Hermann Hesses Erzählung über den Gegensatz zwischen Geist- und Sinnenmenschen und ihre produktive Vereinigung im Künstler ist eine moderne Gestaltung des Don-Juanund Casanova-Motivs. Sie ist aber auch ein Loblied der Freundschaft, voller Abenteuer in einem zeitlosen Mittelalter. Klösterlicher und städtischer Kunstbetrieb, Zigeunermädchen und Vagantenpoesie: »Alle diese Elemente deutsch-romantischer Erzählkunst vereinen sich hier in seltener Vollständigkeit« (Rolf Schneider). Jahre bevor der Nationalsozialismus die kulturellen Traditionen Deutschlands mißbrauchte, hat Hesse in diesem Roman die Idee von Deutschland und deutschem Wesen, die er seit seiner Kindheit in sich trug, dargestellt und ihr seine »Liebe gestanden, gerade weil ich alles, was heute spezifisch deutsch ist, so sehr hasse«, schrieb er 1933. Zu Hesses Lebzeiten war Narziß und Goldmund das erfolgreichste seiner Bücher. Die deutsche Gesamtauflage von 1930 bis heute beträgt mehr als zwei Millionen Exemplare. Übersetzt ist der Roman mittlerweile in dreißig Sprachen.

Hermann Hesse

Narziß und Goldmund

Erstes Kapitel   

Vor dem von Doppelsäulchen getragenen Rundbogen des Klostereinganges von Mariabronn, dicht am Wege, stand ein Kastanienbaum, ein vereinzelter Sohn des Südens, von einem Rompilger vor Zeiten mitgebracht, eine Edelkastanie mit starkem Stamm; zärtlich hing ihre runde Krone über den Weg, atmete breitbrüstig im Winde, ließ im Frühling, wenn alles ringsum schon grün war und selbst die Klosternußbäume schon ihr rötliches Junglaub trugen, noch lange auf ihre Blätter warten, trieb dann um die Zeit der kürzesten Nächte aus den Blattbüscheln die matten, weißgrünen Strahlen ihrer fremdartigen Blüten empor, die so mahnend und beklemmend herbkräftig rochen, und ließ im Oktober, wenn Obst und Wein schon geerntet war, aus der gilbenden Krone im Herbstwind die stacheligen Früchte fallen, die nicht in jedem Jahr reif wurden, um welche die Klosterbuben sich balgten und die der aus dem Welschland stammende Subprior Gregor in seiner Stube im Kaminfeuer briet. Fremd und zärtlich ließ der schöne Baum seine Krone überm Eingang zum Kloster wehen, ein zartgesinnter und leicht fröstelnder Gast aus einer anderen Zone, verwandt in geheimer Verwandtschaft mit den schlanken sandsteinernen Doppelsäulchen des Portals und dem steinernen Schmuckwerk der Fensterbogen, Gesimse und Pfeiler, geliebt von den Welschen und Lateinern, von den Einheimischen als Fremdling begafft.

Unter dem ausländischen Baume waren schon manche Generationen von Klosterschülern vorübergegangen; ihre Schreibtafeln unterm Arm, schwatzend, lachend, spielend, streitend, je nach der Jahreszeit barfuß oder beschuht, eine Blume im Mund, eine Nuß zwischen den Zähnen oder einen Schneeball in der Hand. Immer neue kamen, alle paar Jahre waren es andere Gesichter, die meisten einander ähnlich: blond und kraushaarig. Manche blieben da, wurden Novizen, wurden Mönche, bekamen das Haar geschoren, trugen Kutte und Strick, lasen in Büchern, unterwiesen die Knaben, wurden alt, starben. Andre, wenn ihre Schülerjahre vorbei waren, wurden von ihren Eltern heimgeholt, in Ritterburgen, in Kaufmanns- und Handwerkerhäuser, liefen in die Welt und trieben ihre Spiele und Gewerbe, kamen etwa einmal zu einem Besuch ins Kloster zurück, Männer geworden, brachten kleine Söhne als Schüler zu den Patres, schauten lächelnd und gedankenvoll eine Weile zum Kastanienbaum empor, verloren sich wieder. In den Zellen und Sälen des Klosters, zwischen den runden schweren Fensterbogen und den strammen Doppelsäulen aus rotem Stein wurde gelebt, gelehrt, studiert, verwaltet, regiert; vielerlei Kunst und Wissenschaft wurde hier getrieben und von einer Generation der andern vererbt, fromme und weltliche, helle und dunkle, Bücher wurden geschrieben und kommentiert, Systeme ersonnen, Schriften der Alten gesammelt, Bilderhandschriften gemalt, des Volkes Glaube gepflegt, des Volkes Glaube belächelt. Gelehrsamkeit und Frömmigkeit, Einfalt und Verschlagenheit, Weisheit der Evangelien und Weisheit der Griechen, weiße und schwarze Magie, von allem gedieh hier etwas, für alles war Raum; es war Raum für Einsiedelei und Bußübung ebenso wie für Geselligkeit und Wohlleben; an der Person des jeweiligen Abtes und an der jeweils herrschenden Strömung der Zeit lag es, ob das eine oder das andere überwog und vorherrschte. Zuzeiten war das Kloster berühmt und besucht wegen seiner Teufelsbanner und Dämonenkenner, zuzeiten wegen seiner ausgezeichneten Musik, zuzeiten wegen eines heiligen Vaters, der Heilungen und Wunder tat, zuzeiten wegen seiner Hechtsuppen und Hirschleberpasteten, ein jedes zu seiner Zeit. Und immer war unter der Schar der Mönche und Schüler, der frommen und der lauen, der fastenden und der feisten, immer war zwischen den vielen, welche da kamen, lebten und starben, dieser und jener Einzelne und Besondere gewesen, einer, den alle liebten oder alle fürchteten, einer, der auserwählt schien, einer, von dem noch lange gesprochen wurde, wenn seine Zeitgenossen vergessen waren. Auch jetzt gab es im Kloster Mariabronn zwei Einzelne und Besondere, einen Alten und einen Jungen. Zwischen den vielen Brüdern, deren Schwärm die Dormente, Kirchen und Schulsäle erfüllte, gab es zwei, von denen jeder wußte, auf die jeder achtete. Es gab den Abt Daniel, den Alten, und den Zögling Narziß, den Jungen, der erst seit kurzem das Noviziat angetreten hatte, aber seiner besonderen Gaben wegen gegen alles Herkommen schon als Lehrer verwendet wurde, besonders im Griechischen. Diese beiden, der Abt und der Novize, hatten Geltung im Hause, waren beobachtet und weckten Neugierde, wurden bewundert und beneidet und auch heimlich gelästert.

Den Abt liebten die meisten, er hatte keine Feinde, er war voll Güte, voll Einfalt, voll Demut. Nur die Gelehrten des Klosters mischten in ihre Liebe etwas von Herablassung; denn Abt Daniel mochte ein Heiliger sein, ein Gelehrter jedoch war er nicht. Ihm war jene Einfalt eigen, welche Weisheit ist; aber sein Latein war bescheiden, und Griechisch konnte er überhaupt nicht.

Jene wenigen, welche gelegentlich die Einfalt des Abtes etwas belächelten, waren desto mehr von Narziß bezaubert, dem Wunderknaben, dem schönen Jüngling mit dem eleganten Griechisch, mit dem ritterlich tadellosen Benehmen, mit dem stillen, eindringlichen Denkerblick und den schmalen, schön und streng gezeichneten Lippen. Daß er wunderbar Griechisch konnte, liebten die Gelehrten an ihm. Daß er so edel und fein war, liebten beinahe alle an ihm, viele waren in ihn verliebt. Daß er so sehr still und beherrscht war und so höfische Manieren hatte, nahmen manche ihm übel. Abt und Novize, jeder trug auf seine Art das Schicksal des Auserwählten, herrschte auf seine Art, litt auf seine Art. Jeder der beiden fühlte sich dem andern mehr verwandt und mehr zu ihm hingezogen als zum ganzen übrigen Klostervolk; dennoch fanden sie nicht zueinander, dennoch konnte keiner beim andern warm werden. Der Abt behandelte den Jüngling mit größter Sorgfalt, mit größter Rücksicht, hatte um ihn Sorge als um einen seltenen, zarten, vielleicht allzufrüh gereiften, vielleicht gefährdeten Bruder. Der Jüngling nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt, und wenn das Urteil des Abtes über ihn richtig und sein einziges Laster der Hochmut war, so wußte er dies Laster wunderbar zu verbergen. Es war gegen ihn nichts zu sagen, er war vollkommen, er war allen überlegen. Nur wurden wenige ihm wirklich Freund, außer den Gelehrten, nur umgab seine Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft. »Narziß«, sagte der Abt nach einer Beichte zu ihm, »ich bekenne mich eines harten Urteils über dich schuldig. Ich habe dich oft für hochmütig gehalten, und vielleicht tat ich dir damit unrecht. Du bist sehr allein, junger Bruder, du bist einsam, du hast Bewunderer, aber keine Freunde. Ich wollte wohl, ich hätte Anlaß, dich zuweilen zu tadeln; aber es ist kein Anlaß. Ich wollte wohl, du wärest manchmal unartig, wie es junge Leute deines Alters sonst leicht sind. Du bist es nie. Ich sorge mich zuweilen ein wenig um dich, Narziß.« Der Junge schlug seine dunklen Augen zu dem Alten auf. »Ich wünsche sehr, gnädiger Vater, Euch keine Sorge zu machen. Es mag wohl sein, daß ich hochmütig bin, gnädiger Vater. Ich bitte Euch, mich dafür zu strafen. Ich habe selbst zuzeiten den Wunsch, mich zu strafen. Schickt mich in eine Einsiedelei, Vater, oder lasset mich niedere Dienste tun.« »Für beides bist du zu jung, lieber Bruder«, sagte der Abt. »Überdies bist du der Sprachen und des Denkens in hohem Grade fähig, mein Sohn; es wäre eine Vergeudung dieser Gottesgaben, wollte ich dir niedere Dienste auftragen. Wahrscheinlich wirst du wohl ein Lehrer und Gelehrter werden. Wünschest du dies nicht selbst?«

»Verzeiht, Vater, ich weiß über meine Wünsche nicht so sehr genau Bescheid. Ich werde stets Freude an den Wissenschaften haben, wie sollte es anders sein? Aber ich glaube nicht, daß die Wissenschaften mein einziges Gebiet sein werden. Es mögen ja nicht immer die Wünsche sein, die eines Menschen Schicksal und Sendung bestimmen, sondern anderes, Vorbestimmtes.«

Der Abt horchte und wurde ernst. Dennoch stand ein Lächeln auf seinem alten Gesicht, als er sagte: »Soviel ich die Menschen habe kennenlernen, neigen wir, zumal in der Jugend, alle ein wenig dazu, die Vorsehung und unsere Wünsche miteinander zu verwechseln. Aber sage mir, da du deine Bestimmung vorauszuwissen glaubst, ein Wort darüber. Wozu denn glaubst du bestimmt zu sein?«

Narziß schloß seine dunklen Augen halb, daß sie unter den langen schwarzen Wimpern verschwanden. Er schwieg. »Sprich, mein Sohn«, mahnte nach langem Warten der Abt. Mit leiser Stimme und gesenkten Augen begann Narziß zu sprechen.

»Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, daß ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nach Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.«

Lange schwiegen beide.

»Warum hast du diesen Glauben?« fragte zögernd der Alte. »Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem Glauben zu Wort kommt?«

»Es ist die Eigenschaft«, sagte Narziß langsam, »daß ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung der Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der andern. Diese Eigenschaft zwingt mich, den andern dadurch zu dienen, daß ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.«

»Mag sein«, nickte der Abt. »Hast du deine Fähigkeit, Menschen und ihre Schicksale zu erkennen, an Beispielen erprobt?«

»Ich habe sie erprobt.«

»Bist du bereit, mir ein Beispiel zu nennen?«

»Ich bin bereit.«

»Gut. Da ich nicht in die Geheimnisse unserer Brüder ohne deren Wissen eindringen möchte, magst du mir vielleicht sagen, was du über mich, deinen Abt Daniel, zu wissen meinst.«

Narziß hob seine Lider und blickte dem Abt in die Augen. »Ist es Euer Befehl, gnädiger Vater?«

»Mein Befehl.«

»Es fällt mir schwer, zu sprechen, Vater.«

»Auch mir fällt es schwer, junger Bruder, dich zum Sprechen zu zwingen. Ich tue es dennoch. Sprich!«

Narziß senkte den Kopf und sagte flüsternd: »Es ist wenig, was ich von Euch weiß, verehrter Vater. Ich weiß, daß Ihr ein Diener Gottes seid, dem es lieber wäre, Ziegen zu hüten oder in einer Einsiedelei das Glöckchen zu läuten und die Beichten der Bauern abzuhören, als ein großes Kloster zu regieren. Ich weiß, daß Ihr eine besondere Liebe zur heiligen Mutter Gottes habet und zu ihr am meisten betet. Ihr betet zuweilen darum, daß die griechischen und anderen Wissenschaften, die in diesem Kloster gepflegt werden, keine Verwirrung und Gefahr für die Seelen Eurer Anbefohlenen sein mögen. Ihr betet zuweilen, daß Euch gegen den Subprior Gregor die Geduld nicht verlasse. Ihr betet zuweilen um ein sanftes Ende. Und Ihr werdet, so glaube ich, erhört werden und ein sanftes Ende haben.«

Still war es in dem kleinen Sprechzimmer des Abtes. Endlich sprach der Alte.

»Du bist ein Schwärmer und hast Gesichte«, sagte der greise Herr freundlich. »Auch fromme und freundliche Gesichte können täuschen; verlaß dich nicht auf sie, wie auch ich mich nicht auf sie verlasse. – Kannst du sehen, Bruder Schwärmer, was ich über diese Sache im Herzen denke?«

»Ich kann sehen, Vater, daß Ihr sehr freundlich darüber denket. Ihr denket das Folgende: „Dieser junge Schüler ist ein wenig gefährdet, er hat Gesichte, er hat vielleicht zu viel meditiert. Ich könnte ihm vielleicht eine Buße auferlegen, sie wird ihm nicht schaden. Ich werde aber die Buße, die ich ihm auferlege, auch selbst auf mich nehmen.“ – Dies ist es, was Ihr soeben denket.«

Der Abt erhob sich. Lächelnd winkte er dem Novizen, sich zu verabschieden.

»Es ist gut«, sagte er. »Nimm deine Gesichte nicht allzu ernst, junger Bruder; Gott fordert noch manches andere von uns, als Gesichte zu haben. Nehmen wir an, du habest einem alten Manne damit geschmeichelt, daß du ihm einen leichten Tod versprachst. Nehmen wir an, der alte Mann habe einen Augenblick lang diese Versprechung gern gehört. Es ist nun genug. Du sollst einen Rosenkranz beten, morgen nach der Frühmesse, du sollst ihn mit Demut und Hingabe beten und nicht obenhin, und ich werde dasselbe tun. Geh nun, Narziß, es ist genug geredet.«

Ein andermal hatte der Abt Daniel zu schlichten zwischen dem jüngsten der lehrenden Patres und Narziß, die sich über einen Punkt im Lehrplan nicht einigen konnten: Narziß drang mit großem Eifer auf die Einführung gewisser Änderungen im Unterricht, wußte sie auch mit überzeugenden Gründen zu rechtfertigen; Pater Lorenz aber, aus einer Art von Eifersucht, wollte nicht darauf eingehen, und jeder neuen Besprechung folgten Tage eines verstimmten Schweigens und Schmollens, bis Narziß im Gefühl des Rechthabens nochmals mit der Sache anfing. Schließlich sagte Pater Lorenz, etwas gekränkt: »Nun, Narziß, wir wollen dem Streit ein Ende machen. Du weißt ja, daß die Entscheidung bei mir und nicht bei dir läge, du bist nicht mein Kollege, sondern mein Gehilfe und hast dich mir zu fügen. Aber da die Sache dir gar so wichtig scheint und da ich dir zwar an Amtsgewalt, nicht aber an Wissen und Gaben überlegen bin, will ich nicht selbst die Entscheidung treffen, sondern wir werden sie unserem Vater Abt vortragen und ihn entscheiden lassen.«

So taten sie denn, und Abt Daniel hörte den Streit der beiden Gelehrten über ihre Auffassung des Unterrichts in der Grammatik geduldig und freundlich an. Nachdem sie beide ihre Meinungen ausführlich dargelegt und begründet hatten, blickte der alte Mann sie fröhlich an, schüttelte ein wenig das greise Haupt und sprach: »Liebe Brüder, ihr glaubet ja wohl beide nicht, daß ich von diesen Sachen ebensoviel verstünde wie ihr. Es ist löblich von Narziß, daß die Schule ihm so sehr am Herzen liegt und daß er den Lehrplan zu verbessern strebt. Wenn aber sein Vorgesetzter anderer Meinung ist, so hat Narziß zu schweigen und zu gehorchen, und alle Verbesserungen der Schule wögen es nicht auf, wenn ihretwegen Ordnung und Gehorsam in diesem Haus gestört würden. Ich tadle Narziß, daß er nicht nachzugeben wußte. Und euch beiden jungen Gelehrten wünsche ich, es möge euch nie an Vorgesetzten mangeln, welche dümmer sind als ihr; nichts ist besser gegen den Hochmut.« Mit diesem gutmütigen Scherz entließ er sie. Aber er vergaß keineswegs, während der nächsten Tage ein Auge darauf zu haben, ob zwischen den beiden Lehrern wieder ein gutes Einvernehmen bestehe.

Und nun begab es sich, daß ein neues Gesicht im Kloster erschien, das so viele Gesichter kommen und gehen sah, und daß dies neue Gesicht nicht zu den unbemerkten und schnell wieder vergessenen gehörte. Es war ein Jüngling, der, schon vorlängst von seinem Vater angemeldet, an einem Frühlingstage eintraf, um in der Klosterschule zu studieren. Beim Kastanienbaum banden sie ihre Pferde an, der Jüngling und sein Vater, und aus dem Portal kam der Pförtner ihnen entgegen.

Der Knabe blickte an dem noch winterkahlen Baum empor. »Einen solchen Baum«, sagte er, »habe ich noch nie gesehen. Ein schöner, merkwürdiger Baum! Ich möchte wohl wissen, wie er heißt.«

Der Vater, ein ältlicher Herr, mit einem versorgten und etwas verkniffenen Gesicht, kümmerte sich nicht um die Worte des Jungen. Der Pförtner aber, dem der Knabe alsbald wohlgefiel, gab ihm Auskunft. Der Jüngling dankte ihm freundlich, gab ihm die Hand und sagte: »Ich heiße Goldmund und soll hier zur Schule gehen.« Freundlich lächelte der Mann ihn an und ging den Ankömmlingen voran durchs Portal und die breiten Steintreppen hinauf, und Goldmund betrat das Kloster ohne Zagen mit dem Gefühl, an diesem Ort schon zwei Wesen begegnet zu sein, denen er Freund sein konnte, dem Baum und dem Pförtner. Die Angekommenen wurden erst vom Pater Schulvorsteher, gegen Abend auch noch vom Abt selbst empfangen. An beiden Orten stellte der Vater, ein kaiserlicher Beamter, seinen Sohn Goldmund vor, und man lud ihn ein, eine Weile Gast des Hauses zu sein. Er machte jedoch nur für eine Nacht vom Gastrecht Gebrauch und erklärte, morgen zurückreisen zu müssen. Als Geschenk bot er dem Kloster das eine seiner beiden Pferde an, und die Gabe ward angenommen. Die Unterhaltung mit den geistlichen Herren verlief artig und kühl; aber sowohl der Abt wie der Pater blickte den ehrerbietig schweigenden Goldmund mit Freude an, der.hübsche zärtliche Junge gefiel ihnen sogleich. Den Vater ließen sie andern Tages ohne Bedauern wieder ziehen, den Sohn behielten sie gerne da. Goldmund wurde den Lehrern vorgestellt und bekam ein Bett im Schlafsaal der Schüler. Ehrerbietig und mit betrübtem Gesicht nahm er Abschied von seinem wegreitenden Vater, stand und blickte ihm nach, bis er zwischen Kornhaus und Mühle durch das enge Bogentor des äußeren Klosterhofes verschwand. Eine Träne hing ihm an der langen blonden Wimper, als er sich umwandte; da empfing ihn schon der Pförtner mit einem liebkosenden Schlag auf die Schulter.

»Junges Herrchen«, sagte er tröstend, »du mußt nicht traurig sein. Die meisten haben im Anfang ein klein wenig Heimweh, nach Vater, Mutter und Geschwistern. Aber du wirst schnell sehen: es läßt sich auch hier leben, und gar nicht übel.«

»Danke, Bruder Pförtner«, sagte der Junge. »Ich habe keine Geschwister und keine Mutter, ich habe bloß den Vater.«

»Dafür findest du hier Kameraden und Gelehrsamkeit und Musik und neue Spiele, die du noch nicht kennst, und dies und jenes, du wirst schon sehen. Und wenn du einen brauchst, der es gut mit dir meint, dann komm nur zu mir.«

Goldmund lächelte ihn an. »Oh, ich danke Euch sehr. Und wenn Ihr mir eine Freude machen wollet, dann zeigt mir bitte bald, wo unser Rößlein steht, das mein Vater hiergelassen hat. Ich möchte es begrüßen und sehen, ob es ihm auch gut gehe.«

Der Pförtner nahm ihn sogleich mit und führte ihn in den Pferdestall beim Kornhaus. Da roch es in lauer Dämmerung scharf nach Pferden, nach Mist und nach Gerste, und in einem der Stände fand Goldmund das braune Pferd stehen, das ihn hierhergetragen hatte. Er legte dem Tier, das ihn schon erkannt hatte und ihm den Kopf lang entgegenstreckte, beide Hände um den Hals, legte ihm die Wange an die breite, weißgefleckte Stirn, streichelte es zärtlich und flüsterte ihm Worte ins Ohr: »Grüß dich Gott, Bleß, mein Tierchen, mein Braver, geht es dir gut? Hast du mich noch lieb? Hast du auch zu fressen? Denkst du auch noch an daheim? Bleß, Rößchen, lieber Kerl, wie gut, daß du dageblieben bist, ich will oft zu dir kommen und nach dir sehen.«

Er zog aus dem Ärmelumschlag ein Stück Frühstücksbrot, das er beiseitegebracht hatte, und gab es in kleinen Brocken dem Tier zu fressen. Dann nahm er Abschied, folgte dem Pförtner über den Hof, der breit wie der Marktplatz einer großen Stadt und zum Teil mit Linden bewachsen war. Am innern Eingang dankte er dem Pförtner und gab ihm die Hand, dann merkte er, daß er den Weg zu seinem Schulsaal nicht mehr wisse, der ihm gestern gezeigt worden war, lachte ein wenig und wurde rot, bat den Pförtner, ihn zu führen, und der tat es gerne. Dann trat er in den Schulsaal, wo ein Dutzend Knaben und Jünglinge auf den Bänken saßen, und der Lehrgehilfe Narziß wendete sich um.

»Ich bin Goldmund«, sagte er, »der neue Schüler.«

Narziß grüßte kurz, ohne Lächeln, wies ihm einen Platz in der hintern Bank an und fuhr sofort in seinem Unterricht fort.

Goldmund setzte sich. Er war erstaunt darüber, einen so jungen Lehrer zu finden, kaum einige Jahre älter als er selbst, und war erstaunt und tief erfreut darüber, diesen jungen Lehrer so schön, so vornehm, so ernst, dabei so gewinnend und liebenswert zu finden. Der Pförtner war nett mit ihm gewesen, der Abt war ihm so freundlich begegnet, drüben im Stall stand Bleß und war ein Stück Heimat, und nun war da dieser erstaunlich junge Lehrer, ernst wie ein Gelehrter und fein wie ein Prinz, und mit dieser beherrschten, kühlen, sachlichen, zwingenden Stimme! Dankbar hörte er zu, ohne doch gleich zu verstehen, von was da die Rede sei. Ihm wurde wohl. Er war zu guten, zu liebenswerten Menschen gekommen, und er war bereit, sie zu lieben und um ihre Freundschaft zu werben. Am Morgen im Bett, nach dem Erwachen, hatte er sich beklommen gefühlt, und müde von der langen Reise war er auch noch, und beim Abschied von seinem Vater hatte er etwas weinen müssen. Aber jetzt war es gut, er war zufrieden. Lange und immer wieder sah er den jungen Lehrer an, freute sich an seiner straffen schlanken Gestalt, seinem kühl blitzenden Auge, seinen straffen, klar und fest die Silben formenden Lippen, an seiner beschwingten, unermüdlichen Stimme.

Aber als die Unterrichtsstunde zu Ende war und die Schüler sich lärmend erhoben, schrak Goldmund auf und merkte etwas beschämt, daß er eine ganze Weile geschlafen hatte. Und nicht er allein merkte es, auch seine Banknachbarn hatten es gesehen und flüsternd weitergemeldet. Kaum hatte der junge Lehrer den Saal verlassen, da zupften und stießen die Kameraden Goldmund von allen Seiten.

»Ausgeschlafen?« fragte einer und grinste.

»Feiner Schüler!« höhnte einer. »Aus dem wird ein schönes Kirchenlicht werden. Dachst gleich in der ersten Stunde ein!«

»Bringt ihn zu Bett, den Kleinen«, schlug einer vor, und sie ergriffen ihn an Armen und Beinen, um ihn unter Gelächter wegzutragen.

So aufgeschreckt wurde Goldmund zornig; er schlug um sich, suchte sich zu befreien, bekam Püffe und wurde schließlich fallen gelassen, während einer ihn noch an einem Fuße festhielt. Von diesem trat er sich gewaltsam los, warf sich auf den ersten besten, der sich stellte, und war alsbald mit ihm in einen heftigen Kampf verwickelt. Sein Gegner war ein starker Kerl, und alle sahen dem Zweikampf mit Begierde zu. Als Goldmund nicht unterlag und dem Starken einige gute Fausthiebe beibrachte, hatte er schon Freunde unter den Kameraden, noch ehe er einen von ihnen mit Namen kannte. Plötzlich aber stoben alle in größter Hast davon, und kaum waren sie weg, so trat der Pater Martin herein, der Schulvorsteher, und stand dem allein zurückgebliebenen Knaben gegenüber. Verwundert sah er den Knaben an, dessen blaue Augen verlegen aus dem hochgeröteten und etwas zerschlagenen Gesicht blickten.

»Ja, was ist denn mit dir?« fragte er. »Du bist doch Goldmund, nicht? Haben sie dir denn etwas getan, die Lotterbuben?«

»O nein«, sagte der Knabe, »ich bin mit ihm fertig geworden.«

»Mit wem denn?«

»Ich weiß nicht. Ich kenne noch keinen. Einer hat mit mir gekämpft.«

»So? Hat er angefangen?«

»Ich weiß nicht. Nein, ich glaube, ich habe selber angefangen. Sie haben mich gehänselt, da wurde ich böse.«

»Nun, du fängst ja gut an, mein Junge. Also merke dir: wenn du noch einmal hier im Schulzimmer Prügeleien auskämpfst, gibt es Strafe. Und jetzt mache, daß du zum Vesperbrot kommst, vorwärts!«

Lächelnd sah er Goldmund nach, wie er beschämt davonlief und unterwegs das zerzauste hellblonde Haar mit den Fingern zu strählen bemüht war.

Goldmund war selbst der Meinung, seine erste Tat in diesem Klosterleben sei recht unartig und töricht gewesen; ziemlich zerknirscht suchte und fand er seine Schulkameraden beim Vesperbrot. Aber er wurde mit Achtung und Freundlichkeit empfangen, er versöhnte sich ritterlich mit seinem Feinde und fühlte sich von Stund an wohl aufgenommen in diesem Kreise.

Zweites Kapitel

Wenn er indessen mit allen gut Freund war, einen wirklichen Freund fand er doch nicht so bald; es war keiner unter den Mitschülern, dem er sich besonders verwandt oder gar zugeneigt fühlte. Sie aber waren verwundert, in dem schneidigen Faustkämpfer, den sie geneigt waren für einen liebenswerten Raufbold zu halten, einen sehr friedfertigen Kollegen zu finden, der eher nach dem Ruhm eines Musterschülers zu streben schien. Zwei Menschen im Kloster gab es, zu denen Goldmund sein Herz hingezogen fühlte, die ihm gefielen, die seine Gedanken beschäftigten, für die er Bewunderung, Liebe und Ehrfurcht fühlte: den Abt Daniel und den Lehrgehilfen Narziß. Den Abt war er geneigt für einen Heiligen zu halten, seine Einfalt und Güte, sein klarer, sorglicher Blick, seine Art, das Befehlen und Regieren demütig als einen Dienst zu vollziehen, seine guten, stillen Gebärden, das alles zog ihn gewaltig an. Am liebsten wäre er der persönliche Diener dieses Frommen geworden, wäre immer gehorchend und dienend um ihn gewesen, hätte all seinen knabenhaften Drang nach Devotion und Hingabe ihm als beständiges Opfer dargebracht und ein reines, edles, heiligmäßiges Leben von ihm gelernt. Denn Goldmund war gesonnen, nicht nur die Klosterschule zu absolvieren, sondern womöglich ganz und für immer im Kloster zu bleiben und sein Leben Gott zu weihen; so war es sein Wille, so war es seines Vaters Wunsch und Gebot, und so war es wohl von Gott selbst bestimmt und gefordert. Niemand schien es dem schönen, strahlenden Knaben anzusehen, und doch lag eine Bürde auf ihm, eine Bürde der Herkunft, eine geheime Bestimmung zu Sühne und Opfer. Auch der Abt sah es nicht, obwohl Goldmunds Vater ihm einige Andeutungen gemacht und deutlich den Wunsch geäußert hatte, sein Sohn möge für immer hier im Kloster bleiben. Irgendein geheimer Makel schien an der Geburt Goldmunds zu haften, irgend etwas Verschwiegenes schien Sühne zu fordern. Aber der Vater hatte dem Abt nur wenig gefallen, er hatte seinen Worten und seinem ganzen etwas wichtigtuerischen Wesen höfliche Kühle entgegengestellt und seinen Andeutungen keine große Bedeutung eingeräumt.

Jener andere, der Goldmunds Liebe erweckt hatte, sah schärfer und ahnte mehr, aber er hielt sich zurück. Narziß hatte recht wohl bemerkt, welch ein holder Goldvogel ihm da zugeflogen war. Er, der in seiner Vornehmheit Vereinsamte, hatte alsbald in Goldmund den Verwandten gewittert, obwohl er in allem sein Gegenspiel zu sein schien. Wie Narziß dunkel und hager, so war Goldmund leuchtend und blühend. Wie Narziß ein Denker und Zergliederer, so schien Goldmund ein Träumer und eine kindliche Seele zu sein. Aber die Gegensätze überspannte ein Gemeinsames: beide waren sie vornehme Menschen, beide waren sie durch sichtbare Gaben und Zeichen vor den andern ausgezeichnet, und beide hatten sie vom Schicksal eine besondere Mahnung mitbekommen.

Brennend nahm Narziß an dieser jungen Seele teil, deren Art und Schicksal er bald erkannt hatte. Glühend bewunderte Goldmund seinen schönen, überlegen klugen Lehrer. Aber Goldmund war schüchtern; er fand keine andere Weise, um Narziß zu werben, als daß er sich bis zur Übermüdung bemühte, ein aufmerksamer und gelehriger Schüler zu sein. Und nicht die Schüchternheit allein hielt ihn zurück. Es hielt ihn auch zurück ein Gefühl dafür, daß Narziß eine Gefahr für ihn sei. Er konnte nicht den guten demütigen Abt zum Ideal und Vorbild haben und zugleich den überklugen, gelehrten, scharfgeistigen Narziß. Und dennoch strebte er mit allen Seelenkräften seiner Jugend beiden Idealen nach, den unvereinbaren. Oft machte ihn das leiden. Manchmal in den ersten Monaten seiner Schülerzeit fühlte Goldmund sich so im Herzen verwirrt und hin und her gerissen, daß er stark in Versuchung kam, davonzulaufen oder im Umgang mit den Kameraden seine Not und seinen inneren Zorn auszulassen. Oft wurde er, der Gutmütige, auf irgendeine kleine Hänselei oder Schülerfrechheit hin urplötzlich so aufflammend wild und böse, daß er nur mit äußerster Anstrengung sich halten und sich, mit geschlossenen Augen und leichenblaß, schweigend abwenden konnte. Dann suchte er in der Stallung das Pferd Bleß auf, lehnte den Kopf an seinen Hals, küßte es, weinte bei ihm. Und allmählich nahm sein Leiden zu und wurde bemerkbar. Seine Wangen wurden schmal, sein Blick erloschen, sein von allen geliebtes Lachen war selten geworden.

Er selbst wußte nicht, wie es um ihn stehe. Es war sein ehrlicher Wunsch und Wille, ein guter Schüler zu sein, bald ins Noviziat aufgenommen und dann ein frommer, stiller Bruder der Patres zu werden; er glaubte daran, daß alle seine Kräfte und Gaben diesem frommen sanften Ziele zustrebten, er wußte nichts von anderen Strebungen. Wie seltsam und traurig war es ihm darum, sehen zu müssen, daß dies einfache und schöne Ziel so schwer zu erreichen sei. Wie entmutigt und befremdet nahm er zuweilen tadelnswerte Neigungen und Zustände an sich wahr: Zerstreutheit und Widerwillen beim Lernen, Träumen und Phantasieren oder Schläfrigkeit während der Lektionen, Auflehnung und Abneigung gegen den Lateinlehrer, Reizbarkeit und zornige Ungeduld gegen die Mitschüler. Und das Verwirrendste war dies, daß seine Liebe zu Narziß sich so schlecht mit seiner Liebe zum Abt Daniel vertragen wollte. Dabei glaubte er manchmal mit innerster Gewißheit zu spüren, daß auch Narziß ihn liebe, daß er an ihm teilnehme und auf ihn warte. Viel mehr, als der Knabe ahnte, waren Narzissens Gedanken mit ihm beschäftigt. Er wünschte sich diesen hübschen, hellen, lieben Jungen zum Freunde, er ahnte in ihm seinen Gegenpol und seine Ergänzung, er hätte ihn an sich nehmen mögen, ihn führen, aufklären, steigern und zur Blüte bringen. Aber er hielt sich zurück. Er tat es aus vielen Beweggründen, und sie waren ihm beinahe alle bewußt. Vor allem band und hemmte ihn der Abscheu, den er gegen jene nicht seltenen Lehrer und Mönche fühlte, welche sich in Schüler oder Novizen verliebten. Oft genug hatte er selbst mit Widerwillen die begehrenden Augen älterer Männer auf sich ruhen gefühlt, oft genug war er ihren Freundlichkeiten und Hätscheleien mit stummer Abwehr begegnet. Nun verstand er sie besser – auch er sah eine Verlockung darin, den hübschen Goldmund liebzuhaben, sein holdes Lachen hervorzurufen, mit zärtlicher Hand durch sein hellblondes Haar zu streichen. Aber nie würde er das tun, niemals. Außerdem war er als Lehrgehilfe, der im Rang eines Lehrers stand, ohne doch dessen Amt und Autorität zu haben, an besondere Vorsicht und Wachsamkeit gewöhnt. Er war daran gewöhnt, den um wenige Jahre Jüngeren gegenüberzustehen, als sei er zwanzig Jahre älter, er war daran gewöhnt, sich jede Bevorzugung eines Schülers streng zu verbieten, sich gegen jeden ihm widerwärtigen Schüler zu besonderer Gerechtigkeit und Fürsorge zu zwingen. Sein Dienst war ein Dienst am Geiste, ihm war sein strenges Leben gewidmet, und nur heimlich, in seinen unbewachtesten Augenblicken, erlaubte er sich den Genuß des Hochmuts, des Besserwissens und Klügerseins. Nein, mochte die Freundschaft mit Goldmund noch so verlockend sein, sie war eine Gefahr, und den Kern seines Lebens durfte er von ihr nicht berühren lassen. Der Kern und Sinn seines Lebens war der Dienst am Geist, der Dienst am Wort, war das stille, überlegene, auf eigenen Nutzen verzichtende Führen seiner Schüler – und nicht nur seiner Schüler – zu hohen geistigen Zielen.

Ein Jahr und länger war Goldmund schon Klosterschüler in Mariabronn, hundertmal schon hatte er unter den Linden des Hofes und unter dem schönen Kastanienbaum mit den Kameraden die Schülerspiele gespielt, Laufspiele, Ballspiele, Räuberspiele, Schneeballschlachten; nun war es Frühling; aber Goldmund war müde und fühlte sich kränklich, oft tat der Kopf ihm weh, und in der Schule hatte er Mühe, sich wach und aufmerksam zu erhalten.

Da sprach eines Abends Adolf ihn an, jener Schüler, dessen erste Begegnung mit ihm damals ein Faustkampf gewesen war und mit dem er in diesem Winter den Euklid zu studieren begonnen hatte. Es war in der Stunde nach dem Abendessen, einer Freistunde, in der das Spielen in den Dormenten, das Plaudern in den Schülerstuben und auch das Spazieren im äußern Klosterhof erlaubt war.

»Goldmund«, sagte er, indem er ihn mit sich die Treppe hinabzog, »ich will dir etwas erzählen, etwas Lustiges. Aber du bist ja ein Musterknabe und willst gewiß einmal Bischof werden – gib mir zuerst dein Wort, daß du Kameradschaft halten und mich nicht bei den Lehrern angeben willst.«

Goldmund gab ohne weiteres sein Wort. Es gab eine Klosterehre, und es gab eine Schülerehre, und beide kamen zuweilen in Widerstreit, er kannte das; aber es waren, wie überall, die ungeschriebenen Gesetze stärker als die geschriebenen, und nie hätte er, solang er Schüler war, sich den Gesetzen und Ehrbegriffen der Schülerschaft entzogen. Flüsternd zog ihn Adolf zum Portal hinaus unter die Bäume. Es seien da, erzählte er, ein paar gute kühne Kameraden, zu denen er gehöre, die hätten von früheren Generationen den Brauch übernommen, je und je sich dessen zu entsinnen, daß sie ja keine Mönche seien, und für einen Abend das Kloster zu verlassen und ins Dorf zu gehen. Es sei ein Spaß und Abenteuer, dem ein ordentlicher Kerl sich nicht entziehe, in der Nacht werde man zurückkommen.

»Aber dann ist ja das Tor geschlossen«, warf Goldmund ein. Gewiß, natürlich sei es geschlossen, dies eben sei ja der Spaß bei der Sache. Man wisse aber auf geheimen Wegen unbemerkt hereinzukommen, es sei nicht das erstemal.

Goldmund erinnerte sich. Die Redensart »Ins Dorf gehen« hatte er schon gehört, man verstand darunter nächtliche Ausflüge der Zöglinge, zu allerlei geheimen Genüssen und Abenteuern, und es war vom Klostergesetz bei schwerer Strafe verboten. Er erschrak. »Ins Dorf« zu gehen, war Sünde, war verboten. Er begriff aber sehr wohl, daß es gerade darum unter »ordentlichen Kerls« zur Schülerehre gehören könne, das Gefährliche zu wagen, und daß es eine gewisse Auszeichnung bedeute, zu diesem Abenteuer aufgefordert zu werden.

Am liebsten hätte er nein gesagt und wäre zurückgelaufen und zu Bett gegangen. Er war so müde und fühlte sich so elend, den ganzen Nachmittag hatte ihm der Kopf weh getan. Aber er schämte sich ein wenig vor Adolf. Und wer weiß, vielleicht gab es da draußen, bei dem Abenteuer, irgend etwas Schönes und Neues, etwas, worüber man Kopfweh und Stumpfheit und allerlei Elend vergessen konnte. Es war ein Ausflug in die Welt, ein heimlicher und verbotener zwar, ein nicht ganz rühmlicher, aber vielleicht doch eine Befreiung, ein Erlebnis. Zögernd stand er, während Adolf auf ihn einredete, und plötzlich lachte er auf und sagte ja. Unbemerkt verlor er sich mit Adolf unter den Lindenbäumen im weiten, schon dunklen Hof, dessen äußeres Tor um diese Stunde schon verschlossen war. Der Kamerad führte ihn in die Klostermühle, wo in der Dämmerung und im stetigen Lärm der Räder es leicht war, sich ungehört und ungesehen hindurchzuschleichen. Durch ein Fenster gelangte man, schon ganz im Finstern, auf einen feuchten, schlüpfrigen Stapel von hölzernen Bohlen, deren eine man herausziehen und über den Bach legen mußte, um hinüberzukommen. Und nun war man draußen, auf der matt schimmernden Heerstraße, die in den schwarzen Wald hinein verschwand. Dies alles war erregend und geheimnisvoll und gefiel dem Knaben sehr.

Am Waldrande stand schon ein Kamerad, Konrad, und nachdem sie lange gewartet, kam noch einer dahergestapft, der große Eberhard. Zu vieren marschierten die Jünglinge durch den Wald, über ihnen rauschten Nachtvögel auf, ein paar Sterne zeigten sich hellfeucht zwischen stillen Wolken. Konrad schwatzte und machte Witze, zuweilen lachten die andern mit, dennoch schwebte ein banges und feierliches Nachtgefühl über ihnen, und ihre Herzen schlugen reger. Jenseits des Waldes, nach einer kleinen Stunde, erreichten sie das Dorf. Da schien alles schon zu schlafen, bleich schimmerten die niederen Giebel, von den dunklen Rippen des Gebälks durchwachsen, nirgends war Licht. Adolf ging voran, schleichend und schweigend umgingen sie einige Häuser, stiegen über einen Zaun, standen in einem Garten, traten in die weiche Erde von Beeten, strauchelten über Stufen, hielten vor der Wand eines Hauses. Adolf pochte an einen Laden, wartete, pochte nochmals, innen gab es Geräusch, und bald schimmerte Licht auf, der Laden öffnete sich, und einer hinterm andern stiegen sie ein, in eine Küche mit schwarzem Rauchfang und irdenem Boden. Auf dem Herd stand klein eine Öllampe, flackernd brannte auf dünnem Docht eine schwache Flamme. Ein Mädchen stand hier, eine hagere Bauernmagd, die gab den Eindringlingen die Hand, hinter ihr aus dem Dunkel trat ein zweites, ein junges Kind mit langen dunklen Zöpfen. Adolf brachte Gastgeschenke mit, einen halben Laib weißes Klosterbrot und etwas in einem papierenen Beutel, Goldmund vermutete, es sei ein wenig gestohlener Weihrauch oder Kerzenwachs oder dergleichen. Die Junge mit den Zöpfen ging hinaus, ohne Licht tastete sie sich durch die Tür, blieb lange aus und kam wieder mit einem Krug aus grauem Ton mit blauer Blume darauf, den sie Konrad reichte. Er trank daraus und gab ihn weiter, alle tranken, es war starker Apfelmost.

Im Schein der winzigen Lampenflamme ließen sie sich nieder, auf kleine steife Stabellen die beiden Mädchen, rund um sie auf dem Boden die Schüler. Es wurde flüsternd gesprochen, dazwischen Most getrunken, Adolf und Konrad führten das Wort. Zuweilen stand einer auf und streichelte der Hageren das Haar und den Nacken, flüsterte ihr ins Ohr, die Kleine blieb unberührt. Wahrscheinlich, dachte Goldmund, war die Große die Magd, die hübsche Kleine die Tochter des Hauses. Es war übrigens gleichgültig, und es ging ihn nichts an; denn er würde niemals mehr hierherkommen. Das heimliche Ausreißen und der Nachtgang durch den Wald, das war schön, das war ungewohnt, erregend, geheimnisvoll und doch nicht gefährlich. Es war zwar verboten, aber die Übertretung des Verbots belud das Gewissen nicht schwer. Das hier aber, dieser nächtliche Besuch bei den Mädchen, war mehr als nur verboten, so fühlte er, es war Sünde. Für die andern vielleicht war auch dies nur ein kleiner Seitensprung, für ihn aber nicht; für ihn, der sich zum Mönchsleben und zur Askese bestimmt wußte, war kein Spiel mit Mädchen erlaubt. Nein, er würde nie wieder mitkommen. Aber sein Herz schlug stark und bang in der Ampeldämmerung der ärmlichen Küche.

Seine Kameraden spielten vor den Mädchen die Helden und machten sich mit lateinischen Redensarten wichtig, die sie in die Unterhaltung mischten. Alle drei schienen bei der Magd in Gunst zu stehen, sie näherten sich ihr je und je mit ihren kleinen, linkischen Liebkosungen, deren zärtlichste ein scheuer Kuß war. Sie schienen genau zu wissen, was ihnen hier erlaubt sei. Und da die ganze Unterhaltung im Flüsterton geführt werden mußte, hatte die Szene eigentlich etwas Komisches, doch Goldmund empfand nicht so. Er kauerte still am Boden und blickte starr ins Flämmlein der Ampel, ohne ein Wort von sich zu geben. Zuweilen fing er mit etwas begehrlichem Seitenblick eine der Zärtlichkeiten auf, die zwischen den andern getauscht wurden. Steif blickte er vor sich hin. Am liebsten aber hätte er nichts anderes angeschaut als die Kleine mit den Zöpfen, aber gerade dies verbot er sich. Immer aber, wenn einmal sein Wille nachließ und sein Blick sich zu dem stillen süßen Mädchengesicht hinüber verirrte, fand er unfehlbar ihre dunklen Augen auf sein Gesicht geheftet, wie verzaubert starrte sie ihn an.

Eine Stunde war vielleicht vergangen – nie hatte Goldmund eine so lange Stunde erlebt –, da waren Redensarten und Zärtlichkeiten der Schüler erschöpft, es wurde still, und man saß etwas verlegen, Eberhard fing an zu gähnen. Da mahnte die Magd zum Aufbruch. Alle erhoben sich, alle gaben der Magd die Hand, Goldmund zuletzt. Dann gaben sie alle der Jungen die Hand, Goldmund zuletzt. Dann stieg Konrad voran aus dem Fenster, ihm folgten Eberhard und Adolf. Als auch Goldmund hinausstieg, fühlte er sich von einer Hand an der Schulter zurückgehalten. Er konnte nicht anhalten; erst als er draußen am Boden stand, wandte er sich zögernd um. Aus dem Fenster beugte sich die Junge mit den Zöpfen.

»Goldmund!« flüsterte sie. Er blieb stehen.

»Kommst du einmal wieder?« fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch.

Goldmund schüttelte den Kopf. Sie streckte ihre beiden Hände aus, faßte seinen Kopf, warm fühlte er die kleinen Hände an seinen Schläfen. Sie beugte sich tief herab, bis ihre dunklen Augen dicht vor den seinen waren.

»Komm wieder!« flüsterte sie, und ihr Mund berührte den seinen in einem kindlichen Kuß.

