, stampften mit den Füßen und klatschten in ihre wollbehandschuhten Hände.

»Kannibalen!« sagte Mary Poppins streng und schob sie vor sich her zur Treppe.

Es schneite nicht mehr, doch häuften sich überall im Garten große Schneewehen, und weiter drüben im Park lag eine dicke, weiße Decke. Die nackten Zweige der Kirschbäume trugen einen glitzernden Schneesaum, und die Parkgitter, die sonst grün und zierlich waren, sahen jetzt weiß aus und fast wollig.

Über den Gartenweg schob Robertson Ay gemächlich seine Schneeschaufel; alle paar Schritte machte er halt und ruhte sich gehörig aus. Er hatte einen alten Mantel von Mister Banks an, der viel zu lang für ihn war. Kaum hatte er ein Stückchen Weg freigeschaufelt, so fegte der hinter ihm herschleppende Mantel eine neue Lage Schnee auf das eben gesäuberte Stück.

Die Kinder rannten schreiend, rufend und mit den Armen fuchtelnd an ihm vorbei zum Tor.

Draußen auf der Straße war alles, was hier lebte, auf den Beinen und schnappte ein wenig Luft.

»Ahoi, Schiffsmaaten!« brüllte eine heisere Stimme; Admiral Boom trat auf sie zu und schüttelte allen die Hand. Von Kopf bis Fuß umhüllte ihn ein großes Wettercape, und seine Nase leuchtete röter denn je.

»Guten Tag!« sagten Jane und Michael höflich.

»Potz Steuerbord!« rief der Admiral. »Das nenn ich keinen guten Tag. Hrrrrumph! Einen scheußlichen, schimmligen Tag für unbefahrene Landratten nenne ich das! Warum wird es nicht Frühling, möcht ich wissen!«

»Hierher, Andy! Hierher, Willibald! Bleibt schön bei Frauchen!«

Miß Lark, die in ihrem langen Pelzmantel und mit der Pelzmütze wie eine Teepuppe aussah, ging mit ihren beiden Hunden spazieren.

»Guten Morgen allerseits«, grüßte sie zerstreut. »Was für ein Wetter! Wo bleibt die Sonne? Und warum wird es nicht Frühling?«

»Mich dürfen Sie danach nicht fragen!« brüllte Admiral Boom. »Das ist nicht meine Sache. Sie sollten zur See gehen. Da ist immer Schönwetter! Gehen Sie zur See!«

»Ach, Admiral Boom, das kann ich doch nicht. Ich habe keine Zeit dazu. Ich will grade Andy und Willibald ein Pelzmäntelchen kaufen.«

Die beiden Hunde wechselten einen Blick voller Scham und Entsetzen.

»Pelzmäntelchen!« brüllte der Admiral. »Potz Fernrohr! Pelzmäntelchen für diese Promenadenmischungen! Werfen Sie sie über Bord! Und 'raus aus dem Haufen, sag ich! Anker auf! — Pelzmäntelchen!!«

»Admiral! Admiral!« rief Miß Lark und hielt sich die Ohren zu. »Was für eine Sprache! Bitte, bitte, denken Sie daran, daß ich so etwas nicht gewöhnt bin. Und meine Hunde sind keine Promenadenmischungen. Keineswegs! Der eine hat einen ellenlangen Stammbaum und der andere zum mindesten ein gutes Herz. Promenadenmischungen, so etwas!«

Und sie eilte davon, mit hoher, ärgerlicher Stimme weiter vor sich hin sprechend; Andy und Willibald trotteten neben ihr her, pendelten mit den Schwänzen und sahen sehr unbehaglich und beschämt aus.

Der Eismann fuhr mit seinem Wagen vorbei; er war in rasender Eile und bimmelte wie verrückt.

»NICHT ANHALTEN, SONST ERKÄLTE ICH MICH!« verkündete das Schild vorn am Wagen.

»Kommt der Frühling überhaupt noch mal?« rief der Eismann dem Straßenfeger zu, der gerade um die Ecke geschlendert kam. Um sich vor der Kälte zu schützen, hatte er sich ganz mit Besen zugedeckt, so daß er eher wie ein Igel aussah als wie ein Mensch.

»Bur — rum, bummel!« kam seine Stimme unter dem Besen hervor.

»Wie bitte?« sagte der Eismann.

»Bummel!« bemerkte der Straßenfeger und verschwand in Miß Larks Haus.

Im Parktor stand der Aufseher, schlug die Arme übereinander, stampfte mit den Füßen und blies in seine Hände.

»Könnten ein bißchen Frühling gebrauchen, wie?« sagte er freundlich zu Mary Poppins, als sie und die Kinder an ihm vorbeigingen.

»Ich bin ganz zufrieden!« bemerkte Mary Poppins steif und warf den Kopf in den Nacken.

»Selbstzufrieden, willst du wohl sagen«, murmelte der Aufseher. Aber da er dabei die Hand vor den Mund hielt, verstanden es nur Jane und Michael.

Michael zottelte wieder einmal hinterdrein. Er bückte sich und hob eine Handvoll Schnee auf, den er zwischen den Händen zu rollen begann.

»Hallo, Jane!« rief er scheinheilig. »Ich hab was für dich!«

Sie drehte sich um, und der Schneeball pfiff durch die Luft und traf sie an der Schulter. Aufquietschend begann sie im Schnee zu graben, und bald flogen Schneebälle nach allen Seiten. Und mitten drin, zwischen den fliegenden, glitzernden Bällen, wanderte Mary Poppins, sehr stolz und adrett, und dachte heimlich, wie hübsch sie aussah in ihren langen, wollenen Handschuhen und ihrem Pelzmantel aus Kaninchenfell.

Und gerade, als sie das dachte, streifte ein großer Schneeball ihre Hutkrempe und landete auf ihrer Nase.

»Oje«, schrie Michael auf und hob vor Schrecken beide Hände vor den Mund. »Das wollte ich nicht, Mary Poppins! Wirklich, das wollte ich nicht. Das galt Jane!«

Mary Poppins drehte sich um, und das Gesicht, das hinter dem zerplatzten Schneeball erschien, war zum Fürchten.

»Mary Poppins«, sagte er ernsthaft, »es tut mir leid. Es war ein Versehen!«

»Versehen oder nicht«, gab sie zurück. »Auf alle Fälle ist jetzt Schluß mit der Schneeballerei. Versehen! So was! Ein Zulukaffer hat bessere Manieren!«

Sie sammelte die Überbleibsel des Schneeballs von ihrem Hals und rollte sie zwischen ihren wollenen Handflächen zu einer kleinen Kugel. Dann warf sie die Kugel geradeaus über den schneebedeckten Rasen und stampfte hochnäsig hinterher.

»Jetzt hast du was angerichtet«, flüsterte Jane.

»Das wollte ich nicht«, flüsterte Michael zurück.

»Ich weiß. Aber du weißt doch, wie sie ist!«

Als Mary Poppins die Stelle erreichte, wo der Schneeball hingefallen war, hob sie ihn auf und schleuderte ihn abermals von sich, mit einem langen, mächtigen Wurf.

»Wohin will sie denn?« sagte Michael plötzlich. Denn der Schneeball war unter die Bäume gerollt, und statt auf dem Weg zu bleiben, eilte Mary Poppins hinter ihm her. Ab und zu duckte sie sich, wenn von einem Zweig ein kleiner Schneeschauer niederrieselte.

»Ich komme fast nicht mehr mit!« sagte Michael und stolperte über seine eigenen Füße.

Mary Poppins beschleunigte ihre Schritte. Die Kinder folgten ihr keuchend, und als sie schließlich den Schneeball erreichten, da lag er neben dem seltsamsten Bauwerk, das sie jemals erblickt hatten.

»Ich erinnere mich nicht, das Haus schon mal gesehen zu haben!« rief Jane aus, die vor Erstaunen die Augen aufriß.

»Es sieht eher wie eine Arche aus als wie ein Haus«, sagte Michael und gaffte.

Das Haus stand fest im Schnee, mit einem dicken Tau an einem Baumstamm verankert. Rundum lief wie eine Veranda ein langes, schmales Deck, und das hohe, spitze Dach war hellrot angestrichen. Aber das Merkwürdigste war, daß es zwar einige Fenster, aber nicht eine einzige Tür besaß.

»Wo sind wir?« fragte Jane aufgeregt und neugierig.

Mary Poppins antwortete nicht. Sie führte sie über das Deck, wo sie vor einer Tafel haltmachte, auf der stand:

»DREIEINHALBMAL KLOPFEN!«

»Was heißt >ein halbmal klopfen<?« erkundigte sich Michael flüsternd bei Jane.

»Pst«, machte sie und deutete nickend auf Mary Poppins, und das Nicken sagte so deutlich, als hätte sie's ausgesprochen: >Wir stehen an der Schwelle eines Abenteuers. Zerstöre bitte nicht alles durch deine Fragerei.<

Mary Poppins ergriff den Klopfer, der über dem Schild hing, hob ihn etwas an und klopfte dreimal laut gegen die Wand. Dann nahm sie ihn behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger ihres Wollhandschuhs und machte ganz zart, leise, wie hingetupft: tapp. Etwa so:

RAP! RAP! RAP ! . . . tapp.

Gleich darauf, als hätte man auf dieses Signal schon gelauscht und gewartet, flog das Dach des Hauses in großen Scharnieren zurück.

»Oohh!« Michael konnte den Ruf nicht unterdrücken, denn der durch das Aufklappen des Daches erzeugte Wind hätte ihm um ein Haar den Hut vom Kopf geblasen.

Mary Poppins ging bis ans Ende des schmalen Decks und begann, eine kleine, steile Leiter hochzuklettern. Oben angelangt, drehte sie sich um und winkte feierlich und geheimnisvoll mit dem wollenen Finger.

»Klettert mir nach, bitte!«

»Springt!« rief Mary Poppins und hüpfte von der Höhe der Leiter ins Haus. Dann drehte sie sich um und fing die Zwillinge auf, die oben über die Kante gestolpert kamen, gefolgt von Jane und Michael. Kaum waren sie allesamt sicher im Haus, da schloß sich das Dach wieder und klappte mit einem kleinen Ruck zu.

Sie blickten um sich. Vier Augenpaare weiteten sich vor Überraschung.

»Was für ein komischer Raum!« rief Jane.

Aber in Wirklichkeit war er mehr als komisch. Er war ganz außergewöhnlich. Das einzige Möbelstück darin war ein großer Ladentisch, der sich an einem Ende des Raums entlangzog. Die Wände waren weiß gekalkt; dagegen lehnten Stapel von ausgeschnittenen Brettern, die die Umrisse von Bäumen und Ästen zeigten, alle grün gestrichen. Kleine hölzerne Blattbüschel, frisch bemalt und poliert, lagen auf dem Fußboden verstreut. An den Wänden hingen Anschläge, die besagten:

ACHTUNG! FRISCH GESTRICHEN!

oder

NICHT BERÜHREN!

oder

NICHT DEN RASEN BETRETEN!

Aber das war nicht alles.

In einer Ecke stand eine Herde von hölzernen Schafen, auf deren Pelz noch die Farbe trocknete. Dicht zusammengedrängt fanden sich in der nächsten kleine Blumengruppen: steifer, gelber Fingerhut, grün-weiße Schneeglöckchen und Scyllas von strahlendem Blau. Alle sahen sie noch sehr glänzend und klebrig aus, wie soeben frisch bemalt. Den gleichen Anblick boten die hölzernen Vögel und Schmetterlinge, die in Stapeln in der dritten Ecke lagen, und die flachen, weißen, hölzernen Wolken, die gegen den Ladentisch lehnten.

Nur der riesige Krug, der am Ende des Raumes auf einem Regal stand, war nicht angemalt. Er bestand aus grünem Glas und war bis zum Rand mit Hunderten von kleinen, flachen Plättchen gefüllt, Plättchen von jedem Umriß und jeder Farbe.

»Du hast recht, Jane«, sagte Michael und staunte. »Das ist ein komischer Raum.«

»Komisch?« fragte Mary Poppins und sah geradezu beleidigt aus.

»Na, seltsam eben.«

»SELTSAM?«

Michael stockte. Er konnte das rechte Wort nicht finden.

»Ich wollte sagen ... «

»Ich finde, es ist ein sehr hübscher Raum, Mary Poppins...«, kam Jane ihrem Bruder eilig zu Hilfe.

»Ja, das ist er«, sagte Michael, merklich erleichtert. »Außerdem«, fügte er schlau hinzu, »finde ich, du siehst in diesem Hut sehr nett aus.«

Vorsichtig guckte er hoch. Ja, ihr Gesicht war schon ein wenig sanfter — schon zeigte sich der Anflug eines geschmeichelten Lächelns um ihren Mund.

»Hmpf«, machte sie und wandte sich dem Hintergrund des Raumes zu. »Nelly Rubina!« rief sie. »Wo steckst du? Wir sind da!«

»Ich komme gleich! Ich komme gleich!«

Das höchste und dünnste Stimmchen, das sie jemals gehört hatten, schien unter dem Ladentisch hervorzukommen. Und nach einer Weile tauchte aus dieser Richtung ein Kopf auf, auf dem ein kleiner, flacher Hut thronte. Ihm folgte eine rundliche, etwas untersetzte Gestalt, die in der einen Hand einen Topf roter Farbe hielt und in der anderen eine noch rohe, hölzerne Tulpe.

Bestimmt, dachten Jane und Michael, bestimmt war das die seltsamste Person, die sie je gesehen hatten.

Nach Gesicht und Größe zu schließen, war sie noch ziemlich jung, aber irgendwie schien sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Holz zu bestehen. Ihr steifes, glänzendes, schwarzes Haar wirkte, als sei es mitsamt dem Kopf aus einem Holzplättchen herausgeschnitzt und dann bemalt worden. Ihre Augen waren wie zwei kleine, schwarze Bohrlöcher, und bestimmt war der helle rosa Fleck auf ihrer glänzenden Backe mit Farbe aufgetragen.

»Ach, Mary Poppins!« sagte die seltsame Person, und ihre Lippen schimmerten beim Lächeln. »Das ist aber nett von dir, das muß ich schon sagen!« Sie legte Farbtopf und Tulpe hin und kam um den Ladentisch herum, um Mary Poppins die Hand zu schütteln.

Da merkten die Kinder, daß sie überhaupt keine Beine hatte! Von der Taille ab bestand sie aus einem Stück, und sie bewegte sich rollend fort mit Hilfe einer runden, flachen Scheibe, die dort war, wo eigentlich ihre Füße hätten sein müssen.

»Nicht im geringsten, Nelly Rubina«, sagte Mary Poppins mit ungewohnter Höflichkeit. »Es ist mir ein großes Vergnügen.«

»Wir haben dich natürlich erwartet«, fuhr Nelly Rubina fort, »weil wir auf deine Hilfe rechneten bei...« Sie brach plötzlich ab, nicht nur, weil Mary Poppins ihr einen warnenden Blick zugeworfen hatte, sondern weil sie jetzt erst die Kinder entdeckte.

»Oh!« rief sie mit ihrer hohen, freundlichen Stimme. »Du hast Jane und Michael mitgebracht! Und die Zwillinge auch. Was für eine Überraschung!« Sie rollte auf die Kinder zu und schüttelte allen die Hand.

»Kennst du uns denn?« fragte Michael, der sie verblüfft anstarrte.

»Aber natürlich!« trillerte sie fröhlich. »Ich habe Vater und Mutter oft von euch sprechen hören. Ich freue mich, eure Bekanntschaft zu machen.« Sie lachte und bestand darauf, allen nochmals die Hände zu schütteln.

»Ich dachte mir, Nelly Rubina«, sagte Mary Poppins, »daß du vielleicht für eine Unze Unterhaltungen übrig hättest.«

»Gewiß!« sagte Nelly Rubina und rollte lächelnd zum Ladentisch. »Für dich tue ich alles, Mary Poppins, es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen!«

»Aber kann man denn Unterhaltung nach Unzen kaufen?« fragte Jane.

»Ja natürlich. Auch nach Pfunden. Oder tonnenweise, wenn du willst.« Nelly Rubina brach ab. Sie streckte die Arme nach dem großen Krug auf dem Regal aus. Sie waren zu kurz, um hinaufzureichen. »Tz — tz—tz! Nicht lang genug! Ich muß mir noch ein Stück anleimen lassen. Inzwischen kann ihn mein Onkel herunterholen. Onkel Dodger! Onkel Dodger!«

Die letzten Worte rief sie durch eine Tür hinter dem Ladentisch, und alsbald erschien eine äußerst merkwürdig aussehende Gestalt.

Der Mann war rundlich wie Nelly Rubina, aber viel älter, auch hatte er ein trauriges Gesicht. Er trug wie sie einen kleinen, flachen Hut auf dem Kopf, und sein Mantel war eng über einer Brust zugeknöpft, die ebenso hölzern wirkte wie die Nelly Rubinas. Als seine Schürze einen Augenblick umschlug, konnten Jane und Michael sehen, daß er wie seine Nichte von der Taille ab aus einem Stück bestand. In der Hand trug er einen hölzernen Kuckuck, zur Hälfte grau angestrichen, und Spritzer der gleichen Farbe saßen ihm auf der Nase.

»Du hast gerufen, meine Liebe?« fragte er mit einer sanften, respektvollen Stimme.

Dann aber entdeckte er Mary Poppins.

»Ach, da bist du ja endlich, Mary Poppins! Das wird Nelly Rubina aber freuen. Sie hat dich erwartet, um uns zu helfen beim . . .«

Sein Blick fiel auf die Kinder, und er brach plötzlich ab.

»O Verzeihung! Ich wußte nicht, daß jemand bei dir ist, meine Liebe! Laß mich nur schnell den Vogel fertigmachen und . . .«

»Tu das nicht, Onkel Dodger!« sagte Nelly Rubina scharf. »Ich möchte, daß du mir die Unterhaltungen herunterholst. Willst du so nett sein?«

Obwohl sie ein so fröhliches, freundliches Gesicht hatte, bemerkten die Kinder, daß sie beim Sprechen dem Onkel eher Befehle erteilte als um etwas bat.

Onkel Dodger sprang herbei, so rasch, wie das bei einem Mann ohne Beine nur möglich war.

»Aber gewiß doch, meine Liebe, gewiß doch!«

Er setzte den Krug auf den Ladentisch.

»Genau vor mich hin, bitte!« befahl Nelly Rubina von oben herab. Mit ängstlicher Geschäftigkeit schob Onkel Dodger den Krug weiter.

»Hier, meine Liebe, entschuldige bitte!«

»Sind das die Unterhaltungsstücke?« fragte Jane und deutete auf den Krug. »Sie sehen eher aus wie Süßigkeiten.«

»Das sind sie ja auch, Miß! Es sind Unterhaltungssüßigkeiten«, sagte Onkel Dodger, der den Krug mit der Schürze abwischte.

»Ißt die einer?« erkundigte sich Michael.

Onkel Dodger beugte sich mit einem vorsichtigen Blick auf Nelly Rubina über den Ladentisch.

»Eine schon«, flüsterte er hinter der vorgehaltenen Hand. »Aber ich nicht, denn ich bin nur ein angeheirateter Onkel. Sie hingegen . . .« — er deutete mit einem respektvollen Nicken auf seine Nichte —, »sie ist die älteste Tochter und ein direkter Nachkomme!«

Jane und Michael hatten keine Ahnung, was er damit meinte, aber sie nickten höflich.

»Nun?« rief Nelly Rubina fröhlich, während sie den Deckel vom Krug hob, »wer will zuerst?«

Jane steckte ihre Hand in den Krug und brachte ein flaches, sternförmiges Bonbon zum Vorschein, das aussah wie ein Pfefferminzplätzchen.

»Da steht ja etwas drauf!« rief sie aus.

Nelly Rubina quietschte vor Lachen. »Natürlich! Es ist doch ein Unterhaltungsbonbon! Lies vor!«

»Du bist mein Ideal«, las Jane laut.