Schnell lief er den andern nach durch den kleinen Garten, taumelte über die Beete, roch feuchte Erde und Mist, riß sich die Hand an einem Rosenstrauch wund, kletterte über den Zaun und trabte den andern nach zum Dorf hinaus, dem Walde entgegen. »Niemals mehr!« sagte befehlend sein Wille. »Morgen wieder!« flehte schluchzend sein Herz.

Niemand begegnete den Nachtvögeln, unbehelligt kamen sie nach Mariabronn zurück, über den Bach, durch die Mühle, über den Lindenplatz und auf Schleichwegen über Vordächer und durch säulengeteilte Fenster ins Kloster und in den Schlafsaal.

Am Morgen mußte der lange Eberhard mit Püffen geweckt werden, so schwer war sein Schlaf. Alle waren sie rechtzeitig in der Frühmesse, bei der Morgensuppe und im Hörsaal; aber Goldmund sah schlecht aus, so schlecht, daß Pater Martin ihn fragte, ob er krank sei. Adolf warf ihm einen warnenden Blick zu, und er sagte, ihm fehle nichts. Im Griechischen aber, gegen Mittag, ließ Narziß ihn nicht aus den Augen. Auch er sah, daß Goldmund krank sei, schwieg aber und beobachtete ihn scharf. Am Ende der Lektion rief er ihn zu sich. Um die Schüler nicht aufmerksam zu machen, schickte er ihn mit einem Auftrag in die Bibliothek. Dorthin ging er ihm nach.

»Goldmund«, sagte er, »kann ich dir beistehen? Ich sehe, daß du in Not bist. Vielleicht bist du krank. Dann legen wir dich zu Bett und schicken dir eine Krankensuppe und ein Glas Wein. Du hast heut keinen Kopf fürs Griechische.«

Lange wartete er auf eine Antwort. Aus verstörten Augen sah der bleiche Knabe zu ihm her, senkte den Kopf, hob ihn wieder, zuckte mit den Lippen, wollte sprechen, konnte es nicht. Plötzlich sank er zur Seite, lehnte den Kopf auf ein Lesepult, zwischen die beiden kleinen Engelsköpfe aus Eichenholz, die das Pult einfaßten, und brach in ein solches Weinen aus, daß Narziß sich verlegen fühlte und eine Weile den Blick abwandte, ehe er den Schluchzenden anfaßte und aufhob.

»Nun ja«, sagte er freundlicher, als Goldmund ihn je hatte sprechen hören, »nun ja, amice, weine nur, es wird dir bald besser sein. So, setz dich, du brauchst nicht zu sprechen. Ich sehe, du hast genug; wahrscheinlich hast du schon den ganzen Morgen Mühe gehabt, dich aufrecht zu halten und dir nichts anmerken zu lassen, sehr brav hast du das gemacht. Weine jetzt nur, es ist das Beste, was du tun kannst. Nein? Schon fertig? Schon wieder aufrecht? Nun ja, dann gehn wir jetzt in die Krankenstube, und du legst dich ins Bett, und heut abend wird dir schon viel besser sein. Komm nur!«

Er führte ihn, unter Umgehung der Schülerstuben, in ein Krankenzimmer, wies ihm eines der beiden leeren Betten an und ging, als Goldmund sich folgsam auszukleiden begann, hinaus, um ihn beim Vorsteher krank zu melden. Er bestellte auch, wie versprochen, eine Suppe und ein Glas Krankenwein für ihn in der Speisung; diese beiden klosterüblichen beneficia waren bei den meisten Leichtkranken sehr beliebt.

Im Krankenbett lag Goldmund und suchte sich aus seiner Verwirrung zurückzufinden. Vor einer Stunde vielleicht hätte er sich klarzumachen vermocht, was ihn heute so unsäglich müde machte, was für eine tödliche Überanstrengung der Seele es war, die ihm den Kopf leer und die Augen brennen machte. Es war die gewaltsame, in jeder Minute erneute, in jeder Minute mißglückende Anstrengung, den gestrigen Abend zu vergessen – vielmehr nicht den Abend, nicht den törichten und hübschen Ausflug aus dem geschlossenen Kloster, nicht die Wanderung im Walde, noch den schlüpfrigen Notsteg über den schwarzen Mühlbach oder das Aus- und Einsteigen über Zäune, durch Fenster und Gänge, sondern einzig den Augenblick an jenem dunklen Küchenfenster, den Atem und die Worte des Mädchens, den Griff ihrer Hände, den Kuß ihrer Lippen.

Aber jetzt war noch etwas hinzugekommen, ein neuer Schreck, ein neues Erlebnis. Narziß hatte sich seiner angenommen, Narziß liebte ihn, Narziß hatte sich um ihn bemüht – er, der Feine, Vornehme, der Kluge mit dem schmalen, leicht spöttischen Munde. Und er, er hatte sich vor ihm gehen lassen, war beschämt und stammelnd und schließlich heulend vor ihm gestanden! Statt diesen Überlegenen mit den edelsten Waffen zu gewinnen, mit Griechisch, mit Philosophie, mit geistigem Heldentum und würdiger Stoa, war er schwach und jämmerlich vor ihm zusammengebrochen! Nie würde er sich das verzeihen, nie würde er ihm ohne Scham ins Auge sehen können.

Aber mit dem Weinen war die große Spannung entladen, die stille Stubeneinsamkeit, das gute Bett tat wohl, der Verzweiflung war mehr als die halbe Kraft geraubt. Nach einem Stündchen kam ein dienender Bruder herein, brachte eine Mehlsuppe, ein Stückchen Weißbrot und einen kleinen Becher roten Wein dazu, den die Schüler sonst nur an Festtagen bekamen, und Goldmund aß und trank, aß den Teller halb leer, stellte ihn weg, fing wieder zu denken an, aber es ging nicht; er holte den Teller wieder her, aß nochmals einige Löffel voll. Und als etwas später die Türe leise aufgetan wurde und Narziß hereinkam, um nach dem Kranken zu sehen, lag er und schlief und hatte schon wieder Rot auf den Wangen. Lange betrachtete ihn Narziß, mit Liebe, mit forschender Neugierde und auch mit etwas Neid. Er sah: Goldmund war nicht krank, er würde ihm morgen keinen Wein mehr zu schicken brauchen. Aber er wußte, der Bann sei gebrochen, sie würden Freunde sein. Mochte heute Goldmund es sein, der seiner bedurfte, dem er Dienste erweisen konnte. Ein andermal würde vielleicht er selbst es sein, der schwach wäre und einer Hilfe, einer Liebe bedürfte. Und von diesem Knaben würde er sie annehmen können, wenn es einmal dahin kommen sollte.

Drittes Kapitel

Eine wunderliche Freundschaft war es, welche zwischen Narziß und Goldmund begann; wenigen nur gefiel sie, und manchmal konnte es so scheinen, als mißfiele sie den beiden selbst.

Narziß, der Denker, hatte es damit zunächst am schwersten. Ihm war alles Geist, auch die Liebe; es war ihm nicht gegeben, gedankenlos sich einer Anziehung anheimzugeben. Er war in dieser Freundschaft der führende Geist, und lange Zeit war er es allein, der Schicksal, Umfang und Sinn dieser Freundschaft bewußt erkannte. Lange Zeit blieb er einsam mitten im Lieben und wußte, daß der Freund ihm erst dann wirklich angehören werde, wenn er ihn zur Erkenntnis würde geführt haben. Innig und glühend, spielend und rechenschaftslos gab Goldmund sich dem neuen Leben hin; wissend und verantwortlich nahm Narziß das hohe Schicksal an.

Für Goldmund war es zuerst eine Erlösung und Genesung. Sein junges Liebesbedürfnis war soeben, durch den Anblick und Kuß eines hübschen Mädchens, mächtig aufgeweckt und zugleich hoffnungslos zurückgeschreckt worden. Denn dies fühlte er im Innersten, daß all sein bisheriger Lebenstraum, alles, woran er glaubte, alles, wozu er sich bestimmt und berufen meinte, durch jenen Kuß im Fenster, durch den Blick jener dunklen Augen an der Wurzel gefährdet war. Vom Vater zum Mönchsleben bestimmt, mit ganzem Willen diese Bestimmung annehmend, mit der Glut erster Jugendinbrust einem frommen und asketisch-heldischen Ideal zugewandt, hatte er bei der ersten flüchtigen Begegnung, beim ersten Anruf des Lebens an seine Sinne, beim ersten Gruß des Weiblichen unweigerlich gespürt, daß hier sein Feind und Dämon stehe, daß das Weib seine Gefahr sei. Und jetzt bot ihm das Schicksal eine Rettung, jetzt kam, in der dringendsten Not, diese Freundschaft ihm entgegen und bot seinem Verlangen einen blühenden Garten, seiner Ehrfurcht einen neuen Altar. Hier war ihm zu lieben erlaubt, war ihm erlaubt, ohne Sünde sich hinzugeben, sein Herz einem bewunderten, älteren, klügeren Freunde zu schenken, die gefährlichen Flammen der Sinne in edle Opferfeuer zu verwandeln, zu vergeistigen.

Schon im ersten Frühling dieser Freundschaft aber stieß er auf wunderliche Hemmnisse, auf unerwartete, rätselhafte Kälten, auf erschreckende Forderungen. Denn ihm lag es ferne, sich seinen Freund als Widerspiel und Gegenpol zu denken. Ihm schien, es bedürfe ja nur der Liebe, nur der aufrichtigen Hingabe, um aus zweien eins zu machen, um Unterschiede auszulöschen und Gegensätze zu überbrücken. Wie herb und sicher, wie klar und unerbittlich aber war dieser Narziß! Ihm schien ein harmloses Sichhingeben, ein dankbares gemeinsames Wandern im Lande der Freundschaft unbekannt und unerwünscht zu sein. Wege ohne Ziel, träumerisches Dahinwandeln schien er nicht zu kennen, nicht zu dulden. Wohl hatte er sich, als Goldmund krank schien, um ihn besorgt gezeigt, wohl half und riet er ihm getreulich in allen Angelegenheiten der Schule und Gelehrsamkeit, erklärte ihm schwierige Stellen der Bücher, öffnete ihm Blicke ins Reich der Grammatik, der Logik, der Theologie; aber niemals schien er so recht mit dem Freunde zufrieden und einverstanden, ja oft genug schien er ihn zu belächeln und nicht ernst zu nehmen. Goldmund fühlte zwar, daß dies nicht bloße Schulmeisterei sei, nicht bloßes Wichtigtun des Älteren und Gescheiteren, daß etwas anderes dahinterstehe, etwas Tieferes, Wichtigeres. Erkennen aber konnte er dies Tiefere nicht, und so machte seine Freundschaft ihn oft traurig und ratlos.

In Wirklichkeit wußte Narziß recht wohl, was an seinem Freunde sei, er war nicht blind für seine blühende Schönheit, noch für seine naturhafte Lebenskraft und blumige Fülle. Er war keineswegs ein Schulmeister, der eine glühende junge Seele mit Griechisch füttern, eine unschuldige Liebe mit Logik beantworten wollte. Allzusehr vielmehr liebte er den blonden Jüngling, und für ihn war dies eine Gefahr; denn Lieben war für ihn kein natürlicher Zustand, sondern ein Wunder. Er durfte sich nicht verlieben, sich nicht mit dem wohligen Anschauen dieser hübschen Augen, mit der Nähe dieser blühenden lichten Blondheit begnügen, er durfte dieser Liebe nicht erlauben, auch nur einen Augenblick beim Sinnlichen zu verweilen. Denn wenn Goldmund sich zum Mönch und Asketen und zu einem lebenslangen Streben nach Heiligkeit bestimmt fühlte – Narziß war wirklich zu einem solchen Leben bestimmt. Ihm war Lieben nur in einer einzigen, der höchsten Form erlaubt. An Goldmunds Bestimmung zum Asketen aber glaubte Narziß nicht. Deutlicher als ein anderer verstand er in Menschen zu lesen, und hier, wo er liebte, las er mit gesteigerter Klarheit. Er sah Goldmunds Natur, die er trotz des Gegensatzes innigst verstand; denn sie war die andere, verlorene Hälfte seiner eigenen. Er sah diese Natur von einer harten Schale umpanzert, von Einbildungen, Erziehungsfehlern, Vaterworten, und ahnte längst das ganze, nicht komplizierte Geheimnis dieses jungen Lebens. Seine Aufgabe war ihm klar: dies Geheimnis seinem Träger zu enthüllen, ihn von der Schale zu befreien, ihm seine eigentliche Natur zurückzugeben. Es würde schwer sein, und das Schwerste daran war, daß ihm der Freund vielleicht darüber verlorengehen würde.

Unendlich langsam rückte er dem Ziele näher. Monate vergingen, ehe auch nur ein ernster Angriff, ein tiefgreifendes Gespräch zwischen beiden möglich wurde. So weit waren sie, trotz aller Freundschaft, auseinander, so weit war der Bogen zwischen beiden gespannt. Ein Sehender und ein Blinder, so gingen sie nebeneinander; daß der Blinde von seiner eigenen Blindheit nichts wußte, war nur für diesen selbst eine Erleichterung.

Die erste Bresche schlug Narziß, als er das Erlebnis zu erforschen suchte, das ihm damals den erschütterten Knaben in einer schwachen Stunde zugetrieben hatte. Die Erforschung war weniger schwierig, als er gedacht hatte. Längst fühlte Goldmund das Bedürfnis, das Erlebnis jener Nacht zu beichten; doch gab es niemanden außer dem Abt, zu dem er genug Vertrauen fühlte, und der Abt war nicht sein Beichtvater. Als nun Narziß in einer Stunde, die ihm günstig schien, den Freund an jenen ersten Beginn ihres Bundes erinnerte und sachte an das Geheimnis rührte, sagte der ohne Umschweife: »Es ist schade, daß du die Weihen noch nicht hast und noch nicht Beichte hören kannst; gern hätte ich mich von jener Sache in der Beichte befreit und gern dafür eine Strafe abgebüßt. Aber meinem Beichtvater konnte ich sie nicht sagen.«

Vorsichtig, listig grub Narziß weiter, die Fährte war gefunden. »Du erinnerst dich«, probierte er, »an jenen Morgen, wo du krank zu sein schienst; du hast ihn nicht vergessen, denn damals sind wir ja Freunde geworden. Ich habe oft daran denken müssen. Vielleicht hast du es nicht beachtet, aber ich war damals recht hilflos.«

»Du hilflos!?« rief der Freund ungläubig. »Aber der Hilflose war ja ich! Ich war es doch, der dastand und schluckte und kein Wort herausbrachte und schließlich wie ein Kind zu weinen anfing! Pfui, ich schäme mich noch heute dieser Stunde; ich glaubte, ich würde dir nie mehr vor die Augen treten können. Daß du mich so jämmerlich schwach gesehen hast!«

Tastend drang Narziß vor.

»Ich verstehe«, sagte er, »daß dir das unangenehm war. Ein so fester und tapferer Kerl wie du, und vor einem Fremden weinen, gar noch vor einem Lehrer, das paßte in der Tat nicht zu dir. Nun, damals hielt ich dich eben für krank. Wenn das Fieber ihn schüttelt, mag auch ein Aristoteles sich sonderbar benehmen. Aber dann warst du ja gar nicht krank! Es war ja gar kein Fieber! Und das ist es, wessen du dich schämtest. Niemand schämt sich, einem Fieber zu unterliegen, nicht wahr? Du schämtest dich, weil du etwas anderem erlegen warst, weil da etwas dich überwältigt hatte. War denn etwas Besonderes geschehen?«

Goldmund zögerte ein wenig, dann sagte er langsam: »Ja, es war etwas Besonderes geschehen. Laß mich annehmen, du seiest mein Beichtvater; es muß ja doch einmal gesagt sein.«

Mit gesenktem Kopf erzählte er dem Freunde die Geschichte jener Nacht.

Lächelnd sagte darauf Narziß: »Nun ja, das ‚Ins Dorf gehen’ ist in der Tat verboten. Aber man kann vieles Verbotene tun und kann darüber lachen, oder man kann es beichten, und es ist erledigt und geht einen nichts mehr an. Warum solltest du denn nicht auch einmal, wie fast jeder Schüler, diese kleinen Torheiten begehen? Ist denn das so schlimm?«

Ohne Hemmung, zornig brach nun Goldmund los: »Du sprichst wirklich wie ein Schullehrer! Du weißt ja genau, um was es sich handelt! Natürlich sehe ich keine große Sünde darin, einmal den Hausregeln ein Schnippchen zu schlagen und einen Schülerstreich mitzumachen, obwohl auch das ja nicht gerade zu den Vorübungen des Klosterlebens gehört.«

»Halt!« rief Narziß scharf. »Weißt du nicht, Freund, daß für viele fromme Väter gerade diese Vorübungen nötig waren? Weißt du nicht, daß einer der kürzesten Wege zum Leben eines Heiligen das Leben des Wüstlings sein kann?«

»Ach, rede nicht!« wehrte Goldmund ab. »Ich wollte sagen: nicht das bißchen Ungehorsam war es, das mein Gewissen belud. Es war etwas anderes. Es war das Mädchen. Es war ein Gefühl, das ich dir nicht schildern kann! Ein Gefühl, daß, wenn ich dieser Verlockung nachgäbe, wenn ich auch nur die Hand ausstreckte, um das Mädchen anzurühren, ich niemals mehr zurück könne, daß mich dann die Sünde wie ein Höllenschlund einschlucken und nie mehr herausgeben werde. Daß es dann mit allen schönen Träumen, mit aller Tugend, mit aller Liebe zu Gott und dem Guten ein Ende hätte.«

Narziß nickte, sehr nachdenklich.

»Die Liebe zu Gott«, sagte er langsam, die Worte suchend, »ist nicht immer eins mit der Liebe zum Guten. Ach, wenn es so einfach wäre! Was gut ist, wissen wir, es steht in den Geboten. Aber Gott ist nicht nur in den Geboten, du, sie sind nur der kleinste Teil von ihm. Du kannst bei den Geboten stehen und kannst weit von Gott weg sein.«

»Verstehst du mich denn nicht?« klagte Goldmund. »Gewiß verstehe ich dich. Du fühlst im Weib, im Geschlecht, den Inbegriff alles dessen, was du ‚Welt’ und ‚Sünde’ nennst. Aller anderen Sünden, so scheint es dir, bist du entweder gar nicht fähig, oder aber sie würden, wenn du sie begingest, dich doch nicht erdrücken, sie würden sich beichten und gutmachen lassen. Nur die eine Sünde nicht!«

»Jawohl, genau so fühle ich es.«

»Du siehst, ich verstehe dich. Du hast ja auch nicht so sehr unrecht, die Geschichte von Eva und der Schlange ist ja wahrlich keine müßige Fabel. Und doch hast du nicht recht, Lieber. Du hättest recht, wenn du der Abt Daniel wärest oder dein Taufpatron, der heilige Chrysostomus, wenn du ein Bischof oder Priester oder auch nur ein kleiner simpler Mönch wärest. Der bist du ja aber nicht. Du bist ein Schüler, und wenn du auch den Wunsch hast, für immer im Kloster zu bleiben, oder wenn dein Vater diesen Wunsch für dich hat, so hast du doch noch kein Gelübde abgelegt, noch keine Weihe erhalten. Wenn du heut oder morgen durch ein hübsches Mädchen verführt würdest und der Versuchung erlägest, so hättest du keinen Schwur gebrochen, kein Gelübde verletzt.«

»Kein geschriebenes Gelübde!« rief Goldmund in großer Erregung. »Wohl aber ein ungeschriebenes, das heiligste, das ich in mir trage. Kannst du denn nicht sehen, daß, was für viele andere gelten mag, für mich nicht gilt? Hast denn nicht auch du selber noch keine Weihe, hast noch kein Gelübde getan, und doch würdest du dir niemals erlauben, ein Weib anzurühren! Oder täusche ich mich da? Bist du gar nicht so? Bist du gar nicht der, für den ich dich hielt? Hast nicht auch du den Schwur, den du mit Worten und vor den Oberen noch nicht geleistet hast, doch längst im Herzen geleistet und fühlst dich durch ihn für immer verpflichtet? Bist du denn nicht meinesgleichen?«

»Nein, Goldmund, ich bin nicht deinesgleichen, nicht so wie du glaubst. Wohl halte auch ich ein ungesprochenes Gelübde, darin hast du recht. Aber deinesgleichen bin ich keineswegs. Ich sage dir heut ein Wort, an das wirst du einmal denken. Ich sage dir: unsere Freundschaft hat überhaupt kein anderes Ziel und keinen anderen Sinn, als dir zu zeigen, wie vollkommen ungleich du mir bist!«

Betroffen blieb Goldmund stehen; Narziß hatte mit dem Blick und Ton gesprochen, dem nicht zu widerstehen war. Er schwieg. Aber warum sagte Narziß solche Worte? Warum sollte Narzissens ungesprochenes Gelübde heiliger sein als seines? Nahm er ihn überhaupt nicht ernst, sah er bloß ein Kind in ihm? Die Verwirrungen und Traurigkeiten dieser sonderbaren Freundschaft begannen von neuem.

Narziß war nicht mehr im Zweifel über die Natur von Goldmunds Geheimnis. Es war Eva, es war die Urmutter, die dahinterstand. Wie aber war es möglich, daß in einem so schönen, so gesunden, so blühenden Jüngling das erwachende Geschlecht auf so erbitterte Feindschaft stieß? Es mußte ein Dämon am Werke gewesen sein, ein heimlicher Feind, dem es gelungen war, diesen herrlichen Menschen in sich zu spalten und mit seinen Urtrieben zu entzweien. Gut, der Dämon mußte gefunden, mußte beschworen und sichtbar gemacht werden, dann war er zu besiegen.

Inzwischen war Goldmund von den Kameraden mehr und mehr gemieden und im Stich gelassen worden, vielmehr sie fühlten sich von ihm im Stich gelassen und gewissermaßen verraten. Niemand sah seine Freundschaft mit Narziß gerne. Die Hämischen brachten sie als naturwidrig in Verruf, namentlich jene, welche selbst in einen der beiden Jünglinge verliebt gewesen waren. Aber auch die andern, denen es einleuchtete, daß hier kein Laster zu beargwöhnen sei, schüttelten die Köpfe. Niemand gönnte diese beiden Menschen einander; durch ihren Zusammenschluß hatten sie, so schien es, sich hochmütig als Aristokraten von den andern abgesondert, die ihnen nicht gut genug waren; das war nicht kollegial, war nicht klösterlich, war nicht christlich.

Dem Abt Daniel kam manches über die beiden zu Ohren, Gerüchte, Anklagen, Verleumdungen. Viele Jünglingsfreundschaften hatte er in mehr als vierzig Jahren Klosterlebens mit angesehen, sie gehörten ins Bild des Klosters, sie waren eine hübsche Zugabe, waren zuweilen ein Spaß, waren zuweilen eine Gefahr. Er hielt sich zurück, er hielt die Augen offen, ohne sich einzumischen. Eine Freundschaft von solcher Heftigkeit und Ausschließlichkeit war etwas Seltenes, sie war ohne Zweifel etwas nicht Ungefährliches; aber da er an ihrer Reinheit keinen Augenblick zweifelte, ließ er der Sache ihren Lauf. Wäre Narziß nicht in einer Ausnahmestellung zwischen Schülern und Lehrern gewesen, so hätte der Abt nicht gezögert, einige trennende Verordnungen zwischen die beiden zu legen. Es war für Goldmund nicht gut, daß er sich von den Mitschülern zurückzog und einzig mit einem Älteren, einem Lehrer, nahen Umgang pflegte. Aber durfte man Narziß, den Ungewöhnlichen, Hochbegabten, den von allen Lehrern als geistig ihresgleichen, ja als überlegen Betrachteten, in seiner bevorzugten Laufbahn stören und der Lehrtätigkeit wieder entheben? Hätte Narziß sich als Lehrer nicht bewährt, hätte seine Freundschaft ihn zu Nachlässigkeit und Parteilichkeit verführt, er hätte ihn sofort abberufen. Aber es lag nichts gegen ihn vor, nichts als Gerüchte, nichts als eifersüchtiges Mißtrauen der andern. Außerdem wußte der Abt von Narzissens besonderen Gaben, von seiner merkwürdig eindringenden, vielleicht etwas anmaßenden Menschenkenntnis. Er überschätzte solche Gaben nicht, andere Gaben wären ihm an Narziß willkommener gewesen; aber er zweifelte nicht, daß Narziß an dem Schüler Goldmund Besonderes wahrgenommen habe und ihn weit besser kenne, als er oder irgendein anderer ihn kannte. Ihm selbst, dem Abt, war an Goldmund außer der gewinnenden Anmut seines Wesens nichts anderes aufgefallen als ein gewisser verfrühter, sogar etwas altkluger Eifer, mit dem er schon jetzt, als bloßer Schüler und Gast, sich im Kloster als zugehörig und schon beinahe als Mitbruder zu fühlen schien. Daß Narziß diesen rührenden, aber unreifen Eifer begünstigen und noch mehr anstacheln werde, glaubte er nicht befürchten zu müssen. Zu fürchten für Goldmund war eher, daß sein Freund ihn mit einem gewissen Geistdünkel und gelehrten Hochmut anstecken werde; aber die Gefahr schien ihm gerade für diesen Schüler nicht groß zu sein; man konnte es darauf ankommen lassen. Wenn er daran dachte, wieviel einfacher, friedlicher und bequemer es für einen Vorsteher sei, Durchschnittsmenschen statt großer und starker Naturen zu regieren, so mußte er zugleich seufzen und lächeln. Nein, er wollte sich nicht vom Mißtrauen anstecken lassen, er wollte nicht undankbar dafür sein, daß ihm zwei Ausnahmemenschen anvertraut waren.

Narziß dachte viel über seinen Freund nach. Sein besonderes Vermögen, die Artung und Bestimmung der Menschen zu schauen und fühlend zu erkennen, hatte ihm über Goldmund längst Bescheid gesagt. Alles Lebendige und Strahlende an diesem Jüngling sprach so deutlich: er trug alle Zeichen eines starken, in den Sinnen und der Seele reich begabten Menschen, eines Künstlers vielleicht, jedenfalls aber eines Menschen von großer Liebeskraft, dessen Bestimmung und Glück darin bestand, entzündbar zu sein und sich hingeben zu können. Warum war nun dieser Liebesmensch, dieser Mensch mit den feinen, reichen Sinnen, der einen Blumenduft, eine Morgensonne, ein Pferd, einen Vogelflug, eine Musik so tief erleben und lieben konnte, warum nur war er darauf versessen, ein Geistmensch und Asket zu sein? Viel grübelte Narziß, darüber nach. Er wußte, daß Goldmunds Vater diese Versessenheit begünstigt hatte. Aber konnte er sie hervorgebracht haben? Mit welchem Zauber hatte er den Sohn verhext, daß er an eine solche Bestimmung und Pflicht glaubte? Was für ein Mensch mochte dieser Vater sein? Obwohl er absichtlich sehr oft die Rede auf ihn gebracht und Goldmund nicht wenig von ihm gesprochen hatte, konnte Narziß sich doch diesen Vater nicht vorstellen, er konnte ihn nicht sehen. War das nicht merkwürdig und verdächtig? Wenn Goldmund von einer Forelle sprach, die er als Knabe gefangen hatte, wenn er einen Schmetterling beschrieb, einen Vogelruf nachahmte, von einem Kameraden, einem Hund oder einem Bettler erzählte, dann entstanden Bilder, dann sah man etwas. Wenn er von seinem Vater sprach, dann sah man nichts. Nein, wäre dieser Vater wirklich in Goldmunds Leben eine so wichtige, mächtige, beherrschende Figur gewesen, er hätte ihn anders zu schildern, er hätte andere Bilder von ihm hinzustellen vermocht! Narziß dachte nicht hoch von diesem Vater, er gefiel ihm nicht; er zweifelte manchmal sogar, ob er wirklich Goldmunds Vater sei. Er war ein leerer Götze. Aber woher hatte er diese Macht? Wie hatte er Goldmunds Seele mit Träumen füllen können, die dem Kern dieser Seele so fremd waren?

Auch Goldmund grübelte viel. So sehr er der herzlichen Liebe seines Freundes sich sicher fühlte, er hatte doch immer wieder das lästige Gefühl, von ihm nicht ernst genug genommen und immer ein wenig wie ein Kind behandelt zu werden. Und was bedeutete das, daß der Freund ihm immer wieder zu verstehen gab, er sei nicht seinesgleichen? Indessen füllte dies Grübeln Goldmunds Tage nicht aus. Lange zu grübeln, das vermochte er nicht. Es gab anderes zu tun den langen Tag hindurch. Er steckte oft beim Bruder Pförtner, mit dem stand er sehr gut. Er erbettelte und erlistete sich immer einmal wieder die Gelegenheit, eine Stunde oder zwei auf dem Pferde Bleß zu reiten, und sehr beliebt war er bei den paar Umsassen des Klosters, namentlich beim Müller; oft lauerte er mit dessen Knecht dem Fischotter auf, oder sie buken Fladen aus dem feinen Prälatenmehl, das Goldmund geschlossenen Auges, nur am Geruch, aus allen Mehlarten heraus kannte. War er auch viel mit Narziß zusammen, es blieben doch manche Stunden, in denen er seinen alten Gewohnheiten und Freuden nachging. Auch die Gottesdienste waren ihm meistens eine Freude, gerne sang er im Chor der Schüler mit, gern betete er einen Rosenkranz vor einem Lieblingsaltar, hörte das schöne, feierliche Latein der Messe, sah im Weihrauchgewölk das Gold der Geräte und Zierate funkeln und die stillen, ehrwürdigen Heiligenfiguren auf den Säulen stehen, die Evangelisten mit den Tieren, den Jakobus mit Hut und Pilgertasche.

Von diesen Gestalten fühlte er sich angezogen, diese steinernen und hölzernen Figuren dachte er sich gerne in geheimnisvoller Beziehung zu seiner Person, etwa als unsterbliche allwissende Paten, Beschützer und Wegweiser seines Lebens. Ebenso spürte er eine Liebe und eine geheime holde Beziehung zu den Säulen und Kapitälen der Fenster und Türen, den Ornamenten der Altäre, zu diesen schön profilierten Stäben und Kränzen, zu diesen Blumen und krautig wuchernden Blättern, die aus dem Stein der Säulen brachen und sich so sprechend und eindringlich falteten. Es schien ihm ein wertvolles, inniges Geheimnis: daß es außer der Natur, ihren Pflanzen und Tieren noch diese zweite, stumme, von Menschen gemachte Natur gab, diese Menschen, Tiere und Pflanzen aus Stein und Holz. Nicht selten brachte er eine Freistunde damit hin, diese Figuren, Tierköpfe und Blätterbündel nachzuzeichnen, und auch wirkliche Blumen, Pferde, Menschengesichter versuchte er manchmal zu zeichnen.

Und sehr liebte er die Kirchengesänge, namentlich die Marienlieder. Er liebte den festen strengen Gang dieser Gesänge, ihre immer wiederkehrenden Anflehungen und Lobpreisungen. Er konnte ihrem ehrwürdigen Sinn anbetend folgen oder konnte auch, des Sinnes vergessend, nur die feierlichen Maße dieser Verse lieben und sich von ihnen erfüllen lassen, von den langgezogenen tiefen Tönen, von den vollen tönenden Vokalen, von den frommen Wiederholungen. Im innersten Herzen liebte er nicht die Gelehrsamkeit, nicht Grammatik und Logik, obwohl auch sie ihre Schönheit hatten, sondern mehr liebte er die Bilder- und Klangwelt der Liturgie.

Jmmer wieder unterbrach er auch für Augenblicke die zwischen ihm und den Mitschülern eingetretene Entfremdung. Auf die Dauer war es ihm ärgerlich und langweilig, von Ablehnung und Kühle umgeben zu sein; immer wieder brachte er einen mürrischen Pultnachbarn zum Lachen, einen schweigsamen Bettnachbarn zum Plaudern, gab sich eine Stunde lang Mühe, warb und war lieb und gewann ein paar Augen, ein paar Gesichter, ein paar Herzen für eine Weile; für sich zurück. Zweimal erreichte er es durch solche Annäherungen, sehr wider seine Absicht, daß er wieder aufgefordert wurde, mit »ins Dorf zu gehen«. Da erschrak er und zuckte rasch zurück. Nein, er ging nicht mehr ins Dorf, und es war ihm gelungen, das Mädchen mit den Zöpfen zu vergessen, ihrer nie mehr zu gedenken, oder doch beinahe nie mehr.

Viertes Kapitel

Lange hatten Narzissens Belagerungsversuche das Geheimnis Goldmunds uneröffnet gelassen. Lange hatte er scheinbar vergeblich sich bemüht, ihn zu erwecken, ihn die Sprache zu lehren, in der das Geheimnis mitteilbar wäre. Was der Freund ihm von seiner Herkunft und Heimat erzählt hatte, hatte kein Bild ergeben. Es war da ein schattenhafter, gestaltloser, aber verehrter Vater, und dann die Sage von einer schon vor langer Zeit verschollenen oder umgekommenen Mutter, die nur noch ein blasser Name war. Allmählich hatte Narziß, im Seelenlesen bewandert, erkannt, daß sein Freund zu den Menschen gehöre, welchen ein Stück aus ihrem Leben verlorengegangen ist, welche unter dem Druck irgendeiner Not oder Bezauberung sich dazu verstehen mußten, einen Teil ihrer Vergangenheit zu vergessen. Er sah ein, daß bloßes Befragen und Belehren hier unnütz sei; er sah auch, daß er allzusehr an die Macht der Vernunft geglaubt und viel vergebens geredet habe.

Nicht vergeblich aber war die Liebe geblieben, die ihn mit dem Freunde verband, und die Gewohnheit vielen Zusammenseins. Trotz aller tiefen Verschiedenheit ihrer Wesen hatten sie beide viel voneinander gelernt; es war zwischen ihnen neben der Vernunftsprache allmählich eine Seelen- und Zeichensprache entstanden, so wie zwischen zwei Wohnstätten zwar eine Straße sein mag, auf welcher Wagen fahren und Reiter reiten können, daneben aber noch viele kleine Spielwege, Nebenwege, Schleichwege entstehen: Wegchen für Kinder, Pfade für Verliebte, kaum bemerkbare Wege von Hund und Katze. Allmählich hatte Goldmunds beseelte Einbildungskraft auf manchen magischen Wegen sich in des Freundes Gedanken und ihre Sprache eingeschlichen, und dieser wieder hatte manches von Goldmunds Sinn und Art ohne Worte verstehen und mitfühlen gelernt. Langsam reiften, im Licht der Liebe, neue Verbindungen von Seele zu Seele, hinterher erst kamen die Worte. So kam eines Tages, von keinem erwartet, ein Gespräch zwischen den Freunden zustande, an einem schulfreien Tage in der Bibliothek – ein Gespräch, das sie mitten in den Kern und Sinn ihrer Freundschaft stellte und weithin neue Lichter warf.

Sie hatten über Astrologie gesprochen, welche im Kloster nicht getrieben wurde und verboten war, und Narziß hatte gesagt, Astrologie sei ein Versuch, in die vielen verschiedenen Arten von Menschen, Schicksalen und Bestimmungen Ordnung und System zu bringen. Hier setzte Goldmund ein: »Immer sprichst du von den Verschiedenheiten – ich habe allmählich erkannt, daß dies deine besonderste Eigenschaft ist. Wenn du von dem großen Unterschied sprichst, der zum Beispiel zwischen dir und mir bestehe, dann will mir scheinen, der Unterschied bestehe in nichts anderem als eben in deinem merkwürdigen Versessensein auf das Finden von Unterschieden!«

Narziß: »Gewiß, du triffst damit den Nagel auf den Kopf. In der Tat: dir sind die Unterschiede nicht sehr wichtig, mir aber scheinen sie das einzig Wichtige zu sein. Ich bin meinem Wesen nach Gelehrter, meine Bestimmung ist die Wissenschaft. Und Wissenschaft ist, um dein Wort zu zitieren, gar nichts anderes als eben das ‚Versessensein auf das Finden von Unterschieden’. Man könnte ihr Wesen gar nicht besser bezeichnen. Für uns Wissenschaftsmenschen ist nichts wichtig als das Feststellen von Verschiedenheiten, Wissenschaft heißt Unterscheidungskunst. Zum Beispiel an jedem Menschen die Merkmale finden, die ihn von den andern unterscheiden, heißt ihn erkennen.«

Goldmund: »Nun ja. Einer hat Bauernschuhe an und ist ein Bauer, ein anderer hat eine Krone auf und ist ein König. Das sind allerdings Unterschiede. Sie werden aber auch von den Kindern gesehen, ohne alle Wissenschaft.«

Narziß: »Wenn der Bauer und der König aber beide gleiche Kleider anhaben, dann kennt das Kind sie nicht mehr auseinander.«

Goldmund: »Die Wissenschaft auch nicht.«

Narziß: »Vielleicht doch. Sie ist ja nicht klüger als das Kind, das sei zugegeben, aber sie ist geduldiger, sie merkt sich nicht bloß die gröbsten Kennzeichen.«

Goldmund: »Das tut jedes kluge Kind auch. Es wird den König am Blick erkennen oder an der Haltung. Und kurz gesagt: ihr Gelehrte seid hochmütig, ihr haltet uns andere stets für dümmer. Man kann ohne alle Wissenschaft sehr klug sein.«

Narziß: »Es freut mich, daß du das einzusehen beginnst. Nun wirst du bald auch einsehen, daß ich nicht die Klugheit meine, wenn ich vom Unterschied zwischen dir und mir rede. Ich sage ja nicht: du bist klüger oder dümmer, besser oder schlechter. Ich sage nur: du bist anders.«

Goldmund: »Das ist leicht zu verstehen. Du sprichst aber nicht nur von Unterschieden der Merkmale, du sprichst oft auch von Unterschieden des Schicksals, der Bestimmung. Warum zum Beispiel solltest du eine andere Bestimmung haben als ich? Du bist wie ich ein Christ, du bist wie ich zum Klosterleben entschlossen, du bist wie ich ein Kind des guten Vaters im Himmel. Unser beider Ziel ist dasselbe: die ewige Seligkeit. Unsere Bestimmung ist dieselbe: die Rückkehr zu Gott.«

Narziß: »Sehr gut. Im Lehrbuch der Dogmatik ist freilich ein Mensch genau wie der andere, im Leben aber nicht. Mir scheint: der Lieblingsjünger des Erlösers, an dessen Brust er ruhte, und jener andere Jünger, der ihn verriet – die haben doch wohl beide nicht dieselbe Bestimmung gehabt?«

Goldmund: »Du bist ein Sophist, Narziß! Auf diesem Wege kommen wir einander nicht näher.«

Narziß: »Wir kommen auf keinem Wege einander näher.«

Goldmund: »Sprich nicht so!«

Narziß: »Es ist mein Ernst. Es ist nicht unsere Aufgabe, einander näherzukommen, sowenig wie Sonne und Mond zueinander kommen oder Meer und Land. Wir zwei, lieber Freund, sind Sonne und Mond, sind Meer und Land. Unser Ziel ist nicht, ineinander überzugehen, sondern einander zu erkennen und einer im andern das sehen und ehren zu lernen, was er ist: des andern Gegenstück und Ergänzung.«

Betroffen hielt Goldmund den Kopf gesenkt, sein Gesicht war traurig geworden.

Endlich sagte er: »Ist es darum, daß du meine Gedanken so oft nicht ernst nimmst?«

Narziß zauderte ein wenig mit der Antwort. Dann sagte er mit heller, harter Stimme: »Es ist darum. Du mußt dich daran gewöhnen, lieber Goldmund, daß ich nur dich selbst ernst nehme. Glaube mir, ich nehme jeden Ton deiner Stimme, jede deiner Gebärden, jedes Lächeln von dir ernst. Aber deine Gedanken, die nehme ich weniger ernst. Ich nehme an dir das ernst, was ich als wesentlich und notwendig erfinde. Warum willst du denn gerade deinen Gedanken besondere Beachtung zugewendet sehen, da du so viele andere Gaben hast?«

Goldmund lächelte bitter: »Ich sagte es ja, du hast mich immer bloß für ein Kind gehalten!«

Narziß blieb fest. »Einen Teil deiner Gedanken halte ich für Kindergedanken. Erinnere dich, wir sprachen vorher davon, daß ein kluges Kind durchaus nicht dümmer zu sein brauche als ein Gelehrter. Wenn aber das Kind über Wissenschaft mitreden will, wird der Gelehrte es eben nicht ernst nehmen.«

Heftig rief Goldmund: »Auch wenn wir nicht über Wissenschaft reden, belächelst du mich! Du tust zum Beispiel immer so, als sei meine ganze Frömmigkeit, meine Bemühungen um Fortschritte im Lernen, mein Wunsch nach dem Mönchtum bloß Kinderei!«

Ernst blickte Narziß ihn an: »Ich nehme dich ernst, wenn du Goldmund bist. Du bist aber nicht immer Goldmund. Ich wünsche mir nichts anderes, als daß du ganz und gar Goldmund würdest. Du bist kein Gelehrter, du bist kein Mönch – einen Gelehrten oder einen Mönch kann man aus geringerem Holz machen. Du glaubst, du seiest mir zu wenig gelehrt, zu wenig Logiker, oder zu wenig fromm. O nein, aber du bist mir zu wenig du selbst.«

Hatte sich auch Goldmund nach diesem Gespräch betroffen und sogar verletzt zurückgezogen, schon nach wenigen Tagen zeigte er dennoch selbst Verlangen nach seiner Fortsetzung. Diesmal nun gelang es Narziß, ihm ein Bild von den Unterschieden ihrer Naturen zu geben, das er besser annehmen konnte.

Narziß hatte sich warm geredet, er fühlte, daß Goldmund heute seine Worte offener und williger in sich einließe, daß er Macht über ihn habe. Er ließ sich durch den Erfolg verführen, mehr zu sagen, als er beabsichtigt hatte, er ließ sich von seinen eigenen Worten hinreißen.

»Schau«, sagte er, »es gibt nur einen einzigen Punkt, in dem ich dir überlegen bin: ich bin wach, während du nur halbwach bist und zuweilen völlig schläfst. Wach nenne ich den, der mit dem Verstand und Bewußtsein sich selbst, seine innersten unvernünftigen Kräfte, Triebe und Schwächen kennt und mit ihnen zu rechnen weiß. Daß du das lernst, das ist der Sinn, den die Begegnung mit mir für dich haben kann. Bei dir, Goldmund, sind Geist und Natur, Bewußtsein und Traumwelt sehr weit auseinander. Du hast deine Kindheit vergessen, aus den Tiefen deiner Seele wirbt sie um dich. Sie wird dich so lange leiden machen, bis du sie erhörst. – Genug davon! Im Wachsein, wie gesagt, bin ich stärker als du, hier bin ich dir überlegen und kann dir darum nützen. In allem andern, Lieber, bist du ja mir überlegen – vielmehr du wirst es sein, sobald du dich selbst gefunden hast.«

Goldmund hatte staunend zugehört, aber bei dem Wort »Du hast deine Kindheit vergessen« zuckte er auf wie von einem Pfeil getroffen, ohne daß Narziß es beachtete, der nach seiner Art während des Sprechens die Augen oft lange geschlossen hielt oder vor sich hinstarrte, als fände er die Worte so besser. Er sah nicht, wie Goldmunds Gesicht plötzlich zuckte und zu verwelken begann.

»Überlegen – ich dir!« stammelte Goldmund, nur um etwas zu sagen, er war wie von einer Starre befallen.

»Gewiß«, sprach Narziß weiter. »Die Naturen von deiner Art, die mit den starken und zarten Sinnen, die Beseelten, die Träumer, Dichter, Liebenden, sind uns andern, uns Geistmenschen, beinahe immer überlegen. Eure Herkunft ist eine mütterliche. Ihr lebet im Vollen, euch ist die Kraft der Liebe und des Erlebenkönnens gegeben. Wir Geistigen, obwohl wir euch andere häufig zu leiten und zu regieren scheinen, leben nicht im Vollen, wir leben in der Dürre. Euch gehört die Fülle des Lebens, euch der Saft der Früchte, euch der Garten der Liebe, das schöne Land der Kunst. Eure Heimat ist die Erde, unsere die Idee. Eure Gefahr ist das Ertrinken in der Sinnenwelt, unsere das Ersticken im luftleeren Raum. Du bist Künstler, ich bin Denker. Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Mir scheint die Sonne, dir scheinen Mond und Sterne, deine Träume sind von Mädchen, meine von Knaben …«

Mit weit offenen Augen hatte Goldmund zugehört, wie Narziß in einer gewissen rednerischen Selbstberauschung sprach. Mehrere seiner Worte hatten ihn getroffen wie Schwerter; bei den letzten Worten wurde er blaß und schloß die Augen, und als Narziß es merkte und erschrocken fragte, sagte der tief Erbleichte mit erloschener Stimme: »Es ist mir einmal passiert, daß ich vor dir zusammenbrach und weinen mußte – du erinnerst dich. Es darf nicht wieder passieren, ich würde es mir nie verzeihen – und auch dir nicht! Geh jetzt schnell fort und laß mich allein, du hast mir furchtbare Worte gesagt.«

Narziß war sehr betreten. Die Worte hatten ihn mitgerissen, er hatte das Gefühl gehabt, besser als sonst zu sprechen. Nun sah er mit Bestürzung, daß irgendeines dieser Worte den Freund tief erschüttert habe, daß er irgendwo ins Lebendige getroffen habe. Es fiel ihm schwer, ihn in diesem Augenblick allein zu lassen, er zögerte sekundenlang, Goldmunds Stirnrunzeln mahnte ihn, und verwirrt lief er davon, um dem Freunde das Alleinsein zu gönnen, dessen er bedurfte.

Diesmal löste die Überspannung in Goldmunds Seele sich nicht in Tränen auf. Mit einem Gefühl tiefsten und hoffnungslosen Verwundetseins, als habe der Freund ihm plötzlich ein Messer mitten in die Brust gestoßen, blieb er stehen, schwer atmend, mit einem tödlich zusammengepreßten Herzen, wachsbleich im Gesicht, mit abgestorbenen Händen. Es war wieder das Elend von damals, nur um einige Grade verstärkt, es war wieder das Würgen im Innern, das Gefühl, etwas Furchtbarem ms Auge sehen zu müssen, etwas schlechterdings Unerträglichem. Aber kein erlösendes Schluchzen half diesmal das Elend überstehen. Heilige Mutter Gottes, was war denn nur? War denn etwas geschehen? Hatte man ihn gemordet? Hatte er getötet? Was war da Furchtbares gesagt worden?