»Wie reizend!« zwitscherte Nelly Rubina und schob Michael den Krug hin. Er zog ein rosafarbenes, muschelförmiges Bonbon hervor.

»Ich liebe dich. Liebst du mich auch?« buchstabierte er.

»Hahaha! Das ist was besonders Gutes! Ja, ich dich auch!«

Nelly Rubina lachte laut und gab ihm rasch einen Kuß, der auf seiner Backe einen klebrigen Farbklecks hinterließ.

Johns gelbes Bonbon lautete: »Dideldideldumpling!«, und auf dem Barbaras stand in großen Buchstaben: »Unser Sonnenscheinchen!«

»Und das bist du auch!« rief Nelly Rubina und lächelte ihr über den Ladentisch zu.

»Nun du, Mary Poppins«, und während Nelly Rubina ihr den Krug zuschob, bemerkten Jane und Michael, wie beide einen seltsam verständnisvollen Blick wechselten.

Da kam der große wollene Handschuh; Mary Poppins schloß die Augen und wühlte einen Augenblick in den Bonbons. Dann schlossen sich ihre Finger um ein weißes, das wie ein Halbmond geformt war, und sie streckte es vor sich hin.

»Heute abend um zehn«, las Jane laut vor.

Onkel Dodger rieb sich die Hände.

»Das stimmt. Das ist die Stunde, wo wir . . .«

»Onkel Dodger!!« rief Nelly Rubina warnend.

Das Lächeln erlosch auf seinem Gesicht, und er sah noch trauriger aus als vorher.

»Verzeihung, meine Liebe!« sagte er demütig. »Ich bin ein alter Mann und sage manchmal etwas Falsches, fürchte ich — entschuldige bitte.« Er sah sehr beschämt aus, aber Jane und Michael begriffen nicht recht, was er falsch gemacht haben sollte.

»Na denn«, sagte Mary Poppins und steckte ihr Unterhaltungsbonbon sorgfältig in die Tasche. »Entschuldige uns bitte, aber ich glaube, wir müssen weg!«

»Was, schon?« Nelly Rubina rollte auf ihrer Scheibe ein wenig näher. »Es war uns ein Vergnügen! Aber«, sie blickte aus dem Fenster, »es könnte wieder zu schneien anfangen, dann sitzt ihr hier fest. Und das möchtet ihr wohl nicht, wie?« wandte sie sich zwitschernd an die Kinder.

»Ich doch«, sagte Michael mit Nachdruck. »Mir würde es Spaß machen. Dann fände ich vielleicht auch heraus, wozu diese Dinger hier da sind.« Er deutete auf die gemalten Zweige, die Schafe, die Vögel und die Blumen.

»Die? Ach, das sind nur Dekorationen«, sagte Nelly Rubina obenhin und verabschiedete sie mit einer eckigen Handbewegung.

»Aber was tust du damit?«

Onkel Dodger beugte sich eifrig über den Ladentisch.

»Ja, siehst du, wir nehmen sie mit uns . . .«

»Onkel Dodger!!!« Nelly Rubinas dunkle Augen funkelten gefährlich.

»Ach, meine Liebe! Jetzt hab ich mich wieder verplappert. Immer falle ich aus der Rolle. Ich bin eben zu alt, das ist es«, sagte Onkel Dodger.

Nelly Rubina warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Dann wandte sie sich lächelnd den Kindern zu.

»Lebt wohl«, sagte sie und schüttelte ihnen ruckhaft die Hand. »Ich werde an unsere Unterhaltungsbonbons denken: >Du bist mein Ideal, Ich liebe dich, Dideldideldumpling und Sonnenscheinchen!<«

»Du hast Mary Poppins' Spruch vergessen. Er hieß: >Heute abend um zehn<«, erinnerte sie Michael.

»Ach, die denkt schon daran!« sagte Onkel Dodger und lächelte glücklich.

»Onkel Dodger!!«

»Oh, entschuldige bitte, entschuldige!«

»Lebt wohl!« sagte Mary Poppins. Sie klopfte bedeutungsvoll auf ihre Handtasche, und wieder wechselten sie und Nelly Rubina einen seltsamen Blick.

»Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«

Wenn Jane und Michael später daran dachten, konnten sie sich nicht erinnern, wie sie aus dem seltsamen Haus herausgekommen waren. In dem einen Augenblick waren sie noch drinnen gewesen und hatten sich von Nelly Rubina verabschiedet, und im nächsten standen sie schon wieder draußen im Schnee und eilten hinter Mary Poppins her.

»Weißt du, Michael«, sagte Jane, »ich glaube, das Bonbon war eine Botschaft.«

»Welches? Meines?«

»Nein. Das von Mary Poppins.«

»Meinst du?«

»Ich glaube, heute nacht um zehn wird sich etwas ereignen; ich möchte wach bleiben und sehen, was passiert.«

»Da mache ich mit«, sagte Michael.

»Kommt weiter, bitte! Macht voran!« sagte Mary Poppins. »Ich kann hier nicht den ganzen Tag vertrödeln . . .«

Jane lag in tiefem Schlaf. Im Traum rief jemand leise und dringlich ihren Namen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf und sah Michael im Pyjama neben ihrem Bett stehen.

»Du wolltest doch wach bleiben!« flüsterte er vorwurfsvoll.

»Was? Wie? Wo? Ach, du bist's, Michael! Na, das wolltest du doch auch.«

»Horch«, sagte er.

Nebenan schlich jemand auf Zehenspitzen durchs Zimmer.

Jane zog scharf den Atem ein. »Schnell! Zurück ins Bett. Tu, als ob du schläfst. Vorwärts!«

Mit einem Satz war Michael unter seiner Decke. In der Dunkelheit hielten er und Jane lauschend den Atem an.

Die Tür zum Nebenzimmer öffnete sich verstohlen. Der schmale Lichtspalt erweiterte sich. Langsam schob sich ein Kopf um die Ecke und spähte ins Zimmer. Dann schlüpfte jemand durch die Tür, die sich leise wieder schloß.

Mary Poppins, in ihren Pelzmantel gehüllt und die Schuhe in der Hand, schlich auf Zehenspitzen durchs Zimmer.

Die Kinder lagen ganz still und horchten, wie ihre Tritte die Treppe hinabeilten. Nach einem Weilchen drehte sich unten an der Haustür der Schlüssel im Schloß. Jemand eilte die Stufen zum Gartenpfad hinunter, und dann schnappte das Tor zu.

Im gleichen Augenblick schlug die Uhr zehn!

Mit einem Satz waren beide aus dem Bett und rannten ins Nebenzimmer, dessen Fenster nach dem Park hinausgingen.

Die Nacht war schwarz und prächtig, von hohen, funkelnden Sternen erleuchtet. Aber heute blickten sie nicht nach den Sternen. Wenn Mary Poppins' Bonbon wirklich eine Botschaft enthalten hatte, gab es bestimmt Interessantes zu sehen.

»Guck!« Jane schluckte aufgeregt und streckte deutend ihre Hand aus. »Da!«

Drüben im Park, gleich beim Eingangstor, stand das seltsame, archenartige Haus, lose an einem Baumstamm verankert.

»Aber wie kommt das denn hierher?« sagte Michael verwundert. »Heute morgen war es doch am anderen Ende des Parks.«

Jane antwortete nicht. Sie war ganz von ihren Beobachtungen in Anspruch genommen.

Das Dach der Arche war aufgeklappt, und oben auf der Leiter stand, auf ihrer runden Scheibe balancierend, Nelly Rubina. Von innen reichte Onkel Dodger ein Bündel angemalter Holzzweige nach dem anderen heraus.

»Bist du soweit, Mary Poppins?« zwitscherte Nelly Rubina und ließ einen Armvoll zu Mary Poppins hinunter, die auf dem Deck stand, um ihn in Empfang zu nehmen.

Die Luft war so klar und ruhig, daß Jane und Michael, auf der Fensterbank kniend, jedes Wort hören konnten.

Plötzlich gab es im Innern der Arche ein großes Getöse, denn eine der hölzernen Formen war zu Boden gefallen.

»Onkel Dodger!! Gib bitte acht! Sie sind zerbrechlich!« sagte Nelly Rubina streng. Und Onkel Dodger erwiderte, während er einen Haufen gemalter Wolken herausreichte, reuevoll:

»Verzeihung, meine Liebe!«

Als nächstes kam die Herde hölzerner Schafe zum Vorschein, alle sehr steif und gediegen. Und zuletzt die Vögel, Schmetterlinge und Blumen.

»Das ist 'ne Masse!« sagte Onkel Dodger und schwang sich selbst durch die Dachöffnung hinauf. Unter seinem Arm trug er den hölzernen Kuckuck, der nun ganz mit grauer Farbe bedeckt war. Und in der Hand schwang er einen großen, grünen Farbtopf.

»Sehr schön«, sagte Nelly Rubina. »Nun, wenn du bereit bist, Mary Poppins, dann fangen wir an!«

Und jetzt begann die seltsamste Arbeit, die Jane und Michael je gesehen hatten. Nie, nie, so dachten sie, würden sie das vergessen, und sollten sie auch neunzig Jahre alt werden.

Von dem Stapel angemalter Hölzer nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins große Blattbüschel und befestigten sie, ein wenig hochhüpfend, rasch an den nackten, frostigen Ästen der Bäume. Die Büschel schienen leicht zu haften, denn es beanspruchte nicht mehr als eine Minute, sie anzubringen. Und als alles an seinem Platz saß, hüpfte Onkel Dodger hoch und verdeckte mit einem grünen Farbtupfer die Stelle, wo sich die Blattbüschel mit den Ästen verbanden.

»Du meine Güte, du meine Güte!« rief Jane, als Nelly Rubina leicht zur Spitze einer hohen Pappel hinaufsegelte und dort einen großen Zweig festmachte. Michael aber war viel zu verblüfft, um überhaupt etwas zu sagen.

Durch den ganzen Park gingen die drei; wie auf Springfedern hüpften sie zu den höchsten Zweigen hinauf. Und im Handumdrehen war jeder Baum mit hölzernen Blattbüscheln umkleidet, während Onkel Dodger dem Ganzen durch einen Farbtupfer den letzten Pfiff gab.

Ab und zu hörten Jane und Michael Nelly Rubinas schrillen Ruf:

»Onkel Dodger! Gib acht!« und Onkel Dodgers Entschuldigungen.

Und jetzt nahmen Nelly Rubina und Mary Poppins die flachen, weißen, hölzernen Wolken in die Arme. Damit stiegen sie noch höher empor als bisher, ja sie schossen geradezu über die Baumwipfel hinaus und drückten die Wolken behutsam gegen den Himmel.

»Die bleiben kleben, die bleiben ja kleben!« rief Michael und tanzte vor Aufregung auf der Fensterbank. Und wahrhaftig, dort oben am glitzernden, funkelnden Himmel saßen die weißen Wolken und klebten fest.

»Wupps«, rief Nelly Rubina, als sie auf die Erde herabrutschte. »Und jetzt die Schafe!«

Sehr sorgfältig setzten sie die hölzerne Herde auf einen beschneiten Rasenstreifen, stellten die großen Schafe dicht zusammen und steckten die steifen, weißen Lämmchen dazwischen.

»Wir kommen gut voran!« hörten Jane und Michael Mary Poppins sagen, als sie das letzte Lamm auf die Beine stellte.

»Ich weiß nicht, was wir ohne dich hätten machen sollen, Mary Poppins, wahrhaftig nicht!« sagte Nelly Rubina vergnügt. Dann, in einem ganz anderen Ton:

»Blumen, bitte, Onkel Dodger! Und paß auf!«

»Hier, meine Liebe.« Eiligst rollte er zu ihr hin, die Schürze bis zum Platzten gefüllt mit Schneeglöckchen, Scyllas und Himmelschlüsselchenpflanzen.

»Guck nur, guck!« rief Jane und kuschelte sich vor Entzücken enger in die eigenen Arme. Denn Nelly Rubina steckte jetzt die Holzformen rings um ein leeres Blumenbeet. Immer rundum rollte sie, pflanzte ihren hölzernen Blumenrand und streckte immer wieder ihre Hand nach einer neuen Blume aus Onkel Dodgers Schürze aus.

»Das sieht gut aus!« sagte Mary Poppins bewundernd, und Jane und Michael staunten über den freundlichen Klang ihrer Stimme.

»Ja, nicht wahr?« zwitscherte Nelly Rubina und wischte sich den Schnee von den Händen. »Ein hübscher Anblick! Was ist noch da, Onkel Dodger?«

»Die Vögel, meine Liebe, und die Schmetterlinge!«

Er hielt ihr die fast leere Schürze entgegen. Nelly Rubina und Mary Poppins griffen nach den übriggebliebenen Holzformen und rannten geschwind im Park umher; die Vögel setzten sie auf Zweige oder in Nester und warfen die Schmetterlinge in die Luft. Und das Merkwürdige war, daß sie sich dort hielten, schwebend über der Erde, mit glänzenden Farbflecken auf den Flügeln, die im klaren Sternenlicht aufleuchteten.

»So! Das ist alles, denke ich!« sagte Nelly Rubina und blieb, die Hände auf die Hüften gestützt, auf ihrer Scheibe stehen, während sie ihr Werk ringsum betrachtete.

»Noch eins, meine Liebe!« sagte Onkel Dodger.

Und etwas wacklig, als hätte die nächtliche Arbeit ihn alt und müde gemacht, rollte er zum Eschenbaum neben dem Parktor. Er zog den Kuckuck unter seinem Arm hervor und setzte ihn auf einen Zweig mitten zwischen die hölzernen Blätter.

»So, mein Herzchen, so, mein Täubchen!« sagte er und nickte dem Vogel zu.

»Onkel Dodger! Wann wirst du das lernen! Es ist keine Taube, es ist ein Kuckuck.«

Demütig beugte er den Kopf. »Ein Täubchen von einem Kuckuck — das meinte ich nur. Verzeihung, meine Liebe!«

»Und nun, Mary Poppins, müssen wir leider gehen!« sagte Nelly Rubina; auf Mary Poppins zurollend, nahm sie deren rosiges Gesicht zwischen ihre beiden Holzhände und küßte es.

»Auf baldiges Wiedersehen, tralala!« rief sie lustig und rollte das Deck der Arche entlang und die Leiter hoch. Oben angelangt, drehte sie sich noch einmal um und winkte Mary Poppins ruckhaft zu. Dann sprang sie mit einem hölzernen Klappern von der Leiter und verschwand im Inneren der Arche.

»Onkel Dodger! Mach voran! Laß mich nicht warten!« klang es dünn zurück.

»Ich komme ja schon, meine Liebe, ich komme schon! Verzeihung!« Onkel Dodger rollte, Mary Poppins im Vorübereilen die Hand schüttelnd, zum Deck. Der hölzerne Kuckuck starrte von seinem belaubten Zweig hinter ihm her. Onkel Dodger warf ihm einen liebevoll-traurigen Blick zu. Dann hob sich seine flache Scheibe in die Luft und widerhallte hölzern, als er drinnen landete. Das Dach flog herab und schnappte ein.

»Weiterfahren!« ertönte von drinnen Nelly Rubinas schriller Befehl. Mary Poppins trat einige Schritte vor und löste das Haltetau vom Baum. Im Nu wurde es durch eines der Fenster eingezogen.

»Macht Platz, bitte, ihr da! Macht Platz!« rief Nelly Rubina. Schleunigst zog sich Mary Poppins zurück.

Michael kniff Jane aufgeregt in den Arm.

»Da ziehn sie hin!« rief er, als die Arche sich von ihrem Standort löste und schwerfällig über den Schnee glitt. Dann begann sie zu steigen; wie betrunken taumelte sie zwischen den Bäumen. Schließlich gewann sie ihr Gleichgewicht, schwebte leicht empor und trieb fort.

Aus einem der Fenster winkte ruckhaft ein Arm, doch bevor Jane und Michael sich darüber klarwerden konnten, ob er Nelly Rubina oder Onkel Dodger gehörte, glitt die Arche in die sternhelle Luft, und eine Ecke des Hauses verbarg sie vor ihren Augen.

Ein Weilchen blieb Mary Poppins noch beim Parktor stehen und winkte mit ihren wollenen Handschuhen.

Dann eilte sie über die Straße und über den Gartenweg. Der Haustürschlüssel drehte sich wieder im Schloß. Unter einem vorsichtigen Schritt knackten die Treppenstufen.

»Rasch wieder ins Bett!« sagte Jane. »Sie darf uns hier nicht finden.«

Herunter von der Fensterbank und hinüber ins Schlafzimmer! Mit einem Plumps landeten sie in ihren Betten. Sie hatten gerade noch Zeit, sich die Decken über den Kopf zu ziehen, da öffnete Mary Poppins schon leise die Tür und schlich auf Zehenspitzen herein.

Zup! Das war der Mantel, der auf seinen Haken gehängt wurde. Ra-schel-raschel! Das war ihr Hut, der in seiner Papiertüte verschwand. Aber weiter hörten sie nichts mehr. Denn bis Mary Poppins ausgezogen war und in ihr Feldbett schlüpfte, hatten sich Jane und Michael längst in ihre Decken gekuschelt und schliefen fest.

»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«

Über die Straße klang der sanfte Vogelruf.

»Hast du Worte!« rief Mister Banks beim Rasieren, »der Frühling ist da!«

Und er warf den Rasierpinsel beiseite und rannte hinaus in den Garten. Einen Blick nur warf er um sich, dann legte er den Kopf in den Nacken und formte seine Hände zu einer Trompete.

»Jane! Michael! John! Barbara!« brüllte er zu den Fenstern des Kinderzimmers hinauf, »kommt herunter! Der Schnee ist weg, und der Frühling ist da!«

Sie stolperten die Stiegen hinunter und zur Haustür hinaus und fanden draußen die ganze Straße auf den Beinen.

»Schiff ahoi!« brüllte Admiral Boom und winkte mit dem Schal. »Tau und Takel! Muscheln und Krabben! Der Frühling ist da!«

»Ach!« sagte Miß Lark, die aus ihrem Gartentor gestürzt kam, »endlich ein schöner Tag! Ich habe schon daran gedacht, Andy und Willibald je zwei Paar Lederschuhchen zu kaufen, aber jetzt, wo der Schnee weg ist, brauchen sie wohl keine mehr!«

Bei diesen Worten sahen Andy und Willibald merklich erleichtert drein und leckten ihr die Hand aus Dankbarkeit, weil sie sie nicht so blamiert hatte.

Der Eismann fuhr gemächlich auf und ab und behielt seine Kundschaft im Auge. Auf seinem Schild stand heute:

»Der Frühling ist da!

Hurra! Hurra!

Willst du nicht 'ne Waffel kaufen,

Oder soll sie erst zerlaufen?

Hurra! Hurra!

Der Frühling, der ist da!«

Und der Straßenfeger, der heute nur einen Besen trug, kam über die Straße gewandert und blickte befriedigt von rechts nach links, so, als hätte er höchstpersönlich den schönen Tag bestellt.

Inmitten der allgemeinen Aufregung standen Jane und Michael regungslos still und hielten verwundert Umschau.

Alles glitzerte und gleißte im Sonnenlicht. Nicht ein Fleckchen Schnee war mehr zu sehen.

Überall an den Zweigen sprangen zarte lichtgrüne Knospen auf. Rings am Rand der Blumenbeete im Park zeigten sich die zarten grünen Sprossen der Himmelschlüssel, der Schneeglöckchen und der Scyllas und wollten ihre gelben, weißen und blauen Blüten entfalten. Nach einer Weile erschien auch der Parkaufseher, pflückte sich ein winziges Sträußchen und steckte es sorgsam ins Knopfloch.

Von Blume zu Blume gaukelten farbenprächtige Schmetterlinge auf sanften Flügeln, und in den Bäumen sangen jetzt Drosseln, Meisen, Schwalben und Finken und bauten ihre Nester.

Eine Schafherde, gefolgt von wolligen Lämmchen, zog blökend vorüber.