Keuchend stieß er den Atem von sich, wie ein Vergifteter war er bis zum Zerreißen erfüllt von dem Gefühl, sich von etwas Tödlichem befreien zu müssen, das tief in ihm innen stecke. Mit Bewegungen wie ein Schwimmender stürzte er aus der Stube, floh unbewußt in die stillsten, menschenleersten Bezirke des Klosters, durch Gänge, über Treppen, und ins Freie, an die Luft. Er war in die innerste Zuflucht des Klosters, in den Kreuzgang geraten, über den paar grünen Beeten stand klar der sonnige Himmel, durch die kühle steinerne Kellerluft zog in süßen zögernden Fäden der Duft von Rosen.

Ahnungslos hatte Narziß in dieser Stunde das getan, was zu tun schon lange sein ersehntes Ziel war: er hatte den Dämon, von dem sein Freund besessen war, bei Namen gerufen, er hatte ihn gestellt. Von irgendeinem seiner Worte war das Geheimnis in Goldmunds Herzen angerührt worden und hatte sich in rasendem Schmerz aufgebäumt. Lange irrte Narziß durchs Kloster und suchte den Freund, fand ihn aber nirgends.

Goldmund stand unter einem der runden schweren Steinbogen, die aus den Gängen ins Kreuzgärtchen führten, von den Säulen des Bogens blickten je drei Tierköpfe, steinerne Köpfe von Hunden oder Wölfen, glotzend auf ihn herab. Schauerlich wühlte in ihm die Wunde, ohne Weg zum Licht, ohne Weg zur Vernunft. Todesangst schnürte ihm Kehle und Magen. Mechanisch aufblickend sah er über sich einen der Säulenknäufe mit den drei Tierköpfen, und alsbald war ihm, als säßen, glotzten, bellten die drei wilden Köpfe innen in seinen Eingeweiden.

»Gleich muß ich sterben«, empfand er ergrausend. Und gleich darauf, zitternd vor Angst, empfand er: »Jetzt verliere ich den Verstand, jetzt fressen mich die Tiermäuler.« Zuckend sank er am Fuße der Säule nieder, der Schmerz war zu groß, er hatte die äußerste Grenze erreicht. Eine Ohnmacht umhüllte ihn; er entschwand, mit einsinkendem Gesicht, in ein ersehntes Nichtmehrsein.

Abt Daniel hatte einen wenig erfreulichen Tag gehabt, zwei von den älteren Mönchen waren heut zu ihm gekommen, aufgeregt, keifend, anklägerisch wegen uralter eifersüchtiger Nichtigkeiten wieder einmal wütend verzankt. Er hatte sie angehört, allzulange, hatte sie ermahnt, doch erfolglos, hatte sie schließlich streng entlassen, jeden mit einer ziemlich harten Strafe belegt, und hatte im Herzen das Gefühl behalten, sein Tun sei nutzlos gewesen. Erschöpft hatte er sich in die Kapelle der Unterkirche zurückgezogen, hatte gebetet, war unerfrischt wieder aufgestanden. Jetzt trat er, vom leise herziehenden Rosenduft angezogen, für einen Augenblick, um Luft zu schöpfen, in den Kreuzgang. Da fand er den Schüler Goldmund ohnmächtig auf den Fliesen liegen. Traurig sah er ihn an, über die Blässe und Erloschenheit des sonst so hübschen jungen Antlitzes erschrocken. Es war kein guter Tag heute, nun auch dies noch! Er versuchte, den Jüngling aufzuheben, war aber der Last nicht gewachsen. Tief seufzend ging er weg, der alte Mann, um zwei von den jüngeren Brüdern zu rufen, daß sie ihn hinauftrügen, und schickte auch noch den Pater Anselm hin, der ein Heilkünstler war. Zugleich schickte er nach Narziß, der bald gefunden wurde und vor ihm erschien.

»Weißt du schon?« frage er ihn.

»Wegen Goldmund? Ja, gnädiger Vater, ich habe soeben gehört, er sei krank oder verunglückt, man habe ihn getragen gebracht.«

»Ja, ich fand ihn im Kreuzgang hegen, wo er ja eigentlich nichts zu suchen hat. Er ist nicht verunglückt, er ist ohnmächtig. Es gefällt mir nicht. Es scheint mir, daß du mit der Sache zu tun haben müssest, oder doch etwas darüber wissen, er ist ja dein Intimus. Darum rief ich dich. Sprich.«

Narziß, wie immer mit beherrschter Haltung und Sprache, gab einen kurzen Bericht über sein heutiges Gespräch mit Goldmund, und wie überraschend heftig es auf diesen gewirkt habe. Der Abt schüttelte den Kopf, nicht ohne Unmut.

»Merkwürdige Gespräche sind das«, sagte er und zwang sich zur Ruhe. »Was du mir da geschildert hast, ist ein Gespräch, das man einen Eingriff in eine fremde Seele nennen könnte, es ist, möchte ich sagen, ein seelsorgerliches Gespräch. Du bist aber nicht Goldmunds Seelsorger. Du bist überhaupt nicht Seelsorger, du hast die Weihen noch nicht. Wie kommt es, daß du mit einem Schüler im Ton des Beraters über Dinge sprichst, die bloß den Seelsorger angehen? Die Folgen, wie du siehst, sind üble gewesen.«

»Die Folgen«, sagte Narziß mit sanftem Ton, aber bestimmt, »kennen wir noch nicht, gnädiger Vater. Ich war etwas erschreckt über die heftige Wirkung, aber ich zweifle nicht daran, daß die Folgen unseres Gesprächs gute für Goldmund sein werden.«

»Wir werden die Folgen sehen. Ich rede jetzt nicht von ihnen, sondern von deinem Tun. Was hat dich veranlaßt, solche Gespräche mit Goldmund zu führen?«

»Wie Ihr wißt, ist er mein Freund. Ich habe zu ihm eine besondere Zuneigung, und ich glaube ihn besonders gut zu verstehen. Ihr nennt mein Verhalten gegen ihn seelsorgerlich. Ich habe mir keinerlei geistliche Autorität angemaßt, nur glaubte ich ihn etwas besser zu kennen, als er selbst sich kennt.«

Der Abt zuckte die Achseln.

»Ich weiß, dies ist deine Spezialität. Hoffen wir, daß du damit nichts Schlimmes angerichtet hast. – Ist Goldmund denn krank? Ich meine, fehlt ihm irgend etwas? Ist er schwächlich? Schläft er schlecht? Ißt er nichts? Hat er irgendwelche Schmerzen?«

»Nein, bis heute war er gesund. Am Leibe gesund.«

»Und sonst?«

»An der Seele ist er allerdings krank. Ihr wißt, er ist im Alter, wo die Kämpfe mit dem Geschlechtstrieb beginnen.«

»Ich weiß. Er ist siebzehn?«

»Er ist achtzehn.«

»Achtzehn. Nun ja. Spät genug. Aber diese Kämpfe sind ja etwas Natürliches, was jeder durchmachen muß. Darum kann man ihn doch nicht krank an der Seele nennen.«

»Nein, gnädiger Vater, darum allein nicht. Aber Goldmund war schon vorher seelenkrank, schon lange, darum sind diese Kämpfe für ihn gefährlicher als für andere. Er leidet, wie ich glaube, daran, daß er einen Teil seiner Vergangenheit vergessen hat.«

»So? Was ist das für ein Teil?«

»Es ist seine Mutter und alles, was mit ihr zusammenhängt. Auch ich weiß darüber nichts, ich weiß nur, daß dort die Quelle seiner Krankheit liegen muß. Goldmund nämlich weiß angeblich nichts von seiner Mutter, als daß er sie früh verloren hat. Es macht aber den Eindruck, als schäme er sich ihrer. Und doch muß sie es sein, von der er die meisten seiner Gaben geerbt hat; denn was er über seinen Vater zu sagen hat, läßt diesen Vater nicht als den Mann erscheinen, der einen so hübschen, vielbegabten und eigenartigen Sohn hat. Ich weiß dies alles nicht aus Berichten, ich schließe es aus Anzeichen.«

Der Abt, der anfangs diese Reden als altklug und überheblich in sich etwas belächelt hatte und dem die ganze Sache lästig und bemühend war, begann nachzudenken. Er erinnerte sich an Goldmunds Vater, an jenen etwas geschraubten und unverdaulichen Mann, und erinnerte sich jetzt auch, da er danach suchte, plötzlich wieder einiger Worte, die er damals über Goldmunds Mutter zu ihm geäußert hatte. Sie habe ihm Schande gemacht und sei ihm davongelaufen, hatte er gesagt, und er habe sich Mühe gegeben, in dem Söhnchen die Erinnerung an die Mutter und die etwaigen von ihr vererbten Laster zu unterdrücken. Dies sei auch wohl gelungen, und der Knabe sei willens, zur Sühnung dessen, was die Mutter gefehlt, sein Leben Gott darzubringen.

Nie hatte Narziß dem Abt so wenig gefallen wie heute. Und dennoch – wie gut hatte dieser Grübler geraten, wie gut schien er in der Tat Goldmund zu kennen!

Zum Schlüsse nochmals über die heutigen Vorgänge befragt, sagte Narziß: »Die heftige Erschütterung, in welche Goldmund heute geraten ist, war nicht von mir beabsichtigt. Ich habe ihn daran erinnert, daß er sich selbst nicht kennt, daß er seine Kindheit vergessen hat und seine Mutter. Irgendeines meiner Worte muß ihn getroffen haben und in das Dunkel gedrungen sein, gegen das ich schon so lange kämpfe. Er war wie entgeistert, er sah mich an, als kenne er mich und sich selbst nicht mehr. Ich habe ihm oft gesagt, er schlafe, er sei nicht richtig wach. Jetzt ist er geweckt worden, daran zweifle ich nicht.«

Er wurde entlassen, ohne Rüge, doch mit dem vorläufigen Verbot, den Kranken aufzusuchen.

Inzwischen hatte Pater Anselm den Ohnmächtigen auf ein Bett legen lassen und saß bei ihm. Ihn durch gewaltsame Mittel ins Bewußtsein zurückzuschrecken, schien ihm nicht geraten. Der Junge sah allzu schlecht aus. Wohlwollend blickte der alte Mann aus dem faltigen guten Gesicht auf den Jüngling. Vorläufig untersuchte er den Puls und horchte am Herzen. Gewiß, dachte er, hatte der Bursche irgend etwas Unmögliches gegessen, einen Haufen Sauerklee oder sonst etwas Dummes, man kannte das ja. Die Zunge konnte er nicht sehen. Er mochte Goldmund gern, aber seinen Freund, diesen frühreifen allzu jungen Lehrer, konnte er nicht leiden. Da hatte man es nun. Sicher war Narziß an dieser dummen Geschichte mitschuldig. Was brauchte auch so ein frischer, helläugiger Junge, so ein liebes Naturkind sich ausgerechnet mit diesem hochmütigen Gelehrten einzulassen, mit diesem eitlen Grammatiker, dem sein Griechisch wichtiger war als alles Lebendige auf der Welt! Als nach langer Zeit die Tür sich öffnete und der Abt hereinkam, saß der Pater noch immer und starrte in das Gesicht des Ohnmächtigen. Was war das für ein liebes, junges, argloses Gesicht, und da saß man nun daneben, sollte helfen und würde es wahrscheinlich nicht können. Gewiß, die Ursache konnte eine Kolik sein, er würde Glühwein verordnen, vielleicht Rhabarber. Aber je länger er in das grünbleiche, verzogene Gesicht blickte, desto mehr neigte sich sein Verdacht nach einer anderen Seite, einer bedenklicheren. Pater Anselm hatte Erfahrung. Mehrmals im Laufe seines langen Lebens hatte er Besessene gesehen. Er zögerte damit, den Verdacht auch nur vor sich selbst auszusprechen. Er würde warten und beobachten. Aber, dachte er grimmig, wenn dieser arme Junge wirklich verhext worden war, so würde man den Schuldigen wohl nicht weit zu suchen haben, und es sollte ihm nicht gut gehen. Der Abt trat näher, sah sich den Kranken an, hob ihm sachte ein Augenlid etwas in die Höhe.

»Kann man ihn erwecken?« fragte er.

»Ich möchte noch warten. Das Herz ist gesund. Wir dürfen niemand zu ihm lassen.«

»Ist Gefahr?«

»Ich glaube nicht. Nirgends Verletzungen, keine Spuren von Schlag oder Sturz. Er ist ohnmächtig, vielleicht war es eine Kolik. Bei sehr starken Schmerzen verliert man das Bewußtsein. Wenn es eine Vergiftung wäre, käme Fieber. Nein, er wird wieder aufwachen und am Leben bleiben.«

»Kann es nicht vom Gemüt her gekommen sein?«

»Ich will es nicht verneinen. Weiß man denn nichts? Hat er vielleicht einen starken Schrecken gehabt? Eine Todesnachricht? Einen heftigen Streit, eine Beleidigung? Dann wäre alles erklärt.«

»Wir wissen es nicht. Traget Sorge, daß niemand zu ihm gelassen wird. Ich bitte Euch, bei ihm zu bleiben, bis er erwacht. Sollte es schlimm werden, so rufet mich, auch wenn es in der Nacht wäre.«

Vor dem Weggehen beugte der Greis sich nochmals über den Kranken; er dachte an dessen Vater und dachte an den Tag, an dem dieser hübsche heitere Blondkopf ihm zugebracht worden war, und wie sie alle ihn gleich gern gehabt hatten. Auch er hatte ihn gern gesehen. Aber darin hatte Narziß wirklich recht: in nichts erinnerte dieser Knabe an seinen Vater! Ach, wieviel Sorgen überall, wie unzulänglich war all unser Tun! Hatte er nicht vielleicht an diesem armen Knaben etwas versäumt? Hatte er den richtigen Beichtvater gehabt? War es in Ordnung, daß niemand im Hause über diesen Schüler so gut Bescheid wußte wie Narziß? Konnte denn der ihm helfen, der noch im Noviziat stand, der weder Bruder war noch die Weihen hatte und dessen Gedanken und Anschauungen alle etwas so unangenehm Überlegenes, ja fast Feindseliges hatten. Weiß Gott, ob nicht auch Narziß seit langem falsch behandelt worden war? Weiß Gott, ob er nicht hinter der Maske des Gehorsams Schlimmes verbarg, vielleicht ein Heide war? Und alles, was aus diesen beiden jungen Menschen einst werden würde, dafür war er mitverantwortlich.

Als Goldmund zu sich kam, war es dunkel. Er fühlte seinen Kopf leer und schwindlig. Er fühlte sich in einem Bett liegen, er wußte nicht, wo er war, er dachte auch nicht darüber nach, es war ihm gleichgültig. Aber wo war er gewesen? Wo kam er her, aus welcher Fremde von Erlebnissen? Er war irgendwo gewesen, sehr weit fort, er hatte etwas gesehen, etwas Außerordentliches, etwas Herrliches, etwas Furchtbares auch und Unvergeßliches – und doch hatte er es vergessen. Wo war es? Was war da vor ihm aufgetaucht, so groß, so schmerzlich, so selig, und war wieder hingeschwunden?

Tief horchte er in sich hinein, dorthin, wo heute etwas aufgebrochen, etwas geschehen war – was war es gewesen? Wüste Bilderknäuel wälzten sich herauf, er sah Hundeköpfe, drei Hundeköpfe, und er roch den Duft von Rosen. O wie weh war ihm gewesen! Er schloß die Augen. O wie furchtbar weh war ihm gewesen! Er schlief wieder ein.

Wieder erwachte er, und eben noch im Entschwinden der eilig weggleitenden Traumwelt sah er es, fand das Bild wieder und zuckte wie in schmerzlicher Wollust zusammen. Er sah, er war sehend geworden. Er sah Sie. Er sah die Große, Strahlende, mit dem voll blühenden Munde, mit den leuchtenden Haaren. Er sah seine Mutter. Zugleich meinte er eine Stimme zu hören: »Du hast deine Kindheit vergessen.«

Wessen Stimme war doch dies? Er horchte, er sann und fand. Es war Narziß. Narziß? Und in einem Augenblick, mit einem jähen Ruck war alles wieder da: er erinnerte sich, er war wissend. O Mutter, Mutter! Berge von Schutt, Meere von Vergessenheit waren weg, waren verschwunden; aus königlichen, hellblauen Augen blickte die Verlorene ihn wieder an, die unsäglich Geliebte.

Pater Anselm, der im Lehnstuhl neben dem Bett eingeschlummert war, erwachte. Er hörte den Kranken sich bewegen, hörte ihn atmen. Vorsichtig erhob er sich.

»Ist jemand da?« fragte Goldmund.

»Ich bin es, sei ohne Sorge. Ich mache Licht.«

Er brachte die Ampel zum Brennen, der Schein fiel über sein faltiges wohlwollendes Gesicht.

»Bin ich denn krank?« fragte der Jüngling.

»Du bist ohnmächtig gewesen, mein Söhnchen. Gib mir die Hand, wir wollen nach dem Puls sehen. Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich danke Euch, Pater Anselm, Ihr seid sehr gütig. Es fehlt mir nichts mehr, ich bin nur müde.«

»Natürlich bist du müde. Bald wirst du wieder schlafen. Nimm vorher einen Schluck heißen Wein, er steht bereit. Wir wollen einen Becher miteinander leeren, mein Junge, auf gute Kameradschaft.«

Sorglich hatte er ein Krüglein Glühwein bereit gehalten und in ein Gefäß mit heißem Wasser gestellt.

»Da haben wir also beide eine ganze Weile geschlafen«, lachte der Arzt. »Ein feiner Krankenwärter, wirst du denken, der sich nicht munter halten kann. Na ja, wir sind Menschen. Jetzt trinken wir ein wenig von diesem Zaubertrank, mein Kleiner, nichts Hübscheres als so eine kleine heimliche Zecherei in der Nacht. Also Prosit!«

Goldmund lachte, stieß an und kostete. Der warme Wein war mit Zimmet und Nelken gewürzt und mit Zucker gesüßt, das hatte er noch nie getrunken. Es fiel ihm ein, daß er schon einmal krank gewesen sei, da hatte Narziß sich seiner angenommen. Diesmal war es Pater Anselm, der lieb mit ihm war. Es gefiel ihm sehr, es war höchst angenehm und wunderlich, beim Lämpchenschein dazuliegen und mitten in der Nacht mit dem alten Pater einen Becher süßen warmen Wein zu trinken.

»Hast du Bauchweh?« fragte der Alte.

»Nein.«

»Ja, ich dachte, du müßtest Kolik haben, Goldmund. Also damit ist es nichts. Zeig deine Zunge. Na, es ist gut, euer alter Anselm hat wieder einmal nichts gewußt. Du bleibst morgen hübsch liegen, ich komme dann und untersuche dich. Und mit dem Wein bist du schon fertig? Recht so, es möge dir wohl bekommen. Laß mich sehen, ob noch etwas da ist. Zu einem halben Becher für jeden von uns reicht es noch, wenn wir redlich teilen. – Du hast uns schön erschreckt, Goldmund! Liegst da im Kreuzgang wie eine Kinderleiche. Hast du wirklich kein Bauchweh?«

Sie lachten und teilten redlich den Rest des Krankenweins, der Pater machte seine Spaße, und Goldmund blickte ihn dankbar und belustigt aus den wieder hell gewordenen Augen an. Dann ging der Alte fort, um sich zu Bett zu legen. Goldmund lag noch eine Weile wach, langsam traten die Bilder wieder aus seinem Innern hervor, flammten die Worte seines Freundes wieder auf, und nochmals erschien in seiner Seele die blonde strahlende Frau, die Mutter; wie Föhnwind ging ihr Bild durch ihn hin, wie eine Wolke von Leben, von Wärme, von Zärtlichkeit und inniger Mahnung. O Mutter? O wie war es möglich gewesen, daß er sie hatte vergessen können!

Fünftes Kapitel

Bisher hatte Goldmund von seiner Mutter wohl einiges gewußt, aber nur aus den Erzählungen anderer; ihr Bild hatte er nicht mehr besessen, und von dem wenigen, was er über sie zu wissen glaubte, hatte er Narziß das meiste verschwiegen. Die Mutter war etwas, wovon man nicht sprechen durfte, man schämte sich ihrer. Eine Tänzerin war sie gewesen, ein schönes wildes Weib von vornehmer, aber unguter und heidnischer Herkunft; Goldmunds Vater hatte sie, so erzählte er, aus Armut und Schande aufgelesen; er hatte sie, da er nicht wußte, ob sie nicht Heidin sei, taufen und in der Religion unterweisen lassen; er hatte sie geheiratet und zu einer angesehenen Frau gemacht. Sie aber, nach einigen Jahren der Zahmheit und des geordneten Lebens, hatte sich ihrer alten Künste und Übungen wieder erinnert, hatte Ärgernis erregt und Männer verführt, war Tage und Wochen von Hause weggeblieben, war in den Ruf einer Hexe gekommen und schließlich, nachdem ihr Mann sie mehrmals wieder eingeholt und zu sich genommen hatte, für immer verschwunden. Ihr Ruf war noch eine Weile vernehmbar geblieben, ein böser Ruf, flackernd wie ein Kometenschweif, und war dann erloschen. Ihr Mann erholte sich langsam von den Jahren der Unruhe, des Schreckens, der Schande und der ewigen Überraschungen, die sie ihm bereitet hatte; an Stelle des mißratenen Weibes erzog er nun sein Söhnlein, das der Mutter an Gestalt und Gesicht sehr ähnlich war; der Mann war vergrämt und frömmlerisch geworden und züchtete in Goldmund den Glauben, er müsse sein Leben Gott darbringen, um die Sünden der Mutter zu sühnen.

Dies etwa war es, was Goldmunds Vater über sein verlorengegangenes Weib zu erzählen pflegte, obwohl er nicht gerne darauf zu sprechen kam, und Andeutungen davon hatte er bei Goldmunds Einlieferung auch dem Abte gemacht; und dies alles war, als schreckliche Sage, auch dem Sohne bekannt, obwohl er gelernt hatte, es beiseitezuschieben und beinahe zu vergessen. Ganz und gar vergessen und verloren aber hatte er das wirkliche Bild der Mutter, jenes andere, ganz andere Bild, das nicht aus den Erzählungen des Vaters und der Dienstboten und aus dunklen wilden Gerüchten bestand. Seine eigene, wirkliche, erlebte Erinnerung an die Mutter hatte er vergessen. Und nun war dieses Bild, der Stern seiner frühesten Jahre, wieder aufgestiegen.

»Es ist unbegreiflich, wie ich das hatte vergessen können«, sagte er zu seinem Freunde. »Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.«

Narziß hatte vor kurzem sein Noviziat beendet und war eingekleidet worden. Merkwürdig hatte sein Verhalten zu Goldmund sich verändert. Goldmund nämlich, der des Freundes Winke und Mahnungen früher oft als lästiges Besserwissen und Besserwollen abgelehnt hatte, war seit dem großen Erlebnis voll staunender Bewunderung für die Weisheit seines Freundes. Wie viele von dessen Worten hatten sich wie Prophezeiungen erfüllt, wie tief hatte dieser Unheimliche in ihn hineingesehen, wie genau hatte er sein Lebensgeheimnis, seine verborgene Wunde erraten, wie klug hatte er ihn geheilt!

Denn geheilt schien der Jüngling zu sein. Nicht nur war jene Ohnmacht ohne üble Folgen geblieben; es war auch jenes gewisse Spielerische, Altkluge, Unechte in Goldmunds Wesen wie weggeschmolzen, jenes etwas frühreife Mönchtum, jenes zu ganz besonderem Gottesdienste Sichverpflichtetglauben. Der Jüngling schien zugleich jünger und älter geworden, seit er zu sich selbst gefunden hatte. All das verdankte er Narziß.

Narziß aber verhielt sich zu seinem Freunde seit einer Weile eigentümlich vorsichtig; sehr bescheiden, gar nicht mehr überlegen und belehrend sah er ihn an, während jener ihn so sehr bewunderte. Er sah Goldmund aus geheimen Quellen her mit Kräften gespeist, die ihm selbst fremd waren; er hatte ihr Wachstum fördern können, hatte aber keinen Anteil an ihnen. Mit Freude sah er den Freund sich von seiner Führerschaft befreien und war doch zuweilen traurig. Er empfand sich als überschrittene Stufe, als weggeworfene Schale; er sah das Ende dieser Freundschaft nahe, die ihm so viel gewesen war. Noch immer wußte er mehr über Goldmund als dieser selbst; denn wohl hatte Goldmund seine Seele wiedergefunden und war bereit, ihrem Ruf zu folgen, wohin sie ihn aber führen werde, ahnte er noch nicht. Narziß ahnte es und war machtlos; seines Lieblings Weg führte in Länder, die er selbst nie betreten würde.

Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen. Inzwischen war bei Narziß in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilligen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Goldmund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wußte er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, daß sein Schicksal sich vorbereite, daß eine gewisse Schönzeit der Unschuld und Ruhe nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod. Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte. Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber endeten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.

Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gotteslästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Harmonie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.

Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten ahnungsvoll, Erinnerungen an Gefühle der Kindheit, vielleicht an Erlebnisse, vielleicht an Träume. Von Fischen träumte er zuweilen, die schwammen schwarz und silbern auf ihn zu, kühl und glatt, schwammen in ihn hinein, durch ihn hindurch, kamen wie Boten mit holden Glücksnachrichten aus einer schöneren Wirklichkeit, schwanden schwänzelnd und schattenhaft, waren dahin, hatten statt Botschaft neue Geheimnisse gebracht. Oft träumte er schwimmende Fische und fliegende Vögel, und jeder Fisch oder Vogel war sein Geschöpf, war von ihm abhängig und lenkbar wie sein Atemzug, strahlte wie ein Blick, wie ein Gedanke von ihm aus, kehrte in ihn zurück. Von einem Garten träumte er oft, einem Zaubergarten mit märchenhaften Bäumen, übergroßen Blumen, tiefen blaudunklen Höhlen; zwischen den Gräsern blickten funkelnde Augen unbekannter Tiere, an den Ästen glitten glatte sehnige Schlangen; an Reben und Gesträuchen hingen groß und feuchtglänzend riesige Beeren, die schwollen beim Pflücken in seiner Hand und vergossen warmen Saft wie Blut oder hatten Augen und bewegten sie schmachtend und listig; er lehnte sich tastend an einen Baum, griff nach einem Ast und sah und fühlte zwischen Stamm und Ast ein Gekräusel wirrer dichter Haare nisten wie das Haar in der Höhle einer Achsel. Einmal träumte er von sich selber oder von seinem Namensheiligen, träumte von Goldmund, Chrysostomus, der hatte einen Mund aus Gold und sprach mit dem goldenen Munde Worte, und die Worte waren kleine schwärmende Vögel, in flatternden Scharen flogen sie davon.

Einmal träumte er: er war groß und erwachsen, saß aber wie ein Kind am Boden, hatte Lehm vor sich und knetete wie ein Kind aus dem Lehm Figuren: ein Pferdchen, einen Stier, einen kleinen Mann, eine kleine Frau. Das Kneten machte ihm Spaß, und er machte den Tieren und Männern lächerlich große Geschlechtsteile, im Traume kam ihm das sehr witzig vor. Dann wurde er des Spiels müde und ging weiter, da fühlte er hinter sich etwas leben, etwas Lautloses, Großes sich nähern, und sah zurück, und sah mit tiefem Erstaunen und mit großem Schrecken, der aber nicht ohne Freude war, seine kleinen Lehmfiguren groß und lebendig geworden. Gewaltig groß, stumme Riesen, marschierten die Figuren an ihm vorbei, noch immer wachsend, riesig und schweigend zogen sie weiter, in die Welt hinein, hoch wie Türme.

In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Pater Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.

Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziß eine Andeutung von dieser Traumwelt.

»Ich glaube«, sagte er einmal, »daß ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega, und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Feder, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziß, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

»Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziß traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, daß ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, daß du nie ein Gelehrter sein wirst?«

O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wußte ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«

Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziß sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung! Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, daß dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, daß es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«

Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, mageren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, daß dies Asketen- und Gelehrtenhände seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zögernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hofft, daß ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche. Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziß. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrifft, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«

»Nein, Narziß, gewiß nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück …«

Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er: »Aber wie machst du das nur, daß du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ich denn zu meinem Vater würde zurückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, daß ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen. Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, daß ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?«

Narziß schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reicher als ich und bist auch schwächer, du wirst einen schöneren und schwereren Weg haben als ich. Manchmal wolltest du mich nicht verstehen, oft hast du dich gesträubt wie ein Füllen, es war nicht immer leicht, und oft habe ich dir auch weh tun müssen. Ich mußte dich erwecken, du schliefst ja. Auch daß ich dich an deine Mutter erinnerte, hat zuerst weh getan, sehr weh, man fand dich wie einen Toten im Kreuzgang liegen. Es mußte sein. – Nein, streichle mein Haar nicht! Nein, laß es! Ich kann es nich leiden.«

»Und lernen kann ich also nichts? Ich werde immer dum und ein Kind bleiben?«

»Es werden andere da sein, von denen du lernst. Was du von mir lernen konntest, du Kind, damit sind wir zu Ende.

»O nein«, rief Goldmund, »dazu sind wir nicht Freunde geworden! Was wäre das für eine Freundschaft, die nach einer kurzen Strecke ihr Ziel erreicht hat und einfach aufhören kann! Hast du denn genug von mir? Bin ich dir denn entleidet?«

Narziß ging heftig auf und ab, die Blicke am Boden, dann blieb er vor dem Freunde stehen.

»Laß gut sein«, sagte er sanft, »du weißt wohl, daß du mir nicht entleidet bist.«

Zweifelnd betrachtete er den Freund, nahm alsdann seine Wanderung wieder auf, hin und her, blieb nochmals stehen und sah Goldmund an, mit festem Blick aus dem harten und hageren Gesicht. Mit leiser Stimme, aber fest und hart, sagte er: »Hör zu, Goldmund! Unsere Freundschaft ist gut gewesen; sie hat ein Ziel gehabt und hat es erreicht, sie hat dich wach gemacht. Ich hoffe, sie sei nicht zu Ende; ich hoffe, sie werde sich nochmals und immer wieder erneuern und zu neuen Zielen führen. Für den Augenblick ist kein Ziel da. Das deine ist ungewiß, ich kann dich da weder führen noch begleiten. Frage deine Mutter, frage ihr Bild, höre auf sie! Mein Ziel aber liegt nicht im Ungewissen, es liegt hier, im Kloster, es fordert mich zu jeder Stunde. Ich darf dein Freund sein, aber ich darf nicht verliebt sein. Ich bin Mönch, ich habe das Gelübde getan. Ich werde, ehe ich die Weihen erhalte, mich vom Lehramt beurlauben lassen und viele Wochen mich zu Fasten und Exerzitien zurückziehen. Ich werde in dieser Zeit nichts Weltliches sprechen, auch mit dir nicht.«

Goldmund verstand. Traurig sagte er: »Du wirst nun also das tun, was auch ich getan hätte, wenn ich für immer in den Orden getreten wäre. Und wenn deine Übungen absolviert sind, wenn du genug gefastet und gebetet und gewacht hast – wohin wirst du dann zielen?«

»Du weißt es«, sagte Narziß.

»Nun ja. Du wirst in einigen Jahren erster Lehrer sein, vielleicht auch schon Schulvorsteher. Du wirst den Unterricht verbessern, wirst die Bibliothek vergrößern. Vielleicht wirst du selbst Bücher verfassen. Nicht? Nun, also nicht. Aber wo wird das Ziel sein?«

Narziß lächelte schwach. »Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.«

Goldmund: »Kein anderes Ziel für einen Mönch?«

Narziß: »O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?«

Lange überlegte sich Goldmund die Antwort. »Du hast recht«, sagte er. »Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?«

»Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du. Du hast mir Schwierigkeiten gemacht, aber ich bin kein Feind von Schwierigkeiten. Ich habe an ihnen gelernt, ich habe sie zum Teil überwunden.«

Goldmund unterbrach ihn, halb scherzend sagte er: »Wunderbar hast du sie überwunden! Aber sage doch: wenn du mir geholfen, mich geführt und befreit und meine Seele gesund gemacht hast – hast du denn damit wirklich dem Geist gedient? Du hast damit wahrscheinlich dem Kloster einen eifrigen und gutgewillten Novizen entzogen und hast dem Geist vielleicht einen Gegner erzogen, einen, der gerade das Gegenteil von dem tun und glauben und anstreben wird, was du für gut hältst!«

»Warum nicht?« sagte Narziß mit tiefem Ernst. »Mein Freund, du kennst mich noch immer so wenig! Ich habe in dir wahrscheinlich einen künftigen Mönch verdorben und habe dafür in dir einen Weg freigemacht für ein nicht gewöhnliches Schicksal. Auch wenn du morgen unser ganzes hübsches Kloster niederbrennen würdest oder irgendeine tolle Irrlehre in der Welt verkündigen, ich würde keinen Augenblick bereuen, dir auf den Weg dazu geholfen zu haben.«

Freundlich legte er dem Freunde beide Hände auf die Schultern.

»Sieh, kleiner Goldmund, zu meinem Ziel gehört auch dies: mag ich Lehrer oder Abt, Beichtvater oder was immer sein, niemals möchte ich in die Lage kommen, einem starken, wertvollen und besonderen Menschen zu begegnen und ihn nicht zu verstehen, ihn nicht erschließen, ihn nicht fördern zu können. Und ich sage dir: mag aus dir und aus mir dies oder jenes werden, mag es uns so oder anders gehen, nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.«

Das klang wie Abschiednehmen, und wirklich war es der Vorgeschmack des Abschieds. Wie Goldmund vor seinem Freunde stand und ihn betrachtete, das entschlossene Gesicht, das auf Ziele gerichtete Auge, da fühlte er untrüglich, daß sie beide jetzt nicht mehr Brüder und Kameraden und ihresgleichen waren, daß ihre Wege sich schon getrennt hatten. Dieser hier, der vor ihm stand, war kein Träumer und wartete auch nicht auf irgendwelche Zurufe des Schicksals; er war ein Mönch, er hatte sich verschrieben, er gehörte einer festen Ordnung und Pflicht, war ein Diener und Soldat des Ordens, der Kirche, des Geistes. Er selbst aber, dies war ihm heute klargeworden, gehörte nicht hierher, er war ohne Heimat, eine unbekannte Welt wartete auf ihn. So war es einst auch seiner Mutter gegangen. Sie hatte Haus und Hof, Mann und Kind, Gemeinschaft und Ordnung, Pflicht und Ehre verlassen und war ins Ungewisse hinausgegangen, war wohl längst darin untergegangen. Sie hatte kein Ziel gehabt, wie auch er keines hatte. Ziele zu haben, das war anderen gegeben, ihm nicht. O wie gut hatte Narziß dies alles schon vor langer Zeit gesehen, wie recht hatte er gehabt! Schon bald nach diesem Tage war Narziß wie verschwunden, er schien plötzlich unsichtbar geworden zu sein. Ein anderer Lehrer gab seine Lektionen, sein Lesepult m der Bibliothek blieb leer. Er war noch da, er war nicht völlig unsichtbar, man konnte ihn zuweilen den Kreuzgang durchschreiten sehen, konnte ihn manchmal in einer der Kapellen murmeln hören, auf dem Steinboden kniend; man wußte, daß er die große Übung angetreten hatte, daß er fastete und dreimal m der Nacht zu Exerzitien sich erhob. Er war noch da und war doch in eine andere Welt hinübergegangen; man konnte ihn sehen, selten genug, konnte ihn aber nicht erreichen, nichts mit ihm gemein haben, nicht mit ihm sprechen. Goldmund wußte: Narziß würde wieder erscheinen, er würde sein Arbeitspult, seinen Stuhl im Refektorium wieder einnehmen, würde wieder sprechen – aber von dem Gewesenen würde nichts wiederkommen, Narziß würde nicht wieder ihm gehören. Indem er es bedachte, wurde auch das ihm klar, daß es einzig Narziß gewesen war, durch welchen ihm Kloster und Mönchtum, Grammatik und Logik, Studium und Geist wichtig und lieb geworden war. Sein Vorbild hatte ihn gelockt, wie er zu werden, war sein Ideal gewesen. Wohl, auch der Abt war noch da, auch ihn hatte er verehrt, auch ihn geliebt und ein hohes Vorbild in ihm gesehen. Aber die andern, die Lehrer, die Mitschüler, der Schlafsaal, der Speisesaal, die Schule, die Übungen, die Gottesdienste, das ganze Kloster – ohne Narziß ging es ihn nichts mehr an. Was tat er noch hier? Er wartete, er stand unterm Dach des Klosters wie ein unentschlossener Wanderer bei Regen unter irgendeinem Dach oder Baum stehenbleibt, bloß um zu warten, bloß als Gast, bloß aus Angst vor der Unwirtlichkeit der Fremde.

Goldmunds Leben in dieser Zeit war nur noch ein Zögern und Abschiednehmen. Alle Orte suchte er auf, die ihm lieb oder bedeutsam geworden waren. Mit wunderlicher Befremdung stellte er fest, wie wenige Menschen und Gesichter da waren, von welchen der Abschied ihm schwerfallen würde. Da war Narziß und der alte Abt Daniel und auch noch der gute liebe Pater Anselm und auch etwa noch der freundliche Pförtner und der lebenslustige Nachbar Müller – aber auch diese waren schon beinahe unwirklich geworden. Schwerer als von ihnen würde er Abschied nehmen von der großen steinernen Madonna in der Kapelle, von den Aposteln des Portals. Lange stand er vor ihnen, auch vor den schönen Schnitzereien des Chorgestühls, vor dem Brunnen im Kreuzgang, vor der Säule mit den drei Tierköpfen, lehnte sich im Hof an die Linden, an den Kastanienbaum. Dies alles würde ihm einmal eine Erinnerung sein, ein kleines Bilderbuch in seinem Herzen. Schon jetzt, da er noch mitten drin war, begann es ihm zu entgleiten, verlor an Wirklichkeit, wandelte sich gespenstisch in etwas Gewesenes. Mit Pater Anselm, der ihn gern um sich hatte, ging er auf die Kräutersuche, beim Klostermüller sah er den Knechten zu und ließ sich je und je zu Wein und gebackenen Fischen einladen; aber alles war schon fremd und halb wie Erinnerung. So wie drüben in der Kirchendämmerung und der Bußzelle sein Freund Narziß zwar wandelte und lebte, für ihn aber ein Schatten geworden war, so stand alles rings um ihn entwirklicht, atmete Herbst und Vergänglichkeit.

Wirklich und lebendig war nichts mehr als das Leben in ihm innen, das bange Schlagen des Herzens, der wehe Stachel der Sehnsucht, die Freuden und Ängste seiner Träume. Ihnen gehörte er an und gab sich hin. Mitten im Lesen oder Lernen, mitten zwischen den Schulkameraden konnte er in sich versinken und alles vergessen, nur den Strömen und Stimmen des Innern hingegeben, die ihn hinwegzogen, in tiefe Brunnen voll dunkler Melodie, in farbige Abgründe voll märchenhafter Erlebnisse, deren Klänge alle wie die Stimme der Mutter klangen, deren tausend Augen alle die Augen der Mutter waren.

Sechstes Kapitel

Eines Tages rief Pater Anselm Goldmund in seine Apotheke, seine hübsche, wunderbar duftende Kräuterkammer. Hier kannte Goldmund sich gut aus. Der Pater zeigte ihm eine gedörrte Pflanze, zwischen Papierblättern sauber aufbewahrt, und fragte ihn, ob er diese Pflanze kenne und genau beschreiben könne, wie sie draußen im Felde aussehe. Ja, das konnte Goldmund; die Pflanze hieß Johanniskraut. Deutlich mußte er alle ihre Merkmale beschreiben. Der alte Mönch war zufrieden und gab seinem jungen Freunde den Auftrag, am Nachmittag ein gutes Bündel solcher Pflanzen zu sammeln, deren Lieblingsstandorte er ihm angab. »Du bekommst dafür einen schulfreien Nachmittag, mein Lieber, du wirst nichts dagegen haben und wirst nichts dabei verlieren. Auch die Kenntnis der Natur nämlich ist eine Wissenschaft, nicht bloß eure blöde Grammatik.« Goldmund bedankte sich für den sehr willkommenen Auftrag, ein paar Stunden Blumen zu sammeln, statt in der Schule zu sitzen. Damit die Freude vollkommen würde, erbat er sich vom Stallmeister das Pferd Bleß, und bald nach Tische holte er das Tier aus .dem Stall, das ihn heftig begrüßte, sprang auf und trabte sehr zufrieden in den warmen leuchtenden Tag hinaus. Ein Stündchen oder mehr ritt er spazieren, genoß die Luft und den Felderduft und vor allem das Reiten, dann erinnerte er sich seiner Aufgabe und suchte einen der Plätze auf, die ihm der Pater beschrieben hatte. Dort band er das Pferd unter einem schattigen Ahorn an, plauderte mit ihm, gab ihm Brot zu fressen und machte sich dann auf die Pflanzensuche. Einige Stücke Ackerland lagen hier brach, von vielerlei Unkraut überwuchert, kleine kümmerliche Mohnpflanzen mit letzten blassen Blüten und schon vielen reifen Samenkapseln standen da zwischen verdorrten Wickenranken und himmelblau blühender Wegwarte und verfärbtem Knöterich, ein paar Haufen zusammengeworfener Feldsteine zwischen zwei Feldern waren von Eidechsen bewohnt, hier standen auch schon die ersten gelb blühenden Stauden Johanniskraut, und Goldmund fing an zu pflücken. Als er eine gute Handvoll beisammen hatte, setzte er sich auf die Steine und ruhte. Es war heiß, und er blickte begehrlich zum Schattendunkel eines fernen Waldrandes hinüber, aber so weit wollte er doch nicht von den Pflanzen und von seinem Pferde weggehen, das er von hier aus noch sehen konnte. Er blieb auf den warmen Feldkieseln sitzen, hielt sich ganz still, um die geflohenen Eidechsen wieder hervorkommen zu sehen, roch am Johanniskraut und hielt dessen kleine Blättchen gegen das Licht, um die hundert winzigen Nadelstiche in ihnen zu betrachten.

Wunderlich, dachte er, da hat jedes von den tausend kleinen Blättchen diesen kleinwinzigen Sternhimmel in sich gestochen, fein wie eine Stickerei. Wunderlich und unbegreiflich war doch alles, die Eidechsen, die Pflanzen, auch die Steine, überhaupt alles. Der Pater Anselm, der ihn so gern mochte, der konnte nun sein Johanniskraut nicht selbst mehr holen, er hatte es in den Beinen und war an manchen Tagen unbeweglich, und seine Arzneikunst konnte es nicht heilen. Vielleicht würde er schon bald eines Tages sterben, und die Krauter in der Kammer dufteten weiter, aber der alte Pater war nicht mehr da. Vielleicht aber lebte er auch noch lange, vielleicht zehn oder zwanzig Jahre, und hatte dann immer noch dieselben weißen dünnen Haare und dieselben drolligen Faltenbündel um die Augen; aber er selbst, Goldmund, was würde in zwanzig Jahren mit ihm sein? Ach, alles war unverständlich und eigentlich traurig, obwohl es auch schön war. Man wußte nichts. Man lebte und lief auf der Erde herum oder ritt durch die Wälder, und manches schaute einen so fordernd und versprechend und sehnsuchterweckend an: ein Stern am Abend, eine blaue Glockenblume, ein schilfgrüner See, das Auge eines Menschen oder einer Kuh, und manchmal war es, als müsse jetzt gleich etwas Niegesehenes und doch lang Ersehntes geschehen, ein Schleier von allem fallen; aber dann ging es vorüber, und es geschah nichts, und das Rätsel wurde nicht gelöst und der geheime Zauber nicht entbunden, und zuletzt wurde man alt und sah so pfiffig aus wie der Pater Anselm oder so weise wie der Abt Daniel und wußte vielleicht noch immer nichts, wartete und horchte noch immer.

Er hob ein leeres Schneckenhaus auf, es klirrte schwach zwischen den Steinen und war ganz warm von der Sonne. Versunken betrachtete er die Windungen des Gehäuses, die eingekerbte Spirale, die launige Verjüngung des Krönchens, den leeren Schlund, in dem es perlmuttern schimmerte. Er schloß die Augen, um die Formen nur mit den tastenden Fingern zu erfühlen, das war eine alte Gewohnheit und Spielerei von ihm. Die Schnecke zwischen den losen Fingern drehend, tastete er gleitend, ohne Druck, ihre Formen liebkosend nach, beglückt vom Wunder der Formung, vom Zauber des Körperlichen. Dies, dachte er träumerisch, war einer der Nachteile der Schule und der Gelehrsamkeit: es schien eine der Tendenzen des Geistes zu sein, alles so zu sehen und darzustellen, als ob es flach wäre und nur zwei Dimensionen hätte. Irgendwie schien ihm damit ein Mangel und Unwert des ganzen Verstandeswesens bezeichnet, doch vermochte er den Gedanken nicht festzuhalten, die Schnecke entglitt seinen Fingern, er fühlte sich müde und schläfrig. Den Kopf über seine Krauter gebückt, die im Welken mehr und mehr zu duften begannen, schlief er in der Sonne ein. Über seine Schuhe liefen die Eidechsen, auf seinen Knien welkten die Pflanzen, unter dem Ahorn wartete Bleß und wurde ungeduldig.

Vom fernen Walde her kam jemand gegangen, ein junges Weib m einem verblichenen blauen Rock, ein rotes Tüchlein ums schwarze Haar gebunden, mit braungebranntem Sommergesicht. Das Weib kam näher, ein Bündel in der Hand, eine kleine brennrote Steinnelke im Munde. Sie sah den Sitzenden, betrachtete ihn lange aus der Entfernung, neugierig und mißtrauisch, sah, daß er schlafe, kam behutsam näher, auf braunen nackten Füßen, blieb dicht vor Goldmund stehen und sah ihn an. Ihr Mißtrauen schwand, der hübsche schlafende Jüngling sah nicht gefährlich aus, er gefiel ihr wohl – wie kam der hierher auf die Brachfelder? Blumen hatte er gepflückt, sah sie mit Lächeln, sie waren schon welk.

Goldmund öffnete die Augen, aus Traumwäldern zurückkommend. Sein Kopf lag weich, er lag im Schoß einer Frau, in seine verschlafenen verwunderten Augen blickten fremde nahe Augen warm und braun. Er erschrak nicht, es war keine Gefahr, freundlich schienen die warmen braunen Sterne herab. Nun lächelte die Frau unter seinem erstaunten Blick, lächelte sehr freundlich, und langsam begann auch er zu lächeln. Auf seine lächelnden Lippen kam ihr Mund herab, sie begrüßten sich in einem sanften Kuß, bei welchem Goldmund alsbald jenes Abends im Dorfe und des kleinen Mädchens mit den Zöpfen gedenken mußte. Aber der Kuß war noch nicht zu Ende. Der Frauenmund verweilte an dem seinen, spielte weiter, neckte und lockte und ergriff zuletzt seine Lippen mit Gewalt und Gier, ergriff sein Blut und weckte es auf bis ins Innerste, und im langen stummen Spiel gab die braune Frau, ihn sacht belehrend, sich dem Knaben hin, ließ ihn suchen und finden, ließ ihn erglühen und stillte die Glut. Die holde kurze Seligkeit der Liebe wölbte sich über ihm, glühte golden und brennend auf, neigte sich und erlosch. Mit geschlossenen Augen lag er, das Gesicht auf der Brust des Weibes. Es war kein Wort gesprochen worden. Das Weib hielt stille, streichelte leise sein Haar, ließ ihn langsam zu sich kommen. Endlich tat er die Augen auf.