Und aus den Wipfeln des Eschenbaumes neben dem Parktor ertönte der klare Doppelruf:

»Kuckuck! Kuckuck!«

Michael wandte sich Jane zu. Seine Augen leuchteten.

»Das also haben sie gestern gemacht, Nelly Rubina, Onkel Dodger und Mary Poppins!«

Jane nickte und blickte bewundernd umher.

Zwischen dem lichtgrünen Schimmer der Knospen wiegte sich auf einem Eschenzweig ein grauer Vogelleib.

»Kuckuck! Kuckuck!«

»Aber ich dachte, die wären alle aus angemaltem Holz!« sagte Michael. »Glaubst du, die sind über Nacht lebendig geworden?«

»Vielleicht«, sagte Jane.

»Kuckuck! Kuckuck!«

Jane nahm Michael an der Hand, und als ahnte er, was sie vorhatte, rannte er mit ihr durch den Garten, über die Straße und hinein in den Park.

»Hallo! Wo wollt ihr hin, ihr beiden?« rief Mister Banks.

»Ahoi, Meßmaaten!« brüllte Admiral Boom.

»Ihr werdet euch verirren!« warnte Miß Lark schrill.

Der Eismann klingelte wie wild, und der Straßenfeger starrte hinter ihnen her.

Aber Jane und Michael achteten nicht darauf. Sie liefen weiter, geradeaus durch den Park, zu dem Platz unter den Bäumen, wo sie die Arche das erstemal gesehen hatten.

Keuchend langten sie an. Hier, unter den düsteren Zweigen, war es kalt und schattig, und der Schnee war noch nicht weggeschmolzen. Spähend hielten sie Ausschau; sie suchten und suchten. Aber unter den dunkelgrünen Wipfeln breitete sich nur ein großer Schneefleck aus.

»Sie ist wirklich fort!« sagte Michael nach einem Blick in die Runde. »Glaubst du, wir haben es uns bloß eingebildet, Jane?« fuhr er voller Zweifel fort. Plötzlich bückte sie sich und las etwas aus dem Schnee auf.

»Nein«, meinte sie bedächtig, »bestimmt nicht.« Sie streckte die Hand aus. In ihrer Handfläche lag ein rundes, rosafarbenes Bonbon. Laut las sie vor, was darauf stand:

»Auf Wiedersehen im nächsten Jahr, Nelly Rubina Noah.«

Michael holte einmal tief Luft.

»Die also war's! Onkel Dodger sagte zwar, sie wäre die älteste Tochter. Aber darauf wär ich nicht gekommen.«

»Sie hat den Frühling mitgebracht!« sagte Jane verträumt und blickte auf das Bonbon.

»Ich wäre euch dankbar«, sagte hinter ihnen eine Stimme, »wenn ihr sofort nach Hause frühstücken kommen wolltet!« Es war Mary Poppins.

Schuldbewußt drehten sie sich um.

»Wir wollten gerade . . .«, versuchte Michael zu erklären.

»Wollt lieber nicht«, sagte Mary Poppins scharf. Sie griff Jane über die Schulter und nahm ihr das Bonbon weg.

»Das gehört, glaube ich, mir!« bemerkte sie, steckte es in die Schürzentasche und führte sie durch den Park nach Hause.

Michael brach sich ein grünes Knospenzweiglein ab, bevor er ging. Gründlich untersuchte er es.

»Jetzt scheinen sie ganz wirklich zu sein«, meinte er.

»Vielleicht waren sie's immer«, sagte Jane.

Vom Eschenbaum herüber flötete eine spöttische Stimme:

»Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«

10. Kapitel. Das Karussell

Der Morgen war ruhig gewesen.

Mehr als einer von den Passanten im Kirschbaumweg hatte über die Hecke von Nummer siebzehn geblickt und gesagt: »Wie sonderbar! Es ist hier ja so still!«

Selbst das Haus, das sich sonst um nichts kümmerte, begann sich ungemütlich zu fühlen.

»Du meine Güte!« sagte es, auf die Stille lauschend, zu sich selbst. »Hoffentlich ist nichts passiert!«

Unten in der Küche war Mistreß Brill mit ihrer Brille auf der Nasenspitze über der Zeitung eingenickt.

Im Erdgeschoß räumten Mistreß Banks und Ellen den Wäscheschrank um und zählten die Leintücher.

Oben im Kinderzimmer deckte Mary Poppins gelassen den Frühstückstisch ab.

»Ich fühle mich heute sehr gut und lieb«, sagte Jane verträumt, während sie, auf dem Fußboden ausgestreckt, in der Sonne lag.

»Das nenne ich eine Abwechslung«, bemerkte Mary Poppins und zog die Luft hoch.

Michael nahm das letzte Stückchen Schokolade aus der Schachtel, die ihm Tante Flossie vorige Woche zu seinem sechsten Geburtstag geschenkt hatte.

Sollte er es Jane anbieten? Er überlegte! Oder den Zwillingen? Oder Mary Poppins?

Nein. Schließlich war es sein Geburtstag gewesen.

»Das letzte ist das Beste!« sagte er rasch und stopfte es in den eigenen Mund. »Ich wünschte, es wär noch mehr da!« fügte er bedauernd hinzu und blickte in die leere Schachtel.

»Alles Gute nimmt einmal ein Ende«, sagte Mary Poppins steif.

Er legte den Kopf auf die Seite und blickte zu ihr auf.

»Du nicht!« sagte er keck. »Und du bist auch was Gutes.«

Der Anflug eines geschmeichelten Lächelns spielte um ihre Mundwinkel, doch es verschwand, so rasch, wie es gekommen.

»Mag sein«, erwiderte sie. »Aber nichts dauert ewig.«

Jane fuhr hoch und blickte sich um.

Wenn nichts ewig dauerte, so hieß das, daß Mary Poppins ...

»Nichts?« fragte sie bedrückt.

»Ganz und gar nichts«, erwiderte Mary Poppins kurz.

Und als ob sie ahnte, was in Jane vorging, wandte sie sich zum Kaminsims und nahm von dort ihr großes Thermometer herunter. Dann zog sie ihren Reisesack unter dem Feldbett hervor und steckte das Thermometer hinein.

Schnell setzte Jane sich hoch.

»Mary Poppins, warum tust du das?«

Mary Poppins warf ihr einen seltsamen Blick zu.

»Weil ich gelernt habe, ordentlich zu sein«, sagte sie pedantisch und schob den Reisesack wieder unter das Bett.

Jane seufzte. Sie fühlte sich bedrückt, und das Herz wurde ihr schwer.

»Mir wird so traurig und ängstlich zumute«, flüsterte sie Michael zu.

»Wahrscheinlich hast du zuviel Pudding gegessen!« gab er zurück.

»Nein, das ist es nicht. ..«, begann sie, brach aber plötzlich ab, denn es hatte an die Tür geklopft.

»Herein!« rief Mary Poppins.

Draußen stand Robertson Ay und gähnte.

»Wissen Sie's schon?« fragte er schläfrig.

»Nein, was denn?«

»Im Park ist ein Karussell!«

»Das ist mir nichts Neues!« sagte Mary Poppins kurz.

»Ein Rummel?« schrie Michael aufgeregt. »Mit Luftschaukel und Achterbahn?«

»Nein«, sagte Robertson Ay und schüttelte feierlich den Kopf. »Nur ein Karussell, sonst nichts. Letzte Nacht angekommen. Nahm an, es würde euch interessieren.«

Gemächlich schlurfte er zur Tür hinaus und schloß sie hinter sich.

Jane sprang auf die Füße; ihre Ängste waren vergessen.

»Oh, Mary Poppins, dürfen wir hin?«

»Sag ja, Mary Poppins, sag ja!« schrie Michael und tanzte um sie herum. Sie wandte sich ihnen zu; auf ihrem Arm balancierte sie ein Tablett mit Tellern und Tassen.

»Ich gehe«, sagte sie ruhig. »Denn ich habe das Geld dazu. Wie es bei euch damit steht, weiß ich nicht.«

»Ich habe sechs Pence in der Sparbüchse!« erklärte Jane eifrig.

»Ach, Jane, leih mir zwei Pence!« bat Michael. Er hatte gestern sein ganzes Geld für eine Lakritzenstange ausgegeben.

Gespannt blickten sie auf Mary Poppins, wie sie sich wohl entscheiden würde.

»Hier in diesem Kinderzimmer wird weder geborgt noch verliehen, das bitt ich mir aus«, sagte sie scharf. »Ich zahle jedem von euch eine Fahrt. Und mehr als eine gibt es nicht.« Damit rauschte sie, das Tablett auf dem Arm, aus dem Zimmer.

Verdutzt blickten die Kinder sich an.

»Was ist denn nun los?« sagte Michael. Jetzt fühlte er sich beunruhigt. »Sie hat doch noch nie für jemanden bezahlt!«

»Ist dir nicht gut, Mary Poppins?« erkundigte er sich verlegen, als sie eilig zurückkam.

»Hab mich nie besser gefühlt!« erwiderte sie und warf den Kopf in den Nacken. »Ich wäre dir dankbar, wenn du nicht an mir herumschnüffeln würdest wie an einer Wachsfigur! Geh lieber und mach dich fertig!«

Dabei sah sie so streng aus wie immer, ihre Augen leuchteten so strahlend blau wie stets, und die Art, wie sie sprach, war ihnen so wohlvertraut, daß all ihre Ängste verflogen und sie mit lautem Geschrei davonliefen, um ihre Hüte zu holen.

Kurz darauf wurde die Ruhe des Hauses gestört; Türen schlugen zu, rufende Stimmen wurden laut, trappelnde Füße jagten die Treppe hinab.

»Du meine Güte! Du meine Güte! Was für eine Erleichterung! Ich war schon ganz unruhig«, sagte das Haus zu sich selbst und lauschte.

Vor dem Spiegel in der Halle blieb Mary Poppins einen Augenblick stehen, um sich einen wohlgefälligen Blick zuzuwerfen.

»Ach, komm schon, Mary Poppins! Du siehst ganz ordentlich aus!« mahnte Michael ungeduldig.

Sie fuhr auf dem Absatz herum. Ihr Gesicht drückte gleichzeitig Ärger, Gekränktsein und Erstaunen aus.