»Du«, sagte er. »Du! Wer bist du denn?« »Ich bin Lise«, sagte sie.

»Lise«, sprach er nach, den Namen kostend. »Lise, du bist lieb.«

Sie brachte ihren Mund nahe an sein Ohr und flüsterte hinein: »Du, ist es das erstemal gewesen? Hast du vor mir noch keine liebgehabt?«

Er schüttelte den Kopf. Dann plötzlich richtete er sich auf und blickte um sich, übers Feld und an den Himmel. »Oh«, rief er, »die Sonne ist schon ganz tief. Ich muß zurück.«

»Wohin denn?«

»Ins Kloster, zum Pater Anselm.«

»Nach Mariabronn? Da gehörst du hin? Willst du denn nicht noch bei mir bleiben?«

»Ich möchte gerne.«

»So bleib doch!«

»Nein, es wäre unrecht. Ich muß auch noch mehr von dem Kraut sammeln.«

»Bist du denn im Kloster?«

»Ja, ich bin Schüler. Aber ich bleibe nicht mehr dort. Kann ich zu dir kommen, Lise? Wo wohnst du denn, wo bist du zu Haus?«

»Ich wohne nirgends, mein Schatz. Willst du mir aber nicht deinen Namen sagen? – So, Goldmund heißest du? Gib mir noch einen Kuß, Goldmündchen, dann kannst du ja gehen.«

»Du wohnst nirgends? Wo schläfst du denn?«

»Wenn du willst, mit dir im Wald oder auf dem Heu. Kommst du heut nacht?«

»O ja. Wohin? Wo finde ich dich?«

»Kannst du schreien wie ein Käuzchen?«

»Ich habe es nie probiert.«

»Probiere es.«

Er versuchte es. Sie lachte und war zufrieden. »Dann komm heut nacht aus dem Kloster und schreie wie ein Käuzchen, ich bin in der Nähe. Gefalle ich dir denn, Goldmündlein, mein Kindlein?«

»Ach, du gefällst mir sehr, Lise. Ich komme. Behüt dich Gott, jetzt muß ich weiter.«

Auf dampfendem Pferd kam Goldmund in der Dämmerung ins Kloster zurück und war froh, daß er den Pater Anselm sehr beschäftigt fand. Ein Bruder hatte sich barfuß im Bach vergnügt und sich dabei einen Scherben in den Fuß getreten. Jetzt galt es, Narziß aufzufinden. Er fragte einen der dienenden Brüder, die im Refektorium aufwarteten. Nein, sagten sie, Narziß käme nicht zum Nachtmahl, er habe Fasttag und werde jetzt wohl schlafen, da er nachts Vigilien halte. Goldmund rannte. Seines Freundes Schlafstätte während der langen Exerzitien war eine der Büßerzellen im innern Kloster. Ohne Besinnen lief er hin. Er horchte an der Tür, nichts war zu hören. Leise trat er ein. Daß es streng verboten war, kam jetzt nicht in Betracht.

Auf der schmalen Pritsche lag Narziß, in der Dämmerung glich er einem Toten, wie er starr mit bleichem, spitzem Gesicht auf dem Rücken lag, die Hände über der Brust gekreuzt. Er hatte aber die Augen offen und schlief nicht. Stumm blickte er Goldmund an, ohne Vorwurf, doch ohne sich zu rühren und sichtlich so in einer Versunkenheit befangen, so in einer andern Zeit und Welt gegenwärtig, daß er Mühe hatte, den Freund zu erkennen und seine Worte zu verstehen.

»Narziß! Verzeih, verzeih, Lieber, daß ich dich störe, es geschieht nicht aus Mutwillen. Ich weiß, daß du jetzt eigentlich nicht mit mir sprechen darfst, aber tue es dennoch, ich bitte dich sehr darum.«

Narziß besann sich, einen Augenblick heftig blinzelnd, als gebe er sich Mühe, wach zu werden. »Ist es notwendig?« fragte er mit erloschener Stimme.

»Ja, es ist notwendig. Ich komme, um von dir Abschied zu nehmen.«

»Dann ist es notwendig. Du sollst nicht vergebens gekommen sein. Komm, setze dich zu mir. Eine Viertelstunde ist Zeit, dann beginnt die erste Vigilie.«

Er hatte sich aufgerichtet und saß hager auf dem nackten Schlafbrett; Goldmund setzte sich neben ihn.

»Verzeih nur!« sagte er schuldbewußt. Die Zelle, die kahle Pritsche, Narzissens überwachtes und überanstrengtes Gesicht, sein halb abwesender Blick, alles zeigte ihm deutlich, wie sehr er hier störe.

»Nichts zu verzeihen. Nimm auf mich keine Rücksicht, mir fehlt nichts. Du willst Abschied nehmen, sagst du? Du gehst also fort?«

»Ich gehe noch heut. Ach, ich kann es dir nicht erzählen! Es ist plötzlich alles zur Entscheidung gekommen.«

»Ist dein Vater da oder Botschaft von ihm?«

»Nein, nichts. Das Leben selber ist zu mir gekommen. Ich gehe fort, ohne Vater, ohne Erlaubnis. Ich mache dir Schande, du, ich laufe fort.«

Narziß blickte auf seine langen weißen Finger nieder, dünn und gespenstisch kamen sie aus den weiten Kuttenärmeln hervor. Nicht in seinem strengen, arg ermüdeten Gesicht, aber in seiner Stimme war ein Lächeln zu spüren, als er sagte: »Wir haben sehr wenig Zeit, Lieber. Sage nur das Notwendige, und sage es deutlich und kurz. – Oder muß ich es dir sagen, was mit dir geschehen ist?« »Sage es«, bat Goldmund.

»Du bist verliebt, kleiner Junge, du hast ein Weib kennengelernt.«

»Wie kannst du nun das wieder wissen!«

»Du machst es mir leicht. Dein Zustand, o amice, trägt alle Kennzeichen jener Art von Trunkenheit, die man Verliebtheit nennt. Nun sprich aber, bitte.«

Schüchtern legte Goldmund seine Hand auf des Freundes Schulter.

»Nun hast du es schon gesagt. Aber du hast es diesmal nicht gut gesagt, Narziß, nicht richtig. Es ist ganz anders. Ich war auf den Feldern draußen und schlief in der Hitze ein, und als ich aufwachte, lag mein Kopf auf den Knien einer schönen Frau, und ich fühlte sogleich, daß jetzt meine Mutter gekommen sei, um mich zu sich zu holen. Nicht, daß ich diese Frau für meine Mutter hielte, sie hatte dunkle braune Augen und schwarzes Haar, und meine Mutter war blond wie ich, sie sah ganz anders aus. Aber doch war sie es, war es ihr Ruf, war eine Botschaft von ihr. Wie aus den Träumen meines eigenen Herzens heraus war da plötzlich eine schöne fremde Frau gekommen, die hielt meinen Kopf in ihrem Schoß, und sie lächelte mich an wie eine Blume und war lieb mit mir, gleich bei ihrem ersten Kuß fühlte ich es in mir schmelzen und auf eine wunderbare Art weh tun. Alle Sehnsucht, die ich je gespürt, aller Traum, alle süße Angst, alles Geheimnis, das in mir geschlafen, wurde wach, alles war verwandelt, verzaubert, alles hatte Sinn bekommen. Sie hat mich gelehrt, was eine Frau ist und welches Geheimnis sie hat. Sie hat mich in einer halben Stunde um viele Jahre älter gemacht. Ich weiß jetzt vieles. Auch das wußte ich ganz plötzlich, daß jetzt meines Bleibens in diesem Hause nicht mehr sei, keinen einzigen Tag mehr. Ich gehe, sobald es Nacht ist.«

Narziß hörte zu und nickte.

»Es ist plötzlich gekommen«, sagte er, »aber es ist etwa das, was ich erwartet hatte. Ich werde viel an dich denken. Du wirst mir fehlen, amice. Kann ich etwas für dich tun?«

»Wenn es dir möglich ist, so sage unserm Abt ein Wort, daß er mich nicht völlig verdammt. Er ist der einzige außer dir im Hause, dessen Gedanken über mich mir nicht gleichgültig sind. Er und du.«

»Ich weiß … Hast du sonst ein Anliegen?«

»Eine Bitte, ja. Wenn du später an mich denkst, dann bete einmal für mich! Und … ich danke dir.«

»Wofür, Goldmund?«

»Für deine Freundschaft, für deine Geduld, für alles. Auch dafür, daß du mich heute anhörst, wo es doch schwer für dich ist. Auch dafür, daß du nicht versucht hast, mich zurückzuhalten.«

»Wie sollte ich dich zurückhalten wollen? Du weißt, wie ich darüber denke. – Aber wohin wirst du wohl gehen, Goldmund? Hast du denn ein Ziel? Gehst du zu jener Frau?«

»Ich gehe mit ihr, ja. Ein Ziel habe ich nicht. Sie ist eine Fremde, eine Heimatlose, so scheint es, vielleicht eine Zigeunerin.«

»Nun ja. Aber sag, mein Lieber, weißt du, daß dein Weg mit ihr vielleicht sehr kurz sein wird? Du solltest dich nicht zu sehr auf sie verlassen, glaube ich. Sie wird vielleicht Verwandte haben, vielleicht einen Mann; wer weiß, wie man dich dort aufnehmen wird.« Goldmund lehnte sich an den Freund.

»Ich weiß das«, sagte er, »obwohl ich bisher noch nicht daran gedacht hatte. Ich sagte dir schon: ein Ziel habe ich nicht. Auch jene Frau, die so sehr lieb mit mir war, ist nicht mein Ziel. Ich gehe zu ihr, aber ich gehe nicht ihretwegen. Ich gehe, weil ich muß, weil es mich ruft.«

Er schwieg und seufzte, und sie saßen, aneinandergelehnt, traurig und doch glücklich im Gefühl ihrer unzerstörbaren Freundschaft. Dann fuhr Goldmund fort: »Du mußt nicht glauben, daß ich ganz blind und ahnungslos bin. Nein. Ich gehe gerne, weil ich fühle, daß es sein muß, und weil ich heut etwas so Wunderbares erlebt habe. Aber ich denke mir nicht, daß ich in lauter Glück und Vergnügen hineinlaufe. Ich denke mir, der Weg wird schwer sein. Und doch wird er auch schön sein, hoffe ich. Es ist so sehr schön, einer Frau anzugehören, sich hinzugeben! Lache mich nicht aus, wenn es töricht klingt, was ich sage. Aber sieh: eine Frau zu lieben, ihr sich hinzugeben, sie ganz in sich einzuhüllen und sich von ihr eingehüllt fühlen, das ist nicht dasselbe, was du ‚Verliebtsein’ nennst und ein bißchen bespöttelst. Es ist nicht zu bespötteln. Es ist für mich der Weg zum Leben und der Weg zum Sinn des Lebens. – Ach, Narziß, ich muß dich verlassen! Ich liebe dich, Narziß, und ich danke dir, daß du mir heut ein bißchen Schlaf geopfert hast. Schwer fällt es mir, von dir fortzugehen. Wirst du mich nicht vergessen?«

»Mach dir und mir das Herz nicht schwer! Ich vergesse dich niemals. Du wirst wiederkommen, ich bitte dich darum, ich erwarte es. Wenn es dir einmal schlecht geht, so komm zu mir oder rufe mich. – Leb wohl, Goldmund, Gott sei mit dir!«

Er hatte sich erhoben. Goldmund umarmte ihn. Da er seines Freundes Scheu vor Liebkosungen kannte, küßte er ihn nicht, er streichelte nur seine Hände. Die Nacht brach ein, Narziß schloß die Zelle hinter sich und ging zur Kirche hinüber, seine Sandalen klappten auf den Steinfliesen. Goldmund folgte der hagern Gestalt mit liebenden Augen, bis sie am Ende des Ganges wie ein Schatten verschwand, von der Finsternis der Kirchenpforte eingeschluckt, angesogen und eingefordert von Übungen, von Pflichten, von Tugenden. O wie wunderlich, wie unendlich seltsam und verwirrt war doch alles! Wie seltsam und erschreckend war auch dies gewesen: mit seinem überströmenden Herzen, mit seiner blühenden Liebesberauschtheit zu seinem Freunde gerade in einer Stunde zu kommen, wo dieser meditierend, von Fasten und Wachen verzehrt, seine Jugend, sein Herz, seine Sinne ans Kreuz schlug und zum Opfer brachte und sich der strengsten Schule des Gehorsams unterzog, um nur dem Geiste zu dienen und ganz zum minister verbi divini zu werden! Da war er gelegen, todmüde und erloschen, mit dem bleichen Gesicht und den gemagerten Händen, wie ein Toter anzusehen, und war doch alsbald klar und freundlich auf den Freund eingegangen und hatte dem Verliebten, der noch nach einem Weibe duftete, sein Ohr geliehen und seine karge Ruhezeit zwischen zwei Bußübungen geopfert! Wunderlich war es, und wunderbar schön war es, daß es auch diese Art von Liebe gab, diese selbstlose, ganz vergeistigte. Wie anders war sie als diese Liebe heut im sonnigen Feld, dies trunkene und rechenschaftslose Spiel der Sinne! Und doch war beides Liebe. Ach, und jetzt war Narziß ihm verschwunden, nachdem er ihm in dieser letzten Stunde nochmals so deutlich gezeigt hatte, wie ganz und gar verschieden und einander unähnlich sie waren. Narziß lag jetzt vor dem Altar auf müden Knien, vorbereitet und geläutert zu einer Nacht voll Gebet und Betrachtung, in der ihm nicht mehr als zwei Stunden Ruhe und Schlaf erlaubt waren, während er, Goldmund, davonlief, um irgendwo unter den Bäumen seine Lise zu finden und jene süßen tierischen Spiele mit ihr zu wiederholen! Narziß hätte Beachtenswertes darüber zu sagen gewußt. Nun: er, Goldmund, war nicht Narziß. Ihm lag es nicht ob, diese schönen und schauerlichen Rätsel und Verwirrungen zu ergründen und Wichtiges darüber zu sagen. Ihm lag nichts ob, als seine Ungewissen, törichten Goldmundwege weiterzugehen. Ihm lag nichts ob, als sich hinzugeben und zu lieben, den betenden Freund in der nächtlichen Kirche nicht minder als die schöne warme junge Frau, die auf ihn wartete.

Als er, das Herz von hundert streitenden Gefühlen erregt, unter den Hoflinden davonschlich und den Ausgang durch die Mühle suchte, mußte er dennoch lächeln, als er sich plötzlich jenes Abends erinnerte, an dem er einst mit Konrad auf diesem selben Schleichweg das Kloster verlassen hatte, um »ins Dorf« zu gehen. Wie erregt und heimlich furchtsam hatte er damals den kleinen verbotenen Ausflug angetreten, und heute ging er für immer, ging viel verbotenere und gefährlichere Wege, und hatte keine Furcht dabei, dachte nicht an Pförtner, an Abt und Lehrer.

Es lagen diesmal keine Bretter am Bach, er mußte ohne Brücke hinüber. Er zog das Gewand aus und warf es ans andere Ufer, dann ging er nackt durch den tiefen, stark strömenden Bach, bis an die Brust im kalten Wasser.

Während er sich drüben wieder ankleidete, waren seine Gedanken wieder bei Narziß. Mit großer beschämender Klarheit sah er jetzt, daß er in dieser Stunde nichts anderes tue, als was jener vorausgewußt und wozu er ihn geführt habe. Er sah überdeutlich jenen klugen, etwas spöttischen Narziß wieder, der ihn so viel Törichtes hatte reden hören, und jenen, der ihm einst in wichtiger Stunde unter Schmerzen die Augen geöffnet hatte. Einige der Worte, die Narziß ihm damals gesagt, hörte er jetzt deutlich wieder: »Du schläfst an der Brust der Mutter, ich wache in der Wüste. Deine Träume sind von Mädchen, meine von Jünglingen.«

Einen Augenblick zog sein Herz sich frierend zusammen, schrecklich allein stand er da in der Nacht. Hinter ihm lag das Kloster, eine Scheinheimat nur, aber doch eine geliebte und langgewohnte.

Zugleich aber fühlte er das andere: daß jetzt Narziß nicht mehr sein mahnender und besserwissender Führer und Wecker war. Heute hatte er, so fühlte er, ein Land betreten, in dem er die Wege allein fand, in dem kein Narziß ihn mehr führen konnte. Er war froh, daß ihm dies bewußt wurde; es war ihm drückend und beschämend gewesen, so auf die Zeit seiner Abhängigkeit zurückzublicken. Jetzt war er sehend und war kein Kind und Schüler mehr. Es war gut, das zu wissen. Aber dennoch – wie schwer war es, Abschied zu nehmen! Ihn dort drüben in der Kirche knien zu wissen, ihm nichts geben, nichrhelfen, nichts sein zu können! Und nun für lange Zeit, vielleicht für immer, von ihm getrennt zu sein, nichts von ihm zu wissen, seine Stimme nicht mehr zu hören, sein edles Auge nicht mehr zu sehen!

Er riß sich los und folgte dem steinigen Sträßchen. Als er einhundert Schritte von den Klostermauern weg war, blieb er stehen, schöpfte Atem und stieß, so gut er konnte, den Eulenschrei aus. Ein gleicher Eulenschrei antwortete, bachabwärts, in der Ferne.

»Wie die Tiere schreien wir nacheinander«, mußte er denken und erinnerte sich der Liebesstunde am Nachmittag; erst jetzt kam es ihm zum Bewußtsein, daß zwischen ihm und Lise erst ganz zuletzt, am Ende der Liebkosungen, Worte gewechselt worden waren, und auch da nur wenige und belanglose! Wie lange Gespräche hatte er mit Narziß gehabt! Nun aber, so schien es, war er in eine Welt eingetreten, wo man nicht sprach, wo man einander mit Eulenrufen lockte, wo Worte keine Bedeutung hatten. Er war damit einverstanden, er hatte heut kein Bedürfnis mehr nach Worten oder Gedanken, nur nach Lise, nur nach diesem wortlosen, blinden, stummen Fühlen und Wühlen, nach diesem seufzenden Hinschmelzen.

Lise war da, schon kam sie ihm aus dem Walde entgegen. Er streckte die Hände aus, um sie zu fühlen, umfaßte mit zärtlich tastenden Händen ihren Kopf, ihr Haar, ihren Hals und Nacken, ihren schlanken Leib und die festen Hüften. Einen Arm um sie geschlungen, ging er mit ihr weiter, ohne zu sprechen, ohne zu fragen: wohin? Sicher ging sie in den nächtlichen Wald, er hatte Mühe mitzukommen, wie ein Fuchs oder Marder schien sie mit Nachtaugen zu sehen, ging ohne anzustoßen, ohne zu stolpern. Er ließ sich führen, in die Nacht, in den Wald, in das blinde geheimnisvolle Land ohne Worte, ohne Gedanken. Er dachte nicht mehr, auch nicht an das verlassene Kloster, auch nicht an Narziß. Stumm liefen sie eine finstere Waldstrecke, zuweilen auf weichem, polstrigem Moos, zuweilen auf harten Wurzelrippen, zuweilen war zwischen spärlichen hohen Baumkronen lichter Himmel über ihnen, zuweilen war es völlig finster; Sträucher schlugen ihm ins Gesicht, Brombeerranken hielten ihn am Gewände fest. Überall wußte sie Bescheid und fand sich durch, selten blieb sie stehen, selten zögerte sie. Nach einer langen Weile kamen sie zwischen einzelnen, weit voneinander stehenden Kiefern an, weithin lag der blasse Nachthimmel offen, der Wald war zu Ende, ein Wiesental nahm sie auf, süß duftete es nach Heu. Sie wateten durch einen kleinen, lautlos rinnenden Bach, hier im Freien, war es noch stiller als im Walde: kein rauschendes Gesträuch, kein aufschnellendes Nachtgetier, kein Knacken von Dürrholz mehr.

Bei einem großen Heuhaufen machte Lise halt.

»Hier bleiben wir«, sagte sie.

Sie setzten sich beide ins Heu, erst einmal aufatmend und die Rast genießend, beide etwas ermüdet. Sie streckten sich, hörten der Stille zu, fühlten ihre Stirnen trocknen und ihre Gesichter allmählich kühl werden. Goldmund kauerte in angenehmer Müdigkeit, zog spielend die Knie an und streckte sie wieder, sog Nacht und Heuduft in langen Atemzügen ein und dachte weder zurück noch an die Zukunft. Langsam nur ließ er sich vom Duft und der Wärme seiner Geliebten anziehen und bezaubern, erwiderte je und je das Streicheln ihrer Hände und fühlte beglückt, wie sie neben ihm allmählich zu erglühen begann und sich näher und näher zu ihm schob. Nein, hier waren weder Worte noch Gedanken vonnöten. Deutlich fühlte er alles, was wichtig und schön war, die Jugendkraft und einfache gesunde Schönheit des Frauenleibes, sein Warmwerden und Begehren; deutlich auch fühlte er, daß sie diesmal anders geliebt zu werden wünsche als beim erstenmal, daß sie diesmal ihn nicht verführen und belehren, sondern sein Angreifen und seine Begierde erwarten wolle. Still ließ er die Ströme durch sich hingehen, glücklich empfand er das lautlose stillwachsende Feuer, das in ihnen beiden lebendig war und das ihre kleine Lagerstätte zur atmenden und glühenden Mitte der ganzen schweigenden Nacht machte.

Als er sich über Lises Gesicht gebeugt hatte und im Dunkeln ihre Lippen zu küssen begann, sah er plötzlich ihre Augen und die Stirn in einem sanften Licht erschimmern, staunend blickte er hin und sah zu, wie der Schein aufdämmerte und schnell sich verstärkte. Dann begriff er und wandte sich um: überm Rand der schwarzen langgestreckten Wälder kam der Mond herauf. Wunderbar sah er das weiße sanfte Licht über ihre Stirn und Wangen fließen, über den runden lichten Hals, und sagte leise und entzückt: »Wie schön du bist!« Sie lächelte wie beschenkt, er richtete sie halb auf, zog ihr sanft das Gewand vom Halse weg, half ihr heraus und schälte sie, bis Schultern und Brust nackt im kühlen Mondlicht schimmerten. Mit Augen und Lippen folgte er hingenommen den zarten Schatten, schauend und küssend; wie bezaubert hielt sie still, mit gesenktem Blick und einem feierlichen Ausdruck, als werde ihre Schönheit in diesem Augenblick zum erstenmal, auch ihr selbst, entdeckt und offenbar.

Siebentes Kapitel

Während es über den Feldern kühl wurde und von Stunde zu Stunde der Mond höher rückte, ruhten die Liebenden auf ihrem sanft beschienenen Lager, in ihre Spiele verloren, gemeinsam entschlummernd und schlafend, im Erwachen sich neu zueinander wendend und einander entzündend, aufs neue ineinander verstrickt, aufs neue entschlafend. Nach der letzten Umarmung lagen sie erschöpft, Lise hatte sich tief ins Heu gepreßt und atmete schmerzlich, Goldmund lag auf dem Rücken, regungslos, und starrte lang in den bleichen Mondhimmel; in beiden stieg die große Traurigkeit empor, der sie in den Schlaf entflohen. Sie schliefen tief und verzweifelt, schliefen gierig, als sei es zum letztenmal, als seien sie zu ewigem Wachsein verurteilt und müßten in diesen Stunden vorher noch allen Schlaf der Welt in sich eintrinken.

Beim Erwachen sah Goldmund Lise mit ihren schwarzen Haaren beschäftigt. Er sah ihr eine Weile zu, zerstreut und erst halb wach geworden.

»Du bist schon wach?« sagte er schließlich. Sie wandte sich mit einem Ruck ihm zu, wie erschrocken.

»Ich muß jetzt fortgehen«, sagte sie, etwas bedrückt und verlegen. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Nun bin ich ja wach. Müssen wir denn schon weiter? Wir! sind doch heimatlos.«

»Ich, ja«, sagte Lise. »Du gehörst doch ins Kloster.«

»Ich gehöre nicht mehr ins Kloster, ich bin wie du, ich bin ganz allein und habe kein Ziel. Ich werde mit dir gehen, natürlich.«

Sie blickte zur Seite. »Goldmund, du kannst nicht mit mir kommen. Ich muß jetzt zu meinem Mann; er wird mich schlagen, weil ich die Nacht ausgeblieben bin. Ich sage, ich hätte mich verlaufen. Aber natürlich glaubt er es nicht.«

In diesem Augenblick erinnerte sich Goldmund, daß Narziß ihm dies vorausgesagt habe. Also so stand es nun. Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Ich habe mich verrechnet«, sagte er, »ich hatte geglaubt, wir beide würden beisammen bleiben. – Aber hast du mich wirklich schlafen lassen wollen und ohne Abschied fortlaufen?«

»Ach, ich dachte, du würdest böse werden und mich vielleicht schlagen. Daß mein Mann mich schlägt, nun ja, das ist so, es ist in Ordnung. Aber ich wollte nicht auch noch von dir Schläge bekommen.«

Er hielt ihre Hand fest.

»Lise«, sagteer, »ich schlage dich nicht, heute nicht und niemals. Willst du nicht lieber mit mir gehen statt mit deinem Mann, wenn er dich doch prügelt?«

Sie zog heftig, um ihre Hand loszubekommen.

»Nein, nein, nein«, rief sie, mit einer weinerlichen Stimme. Und weil er wohl fühlte, daß ihr Herz von ihm fortstrebe, und daß sie lieber von dem andern Schläge wolle als von ihm gute Worte, ließ er die Hand los, und jetzt fing sie an zu weinen. Aber zugleich lief sie. Die Hände vor die nassen Augen haltend, lief sie davon. Er sagte nichts mehr und sah ihr nach. Sie tat ihm leid, wie sie da über die gemähten Wiesen fortstrebte, von irgendeiner Macht gerufen und gezogen, einer unbekannten Macht, über welche er sich Gedanken machen mußte. Sie tat ihm leid, und auch er selbst tat sich ein wenig leid; er hatte da kein Glück gehabt, schien es, allein und etwas dumm saß er da, verlassen, sitzengeblieben. Indessen war er noch immer müde und schlaflüstern, noch nie war er so erschöpft gewesen. Es war später noch Zeit, unglücklich zu sein. Schon schlief er wieder und kam erst wieder zu sich, als ihm die schon hochgestiegene Sonne heiß machte.

Jetzt war er ausgeruht; rasch erhob er sich, lief zum Bach, wusch sich und trank. Viele Erinnerungen kamen ihm jetzt, aus den Liebesstunden dieser Nacht dufteten wie fremde Blumen viele Bilder, viele holde zärtliche Empfindungen herauf. Ihnen sann er nach, während er rüstig zu wandern begann, fühlte alles nochmals, schmeckte, roch und tastete alles noch einmal und noch einmal. Wieviel Träume hatte ihm das fremde braune Weib erfüllt, wieviel Knospen zum Blühen gebracht, wieviel Neugierde und Sehnsucht gestillt und wieviel neue erweckt!

Und vor ihm lag Feld und Heide, lag vertrocknetes Brachfeld und dunkler Wald, dahinter mochten Höfe liegen und Mühlen, ein Dorf, eine Stadt. Zum erstenmal lag die Welt offen vor ihm, offen und wartend, bereit, ihn aufzunehmen, ihm wohlzutun und wehzutun. Er war kein Schüler mehr, der die Welt durchs Fenster sieht, seine Wanderung war kein Spaziergang mehr, dessen Ende unweigerlich die Rückkehr war. Diese große Welt war jetzt wirklich geworden, er war ein Teil von ihr, in ihr ruhte sein Schicksal, ihr Himmel war der seine, ihr Wetter das seine. Klein war er in dieser großen Welt, klein lief er wie ein Hase, wie ein Käfer durch ihre blau und grüne Unendlichkeit. Da rief keine Glocke zum Aufstehen, zum Kirchgang, zur Lektion, zum Mittagstisch.

O wie hungrig er war! Ein halber Laib Gerstenbrot, eine Schüssel Milch, eine Mehlsuppe – was waren das für zauberhafte Erinnerungen! Wie ein Wolf war sein Magen erwacht. An einem Kornfeld kam er vorüber, die Ähren waren halbreif, er enthülste sie mit Fingern und Zähnen, mahlte die kleinen glitschigen Körner mit Gier, holte immer neue, stopfte sich die Taschen mit Ähren voll. Und dann fand er Haselnüsse, noch sehr grüne, und biß mit Lust in die krachenden Schalen; auch von ihnen nahm er Vorrat mit.

Nun begann wieder Wald, Fichtenwald mit Eichen und Eschen dazwischen, und hier gab es Heidelbeeren in unendlicher Menge, da hielt er Rast und aß und kühlte sich. Zwischen dem dünnen harten Waldgras standen blaue Glockenblumen, braune sonnige Falter flogen auf und verschwanden launisch in zackigem Flug. In einem solchen Walde hatte die heilige Genoveva gewohnt, ihre Geschichte hatte er immer geliebt. O wie gern wäre er ihr begegnet! Oder es mochte etwa eine Einsiedelei im Walde sein, mit einem alten bärtigen Pater in einer Höhle oder Rindenhütte. Vielleicht hausten auch Köhler in diesem Walde, gern hätte er sie begrüßt. Es mochten selbst Räuber sein, ihm hätten sie wohl nichts getan. Schön wäre es, Menschen anzutreffen, irgendwelche. Aber er wußte freilich: vielleicht konnte er lang im Walde weitergehen, heut und morgen und noch manchen Tag, ohne jemand zu begegnen. Auch das mußte hingenommen werden, wenn es ihm so bestimmt war. Man durfte nicht viel denken, man mußte alles kommen lassen, wie es mochte.

Er hörte einen Specht klopfen und versuchte ihn zu beschleichen; lange gab er sich vergeblich Mühe, ihn zu Gesicht zu bekommen, endlich gelang es ihm doch, und er sah ihm eine Weile zu, wie er einsam am Baumstamm klebte und hämmerte und den fleißigen Kopf hin und her bewegte. Schade, daß man nicht mit den Tieren sprechen konnte! Es wäre schön gewesen, den Specht anzurufen und ihm etwas Freundliches zu sagen und vielleicht etwas von seinem Leben in den Bäumen zu erfahren, von seiner Arbeit und seiner Freude. Oh, daß man sich verwandeln könnte! Es fiel ihm ein, wie er in Mußestunden manchmal gezeichnet hatte, wie er mit dem Griffel auf seiner Schreibtafel Figuren gezogen hatte, Blumen, Blätter, Bäume, Tiere, Menschenköpfe. Damit hatte er oft lange gespielt, und manchmal hatte er wie ein kleiner Herrgott Kreaturen nach seinem Willen erschaffen, er hatte in einen Blumenkelch Augen und einen Mund gezeichnet, er hatte ein aus dem Zweig sprossendes Blätterbündel zu Figuren gestaltet, er hatte einem Baum einen Kopf aufgesetzt. Bei diesem Spiel war er oft eine Stunde lang glücklich und verzaubert gewesen, hatte zaubern können, hatte Linien gezogen und sich selbst davon überraschen lassen, ob aus der begonnenen Gestalt das Blatt eines Baumes, die Schnauze eines Fisches, der Schwanz eines Fuchses, die Augenbraue eines Menschen werde. So sollte man verwandlungsfähig sein, dachte er jetzt, wie es damals die spielerischen Linien auf seinem Täfelchen gewesen waren! Goldmund wäre so gerne ein Specht geworden, vielleicht für einen Tag, vielleicht für einen Monat, hätte in den Wipfeln gewohnt, wäre hoch an den glatten Stämmen gelaufen, hätte mit starkem Schnabel in die Rinde gepickt und sich mit den Schwanzfedern gegengestemmt, hätte Spechtsprache gesprochen und gute Sachen aus der Rinde geholt. Süß und kernig klang das Spechtgehämmer im klingenden Holz.

Viele Tiere traf Goldmund unterwegs im Walde. Er traf manche Hasen, die schossen plötzlich aus dem Gehölz, wenn er nahe kam, starrten ihn an, wandten sich und jagten davon, die Ohren niedergelegt, hell unterm Schwanz. In einer kleinen Lichtung fand er eine lange Schlange liegen, die lief nicht davon, es war keine lebendige Schlange, nur ihre leere Haut, er nahm sie und betrachtete sie, grau und braun lief ein schönes Muster über ihren Rücken, und die Sonne schien durch sie hindurch, sie war dünn wie Spinnweb. Schwarze Amseln mit gelben Schnäbeln sah er, die blickten starr und eng aus schwarzen ängstlichen Augenkugeln und flohen in niedrigem Fluge der Erde nah davon. Rotbrüstchen und Finken gab es viele. An einem Ort im Walde war ein Loch, ein Tümpel voll mit grünem, dickem Wasser, auf dem liefen langbeinige Spinnen eifrig und wie besessen durcheinander, einem unverständlichen Spiel hingegeben, und darüber flogen ein paar Wasserjungfern mit tief dunkelblauen Flügeln. Und einmal, schon gegen den Abend, sah er etwas – vielmehr er sah nichts als bewegtes durchwühltes Laub und hörte Zweige brechen und feuchte Erde aufklatschen und ein großes, kaum sichtbares Tier mit gewaltiger Wucht durchs Gestrüpp rennen und brechen, vielleicht ein Hirsch, vielleicht eine Sau, er wußte es nicht. Lange stand er noch, vom Schrecken aufatmend, tief erregt lauschte er der Bahn des Tieres nach, lauschte noch mit Herzklopfen, als längst alles still geworden war.

Er fand nicht aus dem Walde heraus, er mußte darin übernachten. Während er eine Schlafstätte aussuchte und ein Moosbett aufbaute, suchte er sich auszudenken, wie das sein würde, wenn er nie mehr aus den Wäldern fände und für immer darin bleiben müßte. Und er fand, daß dies ein großes Unglück sein würde. Von Beeren leben, das war am Ende möglich, und auf Moos schlafen auch, außerdem würde es ihm ohne Zweifel gelingen, sich eine Hütte zu bauen, vielleicht sogar Feuer zu machen. Aber immer und immer allein zu bleiben und zwischen den stillen schlafenden Baumstämmen zu hausen und zwischen den Tieren zu leben, die vor einem davonliefen und mit denen man nicht sprechen konnte, das würde unerträglich traurig sein. Keine Menschen sehen, niemandem guten Tag und gute Nacht sagen, in keine Gesichter und Augen mehr blicken können, keine Mädchen und Frauen mehr ansehen, keinen Kuß mehr spüren, nicht mehr das heimliche holde Spiel der Lippen und Glieder spielen, o das wäre unausdenklich! Wenn ihm das beschieden wäre, dachte er, dann würde er versuchen, ein Tier zu werden, ein Bär oder Hirsch, sei es auch unter Verzicht auf die ewige Seligkeit. Ein Bär zu sein und eine Bärin zu lieben, das wäre nicht schlecht und wäre zumindest sehr viel besser, als seine Vernunft und Sprache und all das zu behalten und damit allein und traurig und ungeliebt dahinzuleben.

In seinem Moosbett, vor dem Einschlafen, hörte er neugierig und ängstlich die vielen unverständlichen, rätselhaften Nachtgeräusche des Waldes. Sie waren jetzt seine Kameraden, mit ihnen mußte er leben, sich an sie gewöhnen, sich mit ihnen messen und vertragen; er gehörte zu den Füchsen und Rehen, zu Tanne und Fichte, mit ihnen mußte er leben, mit ihnen sich in Luft und Sonne teilen, mit ihnen den Tag erwarten, mit ihnen hungern, bei ihnen zu Gast sein.

Dann schlief er und träumte von Tieren und Menschen, war ein Bär und fraß die Lise unter Liebkosungen auf. Mitten in der Nacht wachte er mit tiefem Schrecken auf, wußte nicht warum, fühlte sein Herz unendlich bang und sann lange verstört nach. Es fiel ihm ein, daß er gestern und heute ohne Nachtgebet schlafen gegangen war. Er stand auf, kniete neben seinem Lager nieder und betete seinen Abendspruch zweimal, für gestern und für heut. Bald schlief er wieder.

Verwundert blickte er sich am Morgen im Walde um, er hatte vergessen, wo er war. Die Waldangst begann nun nachzulassen, mit neuer Freude vertraute er sich dem Waldleben an, immer aber weiter wandernd und seinen Weg nach der Sonne richtend. Einmal fand er eine Waldstrecke, die war vollkommen eben, mit wenig Unterholz, und der Wald bestand aus lauter sehr dicken, alten, geraden Weißtannen; als er eine Weile zwischen diesen Säulen gegangen war, begannen sie ihn an die Säulen der großen Klosterkirche zu erinnern, eben jener Kirche, in deren schwarzes Portal er seinen Freund Narziß neulich hatte verschwinden sehen – wann doch? War das wirklich erst vor zwei Tagen gewesen? Erst nach zwei Tagen und zwei Nächten kam er aus dem Walde heraus. Mit Freude erkannte er die Zeichen der Menschennähe: bebautes Land, Streifen Ackers mit Roggen und mit Hafer bestanden, Wiesen, durch welche, da und dort ein Stückchen weit sichtbar, ein schmaler Fußweg getreten war. Goldmund pflückte Roggen und kaute, freundlich blickte das bestellte Land ihn an, menschlich mutete und gesellig nach der langen Waldwildnis alles ihn an, das Wegchen, der Haber, die verblühten weißgewordenen Kornnelken. Nun würde er zu Menschen kommen. Nach einer kleinen Stunde kam er an einem Acker vorüber, an dessen Rande stand ein Kreuz aufgerichtet, er kniete und betete zu seinen Füßen. Um eine vorspringende Hügelnase biegend, stand er plötzlich vor einem schattigen Lindenbaum, hörte entzückt die Melodie eines Brunnens, dessen Wasser aus hölzerner Röhre in einen langen Holztrog fiel, trank kaltes köstliches Wasser und sah mit Freude ein paar Strohdächer aus den Holundern ragen, deren Beeren schon dunkel waren. Tiefer als alle diese freundlichen Zeichen berührte ihn das Brüllen einer Kuh, das klang ihm so wohlig, warm und wohnlich entgegen wie eine Begrüßung und ein Willkomm.

Spähend näherte er sich der Hütte, aus der das Kuhgebrüll gekommen war. Vor der Haustür saß im Staube ein kleiner Knabe mit rötlichem Haar und hellblauen Augen, der hatte einen irdenen Topf voll Wasser neben sich stehen, und aus dem Staub und dem Wasser machte er einen Teig, mit dem seine nackten Beine schon überzogen waren. Glücklich und ernsthaft drückte er den nassen Dreck zwischen seinen Händen, sah ihn zwischen den Fingern hervorquellen, machte Kugeln daraus und nahm zum Kneten und Formen auch noch sein Kinn zu Hilfe.

»Grüß Gott, Bub«, sagte Goldmund sehr freundlich. Aber der Kleine, als er aufblickte und einen Fremden sah, riß das Mäulchen auf, verzog das feiste Gesicht und lief plärrend auf allen vieren zur Haustür hinein. Goldmund folgte ihm und kam in die Küche; sie war so dämmerig, daß er, aus dem hellen Mittagsglast hereinkommend, anfangs nichts zu sehen vermochte. Er sprach für alle Fälle einen frommen Gruß, es kam keine Antwort; über dem Geschrei des erschreckten Knaben wurde aber allmählich eine dünne greise Stimme hörbar, die dem Buben tröstend zusprach. Endlich erhob sich im Dunkel und näherte sich eine kleine alte Frau, hielt eine Hand vor die Augen und sah zu dem Gaste auf.

»Grüß dich Gott, Mutter«, rief Goldmund, »und alle lieben Heiligen sollen dein gutes Gesicht segnen; seit drei Tagen habe ich kein Menschengesicht mehr gesehen.«

Blöde schaute das alte Weiblein aus weitsichtigen Augen.

»Was willst denn du?« fragte sie unsicher.

Goldmund gab ihr die Hand und streichelte die ihre ein wenig. »Grüß Gott sagen will ich dir, Großmütterchen, und ein bißchen ausruhen und dir beim Feuermachen helfen. Ein Stück Brot, wenn du mir eins geben willst, verschmähe ich nicht, es hat aber keine Eile damit.«

Er sah eine Bank an die Wand gezimmert, auf die setzte er sich, während die Alte dem Buben ein Stück Brot abschnitt, der jetzt gespannt und neugierig, aber noch jeden Augenblick zum Weinen und Weglaufen bereit, zu dem Fremden hinüberstarrte. Die Alte schnitt noch ein zweites Stück Brot vom Laib und brachte es Goldmund.

»Danke schön«, sagte er, »Gott soll dir's lohnen.«

»Hast du einen leeren Bauch?« fragte das Weib. »Das nicht, er ist voll von Heidelbeeren.«

»Na dann iß! Wo kommst du her?«

»Von Mariabronn, vom Kloster.«

»Bist ein Pfaff?«

»Das nicht. Ein Schüler. Auf Reisen.«

Sie sah ihn an, halb spöttisch, halb blöde, und schüttelte ein wenig den Kopf auf dem hagern faltigen Halse. Sie ließ ein paar Bissen kauen und brachte den Kleinen wieder an die Sonne hinaus. Dann kam sie wieder, neugierig, und fragte:

»Weißt du was Neues?«

»Nicht viel. Kennst du den Pater Anselm?«

»Nein. Was ist mit dem?«

»Krank ist er.«

»Krank? Muß er sterben?«

»Weiß nicht. Es ist in den Beinen. Er kann nicht gut gehen.«

»Muß er sterben?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht.«

»Na, laß ihn sterben. Ich muß Suppe kochen. Hilf mir Späne schneiden.«

Sie gab ihm ein Tannenscheit, hübsch am Herd getrocknet,, und ein Messer. Er schnitt Späne, so viel sie wollte, und sah zu, wie sie sie in die Asche steckte und sich darüber bückte und hastete und blies, bis sie Feuer fingen. Nach einer genauen, geheimen Ordnung schichtete sie nun auf, Tannenes und Buchenes, hell strahlte das Feuer auf dem offenen Herd, sie rückte den großen schwarzen Kessel in die Flammen, der an verrußter Kette aus dem Rauchfang hing.

Goldmund holte auf ihren Befehl Wasser am Brunnen, rahmte die Milchschüssel ab, saß in der rauchigen Dämmerung, sah die Flammen spielen und über ihnen das knochige Runzelgesicht der Alten in roten Schimmern erscheinen und verschwinden; er hörte nebenan, hinter bretterner Wand, die Kuh in der Raufe wühlen und stoßen. Es gefiel ihm sehr. Die Linde, der Brunnen, das flackernde Feuer unterm Kessel, das Schnauben und Mahlen der fressenden Kuh und ihre dumpfen Stöße gegen die Wand, der halbdunkle Raum mit Tisch und Bank, das Hantieren der kleinen greisen Frau, das alles war schön und gut, roch nach Nahrung und Frieden, nach Menschen und Wärme, nach Heimat. Auch zwei Ziegen waren da, und von der Alten erfuhr er, man habe auch einen Schweinestall hintenan, und die Alte war des Bauern Großmutter, die Urahne des kleinen Buben. Der hieß Kuno, er kam ab und zu herein, und wenn er auch kein Wörtchen sprach und etwas ängstlich blickte, er weinte doch nicht mehr.

Es kam der Bauer mit seinem Weibe, die waren sehr erstaunt, einen Fremden im Haus zu treffen. Der Bauer wollte schon zu schimpfen anfangen, mißtrauisch zog er den Jüngling am Arm zur Tür, um beim Tageslicht sein Gesicht zu besehen; dann lachte er, schlug ihm wohlmeinend auf die Schulter und lud ihn zum Essen ein. Sie setzten sich, und jeder tauchte sein Brot in die gemeinsame Milchschüssel, bis die Milch zur Neige ging und der Bauer den Rest austrank. Goldmund fragte, ob er bis morgen bleiben und unter ihrem Dach schlafen dürfe. Nein, meinte der Mann, dazu sei kein Raum; aber draußen liege ja überall noch Heu genug, da werde er schon ein Lager finden.

Die Bäuerin hatte den Kleinen neben sich, sie nahm nicht am Gespräch teil; aber während des Essens nahmen ihre neugierigen Augen von dem jungen Fremden Besitz. Seine Locken und sein Blick hatten ihr sogleich Eindruck gemacht, dann nahm sie mit Gefallen auch seinen hübschen weißen Hals, seine vornehmen glatten Hände und deren freie schöne Bewegungen wahr. Ein stattlicher und vornehmer Fremder war das, und so jung! Was sie aber am meisten anzog und verliebt machte, war die Stimme des Fremden, diese heimlich singende, warm ausstrahlende, sanft werbende junge Männerstimme, die wie Liebkosung klang. Noch lang hätte sie dieser Stimme zuhören mögen. Nach dem Essen machte der Bauer sich im Stall zu schaffen; Goldmund war aus dem Hause getreten, hatte sich am Brunnen die Hände gewaschen und saß auf dem niedrigen Brunnenrand, sich kühlend und dem Wasser zuhörend. Unschlüssig saß er; er hatte hier nichts mehr zu suchen, doch tat es ihm leid, schon wieder gehen zu sollen. Da kam die Bäuerin heraus, einen Eimer in der Hand, den stellte sie unter den Strahl und ließ ihn vollaufen. Mit halber Stimme sagte sie: »Du, wenn du heut abend noch in der Nähe bist, will ich dir zu essen bringen. Dort hinüber, hinter dem langen Gerstenfeld, liegt Heu, das wird erst morgen geholt. Wirst du noch da sein?«

Er sah ihr ins sommersprossige Gesicht, sah ihre starken Arme den Eimer rücken, warm blickten ihre hellen großen Augen. Er lächelte ihr zu und nickte, und schon schritt sie mit dem vollen Eimer weg und verschwand im Dunkel der Türe. Dankbar saß er, sehr zufrieden, und hörte dem laufenden Wasser zu. Ein wenig später ging er hinein, suchte den Bauern, gab ihm und der Großmutter die Hand und bedankte sich. Es roch nach Feuer, nach Ruß und nach Milch in der Hütte. Eben war sie noch Obdach und Heimat gewesen, schon ward sie wieder Fremde. Grüßend ging er hinaus. Jenseits der Hütten fand er eine Kapelle stehen, und in ihrer Nähe ein schönes Gehölz, eine Gruppe alter starker Eichen, mit kurzem Grase darunter. Hier im Schatten blieb er und wandelte spazierend zwischen den dicken Stämmen hin und wider. Sonderbar, dachte er, war das mit den Frauen und der Liebe; sie bedurften in der Tat keiner Worte. Eines Wortes hatte die Frau bloß bedurft, um ihm den Ort des Stelldicheins zu bezeichnen, alles andere hatte sie nicht mit Worten gesagt. Womit denn? Mit den Augen, ja, und mit einem gewissen Klang in der etwas belegten Stimme, und noch mit irgend etwas, einem Duft vielleicht, einer zarten, leisen Ausstrahlung der Haut, an welcher Frauen und Männer es sofort erkennen konnten, wenn sie einander begehrten. Merkwürdig war es, wie eine delikate Geheimsprache, und so rasch hatte er diese Sprache gelernt! Er freute sich sehr auf den Abend, er war voll Neugierde, wie diese große blonde Frau sein möchte, was für Blicke und Töne, was für Glieder, Bewegungen und Küsse sie haben würde – gewiß ganz andere als Lise. Wo mochte sie jetzt sein, die Lise, mit ihrem schwarzen straffen Haar, ihrer braunen Haut, ihren kurzen Seufzern? Hatte ihr Mann sie geschlagen? Dachte sie noch an ihn? Hatte sie schon wieder einen neuen Liebhaber gefunden, so wie er heut eine neue Frau gefunden hatte? Wie schnell ging das alles, wie lag überall das Glück am Wege, wie schön und heiß war es und wie sonderbar vergänglich! Es war Sünde, es war Ehebruch, noch vor kurzem hätte er sich lieber töten lassen, als diese Sünde zu begehen. Und jetzt war es schon die zweite Frau, auf die er wartete, und sein Gewissen war still und ruhig. Das heißt, ruhig war es vielleicht doch nicht; aber es war nicht der Ehebruch und die Wollust, wegen der sein Gewissen manchmal unruhig war und Last trug. Es war etwas anderes, er konnte es nicht mit Namen nennen. Es war das Gefühl einer Schuld, die man nicht begangen, sondern schon mit sich zur Welt gebracht hat. Vielleicht war es dies, was in der Theologie Erbsünde genannt wurde? Es mochte wohl sein. Ja, das Leben selbst trug etwas wie Schuld in sich – warum sonst hätte ein so reiner und so wissender Mensch wie Narziß sich Bußübungen unterzogen wie ein Verurteilter? Oder warum hätte er selbst, Goldmund, irgendwo in der Tiefe diese Schuld fühlen müssen? War er denn nicht glücklich? War er nicht jung und gesund, war er nicht frei wie der Vogel m der Luft? Liebten ihn nicht die Frauen? War es nicht schön zu fühlen, wie er als Liebender dieselbe tiefe Lust, die er empfand, dem Weibe geben durfte? Warum also war er dennoch nicht ganz und gar glücklich? Warum konnte in sein junges Glück ebenso wie in Narzissens Tugend und Weisheit zuzelten dieser merkwürdige Schmerz dringen, diese leise Angst, diese Klage um die Vergänglichkeit? Warum mußte er so manchmal grübeln, nachdenken, obwohl er doch wußte, daß er kein Denker sei?

Nun, dennoch war es schön zu leben. Er pflückte im Grase eine kleine violette Blume, hielt sie nah ans Auge, blickte in die kleinen engen Kelche hinein, da liefen Adern und lebten winzige haarfeine Organe; wie im Schoß einer Frau oder wie im Gehirn eines Denkenden schwang da Leben, zitterte da Lust. O warum wußte man so gar nichts? Warum konnte man nicht mit dieser Blume sprechen? Aber es konnten ja nicht einmal zwei Menschen wirklich miteinander sprechen, dazu bedurfte es schon eines Glücksfalles, einer besonderen Freundschaft und Bereitschaft. Nein, es war ein Glück, daß die Liebe keiner Worte bedurfte; sie wäre sonst voll Mißverständnis und Torheit geworden. Ach, wie Lises Auge, das halbgeschlossene, im Übermaß der Wonne wie gebrochen war und nur noch Weißes im Schlitz der zuckenden Lider gezeigt hatte – mit zehntausend gelehrten oder dichterischen Worten war das nicht auszusprechen! Nichts, ach nichts überhaupt ließ sich irgend aussprechen, irgend ausdenken – und dennoch hatte man in sich immer wieder das drängende Bedürfnis zu sprechen, den ewigen Antrieb zu denken!

Er betrachtete die Blätter der kleinen Pflanze, wie sie um den Stengel her so hübsch, so merkwürdig klug geordnet waren. Schön waren die Verse des Vergil, er liebte sie; aber es stand mancher Vers im Vergil, der nicht halb so klar und klug, nicht halb so schön und sinnvoll war wie die spiralige Ordnung dieser winzigen Blättchen am Stengel empor. Welch ein Genuß, welch ein Glück, welch ein entzückendes, edles und sinnvolles Tun wäre es, wenn ein Mensch es vermöchte, eine einzige solche Blume zu erschaffen! Aber keiner vermochte das, kein Held und kein Kaiser, kein Papst und kein Heiliger.

Als die Sonne tief stand, machte er sich auf und suchte den Ort, den ihm die Bäuerin gewiesen hatte. Dort wartete er. Schön war es, so zu warten und zu wissen, daß eine Frau unterwegs war und lauter Liebe mitbrachte. Sie kam mit einem leinenen Tuch, in das hatte sie ein großes Stück Brot und eine Schnitte Speck gebunden. Sie knüpfte es auf und legte es vor ihm dar.

»Für dich«, sagte sie. »Iß!«

»Nachher«, sagte er, »ich bin nicht hungrig nach Brot, ich bin hungrig nach dir. O zeig, was du mir Schönes mitgebracht hast!«

Viel Schönes hatte sie ihm mitgebracht, starke durstige Lippen, starke funkelnde Zähne, starke Arme, die waren rot von der Sonne, aber innen unterm Halse und hinabwärts waren sie weiß und zart. Worte wußte sie wenige, aber in der Kehle sang sie einen holden lockenden Ton, und als sie seine Hände auf sich spürte, so zarte, zärtliche und gefühlige Hände, wie sie nie gespürt hatte, schauerte ihre Haut, und es klang in ihrer Kehle wie in der einer schnurrenden Katze. Sie wußte wenig Spiele, weniger als Lise, aber sie war wunderbar kräftig, sie drückte, als wolle sie ihrem Liebsten den Hals brechen. Kindlich und gierig war ihre Liebe, einfach und in aller Kraft noch schamhaft; Goldmund war sehr glücklich mit ihr.

Dann ging sie, seufzend, schwer riß sie sich los, sie durfte nicht bleiben.

Goldmund blieb allein zurück, glücklich und auch traurig. Spät erst erinnerte er sich des Brotes, des Specks und aß einsam, es war schon ganz Nacht.

Achtes Kapitel

Eine lange Weile schon war Goldmund gewandert, selten ein zweites Mal am selben Ort zur Nacht, überall von Frauen begehrt und beglückt, von der Sonne braungebrannt, vom Wandern und von schmaler Kost gemagert. Viele Frauen hatten in der Morgenfrühe von ihm Abschied genommen und waren gegangen, manche mit Tränen, und manches Mal hatte er gedacht: »Warum bleibt keine bei mir? Warum, wenn sie schon mich lieben und einer Liebesnacht wegen die Ehe brechen – warum kehren sie alle sofort zu ihren Männern zurück, von denen sie meistens Prügel zu fürchten haben?« Keine hatte ihn ernstlich gebeten dazubleiben, keine einzige hatte ihn je gebeten, sie mitzunehmen, und war aus Liebe bereit gewesen, Freude und Not der Wanderschaft mit ihm zu teilen. Er hatte zwar keine dazu eingeladen, hatte keiner diesen Gedanken nahegelegt; wenn er sein Herz befragte, so sah er, daß seine Freiheit ihm lieb war, und er konnte sich keiner Geliebten erinnern, nach der die Sehnsucht ihn nicht in den Armen der nächsten verlassen hätte. Aber dennoch war es ihm wunderlich und ein wenig traurig, daß überall Liebe so sehr vergänglich schien, die der Frauen wie seine eigene, daß sie ebenso schnell satt war wie entflammt. War das richtig? War das immer und überall so? Oder lag es an ihm selbst, war er vielleicht so beschaffen, daß die Weiber ihn zwar begehrten und schön fanden, aber keine Gemeinschaft mit ihm verlangten als die kurze, wortlose im Heu oder auf dem Moos? Lag es daran, daß er auf Wanderschaft lebte und daß die Seßhaften vor dem Leben der Heimatlosen ein Grauen fühlten? Oder lag es allein an ihm, an seiner Person, daß die Frauen ihn wie eine hübsche Puppe begehrten und an sich drückten, dann aber alle zu ihren Männern zurückliefen, auch wenn dort Schläge sie erwarteten? Er wußte es nicht.

Von den Frauen zu lernen wurde er nicht müde. Zwar zog es ihn mehr zu den Mädchen, zu den ganz Jungen, die noch keine Männer hatten und nichts wußten, in sie konnte er sich sehnlich verlieben; aber meistens waren die Mädchen unerreichbar, die geliebten, die schüchternen und wohlbehüteten. Aber auch von den Frauen lernte er gern. Jede ließ ihm etwas zurück, eine Gebärde, eine Art von Kuß, ein besonderes Spiel, eine besondere Art von Sichgeben oder von Sichwehren. Goldmund ging auf alles ein, er war unersättlich und biegsam wie ein Kind, er stand jeder Verführung offen: nur dadurch war er selbst so verführend. Seine Schönheit allein hätte nicht genügt, ihm die Frauen so leicht zuzuführen; es war diese Kindlichkeit, dies Offenstehen, diese neugierige Unschuld der Begierde, diese vollkommene Bereitschaft zu allem, was eine Frau irgend von ihm begehren mochte. Er war, ohne es selbst zu wissen, bei jeder Geliebten gerade so, wie sie ihn wünschte und erträumte, bei der einen zart und abwartend, bei der andern rasch und zupackend, einmal kindlich wie ein zum erstenmal eingeweihter Knabe, einmal künstlich und unterrichtet. Er war zum Spielen bereit und zum Kämpfen, zum Seufzen und zum Lachen, zur Scham und zur Schamlosigkeit; er tat einer Frau nichts, was sie nicht begehrte, nichts, was nicht sie aus ihm hervorlockte. Das war es, was jede Frau von klugen Sinnen rasch in ihm witterte, dies machte ihn zu ihrem Liebling. Er aber lernte. Er lernte nicht nur in kurzer Zeit viele Liebesarten und Liebeskünste und nahm die Erfahrungen von vielen Geliebten in sich auf. Er lernte auch, die Frauen in ihrer Mannigfaltigkeit zu sehen, zu fühlen, zu tasten, zu riechen; er bekam ein zartes Ohr für jede Art von Stimme und lernte bei manchen Frauen schon aus deren Klang unfehlbar ihre Art und den Umfang ihrer Liebesfähigkeit erraten; er betrachtete mit immer neuem Entzücken die unendlich verschiedenen Arten, wie ein Kopf auf einem Halse sitzen, eine Stirn sich vom Haarwuchs sondern, eine Kniescheibe sich bewegen konnte. Er lernte im Dunkeln, mit geschlossenen Augen, mit zart prüfenden Fingern eine Art Frauenhaar von der andern unterscheiden, eine Art von Haut und Flaum von der andern. Er begann zu merken, schon früh, daß vielleicht hierin der Sinn seiner Wanderschaft liege, daß er vielleicht deshalb von einer Frau zur andern getrieben werde, damit er diese Fähigkeit des Kennens und Unterscheidens immer feiner, immer vielfältiger und tiefer erlerne und übe. Vielleicht war das seine Bestimmung: die Frauen und die Liebe auf tausend Arten und in tausend Verschiedenheiten bis zur Vollkommenheit kennenzulernen, so wie manche Musikanten nicht nur ein Instrument zu spielen wissen, sondern drei, vier, viele. Wozu freilich dies gut ist, wohin es führe, wußte er nicht; er spürte nur, daß er auf dem Wege sei. Mochte er für Latein und Logik zwar fähig, aber nicht in besonderer, erstaunlicher, seltener Weise begabt sein – für die Liebe, für das Spiel mit den Frauen war er es, hier lernte er ohne Mühe, hier vergaß er nichts, hier häuften und ordneten die Erfahrungen sich von selbst.

Einst, nachdem er schon ein Jahr oder zwei unterwegs gewesen war, kam Goldmund auf den Hof eines wohlhabenden Ritters mit zwei schönen jungen Töchtern. Es war im Frühherbst, bald würden die Nächte kühl werden, im vergangenen Herbst und Winter hatte er das gekostet, nicht ohne Sorge dachte er an die kommenden Monate, im Winter war die Wanderschaft schwer. Er fragte um Essen und Nachtlager. Man nahm ihn artig auf, und als der Ritter hörte, der Fremde habe studiert und könne Griechisch, ließ er ihn vom Tisch der Dienstboten an den seinen herüberkommen und behandelte ihn beinah wie seinesgleichen. Die beiden Töchter hielten die Augen gesenkt, die Ältere war achtzehn, die Kleine kaum sechzehn Jahre alt, Lydia und Julie.

Andern Tages wollte Goldmund weiter. Es bestand keine Hoffnung für ihn, eines dieser schönen blonden Fräulein gewinnen zu können, und andere Frauen waren nicht da, um derentwillen er hätte bleiben mögen. Da nahm ihn nach dem Morgenessen der Ritter beiseite und führte ihn in eine Kammer, die er sich für besondere Zwecke eingerichtet hatte. Bescheiden sprach der alte Mann zu dem Jüngling von seiner Liebhaberei für Gelehrsamkeit und Bücher, zeigte ihm eine kleine Truhe voll Schriften, die er gesammelt, zeigte ihm ein Schreibepult, das er sich hatte bauen lassen, und einen Vorrat von schönstem Papier und Pergament. Dieser fromme Ritter war, wie Goldmund später allmählich erfuhr, in seiner Jugend auf Schulen gewesen, hatte sich dann aber ganz dem Kriegs- und Weltleben ergeben, bis in schwerer Krankheit eine göttliche Mahnung ihn veranlaßt hatte, als Pilger auszuziehen und seine sündige Jugend zu bereuen. Er war nach Rom und sogar bis nach Konstantinopel gekommen, hatte nach der Heimkehr seinen Vater tot und das Haus leer gefunden, hatte sich da niedergelassen, geheiratet, die Frau verloren, die Töchter auferzogen, und jetzt im Beginn seines Alters hatte er sich hingesetzt und darangemacht, einen ausführlichen Bericht über seine einstige Pilgerreise aufzuschreiben. Er hatte auch mehrere Kapitel zustande gebracht, aber – wie er dem Jüngling gestand – sein Latein war recht mangelhaft und hemmte ihn überall. Er bot nun Goldmund ein neues Kleid und freie Unterkunft an, wenn dieser ihm das bisher Geschriebene korrigieren und ins Reine schreiben sowie bei der Fortsetzung behilflich sein wolle.

Es war Herbst, Goldmund wußte, was das für einen Landfahrer bedeute. Das neue Gewand war ebenfalls wünschenswert. Vor allem aber gefiel dem Jüngling die Aussicht, noch lange Zeit im selben Hause mit den beiden schönen Schwestern zu bleiben. Er sagte ohne Besinnen ja. Schon nach wenigen Tagen mußte die Beschließerin den Tuchschrank öffnen, es fand sich ein schönes braunes Tuch, von dem wurde ein Anzug und eine Mütze für Goldmund m Arbeit gegeben. Der Ritter zwar hatte an Schwarz gedacht und an eine Art Magisterkleid, aber davon wollte sein Gast nichts wissen und wußte es ihm auszureden, und es entstand nun eine hübsche Tracht, halb Page, halb Jäger, die ihm sehr gut zu Gesicht stand.

Auch mit dem Latein ging es nicht übel. Sie gingen das bisher Geschriebene gemeinsam durch, und Goldmund berichtigte nicht nur die vielen ungenauen und mangelnden Vokabeln, sondern baute da und dort auch des Ritters kurze unbeholfene Sätze zu hübschen lateinischen Perioden um, mit soliden Konstruktionen und einer sauberen consecutio temporum. Dem Ritter machte es viel Vergnügen, er war mit Lob nicht sparsam. Jeden Tag brachten sie mindestens zwei Stunden mit dieser Arbeit hin.

In der Burg – sie war ein etwas befestigter geräumiger Bauernhof – fand Goldmund manchen Zeitvertreib. Er beteiligte sich an der Jagd und lernte mit der Armbrust zu schießen beim Jäger Hinrich, befreundete sich mit den Hunden und konnte reiten, soviel er wollte. Selten sah man ihn allein; entweder war es ein Hund oder Gaul, mit dem er sprach, oder Hinrich, oder die Beschließerin Lea, eine dicke Alte mit einer Männerstimme und vieler Geneigtheit zu Spaß und Gelächter, oder der Hundejunge, oder ein Schäfer. Mit der Frau des Müllers, in nächster Nachbarschaft, wäre es leicht gewesen, eine Liebschaft zu pflegen, er hielt sich aber zurück und spielte den Unerfahrenen.

Von den beiden Töchtern des Ritters war er sehr entzückt. Die Jüngere war die schönere, aber so spröde, daß sie kaum ein Wort mit Goldmund sprach. Er trat beiden mit der größten Rücksicht und Höflichkeit gegenüber, aber beide empfanden seine Nähe wie eine unaufhörliche Werbung. Die Junge verschloß sich ganz, aus Schüchternheit trotzig. Die Ältere, Lydia, fand gegen ihn einen besonderen Ton, indem sie ihn halb ehrfürchtig, halb spöttisch wie ein Wundertier von einem Gelehrten behandelte, ihm viele neugierige Fragen stellte, sich nach dem Leben im Kloster erkundigte, aber stets wieder etwas Spöttisches und damenhaft Überlegenes gegen ihn herauskehrte. Er ging auf alles ein, er behandelte Lydia wie eine Dame, Julie wie eine kleine Nonne, und wenn es ihm gelang, durch sein Gespräch die Mädchen länger als sonst nach dem Abendessen am Tische festzuhalten, oder wenn in Hof oder Garten Lydia ihn einmal anredete und sich eine Neckerei erlaubte, war er zufrieden und fühlte einen Fortschritt.

Lange hielt sich in diesem Herbst das Laub an den hohen Eschen im Hof, lange gab es im Garten noch Astern und Rosen. Da kam eines Tages Besuch, ein Gutsnachbar mit seiner Frau und einem Reitknecht kamen geritten, der milde Tag hatte sie zu einem ungewohnt großen Ausflug verlockt, nun waren sie da und baten um Nachtquartier. Man empfing sie sehr artig, und alsbald wurde Goldmunds Bett aus dem Gastzimmer in die Schreibstube verbracht und das Zimmer für die Besuche hergerichtet, wurden einige Hühner geschlachtet und nach der Mühle um Fische geschickt. Goldmund nahm mit Vergnügen an der festlichen Aufregung teil und spürte sofort, wie die fremde Dame auf ihn aufmerksam war. Und kaum hatte er, an ihrer Stimme und an etwas in ihrem Blick, ihr Gefallen und Begehren bemerkt, so bemerkte er auch, mit vermehrter Spannung, wie Lydia sich veränderte, wie sie still und verschlossen wurde und ihn und die Dame zu beobachten begann. Als beim festlichen Nachtmahl der Fuß der Dame unterm Tisch mit Goldmunds Fuß zu spielen anfing, entzückte ihn nicht dieses Spiel allein, sondern noch viel mehr die finstere und verschwiegene Spannung, mit welcher Lydia das Spiel aus neugierigen und lodernden Augen beobachtete. Schließlich ließ er absichtlich ein Messer zu Boden fallen, bückte sich danach unter den Tisch und berührte den Fuß und das Bein der Dame mit liebkosender Hand, sah Lydia blaß werden und auf die Lippen beißen und fuhr fort Klosteranekdoten zu erzählen, indem er fühlte, wie die Fremde weniger den Geschichten als seiner werbenden Stimme innig zuhörte. Auch die andern hörten ihm zu, sein Patron mit Wohlwollen, der Gast mit unbewegtem Gesicht, aber auch er von dem Feuer berührt, das in dem Jüngling brannte. Niemals hatte Lydia ihn so sprechen hören, er war aufgeblüht, Lust schwang in der Luft, seine Augen blitzten, in seiner Stimme sang Glück, flehte Liebe. Die drei Frauen fühlten es, jede anders, die kleine Julie mit heftiger Gegenwehr und Ablehnung, die Frau des Ritters mit strahlender Genugtuung, Lydia mit einem schmerzlichen Wogen des Herzens, das aus inniger Sehnsucht, leisem Sichwehren und heftigster Eifersucht gemischt war und das ihr Gesicht schmal und ihre Augen brennen machte. Alle diese Wogen fühlte Goldmund, wie geheime Antworten auf seine Werbungen kamen sie zu ihm zurückgeflutet, wie die Vögel umflogen ihn die Liebesgedanken, die sich hingebenden, die sich widersetzenden, die miteinander kämpfenden.

Nach der Mahlzeit zog Julie sich zurück, es war längst Nacht, mit ihrer Kerze im irdenen Leuchter verließ sie den Söller, kühl wie eine kleine Klosterfrau. Die andern saßen noch eine Stunde auf, und während die beiden Männer von der Ernte, vom Kaiser und Bischof sprachen, hörte Lydia glühend zu, wie zwischen Goldmund und der Dame ein lässiges Geplauder über nichts gesponnen wurde, zwischen dessen lockeren Fäden aber ein dichtes, süßes Netz von Hin und Her, von Blicken, von Betonungen, von kleinen Gebärden entstand, deren jede mit Bedeutung überladen, mit Wärme überheizt war. Das Mädchen sog die Atmosphäre mit Lüsternheit und auch mit Abscheu ein, und wenn sie sah oder fühlte, wie Goldmunds Knie unterm Tisch das der Fremden berührte, empfand sie die Berührung am eigenen Leibe und zuckte auf. Nachher schlief sie nicht und horchte die halbe Nacht mit Herzklopfen, überzeugt, daß die beiden zusammenkommen würden. Sie vollzog, was jenen versagt war, in ihrer Einbildung, sie sah die beiden sich umschlingen, hörte ihre Küsse, dabei zitterte sie zugleich vor Erregung, indem sie ebenso fürchtete wie wünschte, es möge der hintergangene Ritter die Liebenden überraschen und dem scheußlichen Goldmund sein Messer ins Herz stoßen.

Andern Morgens war der Himmel bezogen, es ging ein feuchter Wind, und der Gast, alle Einladungen zu längerem Bleiben abwehrend, drang auf raschen Aufbruch. Lydia stand dabei, als die Gäste zu Pferde stiegen, sie drückte Hände und sprach Abschiedsworte, aber sie wußte nichts davon, alle ihre Sinne waren in dem Blick, mit dem sie zusah, wie die Rittersfrau beim Aufsteigen ihren Fuß in Goldmunds dargebotene Hände setzte, und wie seine Rechte breit und fest um den Schuh griff und den Frauenfuß einen Augenblick kräftig umspannte.

Die Fremden waren weggeritten, Goldmund mußte m die Schreibstube und arbeiten. Nach einer halben Stunde hörte er unten Lydias befehlende Stimme, hörte ein Pferd vorführen, sein Herr trat ans Fenster und schaute hinab, lächelnd und kopfschüttelnd, dann sahen sie beide Lydia nach, wie sie aus dem Hofe ritt. Sie kamen heute weniger vorwärts in ihrer lateinischen Schriftstellerei, Goldmund war zerstreut; freundlich entließ ihn sein Herr, früher als sonst.

Unbemerkt brachte Goldmund sich und sein Pferd aus dem Hofe, dem kühlfeuchten Herbstwind entgegen ritt er in die verfärbte Landschaft, rascher und rascher trabend fühlte er das Pferd unter sich warm werden und sein eigenes Blut sich befeuern. Über Stoppelfelder und Brachland, über Heide und über Moorstellen, mit Schachtelhalm und Riedgras bewachsen, ritt er aufatmend durch den grauen Tag, durch kleine Erlentäler, durch modrigen Fichtenwald, und wieder über bräunliche leere Heide.

Auf einem hohen Hügelkamm, scharf gegen den lichtgrauen Wolkenhimmel, entdeckte er Lydias Gestalt, hoch saß sie auf langsam trabendem Pferd. Er stürmte zu ihr; kaum sah sie sich verfolgt, trieb sie ihren Gaul an und floh davon. Bald verschwand sie, bald war sie sichtbar mit wehenden Haaren. Wie einer Beute jagte er ihr nach, sein Herz lachte, mit kleinen zärtlichen Rufen ermunterte er sein Pferd, las mit frohen Augen im Hinfliegen die Kennzeichen der Landschaft ab, die hingeduckten Felder, das Erlengehölz, die Ahorngruppen, die lehmigen Ufer der Tümpel, ließ immer wieder den Blick zu seinem Ziel zurückkehren, der schönen Fliehenden. Bald mußte er sie erreichen. Als Lydia ihn nahe wußte, gab sie die Flucht auf und ließ das Tier im Schritt gehen. Sie wandte sich nicht nach dem Verfolger um. Stolz, scheinbar gleichmütig ritt sie vor sich hin, als wäre nichts gewesen, als wäre sie allein. Er trieb sein Pferd neben ihres, dicht nebeneinander schritten friedlich die beiden Rosse, aber Tier und Reiter waren erhitzt vom Jagen.

»Lydia!« rief er leise. Sie gab keine Antwort.

»Lydia!«

Sie blieb stumm.

»Wie schön war das, Lydia, dich von fern reiten zu sehen, wie ein goldener Blitz flog dein Haar hinter dir her. Wie schön war das! Ach, wie wunderbar, daß du vor mir geflohen bist! Da sah ich erst, daß du mich ein wenig liebhast. Ich hatte es nicht gewußt, noch gestern abend war ich im Zweifel. Erst da, als du mir zu entfliehen versucht hast, habe ich plötzlich verstanden. Schöne, Liebe, du mußt müde sein, laß uns absteigen!«

Er sprang rasch vom Pferde und faßte im selben Augenblick ihre Zügel, daß sie nicht nochmals ausrisse. Schneeweiß blickte ihr Gesicht zu ihm herab, und als er sie vom Pferde hob, brach sie in Weinen aus. Behutsam führte er sie ein paar Schritte, ließ sie ins verdorrte Gras niedersitzen und kniete neben ihr. Da saß sie und kämpfte mit dem Schluchzen, tapfer kämpfte sie und wurde Herr darüber.

»Ach, daß du so schlecht bist!« fing sie an, als sie sprechen konnte. Kaum brachte sie die Worte heraus.

»Bin ich so schlecht?«

»Du bist ein Frauenverführer, Goldmund. Laß mich vergessen, was du mir da vorher gesagt hast, es waren unverschämte Worte, es ziemt sich nicht für dich, so mit mir zu reden. Wie kannst du glauben, ich hätte dich lieb? Laß uns das vergessen! Aber wie soll ich vergessen, was ich gestern abend habe sehen müssen?«

»Gestern abend? Was hast du denn da gesehen?«

»Ach, tu nicht so, lüge doch nicht so! Es war gräßlich und schamlos, wie du da vor meinen Augen dieser Frau schön getan hast! Hast du denn keine Scham? Sogar das Bein hast du ihr gestreichelt, unterm Tisch, unter unserem Tisch! Vor mir, vor meinen Augen! Und jetzt kommst du, wo sie fort ist, und stellst mir nach! Du weißt wirklich nicht, was Scham ist.«

Goldmund hatte längst schon die Worte bereut, die er ihr gesagt hatte, ehe er sie vom Pferd holte. Wie dumm war das gewesen, Worte waren in der Liebe entbehrlich, er hätte schweigen sollen.

Er sagte nichts mehr. Er kniete neben ihr, und da sie ihn so schön und unglücklich ansah, steckte ihr Leid ihn an; er fühlte selbst, daß da etwas zu beklagen war. Aber trotz allem, was sie da gesagt hatte, sah er in ihrem Auge doch Liebe, und auch der Schmerz auf ihren zuckenden Lippen war Liebe. Er glaubte ihrem Auge mehr als ihren Worten. Aber sie hatte eine Antwort erwartet. Da sie nicht kam, machte Lydia ihre Lippen noch herber, sah ihn aus den etwas verweinten Augen an und wiederholte: »Hast du denn wirklich keine Scham?«

»Verzeih«, sagte er demütig, »wir sprechen da von Sachen, über die man nicht sprechen sollte. Es ist meine Schuld, verzeih mir! Du fragst, ob ich keine Scham habe. Ja, Scham habe ich wohl. Aber ich habe dich doch lieb, du, und die Liebe weiß nichts von Scham. Sei nicht böse!«

Sie schien kaum zu hören. Sie saß und machte diesen bitteren Mund und blickte darüber weg in die Ferne, als wäre sie ganz allein. Nie war er in einer solchen Lage gewesen. Es kam vom Sprechen.

Sanft legte er sein Gesicht auf ihr Knie, und sogleich tat die Berührung ihm wohl. Doch war er etwas ratlos und traurig, und auch sie schien noch immer traurig zu sein, sie saß regungslos, schwieg und sah ins Weite. Wieviel Verlegenheit, wieviel Traurigkeit! Aber das Knie nahm das Anschmiegen seiner Wange freundlich an, es wies ihn nicht zurück. Mit geschlossenen Augen lag sein Gesicht auf ihrem Knie, langsam nahm es dessen edle, lange Form in sich auf. Goldmund dachte mit Freude und Rührung, wie sehr dies Knie in seiner vornehmen und jugendlichen Form ihren langen, schönen, straff gewölbten Fingernägeln entspreche. Dankbar schmiegte er sich an das Knie, ließ Wange und Mund mit ihm sprechen.

Jetzt spürte er ihre Hand, die sich zaghaft und vogelleicht auf sein Haar legte. Liebe Hand, fühlte er und spürte, wie sie leise und kindlich sein Haar streichelte. Ihre Hand hatte er oft schon genau betrachtet und bewundert, er kannte sie beinah wie seine eigene, die langen schlanken Finger mit den langen, schön gewölbten, rosigen Hügeln der Fingernägel. Nun sprachen die langen zarten Finger schüchtern mit seinen Locken. Ihre Sprache war kindlich und bange, aber sie war Liebe. Dankbar schmiegte er seinen Kopf in ihre Hand, fühlte mit dem Nacken, mit den Wangen ihre Handfläche.

Da sagte sie: »Es ist Zeit, wir müssen fort.«

Er hob den Kopf und sah sie zärtlich an, sanft küßte er ihre schlanken Finger.

»Bitte, steh auf«, sagte sie, »wir müssen nach Haus.«

Er gehorchte sofort, sie standen auf, sie stiegen auf ihre Pferde, sie ritten.

Goldmunds Herz war voll Glück. Wie schön war Lydia, wie kindlich rein und zart! Noch nicht einmal geküßt hatte er sie, und war doch so beschenkt und von ihr erfüllt. Sie ritten scharf, und erst bei der Heimkehr, dicht vor der Einfahrt des Hofes, erschrak sie und sagte: »Wir hätten nicht beide zugleich ankommen sollen. Wie töricht wir sind!« Und noch im letzten Augenblick, als sie von den Pferden stiegen und schon ein Reitknecht gelaufen kam, flüsterte sie ihm rasch und glühend ins Ohr: »Sag mir, ob du heut nacht bei diesem Weib gewesen bist!« Er schüttelte den Kopf viele Male und machte sich daran, das Pferd abzuzäumen.

Am Nachmittag, als ihr Vater ausgegangen war, fand sie sich in der Schreibstube ein.

»Ist es auch wahr?« fragte sie sofort mit Leidenschaft, und er wußte alsbald, was sie meinte.

»Warum hast du dann so mit ihr gespielt, so abscheulich, und sie verliebt gemacht?«

»Es galt dir«, sagte er. »Glaube mir, tausendmal lieber hätte ich deinen Fuß gestreichelt als den ihren. Aber nie ist dein Fuß unterm Tisch zu mir gekommen und hat mich gefragt, ob ich dich liebhabe.«

»Hast du mich wirklich lieb, Goldmund?«

»O ja.«

»Aber was soll daraus werden?«

»Ich weiß es nicht, Lydia. Es kümmert mich auch nicht. Es macht mich glücklich, dich zu lieben – was daraus werden wird, daran denke ich nicht. Ich bin froh, wenn ich dich reiten sehe, und wenn ich deine Stimme höre, und wenn deine Finger mir das Haar streicheln. Ich werde froh sein, wenn ich dich küssen darf.«

»Man darf nur seine Braut küssen, Goldmund. Hast du daran nie gedacht?«

»Nein, ich habe nie daran gedacht. Warum sollte ich? Du weißt so gut wie ich, daß du nicht meine Braut werden kannst.«

»So ist es. Und weil du nicht mein Mann werden und immer bei mir bleiben kannst, darum war es sehr unrecht von dir, mir von Liebe zu sprechen. Hast du geglaubt, daß du mich verführen könntest?«

»Ich habe nichts geglaubt und gedacht, Lydia, ich denke überhaupt viel weniger, als du meinst. Ich wünsche nichts, als daß du mich einmal küssen möchtest. Wir sprechen so viel. Liebende tun das nicht. Ich glaube, du hast mich nicht lieb.«

»Heut morgen hast du das Gegenteil gesagt.«

»Und du hast das Gegenteil getan!«

»Ich? Wie meinst du das?«

»Zuerst bist du vor mir davongeritten, als du mich kommen sahst. Da glaubte ich, du liebest mich. Dann hast du weinen müssen, und ich glaubte, es sei, weil du mich liebhättest. Dann lag mein Kopf auf deinem Knie, und du hast mich gestreichelt, und ich glaubte, das sei Liebe. Aber jetzt tust du nichts Liebes mit mir.«

»Ich bin nicht so wie die Frau, deren Fuß du gestern gestreichelt hast. Du scheinst an solche Frauen gewöhnt zu sein.«

»Nein, Gott sei Dank bist du viel schöner und feiner als sie.«

»Ich meine nicht das.«

»Oh, es ist aber so. Weißt du denn, wie schön du bist?«

»Ich habe einen Spiegel.«

»Hast du darin einmal deine Stirn gesehen, Lydia? Und dann die Schultern, und dann die Fingernägel, und dann die Knie? Und hast du gesehen, wie das alles einander gleicht und sich aufeinander reimt, wie das alles die gleiche Form hat, eine lange, gestreckte, feste und sehr schlanke Form? Hast du es gesehen?«

»Wie du sprichst! Ich habe es eigentlich nie gesehen, aber jetzt, wo du es sagst, weiß ich doch, was du meinst. Höre, du bist doch ein Verführer, jetzt versuchst du es, mich eitel zu machen.«

»Schade, ich kann es dir nicht recht machen. Aber warum soll mir denn daran gelegen sein, dich eitel zu machen? Du bist schön, und ich möchte dir zeigen, daß ich dafür dankbar bin. Du zwingst mich, es dir mit Worten zu sagen; ich könnte es dir tausendmal besser sagen als mit Worten. Mit Worten kann ich dir nichts geben! Mit Worten kann ich auch nichts von dir lernen und du nichts von mir.«

»Was soll ich denn von dir lernen?«

»Ich von dir, Lydia, und du von mir. Aber du willst ja nicht. Du willst ja nur den liebhaben, dessen Braut du sein wirst. Er wird lachen, wenn er sieht, daß du nichts gelernt hast, nicht einmal küssen.«

»So, also im Küssen möchtest du mir Unterricht geben, Herr Magister?«

Er lächelte ihr zu. Gefielen auch ihre Worte ihm nicht, so konnte er doch hinter ihrem etwas heftigen und unechten Klugreden ihr Mädchentum spüren, wie es von der Lüsternheit ergriffen war und sich angstvoll dagegen wehrte. Er gab keine Antwort mehr. Er lächelte ihr zu, hielt ihren unruhigen Blick mit seinen Augen fest und gefangen, und während sie sich, nicht ohne Widerstand, dem Bann ergab, näherte er langsam sein Gesicht dem ihren, bis die Lippen sich berührten. Leise streifte er ihren Mund, der gab ihm mit einem kleinen Kinderkuß Antwort und öffnete sich wie in schmerzlichem Erstaunen, als er ihn nicht wieder losließ. Sanft werbend folgte er ihrem zurückfliehenden Munde, bis er zögernd wieder entgegenkam, und lehrte die Bezauberte ohne Gewalt das Nehmen und Geben des Kusses, bis sie erschöpft ihr Gesicht auf seine Schulter drückte. Er ließ es ruhen, roch beglückt an ihrem starken blonden Haar, murmelte zärtliche und beruhigende Töne in ihr Ohr und erinnerte sich in diesen Augenblicken daran, wie er, ein ahnungsloser Schüler, einst durch die Zigeunerin Lise m das Geheimnis eingeweiht worden war. Wie schwarz war ihr Haar gewesen, wie braun ihre Haut, wie hatte die Sonne gebrannt und das welke Johanniskraut geduftet! Und wie weit lag das schon, aus welcher Ferne schon blitzte es herüber. So schnell ward alles welk, was kaum noch blühte!

Langsam richtete Lydia sich auf, mit verwandeltem Gesicht, ernst und groß blickten ihre liebenden Augen.

»Laß mich gehen, Goldmund«, sagte sie, »ich war so lange bei dir. O du, o mein Lieber du!«

Sie fanden jeden Tag ihre verschwiegene Stunde, und Goldmund ließ sich ganz von der Liebenden führen, wunderbar beglückte und rührte ihn diese Mädchenliebe. Manches Mal mochte sie eine ganze Stunde lang nichts als seine Hände in ihren halten und in seine Augen sehen und nahm Abschied mit einem Kinderkuß. Andere Male küßte sie hingegeben und unersättlich, duldete aber keine Berührung. Einmal, tief errötend und mit Überwindung, im Willen, ihm eine große Freude zu machen, ließ sie ihn eine ihrer Brüste sehen; schüchtern brachte sie die kleine weiße Frucht aus dem Kleide hervor; als er sie kniend geküßt hatte, verhüllte sie sie wieder mit Sorgfalt und war noch immer rot bis zum Halse. Sie sprachen auch, aber auf eine neue Art, nicht mehr so wie am ersten Tage; sie erfanden Namen füreinander, gern erzählte sie ihm von ihrer Kindheit, ihren Träumen und Spielen. Auch davon sprach sie oft, daß ihre Liebe unrecht sei, da er sie nicht heiraten könne; traurig und ergeben sprach sie davon und schmückte ihre Liebe mit dem Geheimnis dieser Traurigkeit wie mit einem schwarzen Schleier.

Zum erstenmal fühlte sich Goldmund von einer Frau nicht nur begehrt, sondern geliebt.

Lydia sagte einst: »Du bist so hübsch und siehst so heiter aus. Aber in deinen Augen innen ist keine Heiterkeit, da ist lauter Trauer; wie wenn deine Augen wüßten, daß es kein Glück gibt und daß alles Schöne und Geliebte nicht lange bei uns bleibt. Du hast die schönsten Augen, die es geben kann, und die traurigsten. Ich glaube, das ist, weil du heimatlos bist. Du bist aus den Wäldern zu mir gekommen, und einmal wirst du wieder fortgehen und auf Moos schlafen und wandern. – Aber wo ist denn meine Heimat? Wenn du fortgehst, dann habe ich wohl noch einen Vater und eine Schwester und habe eine Kammer und ein Fenster, wo ich sitzen und an dich denken kann; aber Heimat werde ich keine mehr haben.«

Er ließ sie sprechen, manchmal lächelte er dazu, manchmal war er betrübt. Mit Worten tröstete er sie nie, nur mit leisem Streicheln, nur indem er ihren Kopf an seiner Brust hielt und leise sinnlose Zaubertöne summte, wie die Ammen sie zum Trost der Kinder summen, wenn sie weinen. Einmal sagte Lydia: »Ich möchte wohl wissen, Goldmund, was einmal aus dir werden wird, ich denke oft darüber nach. Du wirst kein gewöhnliches Leben haben und kein leichtes. Ach, möchte es dir doch gut ergehen! Manchmal denke ich, du müßtest ein Dichter werden, einer, der Gesichte und Träume hat und sie schön aussprechen kann. Ach, du wirst durch die ganze Welt wandern, und alle Frauen werden dich lieben, und doch wirst du allein bleiben. Geh lieber wieder ins Kloster zu deinem Freund, von dem du mir soviel erzählst! Ich werde für dich beten, daß du nicht einst allein im Walde sterben mußt.«

So konnte sie sprechen, in tiefem Ernst, mit verlorenen Augen. Aber dann konnte sie wieder lachend mit ihm über das spätherbstliche Land reiten oder ihm Scherzrätsel aufgeben und ihn mit welkem Laub und blanken Eicheln bewerfen. Einmal lag Goldmund in seiner Kammer im Bett und wartete auf den Schlaf. Das Herz war ihm schwer, auf eine holde schmerzliche Art, schwer und voll schlug es in seiner Brust, überfüllt mit Liebe, überfüllt mit Trauer und Ratlosigkeit. Er hörte den Novemberwind am Dach rütteln; schon war es eine Gewohnheit geworden, daß er vor dem Einschlafen eine ganze Weile so lag und der Schlaf nicht kam. Leise sprach er, wie es am Abend seine Gewohnheit war, ein Marienlied in sich hinein: 

Tota pulchra es, Maria,
et macula originalis non est in te.
Tu laetitia Israel,
tu advocata peccatorum! 

Mit seiner sanften Musik sank das Lied in seine Seele, zugleich aber sang draußen der Wind, sang von Unfriede und Wanderung, vom Wald, vom Herbst, vom Leben der Heimatlosen. Er dachte an Lydia und dachte an Narziß und an seine Mutter, voll und schwer war sein unruhiges Herz. Da schreckte er auf und starrte ungläubig: die Kammertür war aufgegangen, im Dunkeln kam eine Gestalt im langen weißen Hemde herein, lautlos kam Lydia mit bloßen Füßen über die Steinfliesen hereingegangen, schloß sachte die Tür und setzte sich auf sein Lager.

»Lydia«, flüsterte er, »mein Rehlein, meine weiße Blume! Lydia, was tust du?«

»Ich komme zu dir«, sagte sie, »bloß für einen Augenblick. Ich will doch einmal sehen, wie mein Goldmund in seinem Bettlein liegt, mein Goldherz.«

Sie legte sich zu ihm, still lagen sie, mit schweren schlagenden Herzen. Sie ließ ihn küssen, sie ließ seine bewundernden Hände an ihren Gliedern spielen, mehr war nicht erlaubt. Nach einer kurzen Weile streifte sie seine Hände sanft von sich, küßte ihn auf die Augen, stand lautlos auf und verschwand. Die Tür knarrte, im Dachstuhl klirrte und drückte der Wind. Alles war verzaubert, voll Geheimnis, voll Bangigkeit, voll Versprechen, voll Drohung. Goldmund wußte nicht, was er denke, was er tue. Als er nach einem unruhigen Schlummer wieder erwachte, war sein Kissen naß von Tränen.

Sie kam nach einigen Tagen wieder, das süße weiße Gespenst, und lag eine Viertelstunde bei ihm, wie das letztemal. Flüsternd sprach sie, von seinen Armen umschlossen, ihm ins Ohr, sie hatte viel zu sagen und zu klagen. Zärtlich hörte er ihr zu, sie lag auf seinem linken Arm, mit der rechten Hand streichelte er ihre Knie.

»Goldmündchen«, sagte sie, mit ganz gedämpfter Stimme dicht an seiner Wange, »es ist so traurig, daß ich nie werde dir gehören dürfen. Es wird nicht lang mehr dauern, unser kleines Glück, unser kleines Geheimnis. Julie hat schon Verdacht, bald wird sie mich zwingen, es ihr zu sagen. Oder der Vater merkt es. Wenn er mich bei dir im Bett fände, mein kleiner Goldvogel, dann ginge es deiner Lydia übel; sie stünde mit verweinten Augen und blickte zu den Bäumen hinauf und sähe ihren Liebsten droben hangen und im Winde wehen. Ach du, lauf lieber fort, lieber jetzt gleich, statt daß der Vater dich binden und aufhängen läßt. Ich habe schon einmal einen hängen sehen, einen Dieb. Ich kann dich nicht hängen sehen, du, lauf lieber davon und vergiß mich; daß du nur nicht sterben mußt, Göldchen, daß nur in deine blauen Augen nicht die Vögel hacken! Aber nein, du Schatz, du darfst nicht fortgehen – ach, was mache ich, wenn du mich allein läßt.«

»Willst du denn nicht mit mir kommen, Lydia? Wir fliehen miteinander, die Welt ist groß!«

»Das wäre sehr schön«, klagte sie, »ach wie schön, mit dir durch die ganze Welt zu laufen! Aber ich kann nicht. Ich kann nicht im Walde schlafen und heimatlos sein und Strohhalme in den Haaren haben, ich kann das nicht. Ich kann auch dem Vater nicht die Schande machen. – Nein, rede nicht, es sind keine Einbildungen. Ich kann nicht! Ich könnte es sowenig, als ich aus einem schmutzigen Teller essen oder im Bett eines Aussätzigen schlafen könnte. Ach, uns ist alles verboten, was gut und was schön wäre, wir beide sind zum Leid geboren. Göldchen, mein armer kleiner Junge, ich werde dich am Ende doch müssen hängen sehen. Und ich, ich werde eingesperrt und dann in ein Kloster geschickt. Liebster, du mußt mich verlassen und wieder bei den Zigeunerinnen und Bauernweibern schlafen. Ach geh, geh, ehe sie dich fangen und binden! Nie werden wir glücklich sein, nie.«

Er streichelte sachte ihre Knie, und indem er ganz zart ihre Scham berührte, bat er: »Blümchen, wir könnten so sehr glücklich sein! Darf ich nicht?«

Sie drängte ohne Unwillen, aber mit Kraft seine Hand beiseite und rückte etwas von ihm weg. »Nein«, sagte sie, »nein, das darfst du nicht. Es ist mir verboten. Du kleiner Zigeuner verstehst das vielleicht nicht. Ich tue ja unrecht, ich bin ein schlechtes Mädchen, ich mache dem ganzen Haus Schande. Aber irgendwo in meiner Seele drinnen bin ich doch noch stolz, dort darf niemand hineinkommen. Du mußt mir das lassen, sonst kann ich nie mehr zu dir in die Kammer kommen.«

Nie hätte er ein Verbot, einen Wunsch, eine Andeutung von ihr mißachtet. Er war selbst verwundert darüber, wieviel Macht sie über ihn hatte. Aber er litt. Seine Sinne blieben ungestillt, und sein Herz wehrte sich oft heftig gegen die Abhängigkeit. Manchmal gab er sich Mühe, davon loszukommen. Manchmal machte er der kleinen Julie mit ausgesuchter Artigkeit den Hof, und allerdings war es ja auch sehr notwendig, mit dieser wichtigen Person in einem guten Verhältnis zu bleiben und sie womöglich zu täuschen. Es ging ihm merkwürdig mit dieser Julie, die oft so sehr kindlich tat und oft so allwissend schien. Kein Zweifel, sie war schöner als Lydia, sie war eine ungewöhnliche Schönheit, und dies war, zusammen mit ihrer etwas altklugen Kinderunschuld, für Goldmund ein großer Reiz; er war oft stark in Julie verliebt. Gerade an diesem starken Reiz, den die Schwester für seine Sinne hatte, erkannte er oft mit Erstaunen den Unterschied zwischen Begierde und Liebe. Anfangs hatte er beide Schwestern mit denselben Augen angeschaut, hatte beide begehrenswert, Julie aber schöner und verführenswerter gefunden, hatte unterschiedlos um beide geworben und beide stets im Auge behalten. Und jetzt hatte Lydia diese Macht über ihn gewonnen! Jetzt liebte er sie so sehr, daß er sogar auf ihren völligen Besitz aus Liebe verzichtete. Ihre Seele war ihm bekannt und lieb geworden, in ihrer Kindlichkeit, Zärtlichkeit und ihrer Hinneigung zur Traurigkeit schien sie seiner eigenen ähnlich; oft war er tief erstaunt und entzückt darüber, wie sehr diese Seele ihrem Leibe entsprach; sie konnte etwas tun, etwas sagen, einen Wunsch oder ein Urteil äußern, und ihr Wort und die Haltung ihrer Seele war vollkommen nach derselben Form geprägt wie der Schnitt ihrer Augen und die Bildung ihrer Finger!