>Ganz ordentlich<, so etwas! Das dürfte wohl kaum das richtige Wort sein. >Ganz ordentlich<, in ihrem grünen Jackett mit den Silberknöpfen! >Ganz ordentlich< mit der goldenen Medaillonkette um den Hals! >Ganz ordentlich< mit dem papageienköpfigen Schirm unterm Arm!

Mary Poppins schnaubte. »Das reicht!« sagte sie kurz. In Wirklichkeit aber war sie der Meinung, daß es keineswegs reichte.

Michael war viel zu aufgeregt, um so etwas zu bemerken.

»Vorwärts, Jane!« rief er und hüpfte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Ich kann einfach nicht mehr warten! Mach schon!«

Während Mary Poppins noch die Zwillinge im Kinderwagen verstaute, rannten sie schon voraus. Gleich darauf flog das Gartentor hinter ihnen zu, und sie waren auf dem Weg zum Karussell.

Verlorene Töne einer Drehorgelmusik drangen durch den Park bis zu ihnen, ein Brummen und Summen wie von einem Brummkreisel.

»Guten Tag, wie geht es uns heute?« Miß Lark, die mit ihren beiden Hunden die Straße entlangeilte, begrüßte sie mit ihrer hohen Stimme.

Aber bevor die Kinder noch Zeit zu einer Antwort fanden, fuhr sie schon fort: »Wahrscheinlich auch zum Karussell, wie? Andy und Willibald und ich waren gerade dort. Ein sehr vornehmes Unternehmen. So hübsch und sauber. Und so ein höfliches Personal!«

Sie flatterte vorbei mit den beiden Hunden, die neben ihr herstolzierten. »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!« warf sie über die Schulter zurück, während sie um die Ecke verschwand.

»Alle Mann an die Pumpen! Ahoi, meine Lieben!«

Eine wohlbekannte Stimme erklang dröhnend aus der Richtung des Parks. Und aus dem Tor trat Admiral Boom, sehr rot im Gesicht und einen Matrosentanz hopsend.

»Johoho! Und 'ne Buddel mit Rum! Der Admiral war auf dem Karussell! Alles leerpumpen! Muscheln und Krabben! Das tut so gut wie eine lange Seereise!« brüllte er, als er die Kinder begrüßte.

»Wir wollen auch hin!« erklärte Michael aufgeregt.

»Was? Ihr auch?« Der Admiral schien ziemlich erstaunt.

»Ja, natürlich!« sagte Jane.

»Doch wohl nicht die ganze Tour?« Der Admiral warf Mary Poppins einen merkwürdigen Blick zu.

»Sie dürfen jeder einmal fahren, Sir!« erklärte sie steif.

»Ach so. Lebt wohl denn!« sagte er mit einer Stimme, die fast liebenswürdig klang. Dann warf er sich zum Erstaunen der Kinder mit einem Ruck in die Brust, legte die Hand an den Hutrand und salutierte elegant vor Mary Poppins.

»Ur-rrrrrrumph!« trompetete er in sein Taschentuch. »Hißt das Segel! Anker auf! Und fort geht's, meine Liebe!«

Er winkte mit der Hand und entfernte sich auf dem Bürgersteig, rollend, stampfend und singend:

»Jedes hübsche Mädchen

Hat für den Seemann ein Herz!«

Er sang es laut und aus heiserer Kehle.

»Warum hat er >Leb wohl< gesagt und dich >meine Liebe< genannt?« fragte Michael und drehte, während er neben Mary Poppins her lief, den Kopf nach dem Admiral zurück.

»Weil er mich für eine höchst ehrenwerte Person hält!« fuhr sie ihn an. Aber in ihren Augen zeigte sich ein sanfter und verträumter Ausdruck.

Wieder hatte Jane dieses seltsam traurige Gefühl, und das Herz zog sich ihr in der Brust zusammen.

Was könnte denn eigentlich im Gange sein? fragte sie sich insgeheim voller Unruhe. Sie legte ihre Hand auf Mary Poppins' Hand, die den Kinderwagen schob. Sie fühlte sich warm an, tröstlich und voller Zuversicht.

Wie albern ich doch bin! sagte sie beruhigt zu sich selbst. Es kann doch gar nichts geschehen.

Und sie eilte neben dem Kinderwagen her, der auf den Park zurollte.

»Halt einen Augenblick! Halt einen Augenblick!« keuchte eine Stimme hinter ihnen her.

»Ei«, sagte Michael und drehte sich um, »das ist doch Miß Törtchen!«

»Eigentlich ist sie's nicht«, sagte Miß Törtchen außer Atem. »Es ist Mistreß Kuddelmuddel!«

Errötend wandte sie sich nach Mister Kuddelmuddel um. Er stand neben ihr und lächelte ein wenig verlegen.

»Ist heut einer eurer >Zweiten Montage<?« erkundigte sich Jane. Allerdings stand er ordnungsgemäß auf den Füßen, so daß sie es nicht für wahrscheinlich hielt.

»Ach nein! Gott sei Dank nicht!« sagte er hastig. »Wir sind nur gekommen, um uns zu verab . . ., ach, guten Tag, Mary!«

»Na, Vetter Artur?«

Alles schüttelte einander die Hände.

»Wolltest du vielleicht zum Karussell gehen?« erkundigte er sich.

»Ja. Wir alle!«

»Alle?« Mister Kuddelmuddels Augenbrauen schossen hoch in die Stirn. Er schien sehr überrascht.

»Sie fahren jeder nur einmal!« sagte Mary Poppins, den Kindern zunickend. »Sitzt gefälligst still!« fuhr sie die Zwillinge an, die vor Aufregung auf ihrem Sitz herumhüpften. »Ihr seid schließlich keine Tanzmäuse!«

»Aha, ich verstehe. Und dann — steigen sie wohl ab? Na schön — leb wohl, Mary, und bon voyage!«

Mister Kuddelmuddel hob den Hut hoch über den Kopf; es wirkte sehr feierlich.

»Lebt wohl — und besten Dank, daß ihr gekommen seid!« sagte Mary Poppins mit einer graziösen Verbeugung vor Mistreß und Mister Kuddelmuddel.

»Was heißt >Bon voyage<?« fragte Michael, während er über die Schulter nach den sich entfernenden Gestalten zurückblickte. Da gingen sie hin: Mistreß Kuddelmuddel sehr rund und lockig, Mister Kuddelmuddel sehr straff und dünn.

»Gute Reise! Wozu du es nie bringen wirst, wenn du jetzt nicht weitergehst!« sagte Mary Poppins bissig. Er eilte hinter ihr her.

Die Musik war lauter geworden; das Trommeln und Dröhnen in der Luft lockte. Mary Poppins stieß den Kinderwagen fast im Laufschritt durch das Parktor. Doch da fiel ihr Auge auf eine Reihe von Bildern, die auf das Pflaster gemalt waren, und sie stand plötzlich still.

»Warum bleibt sie denn jetzt wieder stehen?« flüsterte Michael Jane ärgerlich zu. »Auf diese Art kommen wir nie hin!«

Der Pflastermaler hatte gerade in farbiger Kreide eine Reihe von Stillleben vollendet: einen Apfel, eine Pflaume, eine Birne und eine Banane. Darunter setzte er die Worte

NIMM DIR EINE!

»Ahem«, sagte Mary Poppins mit einem damenhaften Hüsteln.

Der Pflastermaler sprang auf die Füße, und Jane und Michael sahen, daß es Mary Poppins' alter Freund, der Streichholzmann, war.

»Mary! Endlich! Ich hab schon den ganzen Tag lang gewartet.«

Der Streichholzmann nahm ihre beiden Hände und blickte ihr bewundernd in die Augen.

Mary Poppins sah etwas geniert aus und doch gleichzeitig erfreut.

»Nun, Bert, wir sind auf dem Weg zum Karussell«, sagte sie errötend.

Er nickte. »Das dachte ich mir. Gehen die da mit dir?« fügte er hinzu und deutete mit dem Daumen auf die Kinder.

Mary Poppins schüttelte geheimnisvoll den Kopf.

»Nur für eine Fahrt«, sagte sie rasch.

»Oh . . .«, er schob die Lippen vor. »Ich verstehe.«

Michael staunte. Was sollten sie denn sonst beim Karussell, wenn nicht fahren, fragte er sich.

»Ein paar hübsche Bilder hast du da gemalt!« sagte Mary Poppins bewundernd und blickte auf die Früchte zu ihren Füßen.

»Bediene dich, bitte!« sagte der Streichholzmann leichthin.

Bei diesen Worten bückte sich Mary Poppins vor den erstaunten Augen der Kinder, pflückte die gemalte Pflaume vom Pflaster und biß hinein.

»Möchtest du nicht auch eine?« fragte der Streichholzmann Jane.

Sie starrte ihn aus großen Augen an. »Ja — kann ich denn das?« Es schien ihr ganz unmöglich.

»Versuch's!«

Sie beugte sich zu dem Apfel nieder, und er sprang in ihre Hand. Sie biß in die rotbäckige Hälfte. Er schmeckte sehr süß.

»Ja, wie machst du denn das?« fragte Michael und sperrte Mund und Augen auf.

»Ich bin's ja gar nicht«, sagte der Streichholzmann, »sie ist's!«

Er nickte Mary Poppins zu, die steif neben dem Kinderwagen stand. »Es geht immer nur, wenn sie in der Nähe ist, versichere ich euch!«

Dann bückte er sich, pflückte die Birne vom Pflaster und bot sie Michael an.

»Aber was bleibt dann für dich?« fragte Michael, und obwohl er die Birne sehr gern gehabt hätte, so wollte er doch nicht unhöflich sein.

»Schon recht«, sagte der Streichholzmann. »Ich kann mir ja noch eine malen!« Und mit diesen Worten pflückte er die Banane, schälte sie und verteilte sie an die Zwillinge.

Eine Welle von lieblichen Tönen drang verlockend in ihre Ohren.

»Jetzt müssen wir aber wirklich gehen, Bert!« sagte Mary Poppins eilig und versteckte den Pflaumenkern ordentlich zwischen dem Parkgitter.