Diese Augenblicke, in denen er die Grundformen und Gesetze zu sehen glaubte, nach denen ihr Wesen, Seele wie Leib, gestaltet war, hatten in Goldmund öfters die Lust erweckt, etwas von dieser Gestalt festzuhalten und nachzubilden, und er hatte auf einigen Blättern, die er sehr geheimhielt, Versuche gemacht, mit Federstrichen den Umriß ihres Kopfes, die Linie ihrer Brauen, ihre Hand, ihr Knie aus dem Gedächtnis zu zeichnen.

Mit Julie war es etwas schwierig geworden. Sie witterte sichtlich die Woge von Liebe, in der ihre ältere Schwester schwamm, und ihre Sinne wandten sich voll Neugierde und Begehrlichkeit dem Paradiese zu, ohne daß ihr eigensinniger Verstand es zugeben wollte. Sie zeigte Goldmund eine übertriebene Kühle und Abneigung und konnte ihn in Augenblicken der Vergessenheit doch mit Bewunderung und lüsterner Neugierde betrachten. Mit Lydia war sie oft sehr zärtlich, suchte sie zuweilen auch im Bette auf und atmete dann mit verschwiegener Gier in der Zone der Liebe und des Geschlechts, streifte mutwillig an das verbotene und ersehnte Geheimnis. Dann wieder ließ sie in beinah verletzender Art merken, daß sie um Lydias geheimes Vergehen wisse und es verachte. Reizend und störend flackerte das schöne und launische Kind zwischen den beiden Liebenden, naschte in durstigen Träumen an ihrer Heimlichkeit, spielte bald die Ahnungslose, bald ließ sie gefährliche Mitwisserschaft merken; schnell war sie aus einem Kinde zu einer Macht geworden. Lydia hatte davon mehr zu leiden als Goldmund, der die Kleine außer bei den Mahlzeiten selten zu Gesichte bekam. Es konnte Lydia auch nicht verborgen bleiben, daß Goldmund gegen Julies Reiz nicht unempfindlich war, manchmal sah sie seinen anerkennenden, genießenden Blick auf ihr ruhen. Sie durfte nichts sagen, alles war so schwierig, alles so voll Gefahr, namentlich durfte Julie nicht verstimmt und beleidigt werden; ach, jeden Tag und jede Stunde konnte das Geheimnis ihrer Liebe entdeckt und ihrem schweren angstvollen Glück ein Ende gemacht werden, vielleicht ein schreckliches.

Manchmal wunderte sich Goldmund darüber, daß er nicht längst auf und davon gegangen war. Es war schwer, so zu leben, wie er jetzt lebte: geliebt, aber ohne Hoffnung, weder auf ein erlaubtes und dauerndes Glück, noch auf die leichten Erfüllungen, an welche seine Liebeswünsche bisher gewohnt waren; mit ewig gereizten und hungrigen, nie gestillten Trieben, dabei in beständiger Gefahr. Warum blieb er hier und ertrug das alles, alle diese Verwicklungen und verwirrten Gefühle? Waren das nicht Erlebnisse, Gefühle und Gewissenszustände für Seßhafte, für Legitime, für Leute in geheizten Stuben? Hatte er nicht das Recht des Heimatlosen und Anspruchslosen, sich diesen Zartheiten und Kompliziertheiten zu entziehen und ihrer zu lachen? Ja, dies Recht hatte er, und er war ein Narr, daß er hier etwas wie Heimat suchte und es mit so viel Schmerzen, so viel Verlegenheiten bezahlte. Und dennoch tat und litt er es, litt es gerne, war heimlich glücklich dabei. Es war dumm und schwierig, es war kompliziert und anstrengend, auf eine solche Art zu lieben, aber es war wunderbar. Wunderbar war die dunkelschöne Traurigkeit dieser Liebe, ihre Narrheit und Hoffnungslosigkeit; schön waren diese gedankenvollen Nächte ohne Schlaf; schön und köstlich war dies alles wie der Leidenszug auf Lydias Lippen, wie der verlorene, ergebene Klang ihrer Stimme, wenn sie von ihrer Liebe und Sorge sprach. In wenigen Wochen war dieser Leidenszug auf Lydias jungem Gesicht entstanden und heimisch geworden, dessen Linien mit der Feder nachzuzeichnen ihm so schön und wichtig schien, und er fühlte: in diesen wenigen Wochen war auch er selbst anders und sehr viel älter geworden, nicht klüger und dennoch erfahrener, nicht glücklicher und doch viel reifer und reicher in der Seele. Er war kein Knabe mehr.

Mit ihrer sanften, verlorenen Stimme sagte Lydia zu ihm: »Du mußt nicht traurig sein, nicht meinetwegen, ich möchte dich ja nur fröhlich machen und glücklich sehen. Verzeih, ich habe dich traurig gemacht, ich habe dich mit meiner Angst und Betrübnis angesteckt. Ich träume nachts so merkwürdig: immer gehe ich da in einer Wüste, die ist so groß und so dunkel, wie ich nicht sagen kann, da gehe ich und gehe und suche dich, aber du bist nicht da, und ich weiß, ich habe dich verloren und werde immer, immer so gehen müssen, so allein. Dann, wenn ich erwache, denke ich: o wie gut, o wie herrlich ist es, daß er noch da ist und ich ihn sehen werde, vielleicht noch Wochen oder noch Tage, einerlei, aber er ist noch da!«

Eines Morgens erwachte Goldmund bald nach Tagesanbruch in seinem Bette und blieb eine Weile nachsinnend liegen, Bilder aus einem Traume waren noch um ihn, doch ohne Zusammenhang. Er hatte von seiner Mutter geträumt und von Narziß, beide Gestalten konnte er noch deutlich sehen. Als er sich aus den Traumfäden befreit hatte, fiel ein besonderes Licht ihm auf, eine eigentümliche Art von Helligkeit, die heute durchs kleine Fensterloch hereinkam. Er sprang auf und lief zum Fenster, da sah er das Fenstergesimse, das Dach des Pferdestalls, die Hofeinfahrt und die ganze Landschaft jenseits bläulichweiß schimmern, vom ersten Schnee dieses Winters bedeckt. Der Gegensatz zwischen der Unruhe seines Herzens und der stillen, ergebenen Winterwelt machte ihn betroffen: wie ruhig, wie rührend und fromm gab sich Acker und Wald, Hügel und Heide der Sonne, dem Wind, dem Regen, der Dürre, dem Schnee hin, wie schön und sanft leidend trugen Ahorn und Esche ihre Winterlast! Konnte man nicht werden wie sie, konnte man nichts von ihnen lernen? Gedankenvoll ging er auf den Hof hinaus, watete im Schnee und befühlte ihn mit den Händen, ging zum Garten hinüber und blickte über den hoch beschneiten Zaun in die vom Schnee hinabgebogenen Rosenstämme.

Zum Frühstück aß man eine Mehlsuppe, alle sprachen vom ersten Schnee, alle – auch die Mädchen – waren schon draußen gewesen. Der Schnee kam spät in diesem Jahr, schon war die Weihnacht nahe. Der Ritter erzählte von den südlichen Landern, wo es keinen Schnee gebe. Das aber, was diesen ersten Wimertag für Goldmund unvergeßlich machte, begab sich erst, als es längst Nacht geworden war. Die beiden Schwestern hatten heut einen Zank gehabt, von dem Goldmund nichts wußte. Nachts, als es still und dunkel im Hause geworden war, kam Lydia zu ihm, in ihrer gewohnten Art, sie legte sich schweigend zu ihm und den Kopf an seine Brust, um sein Herz schlagen zu hören und sich an seiner Nähe zu trösten. Sie war betrübt und änstlich, sie fürchtete von Julie Verrat, doch konnte sie sich nicht entschließen, mit dem Liebsten davon zu sprechen und ihm Sorge zu bringen. So lag sie still an seinem Herzen, hörte ihn zuweilen ein Kosewort flüstern und spürte seine Hand in ihren Haaren.

Plötzlich aber – sie war noch nicht lange so gelegen – erschrak sie furchtbar und richtete sich mit weitaufgerissenen Augen hoch auf. Und auch Goldmund erschrak nicht wenig, als er die Kammertür offen und eine Gestalt hereintreten sah, die er im Schrecken nicht sofort erkannte. Erst als die Erscheinung dicht am Bette stand und sich darüber neigte, sah er mit beklommenem Herzen, daß es Julie war. Sie schlüpfte aus einem Mantel, den sie übers bloße Hemd geworfen hatte, und ließ den Mantel zu Boden fallen. Mit einem Wehlaut, als hätte sie einen Messerstich empfangen, sank Lydia zurück und klammerte sich an Goldmund. Mit einem Ton von Hohn und Schadenfreude, aber doch mit unsicherer Stimme, sagte Julie: »Ich mag nicht so allein in der Kammer liegen. Entweder ihr nehmet mich zu euch und wir liegen zu dreien, oder ich gehe und wecke den Vater.«

»Ja, dann komm nur«, sagte Goldmund und schlug die Decke zurück. »Du erfrierst dir ja die Füße.« Sie stieg ein, und er hatte Mühe, ihr auf dem schmalen Lager etwas Raum zu schaffen, denn Lydia hatte das Gesicht ins Kissen vergraben und lag regungslos. Endlich lagen sie alle drei, auf jeder Seite Goldmunds ein Mädchen, und einen Augenblick konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, wie sehr diese Lage noch vor kurzer Zeit allen seinen Wünschen entsprochen hätte. Mit wunderlichem Bangen, und doch heimlich entzückt, spürte er Julies Hüfte an seiner Seite.

»Ich mußte doch einmal sehen«, fing sie wieder an, »wie es sich denn in deinem Bette liegt, das meine Schwester so gern aufsucht.«

Goldmund, um sie zur Ruhe zu bringen, rieb sachte seine Wange an ihrem Haar und streichelte mit leiser Hand ihre Hüften und Knie, wie man einer Katze schön tut, und sie gab sich schweigend und neugierig in seine tastende Hand, fühlte benommen und andächtig den Zauber, bot keinen Widerstand. Während dieser Beschwörung aber bemühte er sich zugleich um Lydia, summte ihr leise vertraute Liebestöne ins Ohr und brachte sie langsam dazu, wenigstens das Gesicht zu erheben und ihm zuzuwenden. Lautlos küßte er ihr Mund und Augen, während seine Hand drüben die Schwester im Bann hielt und die Peinlichkeit und Verschrobenheit der ganzen Lage ihm bis zur Unerträglichkeit bewußt wurde. Seine linke Hand war es, die ihn belehrte; während sie mit den schönen, still wartenden Gliedern Julies bekannt wurde, empfand er zum erstenmal nicht nur die Schönheit und tiefe Hoffnungslosigkeit seiner Liebe zu Lydia, sondern auch ihre Lächerlichkeit. Er hätte, so schien es ihm jetzt, während seine Lippen bei Lydia waren und seine Hand bei Julien, er hätte Lydia entweder zur Hingabe zwingen oder seines Weges weiterziehen müssen. Sie zu lieben und ihr doch zu entsagen, war ein Unsinn und ein Unrecht gewesen.

»Mein Herz«, flüsterte er Lydien ins Ohr, »wir leiden unnütze Leiden. Wie glücklich könnten wir jetzt alle dreie sein! Laß uns doch tun, was unser Blut verlangt!«

Da sie zurückschaudernd sich entzog, flüchtete seine Begierde zur andern, und seine Hand tat ihr so wohl, daß sie mit einem langen bebenden Seufzer der Wollust antwortete. Als Lydia diesen Seufzer hörte, zog Eifersucht ihr Herz zusammen, als wäre Gift hineingetropft. Sie setzte sich unversehens auf, riß die Decke vom Bett, sprang auf die Füße und rief: »Julie, laß uns gehen!«

Julie zuckte zusammen; schon die unbedachte Heftigkeit dieses Rufs, der sie alle verraten konnte, zeigte ihr die Gefahr, und sie erhob sich schweigend.

Goldmund aber, in allen seinen Trieben beleidigt und betrogen, umschlang schnell die sich aufrichtende Julie, küßte ihr beide Brüste und flüsterte ihr brennend ins Ohr: »Morgen, Julie, morgen!«

Lydia stand im Hemde und barfuß, auf dem Steinboden krümmten sich ihre Zehen vor Kälte. Sie hob Julies Mantel vom Boden auf und hing ihn ihr um, mit einer leidenden und demütigen Gebärde, die jener auch im Dunkeln nicht entging und die sie rührte und versöhnte. Leise huschten die Schwestern aus der Kammer und davon. Voll widerstreitender Gefühle horchte Goldmund ihnen nach und atmete auf, als es im Hause totenstill blieb.

So waren die drei jungen Menschen aus einem sonderbaren und unnatürlichen Zusammensein in nachdenkliche Einsamkeit verwiesen, denn auch die beiden Schwestern, nachdem sie ihre Schlafstube erreicht hatten, fanden sich nicht zu einer Aussprache, sondern lagen jede einsam, schweigend und trotzig in ihrem Bette wach. Ein Geist des Unglücks und Widerspruchs, ein Dämon der Sinnlosigkeit, Vereinsamung und Seelenverwirrung schien sich des Hauses bemächtigt zu haben. Erst nach Mitternacht entschlief Goldmund, erst gegen den Morgen Julie. Lydia lag wach und gepeinigt, bis überm Schnee der bleiche Tag heraufkam. Sie erhob sich sofort, zog sich an, kniete lang vor ihrem kleinen hölzernen Heiland und betete, und sobald sie auf der Treppe den Schritt ihres Vaters vernahm, ging sie und bat ihn um eine Unterredung. Ohne den Versuch zu machen, zwischen ihrer Sorge um Julies Mädchentugend und ihrer Eifersucht zu unterscheiden, war sie zum Entschluß gekommen, der Sache ein Ende zu machen. Goldmund und Julie schliefen beide noch, als der Ritter schon alles wußte, was Lydia gut befunden hatte, ihm mitzuteilen. Julies Beteiligung an dem Abenteuer hatte sie verschwiegen. Als Goldmund zur gewohnten Stunde in der Schreibstube erschien, sah er den Ritter, der sonst in Hausschuhen und Filzrock seinen Schreibereien obzuliegen pflegte, gestiefelt, im Wams, das Schwert umgehängt, und wußte alsbald, was das bedeute.

»Setz deine Mütze auf«, sagte der Ritter, »ich habe einen Gang mit dir zu tun.«

Goldmund nahm seine Mütze vom Nagel und folgte seinem Herrn die Treppe hinab, über den Hof und zum Tor hinaus. Ihre Sohlen knirschten hell im leicht überfrorenen Schnee, am Himmel war noch Morgenrot. Schweigend ging der Ritter voran, der Jüngling folgte und blickte mehrmals nach dem Hof zurück, nach dem Fenster seiner Kammer, nach dem beschneiten steilen Dach, bis es versank und nichts mehr zu sehen war. Nie würde er dies Dach und diese Fenster wiedersehen, nie mehr die Schreibstube und Schlafkammer, nie mehr die beiden Schwestern. Seit langem war der Gedanke an ein plötzliches Scheiden ihm vertraut, dennoch zog sich sein Herz schmerzlich zusammen. Bitter weh tat ihm dieser Abschied.

Eine Stunde lang gingen sie so, der Herr voran, beide ohne zu sprechen. Goldmund begann an sein Schicksal zu denken. Der Ritter war bewaffnet, vielleicht würde er ihn erschlagen. Er glaubte jedoch nicht daran. Die Gefahr war klein; er brauchte nur davonzulaufen, so stand der alte Mann mit seinem Schwerte hilflos. Nein, sein Leben war nicht in Gefahr. Aber dieses Gehen und Schweigen, hinter dem beleidigten feierlichen Manne her, dies stumme Davongeführtwerden wurde ihm von Schritt zu Schritt peinlicher. Endlich blieb der Ritter stehen.

»Du wirst nun«, sagte er mit geborstener Stimme, »allein weitergehen, immer in dieser Richtung, und wirst dein Wanderleben führen, wie du es gewohnt warst. Solltest du dich jemals wieder in der Nähe meines Hauses zeigen, so wirst du abgeschossen. Ich will keine Rache an dir nehmen; ich hätte klüger sein und einen so jungen Menschen nicht in die Nähe meiner Töchter kommen lassen sollen. Solltest du es aber wagen zurückzukommen, so ist dein Leben verloren. Geh nun, möge dir Gott verzeihen!«

Er blieb stehen, im fahlen Schneemorgenlicht sah sein graubärtiges Gesicht wie erloschen aus. Wie ein Gespenst blieb er stehen und wich nicht von der Stelle, bis Goldmund über den nächsten Hügelkamm verschwunden war. Die rötlichen Schimmer am Wolkenhimmel hatten sich verloren, keine Sonne kam hervor, es begann langsam in dünnen, zögernden Flocken zu schneien.

Neuntes Kapitel

Von manchem Ritt her kannte Goldmund die Gegend; jenseits des gefrorenen Rieds wußte er eine Scheune des Ritters stehen, weiterhin auch einen Bauernhof, wo man ihn kannte; an einem dieser Orte würde er rasten und nächtigen können. Das Weitere mußte sich morgen finden. Allmählich kam wieder das Gefühl der Freiheit und der Fremde über ihn, dessen er sich eine Zeitlang entwöhnt hatte. Sie schmeckte an diesem eisig mürrischen Wintertag nicht lieblich, die Fremde, sie roch sehr nach Mühsal, nach Hunger und Bedrängnis, und doch klang ihre Weite, ihre Größe und harte Unerbittlichkeit seinem verwöhnten und verwirrten Herzen beruhigend und beinahe tröstlich.

Er lief sich müde. Mit dem Reiten ist's nun vorbei, dachte er. O weite Welt! Es fiel wenig Schnee, in der Ferne liefen Waldrücken und Wolken grau ineinander, unendlich lag die Stille, bis ans Ende der Welt. Was war nun wohl mit Lydia, dem armen ängstlichen Herzen? Bitter tat es ihm leid um sie; zärtlich dachte er an sie, während er, mitten im leeren Ried, unter einer alleinstehenden kahlen Esche saß und rastete. Endlich vertrieb ihn die Kälte, mit steifen Beinen stand er auf, brachte sich langsam in einen zügigen Schritt, schon schien das dürftige Licht des trüben Tages wieder abzunehmen. Während des langen Trabens übers leere Gefild vergingen ihm die Gedanken. Es galt jetzt nicht zu denken oder Gefühle zu hegen, seien sie noch so zärtlich, seien sie noch so schön; es galt sich warm zu halten, es galt beizeiten das Nachtlager zu erreichen, es galt sich wie Marder und Fuchs durch diese kalte, unwirtliche Welt zu bringen und womöglich nicht jetzt schon im freien Feld kaputt zu gehen; alles andere war nicht wichtig.

Verwundert blickte er um sich, als er einen fernen Hufschlag zu hören glaubte. War es möglich, daß man ihn verfolgte? Er griff nach dem kleinen Jagdmesser in seiner Tasche und machte die hölzerne Scheide locker. Nun bekam er den Reiter zu Gesicht und erkannte von weitem ein Pferd aus des Ritters Stall, hartnäckig hielt es auf ihn zu. Fliehen wäre unnütz gewesen, er blieb stehen und wartete, ohne eigentliche Furcht, doch sehr gespannt und neugierig, mit beschleunigtem Herzschlag. Heftig zuckte es ihm einen Augenblick durch den Kopf: »Wenn es mir gelänge, diesen Reiter umzubringen, wie gut ginge es mir da; ich hätte ein Roß, und die Welt gehörte mir!« Aber als er den Reiter erkannte, den jungen Stallknecht Hans, mit seinen hellblauen Wasseraugen und dem guten verlegenen Knabengesicht, mußte er lachen; diesen lieben guten Kerl totzuschlagen, dazu hätte ein Herz von Stein gehört. Freundlich begrüßte er den Hans, und zärtlich begrüßte er auch das Pferd Hannibal, das ihn sofort erkannte, und streichelte ihm den warmen feuchten Hals.

»Wo willst denn du hm, Hans?« fragte er.

»Zu dir«, lachte der Bursche mit blanken Zähnen. »Du bist schon ein braves Stück gelaufen! Also aufhalten darf ich mich nicht, ich soll dich bloß grüßen und dir das übergeben.«

»Von wem denn grüßen?«

»Vom Fräulein Lydia. Na, du hast uns da einen sauren Tag eingebrockt, Magister Goldmund, ich bin froh, daß ich mich ein bißchen verziehen konnte. Obwohl der Herr es nicht merken darf, daß ich fort war und Aufträge hatte, es ginge mir schön an den Kragen. Also nimm!«

Er streckte ihm einen kleinen Packen hin, den Goldmund m Empfang nahm.

»Sag, Hans, hast du etwa ein Stück Brot in der Tasche? Dann gib mir's.«

»Brot? Wird sich schon noch eine Kruste finden.« Er bohrte in seinen Taschen und brachte ein Stück Schwarzbrot heraus. Dann wollte er wieder davonreiten.

»Was macht denn das Fräulein?« fragte Goldmund. »Hat sie dir nichts aufgetragen? Hast du kein Brieflein?«

»Nichts. Ich sah sie bloß einen Augenblick. Schlechtes Wetter im Haus, weißt du; der Herr läuft herum wie König Saul. Also ich soll dir das Zeug da abgeben, weiter nichts. Ich muß zurück.«

»Ja, nur noch einen Augenblick! Du, Hans, könntest du mir nicht dein Jagdmesser abtreten? Ich habe bloß ein kleines. Wenn die Wölfe kommen, und so – es wäre schon besser, wenn ich was Rechtes in der Hand hätte.«

Aber davon wollte Hans nichts wissen. Es sollte ihm leid tun, meinte er, wenn dem Magister Goldmund etwas passieren sollte. Aber sein Stoßmesser, nein, das würde er niemals hergeben, auch nicht für Geld, auch nicht im Tausch, o nein, und wenn die heilige Genoveva selber ihn darum bäte. So, und nun müsse er eilen, und er wünsche gute Zeit, und es täte ihm leid.

Sie schüttelten einander die Hände, der Bub ritt davon; mit sonderbar wehem Herzen blickte Goldmund ihm nach. Dann packte er das Zeug auseinander, froh über den guten Riemen aus Kalbleder, mit dem es verschnürt war. Innen fand er ein gestricktes Unterwams aus starker grauer Wolle, offenbar eine Handarbeit, die Lydia gemacht und ihm zugedacht hatte, und in dem Wollzeug steckte, gut eingewickelt, noch etwas Hartes, das war ein Stück Schinken, und in den Schinken war ein kleiner Schlitz geschnitten, in dem steckte ein blanker goldener Dukaten. Geschriebenes war nicht dabei. Mit Lydias Geschenken in den Händen stand er da im Schnee, unentschlossen, dann zog er die Jacke aus und schlüpfte in das Wollzeug, es gab angenehm warm. Schnell zog er sich wieder an, verbarg das Goldstück in der sichersten Tasche, schnallte den Riemen um und lief weiter querfeldein; es war Zeit, einen Rastort zu erreichen, er war sehr müde geworden. Aber zum Bauern mochte er nicht, obwohl es dort wärmer gewesen und wohl auch Milch zu finden gewesen wäre; er mochte nicht schwatzen und ausgefragt werden. In der Scheune übernachtete er, zog früh bei Frost und scharfem Winde weiter, von der Kälte zu großen Märschen getrieben. Viele Nächte träumte er vom Ritter und seinem Schwert und den zwei Schwestern; viele Tage lang drückte ihm Einsamkeit und Schwermut das Herz.

In einem Dorfe, wo es bei armen Bauern kein Brot, aber eine Hirsesuppe gab, fand er an einem der nächsten Abende Nachtlager. Neue Erlebnisse warteten hier auf ihn. Die Bäuerin, deren Gast er war, kam in der Nacht mit einem Kinde nieder, und Goldmund war dabei anwesend, man hatte ihn aus dem Stroh geholt, damit er helfe, obwohl sich am Ende nichts für ihn zu tun fand, als daß er das Licht hielt, während die Hebamme beschäftigt war. Er sah zum erstenmal eine Geburt und hing mit erstaunten, glühenden Augen am Gesicht der Gebärenden, plötzlich um ein neues Erlebnis reicher geworden. Wenigstens schien das, was er hier im Gesicht der Gebärenden wahrnahm, ihm sehr bemerkenswert. Beim Schein des Kienspans nämlich, während er mit seiner großen Neugierde in das Gesicht der kreißenden Frau starrte, die in ihren Schmerzen lag, fiel ihm etwas Unerwartetes auf: die Linien im verzerrten Gesicht der Schreienden waren wenig verschieden von jenen, die er im Augenblick des Liebesrausches auf anderen Frauengesichtern gesehen hatte! Der Ausdruck großen Schmerzes in einem Gesicht war heftiger zwar und mehr entstellend als der Ausdruck großer Lust – aber er war im Grunde nicht von ihm verschieden, es war dasselbe etwas grinsende Sichzusammenziehen, dasselbe Aufglühen und Erlöschen. Wunderbar, ohne daß er begriff warum, überraschte ihn diese Einsicht, daß Schmerz und Lust einander ähnlich sein konnten wie Geschwister.

Noch etwas anderes erlebte er in diesem Dorfe. Der Nachbarsfrau wegen, deren er arn Morgen nach der Geburtsnacht ansichtig geworden war und welche alsbald auf die Frage seiner verliebten Augen Antwort gab, blieb er eine zweite Nacht im Dorf und machte die Frau sehr glücklich, denn es war nach langer Zeit und nach allen den aufreizenden und wieder enttäuschenden Verliebtheiten dieser letzten Wochen das erstemal, daß sein Trieb wieder Stillung fand. Und diese Verzögerung führte zu einem neuen Erlebnis; sie war schuld, daß er am zweiten Tage in ebenjenem Bauerndorf einen Kameraden antraf, einen langen verwegenen Kerl namens Viktor, der halb wie ein Pfaff und halb wie ein Schnapphahn aussah, der ihn mit lateinischen Brocken begrüßte und sich als fahrenden Schüler zu erkennen gab, obwohl er über die Schülerjahre lang hinaus war.

Dieser spitzbärtige Mann begrüßte Goldmund mit einer gewissen Herzlichkeit und mit einem Landstreicherhumor, mit dem er den jungen Kameraden rasch gewann. Auf dessen Frage, wo er denn Schüler gewesen sei und wohin seine Reise ziele, deklamierte der sonderbare Bruder: »Hohe Schulen hab ich, bei meiner armen Seele, genug besucht, in Köln und Paris bin ich gewesen, und über die Metaphysik der Leberwurst ist selten Gehaltvolleres gesagt worden, als ich es in meiner Dissertation zu Leyden tat. Seither, amice, laufe ich armer Swinehund durchs deutsche Reich, von unermeßlichem Hunger und Durst die liebe Seele gefoltert; ich bin Bauernschreck genannt, und meine Profession ist es, die jungen Weiber im Latein zu unterweisen und die Würste vom Rauchfang in meinen Bauch zu zaubern. Mein Ziel ist das Bett der Bürgermeisterin, und wenn ich nicht vorher von den Krähen gefressen werde, so wird es mir kaum erspart bleiben, mich dem lästigen Beruf eines Erzbischofs widmen zu müssen. Besser, kleiner Kollege, ist's von der Hand in den Mund zu leben als umgekehrt, und schließlich hat noch niemals ein Hasenbraten sich wohler gefühlt als in meinem armen Magen. Der König von Böhmen ist mein Bruder, und unser aller Vater ernähret ihn wie mich, aber das Beste dazu läßt er mich selber tun, und vorgestern wollte er mich, hartherzig wie Väter sind, dazu mißbrauchen, einem halbverhungerten Wolf das Leben zu retten. Hätte ich das Vieh nicht totgeschlagen, Herr Kollege, du wärest nie der Ehre teilhaftig geworden, meine angenehme Bekanntschaft zu machen. In saecula saeculorum, Amen.«

Goldmund, noch wenig mit dem Galgenhumor und dem Vagantenlatein dieser Gattung bekannt, fürchtete sich zwar ein wenig vor dem langen struppigen Flegel und dem wenig angenehmen Gelächter, mit dem er seine eigenen Spaße begleitete, aber etwas an diesem hartgesottenen Landstreicher gefiel ihm doch, und er ließ sich leicht dazu bereden, die Fahrt gemeinsam fortzusetzen, denn mochte das mit dem erschlagenen Wolf nun geflunkert sein oder nicht, auf jeden Fall war man zu zweien stärker und hatte weniger zu fürchten. Aber ehe sie weiterzogen, wollte Bruder Viktor mit den Bauern Latein reden, wie er es nannte, und quartierte sich bei einem Bäuerchen ein. Er machte es nun nicht so, wie Goldmund es bisher auf allen Wanderungen gehalten hatte, wenn er in einem Gehöft oder Dorf zu Gast gewesen war, sondern er strich von Hütte zu Hütte, fing mit jedem Weibe ein Geplauder an, steckte die Nase in jeden Stall und jede Küche und schien nicht gesonnen, den Weiler eher zu verlassen, als bis jedes Haus ihm einen Zoll und Tribut entrichtet hätte. Er erzählte den Bauern vom Krieg in Welschland und sang am Herd das Lied von der Paviaschlacht, er empfahl den Großmüttern Mittel gegen Gliedersucht und Zahnausfall, er schien alles zu wissen und überall gewesen zu sein, er stopfte sich das Hemd überm Gürtel zum Platzen voll mit geschenkten Brotstücken, Nüssen, Birnenschnitzen. Verwundert sah Goldmund ihm zu, wie er unermüdlich seinen Feldzug vollführte, wie er die Leute bald erschreckte, bald durch Schmeicheln gewann, wie er sich aufspielte und bestaunen ließ, wie er bald Latein radebrechte und den Gelehrten spielte, bald durch eine buntscheckig freche Gaunersprache Eindruck machte, wie er mitten im Erzählen oder Gelehrtreden mit scharfen wachsamen Augen jedes Gesicht, jede sich öffnende Tischlade, jede Schüssel und jeden Laib registrierte. Er sah, dies war ein gerissener, mit allen Wassern gewaschener Heimatloser, ein Mann, der viel gesehen und erlebt, viel gehungert und gefroren hatte und im bittern Kampf um ein karges gefährdetes Leben klug und frech geworden war. So also wurden die, die lange Zeit auf Wanderschaft lebten. Würde auch er selbst einmal so werden?

Andern Tages zogen sie weiter, zum erstenmal kostete Goldmund das Wandern zu zweien. Drei Tage waren sie miteinander unterwegs, und Goldmund fand dies und jenes von Viktor zu lernen. Die zum Instinkt gewordene Gewohnheit, alles auf die drei großen Bedürfnisse des Heimatlosen zu beziehen: die Sicherung gegen Lebensgefahr, das Finden eines Nachtlagers und das Beschaffen von Nahrung, hatte den seit so vielen Jahren sich Herumtreibenden vieles gelehrt. Aus unscheinbarsten Anzeichen die Nähe menschlicher Wohnungen zu erkennen, auch im Winter, auch in der Nacht, oder jeden Winkel in Wald und Feld haarscharf auf seine Eignung zum Rastort oder Schlafplatz zu prüfen, oder beim Betreten einer Stube im Augenblick den Grad von Wohlstand oder Elend zu wittern, in dem der Besitzer lebte, sowie den Grad seiner Gutherzigkeit, oder seiner Neugierde, oder seiner Furcht – das waren Künste, in welchen Viktor es zur Meisterschaft gebracht hatte. Manches Lehrreiche erzählte er dem jungen Kameraden. Als Goldmund ihm einmal entgegnete, er möge sich den Menschen nicht mit so absichtsvoller Überlegung nähern, und es sei ihm, obwohl er alle diese Künste nicht kenne, auf seine freundliche Bitte hin nur sehr wenige Male das Gastrecht verweigert worden, da lachte der lange Viktor und sagte gutmütig: »Nun ja, Goldmundchen, dir mag es schon glücken, du bist so jung und hübsch und siehst so unschuldig aus, das ist ein guter Quartierzettel. Den Weibern gefällst du, und die Männer denken: ach Gott, der ist harmlos, der tut niemand was zuleid. Aber schau, Brüderchen, der Mensch wird älter, und das Kindergesicht kriegt einen Bart und kriegt Falten, und die Hosen kriegen Löcher, und unversehens ist man ein häßlicher und unwillkommener Gast, und statt der Jugend und Unschuld schaut einem bloß noch der Hunger aus den Augen; dann muß einer hart geworden sein und etwas von der Welt gelernt haben, sonst liegt er bald auf dem Mist, und die Hunde schiffen ihn an. Aber mir scheint, du wirst ohnehin nicht lang so herumtraben, du hast zu feine Hände, du hast zu hübsche Locken, du wirst dich schon wieder dahin verkriechen, wo es sich besser leben läßt, in ein hübsches warmes Ehebett, oder in ein hübsches fettes Klösterchen, oder in eine schön geheizte Schreibstube. Du hast auch so nette Kleider an, man könnte dich für einen Junker ansehen.«

Er fuhr, immer lachend, mit der Hand über Goldmunds Kleidung, und dieser spürte, wie die Hand an allen Taschen und Nahten suchte und tastete; er entzog sich und dachte an seinen Dukaten. Er erzählte von seinem Aufenthalt beim Ritter und wie er durch lateinische Schreibereien das schöne Kleid verdient habe. Aber Viktor wollte wissen, warum er denn mitten im rauhen Winter ein so warmes Nest wieder verlassen habe, und Goldmund, des Lügens ungewohnt, erzählte ihm ein wenig von den zwei Ritterstöchtern. Da kam es zum ersten Streit zwischen den Kameraden. Viktor fand, Goldmund sei ein Esel ohnegleichen, daß er da einfach davonlaufe und die Burg und die Jungfern darin dem lieben Gott überlasse. Das müsse gutgemacht werden, er werde schon sehen. Sie würden die Burg aufsuchen, und natürlich dürfe man Goldmund dort nicht sehen, aber da solle er ihn nur sorgen lassen. Er müsse ein Briefchen an Lydia schreiben, so und so, und damit werde er, Viktor, die Burg aufsuchen und werde, bei des Heilands Wunden, nicht aus ihr zurückkommen, ohne dies und jenes an Geld und Gut mit herauszubringen. Und so weiter. Goldmund wehrte ab und wurde endlich heftig; er weigerte sich, noch ein Wort in dieser Sache anzuhören oder den Namen des Ritters und den Weg zu ihm zu verraten.

Viktor, als er ihn so erzürnt sah, lachte wieder und spielte den Gutmütigen. »Na«, sagte er, »beiß dir nur keine Zähne aus! Ich sage dir bloß: einen guten Fang lassest du uns da entgehen, mein Junge, und eigentlich ist das nicht sehr nett und kollegial von dir. Aber du willst also nicht, du bist ein edler Herr, zu Pferde wirst du in deine Burg zurückkehren und das Fräulein heiraten! Junge, wie hast du den Kopf voll edler Dummheiten! Na, meinetwegen, wir ziehen also weiter und frieren uns die Zehen ab.«

Goldmund blieb verstimmt und schweigsam bis zum Abend, aber da sie an diesem Tag keine Wohnstatt und keine Menschenspuren antrafen, ließ er es dankbar geschehen, daß Viktor eine Stelle zum Nachtlager aussuchte, daß er zwischen zwei Stämmen am Waldrand einen Rückenschutz baute und ein Lager aus reichlichen Tannenzweigen aufschüttete. Sie aßen Brot und Käse aus Viktors vollen Taschen, Goldmund schämte sich seines Zorns und zeigte sich artig und hilfreich, er bot dem Kameraden seine Wolljacke für die Nacht an, sie wurden einig, abwechselnd Wache zu halten, des Getiers wegen, und Goldmund übernahm die erste Wache, während der andere sich auf die Tannenzweige legte. Lange Zeit stand Goldmund an einen Fichtenstamm gelehnt und hielt sich ruhig, um den andern nicht am Einschlafen zu hindern. Dann fing er an auf und ab zu gehen, da ihn fror. In immer weiterem Abstand lief er hin und her, sah die Tannenwipfel spitz in den bleichen Himmel stechen, empfand die tiefe Stille der Winternacht feierlich und etwas angstvoll, fühlte sein warmes lebendiges Herz einsam in der kalten antwortlosen Stille schlagen und hörte, leise zurückkehrend, dem Atmen seines schlafenden Kameraden zu. Ihn durchdrang stärker als jemals das Gefühl des Heimatlosen, der keine Haus- oder Schloß- oder Klostermauern zwischen sich und der großen Angst gebaut hat, der bloß und allein durch die unbegreifliche, feindliche Welt läuft, allein zwischen den kühlen spöttischen Sternen, zwischen den lauernden Tieren, zwischen den geduldigen standhaften Bäumen.

Nein, dachte er, er würde niemals so werden wie Viktor, und wenn er auch sein Leben lang weiterwanderte. Diese Art, sich gegen das Grauen zu wehren, würde er nicht lernen können, nicht dies schlaue diebische Sichdurchpirschen und auch nicht diese laute, dreiste Art von Narrentum, diesen wortreichen Galgenhumor des Bramarbas. Vielleicht hatte dieser kluge dreiste Mann recht, vielleicht würde Goldmund nie ganz seinesgleichen werden, nie ganz ein Vagant, und eines Tages in irgendwelche Mauern zurückkriechen. Heimatlos und ziellos aber würde er dennoch bleiben, nie würde er sich wirklich geschützt und sicher fühlen, immer würde die Welt rätselhaft schön und rätselhaft unheimlich ihn umgeben, immer wieder würde er dieser Stille lauschen müssen, in deren Mitte das schlagende Herz so bang und vergänglich war. Wenige Sterne waren zu sehen, es war windstill, in der Höhe aber schien das Gewölk bewegt.

Nach einer langen Zeit wurde Viktor wach – er hatte ihn nicht wecken mögen – und rief ihn an.

»Komm«, rief er, »du mußt nun schlafen, sonst bist du morgen nichts wert.«

Goldmund gehorchte, er legte sich aufs Lager und schloß die Augen. Müde war er genug, doch schlief er nicht, Gedanken hielten ihn wach, und außer den Gedanken ein Gefühl, das er sich selbst nicht eingestand, ein Gefühl von Bangigkeit und Mißtrauen, das sich auf seinen Kameraden bezog. Unbegreiflich war ihm jetzt, daß er diesem derben, laut lachenden Menschen, diesem Witzbold und frechen Bettler von Lydia hatte erzählen können! Er war böse auf ihn und auf sich selber, und sorgenvoll sann er über die beste Art und Gelegenheit nach, sich wieder von ihm zu trennen. Er mußte aber doch in einen halben Schlaf gesunken sein, denn er erschrak und war überrascht, als er Viktors Hände an sich spürte, wie sie seine Kleider vorsichtig abtasteten. In der einen Tasche hatte er sein Messer, in der andern den Dukaten; beides würde Viktor unfehlbar stehlen, wenn er es fände. Er stellte sich schlafend, drehte sich wie schlaftrunken hin und her, rührte die Arme, und Viktor zog sich zurück. Goldmund war sehr böse auf ihn, er beschloß, sich morgen von ihm zu trennen.

Als aber, nach einer Stunde vielleicht, Viktor sich von neuem über ihn beugte und mit dem Absuchen begann, wurde Goldmund kalt vor Wut. Ohne sich zu rühren, tat er die Augen auf und sagte verächtlich: »Geh jetzt, es gibt hier nichts zu stehlen.«

Im Schrecken über den Anruf griff der Dieb zu und drückte die Hände um Goldmunds Hals. Als der sich wehrte und aufbäumte, drückte der andere fester zu und kniete ihm zugleich auf die Brust. Goldmund, als er keinen Atem mehr bekam, riß und zuckte heftig mit dem ganzen Leibe, und als er nicht loskam, durchfuhr ihn plötzlich die Todesangst und machte ihn klug und hellsichtig. Er brachte die Hand in die Tasche, brachte, während der andere weiterwürgte, das kleine Jagdmesser heraus und stieß plötzlich und blindlings mehrere Male in den über ihm Knienden hinein. Nach einem Augenblick ließen Viktors Hände locker, es gab Luft, tief und wild einatmend kostete Goldmund sein gerettetes Leben. Nun versuchte er sich aufzurichten, da sank über ihm der lange Kamerad schlaff und weich mit einem furchtbaren Stöhnen zusammen, und sein Blut lief über Goldmunds Gesicht. Erst jetzt vermochte er hochzukommen. Da sah er im grauen Nachtschein den Langen zusammengefallen liegen; als er nach ihm griff, langte er in lauter Blut. Er hob ihm den Kopf, der fiel schwer und weich wie ein Sack zurück. Aus seiner Brust und seinem Hals troff das Blut immerzu, aus seinem Munde floß in irren, schon schwächer werdenden Seufzern das Leben fort.

»Nun habe ich einen Menschen umgebracht«, dachte Goldmund und dachte es immer wieder, während er über dem Sterbenden kniete und auf seinem Gesicht die Blässe sich verbreiten sah. »Liebe Mutter Gottes, nun habe ich getötet«, hörte er sich selber sprechen.

Plötzlich wurde es ihm unerträglich, hier zu bleiben. Er hob sein Messer auf, wischte es an dem Wollenzeug ab, das der andere trug und das von Lydias Händen für ihren Liebsten gestrickt worden war; er steckte das Messer in die hölzerne Scheide und in die Tasche zurück, sprang auf und lief aus allen Kräften davon.

Schwer lag ihm der Tod des lustigen Vaganten auf der Seele; mit Schaudern wusch er, als es Tag wurde, mit Schnee all das Blut von sich, das er vergossen hatte, und irrte noch einen Tag und eine Nacht ziellos und beängstigt umher. Es war die Not des Leibes, die ihn endlich aufrüttelte und seiner angstvollen Reue ein Ende machte.

In der öden verschneiten Gegend verlaufen, ohne Obdach, ohne Weg, ohne Nahrung und beinahe ohne Schlaf, geriet er in große Bedrängnis, wie ein wildes Tier schrie der Hunger in seinem Leib, mehrmals legte er sich erschöpft mitten im Felde nieder, schloß die Augen und gab sich verloren, wünschte nichts als einzuschlafen und im Schnee zu sterben. Aber immer wieder trieb es ihn empor, verzweifelt und gierig lief er um sein Leben, und mitten in der bittersten Not erquickte und berauschte ihn die unsinnige Kraft und Wildheit des Nichtsterbenwollens, die ungeheure Stärke des nackten Lebenstriebes. Vom beschneiten Wacholderbusch las er mit blaugefrorenen Händen die kleinen vertrockneten Beeren und kaute das spröde bittere Zeug, mit Tannennadeln vermischt, es schmeckte aufreizend scharf, er fraß Hände voll Schnee gegen den Durst. Atemlos, in die erstarrten Hände hauchend, saß er auf einem Hügel und hielt kurze Rast, gierig spähte er nach allen Seiten, nichts als Heide und Wald war zu sehen, nirgends eine Spur von Menschen. Über ihm flogen ein paar Krähen, böse blickte er ihnen nach. Nein, sie sollten ihn nicht zu fressen kriegen, nicht, solange noch ein Rest von Kraft in seinen Beinen, ein Funke von Wärme in seinem Blute war. Er stand auf und nahm den unerbittlichen Wettlauf mit dem Tode wieder auf. Er lief und lief, und im Fieber der Erschöpfung und letzten Anstrengung nahmen merkwürdige Gedanken von ihm Besitz, und er führte tolle Gespräche vor sich hin, bald unhörbar, bald laut. Er sprach mit Viktor, mit dem Erstochenen, barsch und höhnisch sprach er mit ihm: »Na, schlauer Bruder, wie geht's? Scheint dir der Mond durch die Därme, Kerl, rupfen die Füchse dir an den Ohren? Einen Wolf willst du umgebracht haben? Hast du ihn in die Kehle gebissen oder ihm den Schwanz ausgerissen, he? Meinen Dukaten hast du mir stehlen wollen, alter Schnappsack! Aber gelt, das kleine Goldmündchen hat dich überrascht, gelt Alter, es hat dich an den Rippen gekitzelt! Und dabei hast du noch alle Säcke voller Brot und Wurst und Käse gehabt, du Schwein, du Freßsack!« Dergleichen Scherzreden hustete und bellte er vor sich hin, er beschimpfte den Toten, er triumphierte über ihn, er lachte ihn dafür aus, daß er sich habe kaputt machen lassen, der Tölpel, der dumme Aufschneider! Dann aber hatten seine Gedanken und Reden es nicht mehr mit dem armen langen Viktor zu tun. Er sah jetzt Julie vor sich, die schöne kleine Julie, so wie sie ihn in jener Nacht verlassen hatte; er rief ihr unzählige Koseworte zu, mit irren schamlosen Zärtlichkeiten suchte er sie zu verführen, daß sie zu ihm komme, daß sie ihr Hemdchen fallen lasse, daß sie mit ihm in den Himmel fahre, eine Stunde vor dem Tode noch, ein Augenblickchen vor dem elenden Verrecken. Flehend und herausfordernd sprach er mit ihren hohen kleinen Brüsten, mit ihren Beinen, mit dem blonden krausen Haar unter ihrer Achsel.

Und wieder, während er mit steifen stolpernden Beinen durchs beschneite dürre Heidekraut trabte, trunken vor Weh, triumphierend vor flackernder Lebensgier, begann er zu flüstern; und jetzt war es Narziß, mit dem er sprach, dem er seine neuen Einfalle, Weisheiten und Scherze mitteilte. »Hast du Angst, Narziß«, redete er ihn an, »graut es dir, hast du was gemerkt? Ja, Verehrtester, die Welt ist voll von Tod, voll von Tod, auf jedem Zaun sitzt er, hinter jedem Baum steht er, und es hilft euch nichts, daß ihr Mauern baut, und Schlafsäle, und Kapellen und Kirchen, er guckt durchs Fenster, er lacht, er kennt jeden von euch so genau, mitten in der Nacht hört ihr ihn vor euren Fenstern lachen und eure Namen sagen. Singt nur eure Psalmen und brennet hübsch Kerzen am Altar, und betet eure Vespern und Matutinen, und sammelt Kräuter im Laboratorium, und sammelt Bücher in der Bibliothek! Fastest du, Freund? Entziehst dir den Schlaf? Er wird dir schon helfen, der Freund Hein, er wird dir alles entziehen, bis auf die Knochen. Lauf, Teuerster, lauf geschwind, im Felde da geht der Heirassasa, lauf und halte immer hübsch die Knochen zusammen, sie wollen auseinander, sie werden nicht bei uns bleiben. Ach unsere armen Knochen, ach unser armer Schlund und Magen, ach unser armes bißchen Hirn unterm Schädel! Es will alles fort, es will alles zum Teufel, auf dem Baum sitzen die Krähen, die schwarzen Pfaffen.«

Längst wußte der Irrende nicht mehr, wohin er laufe, wo er sei, was er sage, ob er liege oder stehe. Er fiel über Gesträuch, er rannte gegen Bäume, er griff stürzend in Schnee und Dornen. Aber der Trieb in ihm war stark, immer wieder riß er ihn fort, immer wieder jagte er den blind Fliehenden weiter. Als er das letztemal zusammenbrach und liegenblieb, war es im selben kleinen Dorfe, wo er vor einigen Tagen den fahrenden Schüler getroffen, wo er nachts über der gebärenden Frau den Kienspan gehalten hatte. Da blieb er liegen, und die Leute liefen her und standen um ihn herum und schwatzten, er hörte nichts mehr. Die Frau, deren Liebe er damals genossen, erkannte ihn und erschrak über seinen Anblick, sie erbarmte sich, sie ließ ihren Mann schelten und schleppte den Halbtoten in den Stall.

Es dauerte nicht lange, bis Goldmund wieder auf seinen Beinen stand und wandern konnte. Von der Stallwärme, vom Schlaf und von der Ziegenmilch, die das Weib ihm zu trinken gab, kam er wieder zu sich und zu Kräften; nur war alles Jüngsterlebte zurückgerückt, als wäre viel Zeit seitdem verflossen. Der Marsch mit Viktor, die kalte bange Winternacht unter jenen Tannen, der schreckliche Kampf auf dem Lager, das schreckliche Sterben des Kameraden, die Tage und Nächte des Frierens, des Hungerns und Verirrtseins, das alles war Vergangenheit geworden, beinahe hätte er es vergessen; aber vergessen war es doch nicht, nur überstanden, nur vorübergegangen. Etwas blieb zurück, nicht auszusprechen, etwas Schreckliches und auch Wertvolles, etwas Versunkenes und doch nie zu Vergessendes, eine Erfahrung, ein Geschmack auf der Zunge, ein Ring ums Herz. In kaum zwei Jahren hatte er Lust und Schmerzen des heimatlosen Lebens wohl bis zum Grunde kennengelernt: das Alleinsein, die Freiheit, das Lauschen auf Wald und Getier, das schweifende treulose Lieben, die bittere tödliche Not. Tage war er im sommerlichen Gefild zu Gast gewesen, Tage und Wochen im Walde, Tage im Schnee, Tage in Todesangst und Todesnähe, und von allem das Stärkste, das Seltsamste war gewesen, sich gegen den Tod zu wehren, sich klein und elend und bedroht zu wissen und dennoch im letzten verzweifelten Kampf gegen den Tod diese schöne, schreckliche Kraft und Zähigkeit des Lebens in sich zu fühlen. Das klang nach, das blieb ihm ins Herz geschrieben, so wie die Gebärden und Mienen der Wollust, welche denen der Gebärenden und Sterbenden so ähnlich waren. Wie neulich die Gebärende geschrien und das Gesicht verzogen hatte, wie neulich der Kamerad Viktor zusammengesunken war und sein Blut so still und schnell verströmt hatte! Oh, und er selbst, wie hatte er in den Hungertagen den Tod rund um sich lauern gespürt, wie weh hatte der Hunger getan, und wie hatte er gefroren, gefroren! Und wie hatte er gekämpft, wie hatte er dem Tod auf die Nase gehauen, mit welcher Todesangst und mit welcher grimmigen Wollust hatte er sich gewehrt! Viel mehr als dieses, so wollte ihm scheinen, gab es eigentlich nicht zu erleben. Mit Narziß hätte man vielleicht darüber sprechen können, sonst mit niemandem.

Als Goldmund auf seinem Streulager im Stall zum ersten Mal wieder richtig zu sich gekommen war, hatte er den Dukaten in seiner Tasche vermißt. Sollte er ihn auf dem schrecklichen, halb bewußtlos durchtaumelten Marsch des letzten Hungertages verloren haben? Lange grübelte er darüber nach. Der Dukaten war ihm lieb gewesen, er mochte ihn nicht verloren geben. Geld zwar bedeutete ihm wenig, er kannte kaum seinen Wert. Aber dies Goldstück war ihm aus zweierlei Gründen bedeutsam geworden. Es war das einzige Geschenk Lydias, das ihm geblieben war, denn die Wolljacke lag ja mit Viktor im Walde und war von dessen Blut durchtränkt. Und dann war es ja vor allem die Goldmünze gewesen, deren Entwendung er nicht dulden wollte, ihretwegen hatte er sich gegen Viktor gewehrt, hatte ihn ihretwegen in der Not umgebracht. Wenn der Dukaten nun verloren war, so war gewissermaßen das ganze Erlebnis jener grauenvollen Nacht unsinnig und entwertet. Nachdem er lange nachgedacht, hatte er die Bauernfrau ins Vertrauen gezogen.

»Christine«, flüsterte er ihr zu, »ich hatte ein Goldstück in meiner Tasche, und nun ist es nicht mehr da.«

»So, hast du es gemerkt?« fragte sie, mit einem merkwürdig liebevollen und zugleich listig schlauen Lächeln, das ihn so entzückte, daß er trotz seiner Schwäche die Arme um sie legte.

»Was bist du für ein sonderbarer Bub«, sagte sie zärtlich, »so klug und fein, und dabei so dumm! Läuft man denn mit einem losen Dukaten in der offenen Tasche in der Welt herum? O du kindischer Bub, du süßer kleiner Narr! Dein Goldstück hab ich gefunden, gleich als ich dich ins Stroh legte.«

»Hast du? Und wo ist es jetzt?«

»Such es«, lachte sie und ließ ihn wirklich eine ganze Weile suchen, ehe sie ihm die Stelle seines Rockes zeigte, wo sie es fest eingenäht hatte. Sie knüpfte eine Menge guter mütterlicher Ratschläge daran, die er schnell wieder vergaß, aber ihren Liebesdienst und jenes schlaugütige Lachen in ihrem Bauerngesicht vergaß er nie. Er gab sich Mühe, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen, und als er in kurzem wieder marschfähig war und weiterwollte, hielt sie ihn zurück, da in diesen Tagen der Mond wechsle und es gewiß milderes Wetter geben werde. Und so war es. Als er weiterzog, lag der Schnee grau und krank, und die Luft war feuchtschwer, in der Höhe hörte man den Tauwind stöhnen.

Zehntes Kapitel

Wieder trieb das Eis die Flüsse hinab, wieder duftete es unterm faulen Laub nach Veilchen, wieder lief Goldmund durch die bunten Jahreszeiten, trank mit unersättlichen Augen die Wälder, Berge und Wolken in sich ein, wanderte von Hof zu Hof, von Dorf zu Dorf, von Frau zu Frau, saß manchen kühlen Abend beklommen und mit Weh im Herzen zu Füßen eines Fensters, hinter dem Licht brannte und aus dessen rotem Schein ihm hold und unerreichbar alles strahlte, was es an Glück, an Heimat, an Frieden auf Erden geben mochte. Alles kam wieder und wieder, was er nun schon so wohl zu kennen glaubte, alles kam wieder und war doch jedesmal anders: das lange Wandern über Feld und Heide oder auf steiniger Straße, das sommerliche Schlafen im Walde, das Schlendern in Dörfern, hinter den Reihen der jungen Mädchen her, die Hand in Hand vom Heuwenden oder vom Hopfenlesen heimkamen, das erste Schauern des Herbstes, die bösen ersten Fröste – alles kam wieder, einmal, zweimal, endlos lief das bunte Band vor seinen Augen hin.

Mancher Regen und mancher Schnee war auf Goldmund gefallen, als er eines Tages durch einen lichten, aber schon hellgrün knospenden Buchenwald bergaufwärts stieg und oben vom Kamm des Berges aus eine neue Landschaft vor sich liegen sah, die seine Augen froh machte und in seinem Herzen eine Flut von Ahnungen, Begierden und Hoffnungen erregte. Seit Tagen wußte er sich dieser Gegend nahe und erwartete sie, nun überraschte sie ihn in dieser Mittagsstunde, und was er von ihr bei dieser ersten Begegnung durchs Auge empfing, das bestätigte und bestärkte seine Erwartungen. Er sah zwischen den grauen Stämmen und dem sacht wehenden Gezweige in ein braun und grünes Tal hinab, in dessen Mitte ein breiter Strom bläulichglasig schimmerte. Nun, so wußte er, war es für lange Zeit zu Ende mit dem Wandern ohne Straße, durch Gegenden voll Heide, Wald und Einsamkeit, wo nur selten ein Hof oder ein armes Dörfchen anzutreffen war. Da unten strömte der Fluß, und den Fluß entlang führte eine der schönsten und berühmtesten Straßen des Reichs, da lag ein reiches fettes Land, da fuhren Flöße und Boote, und die Straße führte zu schönen Dörfern, Burgen, Klöstern und reichen Städten, und wer wollte, der konnte auf dieser Straße viele Tage und Wochen reisen und brauchte nicht zu besorgen, daß sie wie die elenden Bauernsträßchen plötzlich irgendwo in einem Walde oder im feuchten Ried sich verliere. Es kam etwas Neues, und er freute sich darauf.

Schon am Abend dieses Tages war er in einem schönen Dorf, das lag zwischen dem Strom und den roten Rebenhängen an der großen Fahrstraße, an den Giebelhäusern war das hübsche Balkenwerk rot gestrichen, es gab gewölbte Einfahrtstore und steinerne Treppengäßchen, eine Schmiede warf roten Feuerschein auf die Straße und helles Amboßgeläute. Neugierig trieb sich der Ankömmling in allen Gassen und Winkeln herum, schnupperte an Kellertoren den Fässer- und Weingeruch und am Flußufer den kühlen fischigen Wasserduft, betrachtete Gotteshaus und Friedhof und unterließ nicht, sich nach einer günstigen Scheune umzusehen, wo man vielleicht für die Nacht einsteigen könnte. Vorher aber wollte er es im Pfarrhaus mit der Bitte um Zehrung versuchen. Da war ein feister rotköpfiger Pfarrer, der ihn ausfragte und dem er mit einigen Verschweigungen und einigem Fabulieren seinen Lebenslauf erzählte; darauf wurde er freundlich aufgenommen und mußte den Abend, mit gutem Essen und Wein versorgt, in langen Gesprächen mit dem Herrn hinbringen. Andern Tags reiste er auf der Straße weiter, die dem Strome folgte. Er sah Flöße und Lastkähne fahren, er überholte Fuhrwerke, manches nahm ihn eine Strecke weit mit, schnell und übervoll von Bildern liefen die Frühlingstage weg, Dörfer und kleine Städtchen nahmen ihn auf, Frauen lächelten hinter Gartenzäunen oder knieten im braunen Erdreich und steckten Pflanzen, Mädchen sangen auf abendlichen Dorfgassen.

In einer Mühle eine junge Magd gefiel ihm so sehr, daß er zwei Tage in der Gegend blieb und sie umstrich; sie lachte und schwatzte gerne mit ihm, ihm schien, er wäre am liebsten ein Müllerbursch und bliebe immer dort. Er saß bei den Fischern, er half den Fuhrleuten beim Füttern und Striegeln, bekam Brot und Fleisch dafür und durfte mitfahren. Nach langem Alleinsein diese gesellige Reisewelt, nach langem Grübeln die Heiterkeit zwischen gesprächigen und vergnügten Menschen, nach langem Darben das tägliche Sattwerden an reichlicher Speise tat ihm wohl, gern ließ er sich von der frohen Welle tragen. Sie nahm ihn mit, und je mehr er sich der Bischofsstadt näherte, desto voller und heiterer wurde die Landstraße.

In einem Dorfe ging er, als es eben nachtete, unter schon belaubten Bäumen am Wasser lustwandeln. Still und mächtig strömte der Fluß, unter den Baumwurzeln rauschte und seufzte die Strömung, über den Hügel kam der Mond herauf, warf Lichter auf den Fluß und Schatten unter die Bäume. Da fand er ein Mädchen sitzen und weinen, sie hatte Streit mit ihrem Liebsten gehabt, nun war er fort und hatte sie allein gelassen. Goldmund setzte sich zu ihr und hörte ihre Klagen an, er streichelte ihre Hand, erzählte ihr vom Wald und von den Rehen, tröstete sie ein wenig, brachte sie ein wenig zum Lachen, und sie ließ sich einen Kuß gefallen. Aber da kam ihr Schatz wieder gegangen, sie zu suchen; er hatte sich beruhigt und den Zank bereut. Als er Goldmund bei ihr sitzen fand, warf er sich alsbald über ihn und schlug mit beiden Fäusten auf ihn ein, Goldmund hatte Mühe, sich zu erwehren, schließlich wurde er doch mit ihm fertig, fluchend lief der Bursche ins Dorf, das Mädchen war längst fortgeflohen. Goldmund aber, dem Frieden nicht trauend, ließ sein Nachtlager im Stich und wanderte die halbe Nacht im Mondschein weiter, durch eine silberne schweigende Welt, sehr zufrieden, seiner starken Beine froh, bis der Tau ihm den weißen Staub von den Schuhen wusch und er, plötzlich müd geworden, sich unter den nächsten Baum legte und einschlief. Längst war es Tag, da weckte ihn ein Kitzeln im Gesicht, er scheuchte schlaftrunken mit tappender Hand darüber, schlief wieder ein, wurde bald vom selben Kitzeln aufs neue geweckt; da stand eine Bauernmagd, die sah ihn an und kitzelte ihn mit der Spitze einer Weidengerte. Er taumelte auf, lächelnd nickten sie einander zu, und sie führte ihn in einen Schuppen, wo es besser zu schlafen sei. Sie schliefen eine Weile dort, beide beieinander, dann lief sie fort und kam wieder mit einem Eimerchen voll Milch, noch warm von der Kuh. Er schenkte der Magd ein blaues Haarband, das er kürzlich auf der Gasse gefunden und zu sich gesteckt hatte, und sie küßten sich noch einmal, ehe er weiterging. Sie hieß Franziska, es tat ihm leid, sie zu verlassen.

Am Abend jenes Tages fand er in einem Kloster Obdach, wohnte am Morgen der Messe bei; wunderlich wallte es in seinem Herzen von tausend Erinnerungen, ergreifend heimatlich roch ihm die kühle Steinluft der Gewölbe, klang ihm das Klappern der Sandalen auf den Fliesengängen. Als die Messe vorüber und es still in der Klosterkirche geworden war, blieb Goldmund knien, sein Herz war wunderlich bewegt, er hatte nachts viel geträumt. Er empfand den Wunsch, sich irgendwie seiner Vergangenheit zu entledigen, irgendwie sein Leben zu ändern, er wußte nicht warum, vielleicht war es nur die Erinnerung an Mariabronn und an seine fromme Jugend, die ihn bewegte. Er fühlte sich getrieben, eine Beichte abzulegen und sich zu reinigen, viele kleine Sünden, viele kleine Laster waren zu bekennen, schwerer aber als alles lag der Tod Viktors auf ihm, der von seiner Hand gestorben war. Er fand einen Pater, dem legte er Beichte ab, über dies und jenes, besonders aber über die Messerstiche in des armen Viktors Hals und Rücken. O wie lange hatte er nicht gebeichtet! Zahl und Schwere seiner Sünden schien ihm beträchtlich, er wäre bereit gewesen, eine tüchtige Strafe dafür abzubüßen. Aber der Beichtvater schien das Leben der Fahrenden zu kennen, er entsetzte sich nicht, ruhig hörte er zu, ernst und freundlich tadelte er und mahnte, ohne an eine Verdammung zu denken. Erleichtert erhob sich Goldmund, betete nach des Paters Vorschrift am Altar und wollte schon die Kirche wieder verlassen, da fiel ein Sonnenstrahl durch eines der Fenster, dem folgte sein Blick, und da sah er in einer Seitenkapelle eine Figur stehen, die sprach so sehr zu ihm und zog ihn an, daß er sich mit liebenden Augen zu ihr wendete und sie voll Andacht und tiefer Bewegung betrachtete. Es war eine Mutter Gottes aus Holz, die stand so zart und sanft geneigt, und wie der blaue Mantel von ihren schmalen Schultern niederfiel, und wie sie die zarte mädchenhafte Hand ausstreckte, und wie über einem schmerzlichen Mund die Augen blickten und die holde Stirn sich wölbte, das war alles so lebendig, so schön und innig und beseelt, wie er es nie gesehen zu haben meinte. Diesen Mund zu betrachten, diese liebe innige Bewegung des Halses, daran konnte er sich nicht ersättigen. Ihm schien, er sehe da etwas stehen, was er in Träumen und Ahnungen oft und oft schön gesehen, wonach er oft sich gesehnt habe. Mehrmals wandte er sich zum Gehen, und immer zog es ihn wieder zurück.

Da er endlich doch gehen wollte, stand hinter ihm der Pater, dem er vorher gebeichtet hatte. »Du findest sie schön?« fragte er freundlich. »Unaussprechlich schön«, sagte Goldmund. »Manche sagen das«, sagte der Geistliche. »Und wieder andere sagen, das sei keine rechte Mutter Gottes, sie sei viel zu neumodisch und weltlich, und alles sei übertrieben und unwahr. Man hört viel darüber streiten. Dir also gefällt sie, das freut mich. Sie steht erst seit einem Jahr in unserer Kirche, ein Gönner unseres Hauses hat sie gestiftet. Sie ist vom Meister Niklaus gemacht.«

»Meister Niklaus? Wer ist das, wo ist er? Kennt Ihr ihn? O bitte, sagt mir etwas von ihm! Es muß ein herrlicher und begnadeter Mann sein, der so etwas zu schaffen vermag.«

»Ich weiß nicht viel von ihm. Er ist Bildschnitzer in unserer Bischofsstadt, eine Tagreise von hier, und hat als Künstler einen großen Ruf. Künstler pflegen keine Heilige zu sein, und auch er ist wohl keiner, aber ein begabter und hochgesinnter Mann ist er gewiß. Gesehen habe ich ihn manchmal …«

»Oh, Ihr habt ihn gesehen! Oh, wie sieht er aus?«

»Mein Sohn, du scheinst ja ganz bezaubert von ihm zu sein. Nun, so suche ihn auf und sage ihm einen Gruß von Pater Bonifazius.«

Goldmund dankte überschwenglich. Lächelnd ging der Pater davon, er aber stand noch lange vor dieser geheimnisvollen Figur, deren Brust zu atmen schien und in deren Gesicht so viel Schmerz und so viel Süße beisammenwohnte, daß es ihm das Herz zusammenzog.

Verwandelt trat er aus der Kirche, durch eine ganz und gar veränderte Welt trugen ihn seine Schritte. Seit jenem Augenblick vor der süßen, heiligen Figur aus Holz besaß Goldmund etwas, was er noch nie besessen, was er an andern so oft belächelt oder beneidet hatte: ein Ziel! Er hatte ein Ziel, und vielleicht würde er es erreichen, und vielleicht würde dann sein ganzes, zerfahrenes Leben einen hohen Sinn und Wert bekommen. Mit Freude und mit Furcht durchdrang ihn dies neue Gefühl und beflügelte seine Schritte. Diese schöne heitere Landstraße, auf der er ging, war nicht mehr, was sie gestern gewesen war, ein festlicher Tummelplatz und bequemer Aufenthalt, sie war nur noch eine Straße, war der Weg zur Stadt, der Weg zum Meister. Ungeduldig lief er. Noch vor Abend langte er an, sah hinter den Mauern Türme prangen, sah gemeißelte Wappen und gemalte Schilder überm Tor, schritt mit pochendem Herzen hindurch und achtete kaum auf den Lärm und das frohe Gedränge der Gassen, auf die Ritter zu Pferde, auf die Wagen und Karossen. Nicht Ritter noch Wagen, nicht Stadt noch Bischof waren ihm wichtig. Gleich den ersten Menschen unterm Tore fragte er, wo der Meister Niklaus wohne, und war schwer enttäuscht, daß der nichts von ihm wußte.

Er kam auf einen Platz voll stattlicher Häuser, viele waren bemalt oder mit plastischem Bildwerk geschmückt. Über einer Haustür stand groß und prangend die Figur eines Landsknechtes, mit kräftig lachenden Farben. Er war nicht so schön wie die Figur in jener Klosterkirche, aber er stand auf eine Art da und drückte die Waden heraus und streckte das bärtige Kinn in die Welt, daß Goldmund doch dachte, auch diese Gestalt könnte derselbe Meister gemacht haben. Er ging in das Haus hinein, klopfte an Türen, stieg Treppen hinan, stieß endlich auf einen Herrn im pelzbesetzten Sammetrock, den fragte er, wo er den Meister Niklaus finden könne. Was er denn von ihm wolle, fragte der Herr zurück, und Goldmund hatte Mühe, sich zu beherrschen und nur zu sagen, er habe einen Auftrag an ihn. Der Herr nannte ihm nun die Gasse, wo der Meister wohne, und bis Goldmund sich dahin durchgefragt hatte, war es Nacht geworden. Beklommen und doch sehr glücklich stand er vor dem Haus des Meisters, schaute zu den Fenstern hinauf und wäre beinah hineingelaufen. Doch fiel ihm ein, daß es schon spät und daß er verschwitzt und staubig vom Tagesmarsch sei, und er bezwang sich und wartete. Aber er stand noch lange Zeit vor dem Hause. Er sah ein Fenster hell werden, und eben als er sich zum Gehen wandte, sah er eine Gestalt ans Fenster treten, ein sehr schönes blondes Mädchen, durch deren Haar von hinten der sanfte Ampelschimmer floß.

Am andern Morgen, als die Stadt wieder wach und laut geworden war, wusch sich Goldmund in dem Kloster, dessen Nachtgast er gewesen war, Gesicht und Hände, klopfte den Staub von Kleidern und Schuhen, suchte sich in jene Gasse zurück und pochte am Haustor. Es kam eine Magd, die wollte ihn nicht gleich zum Meister führen, aber es gelang ihm, die alte Frau zu erweichen, und sie führte ihn doch hinein. In einem kleinen Saal, der seine Werkstatt war, stand in einer Arbeitsschürze der Meister, ein bärtiger großer Mann von vierzig oder fünfzig Jahren, wie es Goldmund schien. Er sah den Fremden aus hellblauen scharfen Augen an und fragte kurz, was er begehre. Goldmund richtete den Gruß des Paters Bonifazius aus.

»Weiter nichts?«

»Meister«, sagte Goldmund mit beengtem Atem, »ich habe Eure Mutter Gottes dort im Kloster gesehen. Ach, schauet mich nicht so unfreundlich an, es ist lauter Liebe und Verehrung, was mich zu Euch führte. Ich bin nicht ängstlich, ich habe lang auf Wanderung gelebt und den Wald und den Schnee und den Hunger geschmeckt, es gibt keinen Menschen, vor dem ich Furcht haben könnte. Aber vor Euch habe ich Furcht. Oh, ich habe einen einzigen, großen Wunsch, von dem ist mein Herz so voll, daß es weh tut.«

»Was ist denn das für ein Wunsch?«

»Ich möchte Euer Lehrling werden und bei Euch lernen.«

»Du bist nicht der einzige, junger Mensch, der diesen Wunsch hat. Ich mag aber keine Lehrlinge, und zwei Gehilfen habe ich schon. Wo kommst du denn her, und wer sind deine Eltern?«

»Ich habe keine Eltern, ich komme nirgends her. In einem Kloster war ich Schüler, da habe ich Latein und Griechisch gelernt, dann lief ich weg, und seit Jahren war ich unterwegs, bis heute.«

»Und warum meinst du, du müssest Bildschnitzer werden? Hast du schon dergleichen versucht? Hast du Zeichnungen?«

»Ich habe viele Zeichnungen gemacht, aber ich habe sie nicht mehr. Aber warum ich diese Kunst lernen möchte, das kann ich Euch wohl sagen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, und ich habe viele Gesichter und Gestalten gesehen und habe über sie nachgedacht, und einige von diesen Gedanken haben mich immer wieder geplagt und mir keine Ruhe gelassen. Es ist mir aufgefallen, wie in einer Gestalt überall eine gewisse Form, eine gewisse Linie wiederkehrt, wie eine Stirn dem Knie, eine Schulter der Hüfte entspricht, und wie das alles im Innersten gleich und eins ist mit dem Wesen und Gemüt des Menschen, der eben ein solches Knie, eine solche Schulter und Stirn hat. Und auch das ist mir aufgefallen, ich sah es in einer Nacht, wo ich bei einer Gebärenden helfen mußte: daß der größte Schmerz und die höchste Wollust einen ganz ähnlichen Ausdruck hat.«

Durchdringend blickte der Meister den Fremden an. »Weißt du, was du da sagst?«

»Ja, Meister, es ist so. Gerade das war es, was ich zu meiner größten Wonne und Bestürzung in Eurer Mutter Gottes ausgedrückt fand, darum bin ich ja gekommen. Oh, da ist auf diesem schönen holden Gesicht so viel Leid, und zugleich ist alles Leid wie zu lauter Glück und Lächeln geworden. Als ich das sah, fuhr es m mich wie Feuer, alle meine jahrelangen Gedanken und Träume schienen mir bestätigt und waren plötzlich nicht mehr nutzlos, und ich wußte sofort, was ich zu tun und wohin ich zu gehen habe. Lieber Meister Niklaus, ich bitte Euch von Herzen, lasset mich bei Euch lernen!«

Niklaus, ohne ein freundlicheres Gesicht zu machen, hatte aufmerksam zugehört.

»Junger Mensch«, sagte er, »du kannst erstaunlich gut über die Kunst reden, und es ist mir auch verwunderlich bei deinen Jahren, daß du so viel über Wollust und Schmerz zu sagen weißt. Es wäre mir ein Vergnügen, mit dir am Abend einmal bei einem Becher Wein über diese Sache zu plaudern. Aber sieh: miteinander angenehm und klug zu sprechen ist nicht dasselbe, als miteinander ein paar Jahre lang zu leben und zu arbeiten. Hier ist eine Werkstatt, und hier wird gearbeitet, nicht geplaudert, und hier gilt nicht das, was einer etwa sich ausgedreht hat und zu sagen weiß, sondern einzig das, was einer mit seinen Händen herzustellen versteht. Es scheint dir Ernst zu sein, ich will dich darum nicht einfach wieder fortschicken. Wir wollen sehen, ob du irgend etwas kannst. Hast du schon aus Lehm oder Wachs etwas geformt?«

Goldmund dachte alsbald an einen Traum, den er vor langer Zeit einmal geträumt hatte, da hatte er kleine Figuren aus Lehm geknetet, die waren aufgestanden und zu Riesen geworden. Doch schwieg er davon und gab Bescheid, daß er noch nie solche Arbeiten versucht habe.

»Gut. So wirst du also etwas zeichnen. Dort ist ein Tisch, siehst du, und Papier und Kohlen. Setz dich hin und zeichne, laß dir Zeit, du kannst bis Mittag oder auch bis zum Abend bleiben. Vielleicht werde ich dann sehen können, zu was du taugst. So, nun ist genug geredet, ich gehe an meine Arbeit; geh du an die deine.«

Im Sessel, den Niklaus ihm bezeichnet hatte, saß nun Goldmund am Zeichentisch. Es eilte ihm nicht mit dieser Arbeit, vorerst saß er wartend und still wie ein ängstlicher Schüler und starrte neugierig und liebevoll zu dem Meister hinüber, der ihm halb den Rücken zuwandte und an einer kleinen Figur aus Ton weiterarbeitete. Aufmerksam sah er sich diesen Mann an, in dessen strengem und schon ein wenig angegrautem Kopf und in dessen harten, aber edlen und beseelten Handwerkerhänden solche holde Zauberkräfte wohnten. Er sah anders aus, als Goldmund ihn sich vorgestellt hatte: älter, bescheidener, nüchterner, viel weniger strahlend und herzgewinnend und gar nicht glücklich. Die unerbittliche Schärfe seines prüfenden Blicks war jetzt seiner Arbeit zugewandt, von ihr befreit nahm Goldmund nun die ganze Gestalt des Meisters sorgfältig in sich auf. Dieser Mann, dachte er, hätte etwa auch ein Gelehrter sein können, ein stiller strenger Forscher, der sich an ein Werk hingegeben hat, das viele Vorgänger vor ihm begonnen haben und das er einmal seinen Nachfolgern würde überlassen müssen, ein zähes, langlebiges, niemals zu Ende kommendes Werk, in dem die Arbeit und Hingabe vieler Menschenalter sich sammelt. So wenigstens las es der Betrachter aus dem Kopf des Meisters; viel Geduld, viel Gelernthaben und Nachdenken, viel Bescheidenheit und Wissen um den zweifelhaften Wert aller Menschenarbeit stand hier geschrieben, aber auch ein Glaube an seine Aufgabe. Anders wieder war die Sprache seiner Hände, zwischen ihnen und dem Kopfe bestand ein Widerspruch. Diese Hände griffen mit festen, aber sehr gefühligen Fingern in den Ton, den sie formten, sie gingen mit dem Ton um wie die Hände eines Liebenden mit der hingegebenen Geliebten: verliebt, voll zart schwingender Empfindung, begehrlich, aber ohne zwischen Nehmen und Geben zu unterscheiden, lüstern zugleich und fromm, und sicher und meisterlich wie aus uralter tiefer Erfahrung. Entzückt und bewundernd sah Goldmund diesen begnadeten Händen zu. Sehr gerne hätte er den Meister gezeichnet, wäre jener Widerspruch zwischen Gesicht und Händen nicht gewesen, der lahmte ihn.

Nachdem er wohl eine Stunde lang dem vor sich hin arbeitenden Künstler zugesehen hatte, voll von suchenden Gedanken über das Geheimnis dieses Mannes, begann in seinem Innern ein anderes Bild sich zu gestalten und vor seiner Seele sichtbar zu werden, das Bild des Menschen, den er am besten von allen kannte, den er sehr geliebt und innig bewundert hatte; und dies Bild war ohne Bruch und Widerspruch, obwohl auch diese Gestalt mannigfaltige Züge trug und an viele Kämpfe erinnerte. Es war das Bild seines Freundes Narziß. Immer dichter rann es zu Einheit und Ganzheit zusammen, immer klarer trat das innere Gesetz dieses geliebten Menschen in seinem Bilde zutag, vom Geist geformt der edle Kopf, vom Dienst am Geist gestrafft und geadelt der schöne beherrschte Mund und das etwas traurige Auge, vom Kampf um Vergeistigung beseelt die hagern Schultern, der lange Hals, die zarten vornehmen Hände. Nie hatte er seit damals, seit dem Abschied vom Kloster, den Freund so klar gesehen, sein Bild so ganz in sich besessen. Wie im Traum, ohne Willen und doch voll von Bereitschaft und Notwendigkeit, begann Goldmund behutsam zu zeichnen, strich mit liebenden Fingern ehrfürchtig um die Gestalt, die in seinem Herzen wohnte, und vergaß den Meister, sich selbst und den Ort, an dem er war. Er sah nicht, daß das Licht im Saale langsam wanderte, sah nicht, daß der Meister mehrmals zu ihm herüberblickte. Wie eine Opferhandlung vollzog er die Aufgabe, die ihm geworden war, die sein Herz ihm gestellt hatte: das Bild des Freundes emporzuheben und so aufzubewahren, wie es heut in seiner Seele lebte. Ohne sich darüber Gedanken zu machen, empfand er sein Tun wie das Abtragen einer Schuld, eines Dankes.

Niklaus trat an den Zeichentisch und sagte: »Es ist Mittagszeit; ich gehe zu Tisch, du kannst auch mitkommen. Laß sehen – du hast etwas gezeichnet?«

Er trat hinter Goldmund und schaute auf das große Blatt, dann schob er ihn beiseite und nahm das Blatt mit Sorgfalt in seine geschickten Hände. Goldmund war aus seinem Traum erwacht und blickte jetzt mit banger Erwartung nach dem Meister. Dieser stand, die Zeichnung mit beiden Händen haltend, und sah sie sehr genau an, mit seinem etwas scharfen Blick aus den strengen lichtblauen Augen.

»Wer ist das, den du da gezeichnet hast?« fragte Niklaus nach einer Weile.

»Es ist mein Freund, ein junger Mönch und Gelehrter.«

»Gut. Wasche dir die Hände, dort im Hof läuft der Brunnen. Dann wollen wir essen gehen. Meine Gehilfen sind nicht da, sie arbeiten auswärts.«

Goldmund ging gehorsam, fand den Hof und den Brunnen, wusch sich die Hände und hätte viel darum gegeben, des Meisters Gedanken zu wissen. Als er zurückkam, war dieser fort, er hörte ihn im Nebenraume hantieren; als er erschien, hatte auch er sich gewaschen und trug statt der Schürze einen schönen tuchenen Rock, er sah darin stattlich und feierlich aus. Er ging voran, eine Treppe hinauf, deren Geländerpfosten aus Nußholz kleine geschnitzte Engelsköpfe trugen, durch eine Diele, die voll alter und neuer Figuren stand, und in eine schöne Stube, deren Boden, Wände und Decke aus Hartholz waren und in deren Fensterecke ein gedeckter Tisch stand. Eine Jungfer kam hereingelaufen, Goldmund kannte sie, es war das schöne Mädchen von gestern abend.

»Lisbeth«, sagte der Meister, »du mußt noch ein Gedeck bringen, ich habe einen Gast mitgebracht. Es ist – ja, nun weiß ich wirklich seinen Namen noch gar nicht.«

Goldmund sagte ihn.

»Also Goldmund. Können wir essen?«

»Im Augenblick, Vater.«

Sie holte einen Teller, lief hinaus und kam bald mit der Magd wieder, die das Essen auftrug, Schweinefleisch, Linsen und Weißbrot. Während des Essens sprach der Vater dies und jenes mit dem Mädchen, Goldmund saß schweigend, aß ein wenig und fühlte sich sehr unsicher und bedrückt. Das Mädchen gefiel ihm sehr, eine stattliche schöne Gestalt, beinahe so groß wie ihr Vater, aber sie saß züchtig und höchst unnahbar wie hinter Glas und richtete weder Wort noch Blick an den Fremden.

Als gegessen war, sagte der Meister: »Ich will noch eine halbe Stunde ruhen. Geh du in die Werkstatt oder treibe dich ein wenig draußen herum, nachher wollen wir über die Sache sprechen.«

Mit einem Gruß ging Goldmund hinaus. Eine Stunde oder länger war es her, seit der Meister seine Zeichnung gesehen hatte, und kein Wort hatte er über sie gesagt. Jetzt sollte er nochmals eine halbe Stunde warten! Nun, es war nicht zu ändern, er wartete. In die Werkstatt ging er nicht, er wollte seine Zeichnung jetzt nicht wiedersehen. Er ging in den Hof, setzte sich auf den Brunnentrog und sah dem Wasserfaden zu, der sich unaufhörlich aus der Röhre ergoß, in die tiefe Steinschale fiel, im Niederfallen winzige Wellen schlug und immerzu ein wenig Luft mit sich in die Tiefe riß, die immerzu m weißen Perlen zurück- und emporstrebte. Im dunklen Brunnenspiegel sah er sein eigenes Bild und dachte, daß dieser Goldmund, der ihn aus dem Wasser anblickte, längst nicht mehr der Goldmund des Klosters oder der Goldmund Lydias sei, und auch schon der Goldmund der Wälder war er nicht mehr. Er dachte, daß er und jeder Mensch dahinrinne und sich immerzu verwandle und endlich auflöse, während sein vom Künstler geschaffenes Bild immer unwandelbar das gleiche bleibe.

Vielleicht, dachte er, ist die Wurzel aller Kunst und vielleicht auch alles Geistes die Furcht vor dem Tode. Wir fürchten ihn, wir schauern vor der Vergänglichkeit, mit Trauer sehen wir immer wieder die Blumen welken und die Blätter fallen und spüren im eigenen Herzen die Gewißheit, daß auch wir vergänglich sind und bald verwelken. Wenn wir nun als Künstler Bilder schaffen oder als Denker Gesetze suchen und Gedanken formulieren, so tun wir es, um doch irgend etwas aus dem großen Totentanz zu retten, etwas hinzustellen, was längere Dauer hat als wir selbst. Die Frau, nach der der Meister seine schöne Madonna gebildet hat, ist vielleicht schon verwelkt oder tot, und bald wird auch er tot sein, andere wohnen in seinem Haus, andere essen an seinem Tisch – aber sein Werk bleibt stehen, in der stillen Klosterkirche schimmert es noch nach hundert Jahren und viel länger, und bleibt immer schön, und lächelt immer mit dem gleichen Munde, der ebenso blühend wie traurig ist.

Er hörte den Meister die Treppe herabkommen und lief in die Werkstatt. Meister Niklaus ging auf und ab, blickte wiederholt auf Goldmunds Zeichnung, blieb endlich am Fenster stehen und sagte in seiner etwas zögernden und trockenen Weise: »Der Brauch bei uns ist so, daß ein Lehrling mindestens vier Jahre lernt und daß sein Vater dem Meister dafür ein Lehrgeld bezahlt.«

Da er eine Pause machte, dachte Goldmund, der Meister fürchte, von ihm kein Lehrgeld zu bekommen. Blitzschnell zog er sein Messer aus der Tasche, trennte die Naht um den verborgenen Dukaten auf und fischte ihn heraus. Erstaunt sah Niklaus ihm zu und fing an zu lachen, als Goldmund ihm das Goldstück darreichte.

»Ah, so ist es gemeint?« lachte er. »Nein, junger Mensch, dein Geldstück sollst du behalten. Höre nun zu. Ich sagte dir, wie es in unserer Zunft mit den Lehrlingen gehalten zu werden pflegt. Aber weder bin ich ein gewöhnlicher Lehrmeister, noch bist du ein gewöhnlicher Lehrling. Nämlich ein solcher pflegt seine Lehrzeit mit dreizehn, vierzehn oder höchstens fünfzehn Jahren anzutreten, und die Hälfte der Lehrzeit hindurch muß er Handlangerdienste tun und den Pudel machen. Du aber bist ja schon ein ausgewachsener Bursche und könntest dem Alter nach längst Geselle oder sogar schon Meister sein. Einen Lehrling mit einem Bart hat man in unserer Zunft noch nie gesehen. Auch sagte ich dir ja schon, daß ich in meinem Haus keinen Lehrling halten will. Du siehst auch gar nicht aus wie jemand, der sich befehlen und herumschicken läßt.«

In Goldmund war die Ungeduld aufs höchste gestiegen, jedes der bedächtigen Worte des Meisters spannte ihn auf die Folter und schien ihm abscheulich langweilig und schulmeisterlich zu sein. Heftig rief er: »Warum saget Ihr mir das alles, wenn Ihr doch gar nicht daran denket, mich in die Lehre zu nehmen?«

Der Meister fuhr unerschüttert in seiner alten Weise fort: »Ich habe über dein Anliegen eine Stunde lang nachgedacht, nun mußt du auch die Geduld haben, mich anzuhören. Ich habe deine Zeichnung gesehen. Sie hat Fehler, aber sie ist dennoch schön. Wäre sie das nicht, so hätte ich dir einen halben Gulden geschenkt und dich entlassen und vergessen. Mehr will ich über die Zeichnung nicht sagen. Ich möchte dir helfen, ein Künstler zu werden, vielleicht bist du dazu bestimmt. Aber Lehrling kannst du also nicht mehr werden. Und wer nicht Lehrling war und die Lehrzeit abgedient hat, der kann in unserer Zunft auch nicht Gesell und Meister werden. Das sei dir im voraus gesagt. Aber einen Versuch sollst du machen. Wenn es dir möglich ist, eine Zeitlang hier in der Stadt zu bleiben, so kannst du zu mir kommen und einiges lernen. Es geschieht ohne Verpflichtung und Vertrag, du kannst zu jeder Stunde wieder gehen. Du kannst bei mir ein paar Schnitzmesser zerbrechen und ein paar Holzklötze verderben, und wenn es sich zeigt, daß du kein Holzschnitzer bist, mußt du dich eben zu anderem wenden. Bist du damit zufrieden?«

Mit Beschämung und Rührung hatte Goldmund zugehört. »Ich danke Euch von Herzen«, rief er. »Ich bin heimatlos und werde mich hier in der Stadt ebenso durchzubringen wissen wie draußen in den Wäldern. Ich verstehe, daß Ihr nicht Sorge und Verantwortung für mich wie für einen Lehrbuben übernehmen wollet. Ich halte es für ein großes Glück, bei Euch lernen zu dürfen. Von Herzen danke ich Euch, daß Ihr das an mir tun wollt.«

Elftes Kapitel

Neue Bilder umgaben Goldmund hier in der Stadt, und ein neues Leben begann für ihn. So wie dies Land und diese Stadt ihn heiter, verlockend und üppig empfangen hatten, so empfing ihn dies neue Leben mit Freudigkeit und vielen Versprechungen. Blieb auch der Grund von Trauer und Wissen in seiner Seele unangetastet, so spielte ihm doch an der Oberfläche das Leben in allen Farben. Es war die fröhlichste und unbeschwerteste Zeit in Goldmunds Leben, die jetzt begann. Von außen kam ihm die reiche Bischofsstadt mit allen Künsten, mit Frauen, mit hundert angenehmen Spielen und Bildern entgegen; von innen beschenkte ihn sein erwachendes Künstlertum mit neuen Empfindungen und Erfahrungen. Er fand mit Hilfe des Meisters Unterkunft im Haus eines Vergolders am Fischmarkt und lernte beim Meister sowohl wie beim Vergolder die Kunst, mit Holz und Gips, mit Farben, Firnis und Blattgold umzugehen.

Goldmund gehörte nicht zu jenen unseligen Künstlern, welche wohl hohe Gaben haben, zu ihrer Äußerung aber nie die rechten Mittel finden. Es gibt ja manche solche Menschen, welchen es gegeben ist, die Schönheit der Welt tief und groß zu empfinden und in ihrer Seele hohe, edle Bilder zu tragen, welche aber nicht den Weg finden, sich dieser Bilder wieder zu entäußern und sie zur Freude der andern herauszustellen und mitzuteilen. Goldmund litt nicht an diesem Mangel. Es fiel ihm leicht und machte ihm Spaß, seine Hände zu brauchen und die Griffe und Fertigkeiten des Handwerks zu lernen, ebenso wie es ihm leichtfiel, am Feierabend bei einigen Kameraden das Spielen der Laute zu lernen und am Sonntag auf den Tanzplätzen der Dörfer das Tanzen. Es lernte sich leicht, es ging von selber. Wohl mußte er sich mit dem Holzschnitzen immerhin ernstlich mühen, mußte Schwierigkeiten und Enttäuschungen finden, mußte dies und jenes hübsche Stück Holz zuschanden hauen und sich mehrmals tüchtig in die Finger schneiden. Aber er kam rasch über die Anfänge hinweg und erwarb Geschicklichkeit. Dennoch war der Meister oft sehr unzufrieden mit ihm und sagte ihm etwa: »Es ist gut, daß du nicht mein Lehrling oder Geselle bist, Goldmund. Es ist gut, daß wir wissen: du kommst von der Landstraße und aus den Wäldern und wirst eines Tages wieder zu ihnen zurückkehren. Wer dies nicht wüßte, daß du kein Bürger und Handwerker bist, sondern ein Heimatloser und Bummler, der könnte leicht in Versuchung kommen, dies und jenes von dir zu verlangen, was jeder Meister von seinen Leuten verlangt. Du bist ein ganz guter Arbeiter, wenn es deine Laune gerade so will. Aber letzte Woche hast du zwei Tage gebummelt. Gestern hast du in der Hofwerkstatt, wo du die zwei Engel polieren solltest, den halben Tag geschlafen.«

Er hatte recht mit seinen Vorwürfen, und Goldmund hörte sie auch schweigend an, ohne sich zu rechtfertigen. Er wußte selbst, daß er kein zuverlässiger und fleißiger Mensch sei. Solange eine Arbeit ihn fesselte, ihm schwierige Aufgaben stellte oder ihn seiner Fertigkeit bewußt und froh werden ließ, war er ein eifriger Arbeiter. Schwere Handarbeit tat er ungern, und jene nicht schwierigen, aber Zeit und Fleiß fordernden Arbeiten, deren viele zum Handwerk gehören und die mit Treue und Geduld getan sein wollen, waren ihm oft ganz unleidlich. Er wunderte sich selbst manchmal darüber. Hatten die paar Jahre Wanderschaft genügt, um ihn faul und unzuverlässig zu machen? War es die Erbschaft der Mutter, die in ihm wuchs und Überhand nahm? Oder woran denn fehlte es? Er erinnerte sich sehr wohl an seine ersten Klosterjahre, wo er ein so eifriger und guter Lerner gewesen war. Warum denn hatte er damals so viel Geduld aufgebracht, die ihm jetzt fehlte, warum war es ihm gelungen, sich der lateinischen Syntax so unermüdlich hinzugeben und alle diese griechischen Aoriste zu erlernen, die ihm im Herzensgrunde doch wirklich nicht wichtig waren? Er dachte manchmal daran herum. Es war die Liebe gewesen, die ihn damals gestählt und beflügelt hatte; sein Lernen war nichts anderes gewesen als ein inständiges Werben um Narziß, und dessen Liebe war nur auf dem Wege der Achtung und Anerkennung zu erwerben gewesen. Damals konnte er für einen anerkennenden Blick des geliebten Lehrers stunden- und tagelang sich mühen. Dann war das ersehnte Ziel erreicht, Narziß war sein Freund geworden, und merkwürdigerweise war gerade der gelehrte Narziß es gewesen, der ihm seine Untauglichkeit zum Gelehrten gezeigt und das Bild der verlorenen Mutter in ihm beschworen hatte. Statt Gelehrsamkeit, Mönchsleben und Tugend waren mächtige Urtriebe seines Wesens seine Herren geworden: Geschlecht, Frauenliebe, Drang nach Unabhängigkeit, Wanderschaft. Nun aber hatte er jene Marienfigur des Meisters gesehen, hatte einen Künstler in sich entdeckt, hatte einen neuen Weg betreten und war wieder seßhaft geworden. Wie stand es nun? Wo ging sein Weg weiter? Woher kamen die Hemmnisse?