»Müßt ihr, Mary?« sagte der Streichholzmann ganz niedergeschlagen. »Na, dann leb wohl, mein Liebes! Und viel Glück!«

»Aber du siehst ihn doch wieder, oder nicht?« fragte Michael, als er Mary Poppins durchs Parktor folgte.

»Vielleicht und vielleicht auch nicht!« sagte sie kurz. »Jedenfalls geht's dich nichts an!«

Jane wandte den Kopf und schaute zurück. Der Streichholzmann stand neben seiner Kreideschachtel und blickte Mary Poppins wie ein verlassener Hund nach.

»Das ist ein merkwürdiger Tag«, sagte sie und runzelte die Stirn.

Fragend sah Mary Poppins sie an.

»Wieso, bitte?«

»Na, heute sagt jedermann >leb wohl< und sieht dich dabei so sonderbar an.«

»Reden kostet ja nichts!« wies Mary Poppins sie zurecht. »Und guckt nicht auch die Katze den Kaiser an?«

Jane schwieg. Sie wußte, es hatte keinen Zweck, Mary Poppins weiter zu fragen, denn Mary Poppins erklärte nie etwas.

Sie seufzte. Und weil sie nicht genau wußte, warum eigentlich, so lief sie davon, an Michael, Mary Poppins und dem Kinderwagen vorüber, der dröhnenden Musik entgegen.

»Wart auf mich! So wart doch auf mich!« schrie Michael und rannte hinterher. Und hinter ihnen ertönte das Gerumpel und Geratter des Kinderwagens, mit dem Mary Poppins ihnen schleunigst folgte.

Da stand es, das Karussell, auf einer kleinen Lichtung zwischen den Lindenbäumen. Es war noch ganz neu, alles an ihm glänzte und gleißte, stolze Rosse wippten auf ihren messingnen Sockeln. Ein Streifenbanner flatterte von seiner Spitze, und überall war es mit goldenen Schnörkeln, silbernen Blättern und bunten Vögeln und glitzernden Sternen üppig verziert. Es war tatsächlich so prächtig, wie Miß Lark gesagt hatte, ja sogar noch prächtiger.

Das Karussell lief langsamer und stand gerade still, als sie anlangten.

Der Parkaufseher rannte diensteifrig herbei und hängte sich an eine der Messingstangen.

»Heranspaziert! Heranspaziert! Drei Pence die Fahrt«, rief er und kam sich ungeheuer wichtig vor.

»Ich weiß, auf welches Pferd ich will!« sagte Michael und rannte auf einen rot- und blaugemalten Hengst zu, auf dessen goldener Schabracke der Name >Glücksbein< stand. Er kletterte auf seinen Rücken und hielt sich an der Stange fest.

»Abfälle wegwerfen verboten! Beachtet die Vorschriften!« rief der Aufseher zerstreut, als Jane an ihm vorbeisauste.

»Ich nehme >Funkelauge<!« rief sie und kletterte auf den Rücken eines

stolzen weißen Rosses, dessen Name auf seiner roten Schabracke stand.

Dann hob Mary Poppins die Zwillinge aus dem Wagen und setzte Barbara vor Michael hin und John hinter Jane.

»Für ein, zwei, drei, vier oder fünf Pennies die Fahrt?« fragte der Karussellmann, als er das Geld einsammeln kam.

»Sechs Pence«, sagte Mary Poppins und überreichte ihm vier Sechs-pencestücke.

Den Kindern verschlug es den Atem. Noch nie hatten sie eine Karussellfahrt für sechs Pence gemacht.

»Abfälle wegwerfen verboten!« rief der Parkaufseher und ließ den Blick nicht von den Billetts in Mary Poppins' Hand.

»Kommst du nicht auch?« rief Michael zu ihr hinunter.

»Halt dich fest, bitte! Halt dich fest! Ich fahre das nächste Mal!« erwiderte sie kurz.

Aus dem Schornstein des Karussells tutete es. Die Musik setzte wieder ein. Und langsam, ganz langsam begannen die Pferde sich zu bewegen.

»Haltet euch fest, bitte!« rief Mary Poppins streng.

Sie hielten sich fest.

Die Bäume glitten an ihnen vorüber. Die Pferderücken hoben und senkten sich. Das helle Licht der untergehenden Sonne beleuchtete sie.

»Setzt euch fester in den Sattel!« ertönte Mary Poppins' Stimme von neuem. Sie setzten sich fester in den Sattel.

Jetzt glitten die Bäume immer rascher an ihnen vorbei, wirbelten um sie herum, denn das Karussell hatte seine Fahrt beschleunigt. Michael schlang seinen Arm enger um Barbara. Jane streckte die Hand nach hinten und hielt John fest. Und weiter ging's, immer rascher drehten sie sich, die Haare flatterten, und der Wind pfiff ihnen ins Gesicht. Runde um Runde legten >Glücksbein< und >Funkelauge< zurück; die Kinder auf ihrem Rücken klammerten sich fest, und der Park wippte und schaukelte, quirlte und wirbelte um sie herum.

Ihnen war, als könnte es niemals ein Ende nehmen, als gäbe es keine Zeit mehr und als wäre die Welt nichts anderes als ein kreiselndes Licht und ein Häuflein bunter Holzpferde.

Die Sonne verglomm im Westen, und Dämmerung sank herab. Aber immer noch rasten sie schneller und schneller, bis sie zuletzt Bäume und Himmel nicht mehr voneinander unterscheiden konnten. Die ganze weite Welt drehte sich um sie, dumpf summend wie ein Brummkreisel.

Nie wieder würden Jane und Michael, John und Barbara dem Mittelpunkt der Welt so nahe sein wie auf diesem wirbelnden Ritt. Und irgendwie hatten sie eine Ahnung davon. Denn: >nie wieder, nie wieder!« fühlten sie tief im Herzen, während sie durch die herabsinkende Dämmerung jagten und die Erde um sie herumsauste.

Nach einer Weile hörten die Bäume auf, wie ein verschwommener grüner Kreis auszusehen, und ihre Stämme ließen sich wieder unterscheiden. Der Himmel trennte sich von der Erde, und der Park hörte auf, sich zu drehen. Langsam, immer langsamer bewegten sich die Pferde. Und schließlich stand das Karussell still.

»Herantreten, immer herangetreten, meine Herrschaften! Drei Pence die Fahrt!« rief der Parkaufseher in einiger Entfernung.

Ganz steif von dem langen Ritt kletterten die vier Kinder von den Pferden. Aber ihre Augen leuchteten, und ihre Stimmen bebten vor Begeisterung.

»Ach, wunderbar! Wunderbar! Wunderbar!« rief Jane und blickte Mary Poppins mit funkelnden Augen an, während sie John in den Kinderwagen setzte.

»Wenn es nur immer weiter gegangen wäre!« rief Michael und setzte Barbara daneben.

Mary Poppins sah zu ihnen hinab. Ihre Augen waren merkwürdig sanft und zärtlich in der zunehmenden Dämmerung.

»Alles Gute nimmt einmal ein Ende«, sagte sie heute schon zum zweitenmal.

Dann warf sie den Kopf zurück und schaute sich nach dem Karussell um.

»Jetzt bin ich an der Reihe!« rief sie fröhlich. Gleichzeitig bückte sie sich und nahm etwas aus dem Kinderwagen.

Dann richtete sie sich wieder auf und ließ eine Weile die Augen auf den Kindern ruhen — mit diesem seltsamen Blick, der ihnen geradewegs ins Herz zu dringen schien, um zu sehen, was sie dachten.

»Michael!« sagte sie und berührte seine Wange leicht mit der Hand. »Sei lieb!«

Voller Unbehagen blickte er zu ihr empor. Warum hatte sie das gesagt? Was war denn los?

»Jane! Paß auf Michael und die Zwillinge auf!« sagte Mary Poppins. Und sie nahm Janes Hand und legte sie liebevoll auf den Griff des Kinderwagens.

»Alles einsteigen! Alles einsteigen!« rief der Karussellmann.

D i e Lichter am Karussell leuchteten auf.

Mary Poppins wandte sich um.

»Ich komme!« rief sie und winkte mit dem papageienförmigen Regenschirm. Sie stürzte sich in den finsteren Zwischenraum, der die Kinder von dem Karussell trennte.

»Mary Poppins!« rief Jane mit zitternder Stimme. Denn plötzlich — sie wußte selbst nicht, warum — hatte sie Angst.

»Mary Poppins!« schrie Michael, von Janes Furcht angesteckt.

Aber Mary Poppins achtete nicht darauf. Sie sprang graziös auf die Plattform, kletterte auf den Rücken eines Schecken namens >Caramel< und ließ sich sittsam und steif im Sattel nieder.

»Einfach oder hin und zurück?« fragte der Karussellmann.

Einen Augenblick schien sie zu schwanken. Sie blickte zu den Kindern hinüber und dann wieder auf den Karussellmann.

»Man kann nicht wissen«, sagte sie nachdenklich. »Es könnte nützlich sein. Ich nehme hin und zurück.«

Der Karussellmann zwickte ein Loch in eine grüne Fahrkarte und reichte sie Mary Poppins. Jane und Michael fiel es auf, daß sie nichts dafür bezahlte.

Wieder erklang die Musik, erst leise, dann lauter, schließlich wild und triumphierend. Langsam setzten sich die Pferde in Bewegung.

Mary Poppins, die Augen geradeaus, wurde an den Kindern vorbeigetragen. Der Papageienkopf an ihrem Schirm steckte unter ihrem Arm. Ihre vornehm behandschuhten Hände umschlossen die Messingstange. Und vor ihr, auf der Mähne des Pferdes .. .

»Michael!« schrie Jane und umklammerte seinen Arm. »Siehst du's? Sie muß ihn unter der Decke verborgen haben! Ihr Reisesack!«

Michael erstarrte.

»Glaubst du etwa . . .«, begann er flüsternd.

Jane nickte.

»Aber — sie trägt noch ihr Medaillon! Die Kette ist nicht gerissen! Ich sah es ganz deutlich!«

Hinter ihnen begannen die Zwillinge zu wimmern, aber Jane und Michael achteten nicht darauf. Voller Angst verfolgten sie mit ihren Blicken das glitzernde Kreisen der Pferde.

Das Karussell lief jetzt sehr schnell, und bald konnten die Kinder die Pferde nicht mehr unterscheiden; sie hätten nicht sagen können, welches >Glücksbein< und welches >Funkelauge< war. Vor ihnen war alles ein einziger Lichtwirbel, nur die dunkle Gestalt, sittsam und steif, kam immer wieder auf sie zu, glitt vorüber und verschwand. Wilder und immer wilder dröhnte die Musik. Schneller und immer schneller drehte sich das Karussell. Wieder einmal ritt die dunkle Gestalt auf dem Schek-ken auf sie zu. Und als sie diesmal vorüberglitt, löste sich etwas Leuchtendes und Schimmerndes von ihrem Hals, flog durch die Luft und landete vor ihren Füßen.

Jane bückte sich und hob es auf. Es war das goldene Medaillon, das lose an seiner gesprungenen Goldkette hing.

»Es ist also doch wahr!« ertönte Michaels durchdringender Schrei. »Oh, mach es auf, Jane!«

Mit zitternden Fingern drückte sie auf die Feder, und das Medaillon flog auf. Das flackernde Licht fiel auf das Glas, und vor sich sahen sie ein Bild von sich selbst, wie sie sich an eine Gestalt drängten — eine Ge-stalt mit straffem schwarzem Haar, blitzblauen Augen, leuchtendroten Wangen und einer Stupsnase wie bei einer Holländerpuppe.

»Jane, Michael, John, Barbara und Annabel Banks und Mary Poppins«, las Jane von einem kleinen Streifchen unter dem Bild ab.

»Das also war drin!« sagte Michael unglücklich, während Jane das Medaillon zuklappte und in ihre Tasche steckte. Er wußte, es blieb keine Hoffnung mehr.

Sie wandten sich wieder dem Karussell zu. Das kreisende Licht blendete sie und machte sie schwindlig. Denn jetzt flogen die Pferde noch schneller durch die Luft, und die Musik dröhnte noch lauter als bisher.

Und dann ereignete sich etwas Seltsames. Mit einer Trompetenfanfare löste sich das Karussell wirbelnd vom Erdboden. Wie eine Spindel schraubte es sich glitzernd in die Höhe, die hölzernen Pferde jagten dahin, an ihrer Spitze >Caramel< mit Mary Poppins auf dem Rücken. Der schimmernde Lichtkreis hob sich über die Bäume, und wo seine Strahlen vorüberstrichen, verwandelten sich die Blätter in Gold.

»Da fliegt sie davon!« sagte Michael.

»Ach, Mary Poppins! Mary Poppins! Komm zurück, komm zurück!« riefen sie und streckten die Arme nach ihr aus.

Aber deren Gesicht blieb abgewandt, sie blickte geradeaus, über den Kopf ihres Pferdes hinweg, und verriet durch kein Zeichen, daß sie das Rufen gehört hatte.

»Mary Poppins!« Es war ein letzter, verzweifelter Schrei.

Keine Antwort kam aus der Luft.

Inzwischen hatte das Karussell die Bäume hinter sich gelassen und wirbelte zu den Sternen empor. Immer weiter entfernte es sich, immer weiter, es wurde kleiner und kleiner, bis die Gestalt Mary Poppins' nur noch ein dunkler Fleck in einem Lichtkranz war. Immer höher schraubte sich das Karussell in den Himmel, das Mary Poppins entführte. Und schließlich war es nur noch ein winziger, funkelnder Punkt, ein wenig größer als ein Stern, aber sonst kaum noch von einem solchen zu unterscheiden.

Michael schluchzte und tastete nach seinem Taschentuch.

»Ich hab einen ganz steifen Hals«, sagte er, um das Schluchzen zu erklären. Aber als Jane nicht hinsah, wischte er sich eilig die Augen.

Jane, die immer noch den leuchtenden, kreiselnden Punkt verfolgte, stieß einen Seufzer aus. Dann wandte sie sich ab.

»Wir müssen nach Hause«, sagte sie matt, denn sie erinnerte sich, daß Mary Poppins ihr aufgetragen hatte, sich um Michael und die Zwillinge zu kümmern.

»Tretet näher, meine Herrschaften, drei Pence die Fahrt!« Der Parkaufseher, der inzwischen Papier aufgelesen und in die Körbe getan hatte, erschien wieder auf dem Schauplatz. Er blickte da hin, wo das Karussell gestanden hatte, und fuhr heftig zurück. Er sah sich um und sperrte Mund und Nase auf. Er blickte hoch, und die Augen fielen ihm fast aus dem Kopf.

»Na so was!« rief er. »Das geht doch nicht! Die eine Minute hier und in der nächsten auf und davon! Das ist gegen alle Vorschriften! Ich werde euch verklagen.« Er drohte mit den Fäusten wild in die leere Luft. »So etwas hab ich noch nicht gesehen! Nicht mal, als ich ein kleiner Junge war! Ich muß einen Bericht machen! Ich werde es dem Oberbürgermeister melden!«

Schweigend machten die Kinder kehrt. Das Karussell hatte im Gras keine Spur hinterlassen, nicht einmal eine Kerbe im Klee. Mit Ausnahme des Parkaufsehers, der rufend und armeschwenkend dastand, lag der grüne Rasen leer und verlassen.

»Sie hat eine Rückfahrkarte genommen«, sagte Michael, der langsam neben dem Kinderwagen einherschlich. »Glaubst du, das bedeutet, daß sie zurückkommen will?«

Jane dachte einen Augenblick nach. »Vielleicht. Wenn wir sie dringend genug brauchen«, sagte sie zögernd.

»Ja, vielleicht. . .«, wiederholte er mit einem Seufzer. Und dann schwieg er, bis sie wieder daheim im Kinderzimmer waren . . .

»Hört mal! Hört mal! Hört mal!«

Mister Banks kam über den Gartenweg gerannt und stürzte zur Haustür herein.

»He! Wo steckt ihr denn alle?« rief er und rannte die Treppe hinauf, immer drei Stufen auf einmal.

»Was ist denn nur los?« sagte Mistreß Banks, die ihm entgegeneilte.

»Etwas ganz Wunderbares!« rief er und riß die Tür zum Kinderzimmer auf. »Ein neuer Stern ist aufgetaucht. Ich hörte es auf dem Nachhauseweg. Der größte, der je gesehen wurde. Ich hab mir von Admiral Boom das Fernrohr ausgeliehen, um ihn zu betrachten. Kommt und seht!« Er rannte an das Fenster und hielt das Fernrohr vors Auge.

»Ja, ja!« sagte er und trat vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen.

»Da ist er! Ein Wunder! Eine Schönheit! Eine Sensation! Ein Juwel! Da, guck einmal selbst!«

Er reichte Mistreß Banks das Fernrohr.

»Kinder!« rief sie, »da ist ein neuer Stern!«

»Weiß ich . .. « , begann Michael. »Aber es ist kein richtiger Stern. Es ist.. .«

»Du weißt es? Und es ist kein Stern? Was in aller Welt meinst du denn?«

»Laß ihn. Er ist bloß albern!« sagte Mistreß Banks. »Nun, wo ist denn der Stern? Ach, ich seh schon. Sehr hübsch! Wirklich der hellste am ganzen Himmel! Möchte wissen, wo er herkommt!? Na, Kinder?«

Sie überließ das Fernrohr Jane und Michael, und als diese n un durch das Glas blickten, konnten sie alles deutlich erkennen: den Kreis mit den Holzpferden, die Messingstangen und den dunklen, nebelhaften Fleck, der immer wieder durch ihr Blickfeld huschte und verschwand.

Sie wandten sich einander zu und nickten. Sie wußten, was hinter dem dunklen, nebelhaften Fleck steckte: eine sittsame, steife Gestalt in einer grünen Jacke mit Silberknöpfen, mit einem geraden Strohhut auf dem Kopf und einem papageienköpfigen Schirm unterm Arm. Vom Himmel herab war sie gekommen, und dahin war sie zurückgekehrt. Aber das wollten Jane und Michael niemandem verraten, denn sie wußten, um Mary Poppins herum gab es Dinge, die sich nicht erklären ließen.

Es klopfte an die Tür.

»Verzeihen Sie, Madam«, sagte Mistreß Brill, die mit hochrotem Gesicht hereingestürzt kam. »Aber ich glaube, Sie müssen erfahren, daß diese Mary Poppins wieder auf und davon ist!«

»Auf und davon?« fragte Mistreß Banks ungläubig.

»Mit Sack und Pack auf und davon!« sagte Mistreß Brill triumphierend. »Ohne ein Wort und ohne Ihre Erlaubnis. Genau wie das letzte Mal! Selbst ihr Feldbett und ihr Reisesack sind verschwunden! Nicht mal ihr Postkartenalbum hat sie dagelassen zur Erinnerung. So sieht's aus!«

»Aber, aber«, sagte Mistreß Banks. »Wie unangenehm! Wie gedankenlos von ihr und wie . .. George!« Sie wandte sich an Mister Banks. »George, Mary Poppins ist wieder weg!«

»Wer? Was? Mary Poppins? Na, das macht nichts! Wir haben ja einen neuen Stern!«

»Dein neuer Stern wird unsere Kinder nicht waschen und anziehen!« sagte Mistreß Banks ärgerlich.

»Er wird die ganze Nacht durch in ihr Fenster scheinen!« rief Mister Banks glücklich. »Das ist mehr wert als Waschen und Anziehen.«

Er wandte sich wieder seinem Fernrohr zu.

»Nicht wahr, mein Wunder, meine Schönheit, meine Augenweide?« sagte er und blickte zu dem Stern empor.

Jane und Michael drängten sich eng an ihn und schauten über das Fenstersims hinweg in den Abendhimmel.

Hoch über ihnen drehte sich die riesige Spindel; leuchtend wirbelte sie durch das immer dunkler werdende Firmament; ihr Geheimnis aber behielt sie für sich, bis in alle Ewigkeit. . .