Er konnte es vorerst nicht erkennen. Er konnte nur dies einsehen: daß er den Meister Niklaus zwar sehr bewundere, aber keineswegs in der Weise liebe, wie er einst Narziß geliebt hatte, ja daß es ihm zuweilen Freude mache, ihn zu enttäuschen und zu ärgern. Es hing, so schien es, mit dem Zwiespalt in des Meisters Wesen zusammen. Die Figuren von Niklaus' Hand, wenigstens die besten von ihnen, waren für Goldmund verehrte Vorbilder, der Meister selbst aber war kein Vorbild für ihn.

Neben dem Künstler, der jene Mutter Gottes mit dem schmerzlichsten und schönsten Munde geschnitzt hatte, neben dem Seher und Wissenden, dessen Hände tiefe Erfahrungen und Ahnungen zu sichtbaren Gebilden umzuzaubern vermochten, wohnte in Meister Niklaus noch ein zweiter: ein etwas strenger und ängstlicher Hausvater und Zunftmeister, ein Witwer, der mit der Tochter und einer häßlichen Magd ein stilles und etwas geducktes Leben in seinem stillen Hause führte, ein Mann, der sich gegen Goldmunds stärkste Triebe heftig wehrte, der sich in ein stilles, gemäßigtes, sehr geordnetes und anständiges Leben bequemt hatte.

Obwohl Goldmund seinen Meister verehrte, obwohl er sich niemals erlaubt hätte, andere über ihn auszufragen oder vor andern über ihn zu urteilen, wußte er nach einem Jahre doch bis ins kleinste alles, was irgend über Niklaus zu wissen war. Dieser Meister war ihm wichtig, er liebte ihn und haßte ihn ebenso, er ließ ihm keine Ruhe, und so drang der Schüler mit Liebe und mit Mißtrauen, mit immer wacher Wißbegierde in die Verborgenheiten seiner Art und seines Lebens ein. Er sah, wie Niklaus weder Lehrling noch Gesellen bei sich im Hause wohnen hatte, wo doch Raum genug war. Er sah, wie er nur sehr selten ausging und ebenso selten Gäste zu sich einlud. Er beobachtete, wie er seine schöne Tochter rührend und eifersüchtig liebte und sie vor jedermann zu verbergen suchte. Er wußte auch, daß hinter der strengen und frühalten Enthaltsamkeit des Witwers noch lebendige Triebe spielten, daß er, wenn ein auswärtiger Auftrag ihn bisweilen auf Reisen führte, manchmal für einige Reisetage sich wunderlich verwandeln und verjüngen konnte. Und einmal hatte er auch das beobachtet, wie Niklaus in einem fremden Städtchen, wo sie eine geschnitzte Kanzel aufstellten, eines Abends im Verborgenen eine käufliche Dirne besucht hatte und nachher tagelang unruhig und böser Laune gewesen war.

Mit der Zeit gab es außer dieser Wißbegierde auch noch etwas anderes, was Goldmund in des Meisters Hause festhielt und ihm zu schaffen gab. Es war die schöne Tochter, Lisbeth, die ihm sehr gefiel. Er bekam sie selten zu Gesichte, sie betrat nie die Werkstatt, und er konnte nicht ergründen, ob ihre Sprödigkeit und Männerscheu ihr nur vom Vater auf gedrungen sei oder auch ihrer eigenen Natur entspreche. Daß der Meister ihn niemals wieder mit sich zu Tische nahm und ihm jede Begegnung mit ihr zu erschweren suchte, war nicht zu übersehen. Lisbeth war eine sehr kostbare und behütete Jungfer, so sah er, und für eine Liebe ohne Heirat gab es bei ihr keine Hoffnung; auch wer sie heiraten wollte, mußte erst noch guter Leute Kind und Mitglied einer der oberen Zünfte sein, womöglich auch noch Geld und Haus besitzen.

Lisbeths Schönheit, so anders als die der Landfahrerinnen und Bauernweiber, hatte Goldmunds Augen schon an jenem ersten Tage auf sich gezogen. Es war etwas in ihr, das ihm noch unbekannt geblieben war, etwas Sonderbares, das ihn heftig anzog und doch zugleich mißtrauisch machte, ja ärgerte: eine große Ruhe und Unschuld, eine Zucht und Reinheit, und dennoch keine Kindlichkeit, sondern hinter aller Artigkeit und Sitte eine versteckte Kälte, ein Hochmut, so daß ihre Unschuld ihn nicht rührte und wehrlos machte (er hätte niemals ein Kind verführen können), sondern ihn reizte und herausforderte. Kaum war ihre Gestalt ihm als inneres Bild ein wenig vertraut geworden, so fühlte er den Wunsch, von ihr einmal eine Figur zu schaffen, nicht aber so wie sie jetzt war, sondern mit erwachten, sinnlichen und leidenden Zügen, keine kleine Jungfrau, sondern eine Magdalena. Oft ging sein Begehren danach, dieses ruhige, schöne und unbewegte Gesicht, sei es in Wollust oder in Schmerzen, einmal sich verzerren und aufblättern und sein Geheimnis preisgeben zu sehen.

Außerdem gab es noch ein anderes Gesicht, das in seiner Seele wohnte und ihm doch nicht ganz angehörte, das er einmal einzufangen und als Künstler darzustellen sehnlich begehrte, das sich ihm aber immer wieder entzog und verhüllte. Es war das Gesicht der Mutter. Dies Gesicht war schon seit langer Zeit nicht mehr dasselbe, wie es ihm einst, nach den Gesprächen mit Narziß, aus verlorenen Erinnerungstiefen wieder erschienen war. In den Tagen der Wanderung, in den Liebesnächten, in den Zeiten der den Zeiten der Lebensgefahr und Todesnähe hatte das Muttergesicht sich langsam verwandelt und bereichert, war tiefer und vielfältiger geworden; es war nicht mehr das Bild seiner eigenen Mutter, sondern aus dessen Zügen und Farben war nach und nach ein nicht mehr persönliches Mutterbild geworden, das Bild einer Eva, einer Menschenmutter. So wie Meister Niklaus in einigen Madonnen das Bild der schmerzlichen Gottesmutter mit einer Vollkommenheit und Stärke des Ausdrucks dargestellt hatte, welche Goldmund unübertreffbar schien, so hoffte er selbst einst, wenn er reifer und des Könnens sicherer sei, das Bild der weltlichen, der Eva-Mutter so zu gestalten, wie es als ältestes und geliebtestes Heiligtum in seinem Herzen stand. Aber dies innere Bild, einst nur Erinnerungsbild seiner eigenen Mutter und seiner Liebe zu ihr, war in beständigem Wandel und Wachstum begriffen. Es hatten die Züge der Zigeunerin Lise, die Züge der Ritterstochter Lydia und manche andere Frauengesichter Eingang in jenes ursprüngliche Bild gefunden, und nicht nur hatten alle Gesichter von geliebten Frauen an dem Bilde weitergeschaffen, es hatte auch jede Erschütterung, jede Erfahrung und jedes Erlebnis an ihm gebildet und ihm Züge mitgegeben. Denn diese Gestalt, wenn es ihm später einst gelänge, sie sichtbar zu machen, sollte ja nicht eine bestimmte Frau darstellen, sondern das Leben selbst als Urmutter. Oft glaubte er es zu sehen, manchmal erschien es ihm im Traum. Aber er hätte über jedes Evagesicht und über das, was es ausdrücken sollte, nichts sagen können, als daß es die Lebenswollust in ihrer innigen Verwandtschaft mit dem Schmerz und dem Tode zeigen sollte.

Im Laufe eines Jahres hatte Goldmund viel gelernt. Im Zeichnen war er schnell zu großer Sicherheit gekommen, und neben dem Holzschnitzen ließ ihn Niklaus gelegentlich auch das Modellieren in Ton versuchen. Sein erstes gelungenes Werk war eine Tonfigur, gut zwei Spannen hoch, es war die süße verführerische Gestalt der kleinen Julie, der Schwester Lydias. Der Meister lobte diese Arbeit, aber Goldmunds Wunsch, sie in Metall gießen zu lassen, erfüllte er nicht; ihm war die Figur zu unkeusch und weltlich, als daß er ihr hätte als Pate dienen mögen. Dann kam die Arbeit an der Figur des Narziß, Goldmund führte sie in Holz aus, und zwar als Jünger Johannes; denn Niklaus wollte sie, wenn sie gelänge, in eine Kreuzigungsgruppe stellen, die er in Auftrag hatte und an der die beiden Gehilfen seit langer Zeit ausschließlich arbeiteten, um die letzte Ausführung dann dem Meister zu überlassen.

An der Narzißfigur arbeitete Goldmund mit tiefer Liebe, in dieser Arbeit fand er sich selbst, seine Künstlerschaft und seine Seele wieder, sooft er aus dem Geleise gekommen war, und das geschah nicht selten: Liebschaften, Tanzfeste, Zechereien mit Kameraden, Würfelspiel und häufig auch Raufhändel rissen ihn heftig mit, daß er für einen oder mehrere Tage die Werkstatt mied oder verstört und verdrossen bei der Arbeit stand. An seinem Jünger Johannes aber, dessen geliebte sinnende Gestalt ihm immer reiner aus dem Holz entgegentrat, arbeitete er nur in den Stunden der Bereitschaft, mit Hingabe und Demut. In diesen Stunden war er weder froh noch traurig, wußte weder von Lebenslust noch von Vergänglichkeit; es kehrte ihm jenes ehrfürchtige, lichte und rein gestimmte Gefühl im Herzen wieder, mit dem er einst dem Freunde hingegeben und seiner Führung froh gewesen war. Nicht er war es, der da stand und aus eigenem Willen ein Bildnis schuf; vielmehr war es der andere, es war Narziß, der sich seiner Künstlerhände bediente, um aus der Vergänglichkeit und Veränderlichkeit des Lebens herauszutreten und das reine Bild seines Wesens darzustellen.

Auf diese Art, fühlte Goldmund manchmal mit einem Schauder, entstanden die echten Werke. So war des Meisters unvergeßliche Madonna entstanden, die er seitdem an manchem Sonntag im Kloster wieder aufgesucht hatte. So, auf diese geheimnisvolle und heilige Art, waren die paar besten von jenen alten Figuren entstanden, die der Meister oben in der Diele stehen hatte. So würde einst auch jenes Bild entstehen, jenes andere, jenes einzige, das ihm noch geheimnisvoller und ehrwürdiger war, das Bild der Menschenmutter. Ach, daß aus Menschenhänden doch einzig solche Kunstwerke hervorgehen möchten, solche heilige, notwendige, von keinem Wollen und keiner Eitelkeit befleckte Bilder! Aber es war nicht so, er wußte es längst. Man konnte auch andere Bilder schaffen, hübsche und entzückende Sachen, mit großer Meisterschaft gemacht, die Freude der Kunstliebhaber, der Schmuck der Kirchen und Ratssäle – schöne Dinge, ja, aber nicht heilige, nicht echte Seelenbilder. Er kannte nicht nur von Niklaus und anderen Meistern manche solche Werke, die bei aller Anmut der Erfindung und aller Sorgfalt der Arbeit doch eben nur Spielereien waren. Er wußte es, zu seiner Beschämung und Trauer, auch schon im eigenen Herzen, hatte es in seinen eigenen Händen gespürt, wie ein Künstler solche hübsche Dinge in die Welt stellen kann, aus Lust am eigenen Können, aus Ehrgeiz, aus Tändelei.

Als ihm diese Erkenntnis zum ersten Male kam, wurde er todestraurig. Ach, um hübsche Engelsfigürchen oder andern Tand zu machen, und sei er noch so hübsch, lohnte es sich nicht, Künstler zu sein. Für andere vielleicht, für Handwerker, für Bürger, für stille zufriedene Seelen mochte es sich lohnen, für ihn aber nicht. Für ihn waren Kunst und Künstlerschaft wertlos, wenn sie nicht brannten wie Sonne und Gewalt hatten wie Stürme, wenn sie nur Behagen brachten, nur Angenehmes, nur kleines Glück. Er suchte anderes. Eine zierlich wie Spitzenwerk gebaute Marienkrone schön mit blankem Blattgold zu vergolden war keine Arbeit für ihn, auch wenn es gut bezahlt wurde. Warum nahm Meister Niklaus alle diese Aufträge an? Warum hielt er sich zwei Gehilfen? Warum hörte er stundenlang diese Ratsherren oder Pröpste an, wenn sie ein Portal oder eine Kanzel bei ihm bestellten, mit dem Ellenmaß in der Hand? Er tat es aus zwei Gründen, zwei schäbigen Gründen: weil er darauf hielt, ein berühmter und mit Aufträgen überhäufter Künstler zu sein, und weil er Geld anhäufen wollte, Geld nicht für große Unternehmungen oder Genüsse, sondern Geld für seine Tochter, die schon längst ein reiches Mädchen war, Geld für ihre Aussteuer, für Spitzenkragen und Brokatkleider und für ein nußbaumenes Ehebett voll kostbarer Decken und Leinenzeuge! Als ob das schöne Mädchen die Liebe nicht auf jedem Heuboden ebensogut erfahren könnte!

Tief rührte sich in den Stunden solcher Betrachtungen das Blut der Mutter in Goldmund, der Stolz und die Verachtung des Heimatlosen gegen die Seßhaften und Besitzenden. Zuweilen war ihm das Handwerk und der Meister zuwider wie fädige Bohnen, oft war er nahe am Davonlaufen.

Auch der Meister hatte es schon manches Mal ärgerlich bereut, daß er sich auf diesen schwierigen und unzuverlässigen Burschen eingelassen habe, der seine Geduld oft auf schwere Proben stellte. Was er vom Lebenswandel Goldmunds erfuhr, von seiner Gleichgültigkeit gegen Geld und Besitz, seiner Verschwendungslust, seinen vielen Liebschaften, seinen häufigen Raufereien, konnte ihn nicht milder stimmen; er hatte da einen Zigeuner, einen unvertrauten Gesellen bei sich aufgenommen. Auch war ihm nicht entgangen, mit welchen Augen dieser Vagabund seine Tochter Lisbeth betrachtete. Wenn er dennoch für ihn mehr Geduld aufbrachte, als ihm leichtfiel, so tat er es nicht aus Pflichtgefühl und Ängstlichkeit, sondern des Jüngers Johannes wegen, dessen Figur er entstehen sah. Mit einem Gefühl von Liebe und Seelenverwandtschaft, das er sich nicht ganz eingestand, sah der Meister zu, wie dieser aus den Wäldern ihm zugelaufene Zigeuner aus jener so rührenden, so schönen und doch so ungeschickten Zeichnung, deretwegen er ihn damals bei sich behalten hatte, nun langsam und launisch, aber zäh und unfehlbar seine hölzerne Jüngerfigur bildete. Sie würde, daran zweifelte der Meister nicht, trotz allen Launen und Unterbrechungen einmal fertig werden, und dann würde sie ein Werk sein, wie es keiner seiner Gesellen je machen konnte, wie es auch großen Meistern nicht viele Male glückt. So vieles dem Meister an seinem Schüler mißfiel, so manchen Tadel er ihm spendete, so oft er wütend über ihn war – über den Johannes sagte er ihm nie ein Wort. Der Rest von Jünglingsanmut und knabenhafter Kindlichkeit, wegen deren Goldmund so vielen Wohlgefallen hatte, war ihm in diesen Jahren allmählich verlorengegangen. Er war ein schöner und starker Mann geworden, sehr begehrt von den Frauen, bei den Männern wenig beliebt. Auch sein Gemüt, sein inneres Antlitz hatte sich sehr verändert, seit Narziß ihn aus dem holden Schlaf seiner Klosterjahre erweckt hatte, seit Welt und Wanderschaft ihn geknetet hatten. Aus dem hübschen, sanften, bei allen beliebten, frommen und dienstwilligen Klosterschüler war längst ein ganz anderer Mensch geworden. Narziß hatte ihn erweckt, die Frauen hatten ihn wissend gemacht, die Wanderschaft hatte den Flaum von ihm gestreift. Freunde hatte er nicht, sein Herz gehörte den Frauen. Die konnten ihn leicht gewinnen, ein verlangender Blick war schon genug. Er konnte einer Frau nicht leicht widerstehen, er gab auf die leiseste Werbung Antwort. Und er, der eine sehr zarte Empfindung für Schönheit hatte und stets am meisten die ganz jungen Mädchen im Flaum ihres Frühlings liebte, er ließ sich dennoch auch von wenig schönen und nicht mehr jungen Frauen rühren und verführen. Auf dem Tanzboden blieb er zuweilen an irgendeinem ältlichen und mutlosen Mädchen hängen, das keiner begehrte und das ihn auf dem Wege des Mitleids gewann, und nicht nur des Mitleids, sondern auch einer ewig wachen Neugierde. Sobald er sich einem Weibe hinzugeben begann – mochte das nun Wochen oder bloß Stunden dauern –, dann war sie schön für ihn, dann gab er sich ganz. Und die Erfahrung lehrte ihn, daß jede Frau schön sei und zu beglücken vermöge, daß die Unscheinbare und von den Männern Mißachtete einer unerhörten Glut und Hingabe, die Verblühte einer mehr als mütterlichen, trauernd süßen Zärtlichkeit fähig sei, daß jede Frau ihr Geheimnis und ihren Zauber habe, dessen Erschließung selig machte. Darin waren alle Frauen gleich. Jeder Mangel an Jugend oder Schönheit wurde durch irgendeine besondere Gebärde aufgewogen. Nur allerdings vermochte nicht jede ihn gleich lange zu fesseln. Er war gegen die Jüngste und Schönste um keinen Grad liebevoller oder dankbarer als gegen eine Unschöne, er liebte niemals halb. Aber es gab Frauen, die ihn nach drei oder nach zehn Liebesnächten erst recht an sich banden, und andere, die schon nach dem erstenmal erschöpft waren und vergessen wurden.

Die Liebe und Wollust schien ihm das einzige zu sein, wodurch das Leben wahrhaft erwärmt und mit Wert erfüllt werden könne. Unbekannt war ihm Ehrgeiz, Bischof oder Bettler galt ihm gleich; auch Erwerb und Besitz vermochte ihn nicht zu fesseln, er verachtete sie, er hätte ihnen nie das kleinste Opfer gebracht und warf das Geld, das er zu manchen Zeiten reichlich verdiente, sorglos weg. Die Liebe der Frauen, das Spiel der Geschlechter, das stand ihm obenan, und der Kern seiner häufigen Neigung zu Traurigkeit und Überdruß wuchs aus der Erfahrung von der Flüchtigkeit und Vergänglichkeit der Wollust. Das rasche, flüchtige, entzückende Auflodern der Liebeslust, ihr kurzes sehnliches Brennen, ihr rasches Erlöschen – dies schien ihm den Kern alles Erlebens zu enthalten, dies wurde ihm zum Bilde für alle Wonne und alles Leid des Lebens. Jener Trauer und jenem Vergänglichkeitsschauer konnte er sich mit ebensolcher Hingabe überlassen wie der Liebe, und auch diese Schwermut war Liebe, auch sie war Wollust. So wie die Liebeswonne im Augenblick ihrer höchsten, seligsten Spannung sicher ist, mit dem nächsten Atemzug hinschwinden und wiederum sterben zu müssen, so war auch die innigste Einsamkeit und Hingabe an die Schwermut sicher, plötzlich verschlungen zu werden vom Verlangen, von neuer Hingabe an die lichte Seite des Lebens. Tod und Wollust waren eines. Die Mutter des Lebens konnte man Liebe oder Lust nennen, man konnte sie auch Grab und Verwesung nennen. Die Mutter war Eva, sie war die Quelle des Glücks und die Quelle des Todes, sie gebar ewig, tötete ewig, in ihr waren Liebe und Grausamkeit eins, und ihre Gestalt wurde ihm zum Gleichnis und heiligen Sinnbild, je länger er sie in sich trug.

Er wußte, nicht mit Worten und Bewußtsein, aber mit dem tieferen Wissen des Blutes, daß sein Weg zur Mutter führe, zur Wollust und zum Tode. Die väterliche Seite des Lebens, der Geist, der Wille, war nicht seine Heimat. Dort war Narziß zu Hause, und jetzt erst durchdrang und verstand Goldmund seines Freundes Worte ganz und sah in ihm sein Gegenspiel, und dies bildete er auch in seiner Johannesfigur und machte es sichtbar. Man konnte sich nach Narziß bis zu Tränen sehnen, man konnte wunderbar von ihm träumen – ihn erreichen, werden wie er aber konnte man nicht.

Mit irgendeinem geheimen Sinn ahnte Goldmund auch das Geheimnis seiner Künstlerschaft, seiner innigen Liebe zur Kunst, seines zeitweiligen wilden Hasses gegen sie. Ohne Gedanken, gefühlhaft ahnte er in vielerlei Gleichnissen: die Kunst war eine Vereinigung von väterlicher und mütterlicher Welt, von Geist und Blut; sie konnte im Sinnlichsten beginnen und ins Abstrakteste führen, oder konnte in einer reinen Ideenwelt ihren Anfang nehmen und im blutigsten Fleische enden. Alle jene Kunstwerke, die wahrhaft erhaben und nicht nur gute Gauklerstückchen, sondern vom ewigen Geheimnis erfüllt waren, zum Beispiel jene Mutter Gottes des Meisters, alle jene echten und unzweifelhaften Künstlerwerke hauen dies gefährliche, lächelnde Doppelgesicht, dies Mann-Weibliche, dies Beieinander von Triebhaftem und reiner Geistigkeit. Am meisten aber würde die Eva-Mutter dieses Doppelgesicht einst zeigen, wenn es ihm einst gelänge, sie zu gestalten.

In der Kunst und im Künstlersein lag für Goldmund die Möglichkeit einer Versöhnung seiner tiefsten Gegensätze, oder doch eines herrlichen, immer neuen Gleichnisses für den Zwiespalt seiner Natur. Aber die Kunst war kein reines Geschenk, sie war keineswegs umsonst zu haben, sie kostete sehr viel, sie verlangte Opfer. Mehr als drei Jahre lang hatte Goldmund ihr das Höchste und Unentbehrlichste geopfert, was er nächst der Liebeswollust kannte: die Freiheit. Das Freisein, das Schweifen im Grenzenlosen, die Willkür des Wanderlebens, das Alleinstehen und Unabhängigsein, das alles hatte er weggegeben. Mochten andere ihn launisch, unbotmäßig und selbstherrlich genug finden, wenn er zuweilen Werkstatt und Arbeit wütend vernachlässigte – für ihn selber war dies Leben Sklaverei, die ihn oft bis zur Unerträglichkeit erbitterte. Es war nicht der Meister, dem er gehorchen mußte, noch die Zukunft, noch die Notdurft – es war die Kunst selbst. Die Kunst, diese scheinbar so geistige Göttin, bedurfte so vieler nichtiger Dinge! Sie brauchte ein Dach überm Kopf, sie brauchte Werkzeuge, Hölzer, Ton, Farben, Gold, sie verlangte Arbeit und Geduld. Ihr hatte er die wilde Freiheit der Wälder geopfert, den Rausch der Weite, die herbe Wollust der Gefahr, den Stolz des Elends, und er mußte das Opfer immer von neuem bringen, mit Würgen und Knirschen.

Einen Teil des Geopferten fand er wieder, eine kleine Rache an der sklavenhaften Ordnung und Seßhaftigkeit seines jetzigen Lebens nahm er in gewissen Abenteuern, die mit der Liebe zusammenhingen, in den Raufhändeln mit Nebenbuhlern. Alle eingesperrte Wildheit, alle eingeklemmte Kraft seines Wesens rauchte zu diesem Notloche hinaus, er wurde ein bekannter und gefürchteter Raufbold. Auf dem Weg zu einem Mädchen oder auf dem Heimweg vom Tanze plötzlich in dunkler Gasse angefallen zu werden, ein paar Stockhiebe zu erhalten, sich blitzschnell herumzuwerfen und von der Verteidigung zum Angriff überzugehen, keuchend den keuchenden Feind an sich zu drücken, ihm die Faust unters Kinn zu hauen, ihn am Haar zu schleifen oder tüchtig am Hals zu würgen, das schmeckte ihm gut und heilte seine dunklen Launen für eine Weile. Und den Frauen gefiel es auch.

Dies alles füllte seine Tage reichlich aus, und alles hatte auch einen Sinn, solange die Arbeit am Jünger Johannes dauerte. Sie zog sich lange hin, und die letzten zarten Modellierungen an Gesicht und Händen geschahen in einer feierlichen und geduldigen Sammlung. In einem kleinen Holzschuppen hinter der Gesellenwerkstatt machte er die Arbeit fertig. Es kam die Morgenstunde, wo die Figur fertig wurde. Goldmund holte einen Besen, kehrte den Schuppen sorgfältig rein, pinselte zart den letzten Holzstaub aus den Haaren seines Johannes und stand dann lange vor ihm, eine Stunde und länger, feierlich erfüllt vom Gefühl eines seltenen großen Erlebnisses, das in seinem Leben sich vielleicht noch einmal wiederholen könnte, vielleicht auch allein und einzig bleiben würde. Ein Mann am Tag seiner Hochzeit oder am Tage des Ritterschlags, eine Frau nach der ersten Geburt mag Ähnliches im Herzen sich bewegen fühlen, eine hohe Weihe, einen tiefen Ernst und zugleich schon eine heimliche Angst vor dem Augenblick, wo auch dies Hohe und Einmalige erlebt und vorüber und eingeordnet sein und vom gewöhnlichen Lauf der Tage verschlungen würde.

Er stand auf und sah seinen Freund Narziß, den Führer seiner Jünglingsjahre, mit lauschend erhobenem Gesichte stehen, bekleidet mit Gewand und Rolle des schönen Lieblingsjüngers, mit einem Ausdruck von Stille, Hingegebenheit und Andacht, der wie die Knospe eines Lächelns war. Diesem schönen, frommen und geistigen Gesicht, dieser schlanken wie schwebenden Gestalt, diesen anmutig und fromm erhobenen, langen Händen waren Schmerz und Tod nicht unbekannt, obwohl sie voll Jugend und innerer Musik waren; aber unbekannt war ihnen Verzweiflung, Unordnung und Auflehnung. Mochte die Seele hinter diesen edlen Zügen froh oder traurig sein, sie war rein gestimmt, sie litt keinen Mißklang.

Goldmund stand und betrachtete sein Werk. Als Andacht vor dem Denkmal seiner ersten Jugend und Freundschaft begann seine Betrachtung, aber sie endete mit einem Sturm von Sorgen und schweren Gedanken. Hier stand nun sein Werk, und der schöne Jünger würde bleiben, und sein zartes Blühen würde nie ein Ende nehmen. Er aber, der es gemacht hatte, mußte jetzt von seinem Werk Abschied nehmen, schon morgen gehörte es nicht mehr ihm, wartete nicht mehr auf seine Hände, wuchs und erblühte nicht mehr unter ihnen, war ihm nicht mehr Zuflucht, Trost und Sinn des Lebens. Leer blieb er zurück. Und, so schien ihm, es wäre am besten, heute nicht bloß von diesem Johannes Abschied zu nehmen, sondern auch gleich vom Meister, von der Stadt und von der Kunst. Er hatte hier nichts mehr zu tun; es waren keine Bilder in seiner Seele, die er hätte gestalten können. Jenes ersehnte Bild der Bilder, die Gestalt der Menschenmutter, war ihm noch nicht erreichbar, noch lange nicht. Sollte er jetzt wieder Engelsfigürchen polieren und Ornamente schnitzen?

Er riß sich los und ging in des Meisters Werkstatt hinüber. Leise trat er ein und blieb bei der Tür stehen, bis Niklaus ihn bemerkte und anrief. »Was ist, Goldmund?«

»Meine Figur ist fertig. Vielleicht kommet Ihr, eh Ihr zu Tische geht, einmal hinüber und seht sie an.«

»Gerne komme ich, gleich jetzt.«

Zusammen gingen sie hinüber und ließen die Tür offenstehen, daß es heller sei. Niklaus hatte seit längerer Weile die Figur nicht mehr gesehen und Goldmund bei der Arbeit ungestört gelassen. Jetzt betrachtete er das Werk mit schweigender Aufmerksamkeit, sein verschlossenes Gesicht wurde schön und hell, Goldmund sah seine strengen blauen Augen froh werden.

»Es ist gut«, sagte der Meister. »Es ist sehr gut. Es ist dein Gesellenstück, Goldmund, du hast jetzt ausgelernt. Ich werde deine Figur denen von der Zunft zeigen und werde verlangen, daß sie dir dafür den Meisterbrief geben, du hast ihn verdient.«

Goldmund legte auf die Zunft wenig Wert, aber er wußte, wieviel Anerkennung die Worte des Meisters bedeuteten, und freute sich.

Indem Niklaus nochmals langsam rund um die Figur des Johannes ging, sagte er mit einem Seufzer: »Diese Gestalt ist voll von Frömmigkeit und Klarheit, sie ist ernst, aber voll Glück und Frieden. Man sollte meinen, es habe sie ein Mensch gemacht, in dessen Herzen es sehr hell und heiter ist.«

Goldmund lächelte.

»Ihr wißt, daß ich in dieser Figur nicht mich selber abgebildet habe, sondern meinen liebsten Freund. Er ist es, der die Klarheit und den Frieden in das Bild gebracht hat, nicht ich. Ich war es ja eigentlich nicht, der das Bild gemacht hat, sondern er hat es mir in die Seele gegeben.«

»So mag es sein«, sagte Niklaus. »Es ist ein Geheimnis, auf welche Art solch ein Bild entsteht. Ich bin nicht eben demütig, aber ich muß sagen: ich habe viele Werke gemacht, die weit hinter deinem zurückbleiben, nicht an Kunst und Sorgfalt, aber an Wahrheit. Nun, du weißt wohl selbst, man kann ein solches Werk nicht wiederholen. Es ist ein Geheimnis.«

»Ja«, sagte Goldmund, »als die Figur fertig wurde und ich sie ansah, dachte ich mir: etwas solches kannst du nicht wieder machen. Und darum glaube ich, Meister, ich werde mich in Bälde wieder auf die Wanderschaft machen.«

Verwundert und unwillig blickte Niklaus ihn an, seine Augen waren wieder streng geworden.

»Wir werden darüber noch sprechen. Für dich sollte die Arbeit nun erst recht beginnen, es ist wahrlich jetzt nicht der Augenblick, um davonzulaufen. Aber für heut machst du Feierabend, und zu Mittag bist du mein Gast.«

Um Mittag trat Goldmund gekämmt und gewaschen im Sonntagskleide an. Diesmal wußte er, wieviel es bedeute und welch seltene Gunst es sei, vom Meister zu Tisch geladen zu werden. Als er die Treppe zu der mit Figuren überfüllten Diele hinanstieg, war dennoch sein Herz lange nicht so voll Ehrfurcht und banger Freude wie jenes andere Mal, da er mit klopfendem Herzen in diese schönen stillen Räume getreten war.

Auch Lisbeth war geputzt und trug eine Kette mit Steinen um den Hals, und zu Tische gab es außer dem Karpfen und Wein noch eine Überraschung; der Meister schenkte ihm einen ledernen Geldsäckel, in dem waren zwei Goldstücke, Goldmunds Lohn für die fertig gewordene Figur. Diesmal saß er nicht stumm, während Vater und Tochter sich unterhielten. Beide sprachen ihn an, und es wurde mit den Bechern angestoßen. Goldmunds Augen waren fleißig, er nahm die Gelegenheit wahr, das schöne Mädchen mit dem vornehmen und etwas hochmütigen Gesicht genau zu betrachten, und seine Augen verschwiegen nicht, wie sehr sie ihm gefalle. Sie zeigte sich artig gegen ihn, aber daß sie nicht errötete noch warm wurde, enttäuschte ihn. Wieder wünschte er innig, dies schöne unbewegte Gesicht zum Sprechen zu bringen und zur Preisgabe seines Geheimnisses zu zwingen. Nach Tische bedankte er sich, verweilte ein wenig bei den Schnitzereien der Diele und trieb sich den Nachmittag unentschlossen, ein ratloser Müßiggänger, in der Stadt herum. Er war vom Meister sehr geehrt worden, über alles Erwarten. Warum machte es ihn nicht froh? Warum schmeckte alle diese Ehre so wenig festlich?

Einem Einfall folgend, mietete er ein Pferd und ritt in das Kloster hinaus, wo er einst zum erstenmal ein Werk des Meisters gesehen und seinen Namen gehört hatte. Vor ein paar Jahren war das gewesen und war doch so unausdenklich lange her. In der Klosterkirche besuchte und betrachtete er die Mutter Gottes, und auch heute wieder entzückte und bezwang ihn dieses Werk; es war schöner als sein Johannes, es war ihm gleich an Innigkeit und Geheimnis und war ihm überlegen an Kunst, an freiem, schwerelosem Schweben. Er sah jetzt an dieser Arbeit Einzelheiten, die nur der Künstler sieht, leise zarte Bewegungen im Gewand, Kühnheiten in der Bildung der langen Hände und Finger, feinfühlige Benutzung von Zufälligkeiten in der Struktur des Holzes – alle diese Schönheiten waren zwar nichts im Vergleich mit dem Ganzen, mit der Einfachheit und Innigkeit der Vision, aber sie waren eben doch da, und waren sehr schön, und waren auch dem Begnadeten nur möglich, wenn er das Handwerk aus dem Grunde verstand. Um so etwas machen zu können, mußte einer nicht nur Bilder in seiner Seele hegen, er mußte auch Augen und Hände unsäglich geschult und geübt haben. Vielleicht war es also doch der Mühe wert, sein ganzes Leben in den Dienst der Kunst zu stellen, auf Kosten der Freiheit, auf Kosten der großen Erlebnisse, nur um einmal etwas so Schönes hervorzubringen, das nicht nur erlebt und geschaut und in Liebe empfangen, sondern auch bis ins letzte mit sicherer Meisterschaft gekonnt war? Dies war eine große Frage.

Goldmund kehrte spät in der Nacht auf ermüdetem Pferd in die Stadt zurück. Eine Schenke stand noch offen, dort aß er Brot und trank Wein, dann stieg er in seine Kammer am Fischmarkt hinauf, mit sich selbst uneins, voller Fragen, voller Zweifel.

Zwölftes Kapitel

Andern Tags konnte Goldmund sich nicht entschließen, in die Werkstatt zu gehen. Wie schon manchen unlustigen Tag trieb er sich in der Stadt herum. Er sah die Frauen und Mägde zu Markte gehen, hielt sich besonders beim Fischmarktbrunnen auf und sah den Fischhändlern und ihren derben Weibern zu, wie sie ihre Ware feilboten und anpriesen, wie sie die kühlen silbernen Fische aus ihren Bottichen rissen und darboten, wie die Fische mit schmerzlich geöffneten Mäulern und angstvoll starren Goldaugen sich still dem Tode ergaben oder sich wütend und verzweifelt gegen ihn wehrten. Wie schon manches Mal ergriff ihn ein Mitleid mit diesen Tieren und ein trauriger Unmut gegen die Menschen; warum waren sie so stumpf und roh und unausdenklich dumm und blöde, warum sahen sie alle nichts, weder die Fischer und Fischweiber noch die feilschenden Käufer, warum sahen sie diese Mäuler, diese zum Tod erschreckten Augen und wild um sich schlagenden Schwänze nicht, nicht diesen grausigen nutzlosen Verzweiflungskampf, nicht diese unerträgliche Verwandlung der geheimnisvollen, wunderbar schönen Tiere, wie ihnen das leise letzte Zittern über die sterbende Haut schauderte und sie dann tot und erloschen lagen, hingestreckt, klägliche Fleischstücke für den Tisch der vergnügten Fresser? Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wußten und merkten sie, nichts sprach zu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit dem Leben wieder zurückgekehrt. Auch jetzt würde es wiederkehren, morgen oder übermorgen, und die Welt würde wieder gut und vortrefflich sein. Bis eben das andere wiederkam, die Traurigkeit, das Grübeln, die hoffnungslose beklemmende Liebe zu den sterbenden Fischen, den welkenden Blumen, der Schrecken über das stumpfe säuische Hinleben und Gaffen und Nichtsehen der Menschen. Immer in solchen Zeiten mußte er mit quälender Neugierde, mit tiefer Beklemmung des fahrenden Schülers Viktor denken, dem er damals sein Messer zwischen die Rippen gestoßen hatte und den er voller Blut auf den Tannenzweigen hatte liegenlassen, und er mußte dann darüber sinnen und grübeln, was jetzt eigentlich aus diesem Viktor geworden sei, ob die Tiere ihn ganz und gar gefressen, ob irgend etwas von ihm übriggeblieben sei. Ja, übrig waren wohl die Knochen geblieben und vielleicht ein paar Hände voll Haare. Und die Knochen – was wurde aus denen? Wie lange wohl dauerte es, Jahrzehnte oder bloß Jahre, bis auch sie ihre Form verloren hatten und Erde geworden waren?

Ach, heute, während er mit Mitleid den Fischen und mit Ekel den Marktleuten zusah, das Herz voll ängstlicher Schwermut und bitterer Feindseligkeit gegen die Welt und gegen sich selber, mußte er an Viktor denken. Vielleicht war er gefunden und begraben worden? Und wenn das geschehen war – war dann jetzt schon alles Fleisch von seinen Knochen gefallen, war alles verfault, hatten alles die Würmer gefressen? Waren noch Haare auf seinem Schädel und Brauen über seinen Augenhöhlen? Und von Viktors Leben, das doch von Abenteuern und Geschichten und vom phantastischen Spiel seiner wunderlichen Spaße und Schnurren erfüllt gewesen war – was war davon übriggeblieben? Lebte außer den paar losen Erinnerungen, die sein Mörder an ihn bewahrte, noch irgend etwas von diesem Menschendasein fort, das doch keines von den ganz gewöhnlichen gewesen war? Gab es noch einen Viktor in den Träumen der Frauen, die er einst geliebt hatte? Ach, es war wohl alles dahin und zerronnen. Und so erging es allen und allem, es blühte schnell und welkte schnell hinweg, nachher fiel der Schnee drüber. Was hatte alles in ihm selbst geblüht, als er vor einigen Jahren in diese Stadt gekommen war, voll Begierde nach der Kunst, voll banger tiefer Verehrung für den Meister Niklaus! War etwas davon am Leben geblieben? Nichts, nichts mehr als von der langen Schnapphahngestalt des armen Viktor. Hätte jemand ihm damals gesagt, es werde ein Tag kommen, da würde Niklaus ihn als seinesgleichen anerkennen und bei der Zunft für ihn den Meisterbrief verlangen, er hätte geglaubt, alles Glück der Welt in Händen zu halten. Und jetzt war es nichts als eine abgeblühte Blume, etwas Dürres und Freudloses.

Als er dies dachte, hatte Goldmund plötzlich ein Gesicht. Es war nur ein Augenblick, ein zuckendes Aufblitzen: er sah das Gesicht der Urmutter, über den Abgrund des Lebens geneigt, mit einem verlorenen Lächeln schön und grausig blicken, sah es lächeln zu den Geburten, zu den Toden, zu den Blumen, zu den raschelnden Herbstblättern, lächeln zur Kunst, lächeln zur Verwesung.

Alles galt ihr gleich, der Urmutter, über allem hing wie Mond ihr unheimliches Lächeln, ihr war der schwermütig sinnende Goldmund so lieb wie der auf dem Pflaster des Fischmarktes sterbende Karpfen, die stolze kühle Jungfer Lisbeth so lieb wie die im Wald verstreuten Knochen jenes Viktor, der ihm einst so gern seinen Dukaten gestohlen hätte.

Schon war der Blitz wieder erloschen, das geheimnisvolle Muttergesicht verschwunden. Aber tief zuckte sein fahles Leuchten in Goldmunds Seele fort, eine Woge von Leben, von Schmerz, von würgender Sehnsucht lief aufwühlend durch sein Herz. Nein, nein, er wollte das Glück und die Sattheit der andern nicht, der Fischkäufer, der Bürger, der geschäftigen Leute. Mochte der Teufel sie holen. Ah, dieses aufzuckende bleiche Gesicht, dieser volle reife spätsommerliche Mund, über dessen schwere Lippen dies namenlose Todeslächeln wie Wind und Mondschein hingelaufen war!

Goldmund ging zum Hause des Meisters, es war gegen Mittag, er wartete, bis er hörte, daß Niklaus drinnen seine Arbeit verließ und die Hände wusch. Da trat er zu ihm herein.

»Lasset mich ein paar Worte zu Euch sagen, Meister, es kann geschehen, während Ihr Eure Hände waschet und den Rock anzieht. Ich verdurste nach einem Mundvoll Wahrheit, ich möchte Euch etwas sagen, was ich vielleicht gerade jetzt sagen kann und dann nicht wieder. Es steht so mit mir, daß ich mit einem Menschen sprechen muß, und Ihr seid der einzige, der es vielleicht verstehen kann. Ich spreche nicht zu dem Mann, der eine berühmte Werkstatt hat und der von Städten und Klöstern alle die ehrenvollen Aufträge empfängt und zwei Gehilfen und ein schönes reiches Haus hat. Ich spreche zu dem Meister, der die Mutter Gottes im Kloster draußen gemacht hat, das schönste Bild, das ich kenne. Diesen Mann habe ich geliebt und verehrt, seinesgleichen zu werden schien mir das höchste Ziel auf Erden. Ich habe jetzt eine Figur gemacht, den Johannes, und konnte ihn nicht so vollkommen machen, wie Eure Mutter Gottes ist; aber er ist nun eben so, wie er ist. Eine andere Figur habe ich nicht zu machen, es ist keine vorhanden, die mich verlangt und sie zu machen zwingt. Vielmehr, es ist eine vorhanden, ein fernes heiliges Bild, das ich einmal werde machen müssen, das ich aber heute noch nicht machen kann. Um es machen zu können, muß ich noch viel mehr erfahren und erleben. Vielleicht kann ich es in drei, vier Jahren machen, oder in zehn Jahren oder später, oder auch niemals. Bis dahin aber, Meister, will ich nicht Handwerk treiben und Figuren lackieren und Kanzeln schnitzen und ein Handwerkerleben in der Werkstatt führen und Geld verdienen und so werden, wie alle Handwerker sind, nein, das will ich nicht, sondern ich will leben und wandern, Sommer und Winter spüren, die Welt ansehen und ihre Schönheit und ihr Grauen kosten. Ich will Hunger und Durst erleiden und will das alles wieder vergessen und loswerden, was ich hier bei Euch gelebt und gelernt habe. Ich möchte wohl einmal etwas so Schönes und tief ans Herz Rührendes machen, wie Eure Mutter Gottes ist – aber so werden wie Ihr und so leben, wie Ihr lebet, das will ich nicht.«

Der Meister hatte seine Hände gewaschen und getrocknet, jetzt wendete er sich um und sah Goldmund an. Sein Gesicht war streng, aber nicht böse.

»Du hast gesprochen«, sagte er, »und ich habe gehört. Laß es nun gut sein. Ich erwarte dich nicht zur Arbeit, obwohl viel zu tun ist. Ich betrachte dich nicht als Gehilfen, du brauchst Freiheit. Ich möchte dies und jenes mit dir besprechen, lieber Goldmund; nicht jetzt, in einigen Tagen, du magst dir indessen die Zeit nach Belieben vertreiben. Sieh, ich bin viel älter als du und habe dies und jenes erfahren. Ich denke anders als du, aber ich verstehe dich und das, was du meinst. In ein paar Tagen werde ich dich rufen lassen. Wir werden über deine Zukunft sprechen, ich habe allerlei Pläne. Bis dahin habe Geduld! Ich weiß gut genug, wie es ist, wenn man ein Werk fertiggebracht hat, das einem am Herzen lag, ich kenne diese Leere. Sie geht vorüber, glaube mir.«

Unbefriedigt lief Goldmund weg. Der Meister meinte es gut mit ihm, aber was konnte er ihm helfen?

Am Fluß kannte er eine Stelle, dort war das Wasser nicht tief und strömte über einen Grund voll Gerumpel und Abfall, aus den Häusern der Fischervorstadt wurde dort allerlei Kehricht in den Fluß geworfen. Dahin ging er, setzte sich auf die Ufermauer und blickte ins Wasser hinab. Wasser liebte er sehr, jedes Wasser zog ihn an. Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge, vielleicht eine alte Tellerscherbe oder eine weggeworfene verbogene Sichel oder einen lichten glatten Stein oder glasierten Ziegel, manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl auffing – niemals konnte man genau erkennen, was es eigentlich sei, immer aber war es zauberhaft schön und verlockend, dies kurze gedämpfte Aufblinken versunkener Goldschätze im nassen schwarzen Grunde. So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriß, sie hatten keine Form, sie ließen sie nur wie eine ferne schöne Möglichkeit ahnen, sie waren verschleiert und vieldeutig. Wie da in der Dämmerung der grünen Flußtiefe für zuckende Augenblicke etwas unsäglich Goldenes oder Silbernes herblinkte, ein Nichts und doch voll seligster Versprechungen, ebenso konnte das verlorene Profil eines Menschen, halb von hinten gesehen, manchmal etwas unendlich Schönes oder unerhört Trauriges ankündigen, oder auch: wie unter einem nächtlichen Lastwagen eine Laterne hing und die sich drehenden riesigen Schatten der Radspeichen an die Mauern malte, konnte dies Schattenspiel eine Minute lang so voll von Anblicken, Geschehnissen und Geschichten sein wie der ganze Vergil. Aus demselben unwirklichen, magischen Stoff waren nachts die Träume gewoben, ein Nichts, das alle Bilder der Welt in sich enthielt, ein Wasser, in dessen Kristall die Formen aller Menschen, Tiere, Engel und Dämonen als allzeit wache Möglichkeiten wohnten.

Wieder vertiefte er sich in das Spiel, starrte verloren in den ziehenden Fluß, sah formlose Schimmer auf dem Grunde beben, ahnte Königskronen und blanke Frauenschultern. Einstmals in Mariabronn, so erinnerte er sich, hatte er in den lateinischen und griechischen Buchstaben ähnliche Formträume und Verwandlungszauber gesehen. Hatte er nicht damals mit Narziß einmal darüber gesprochen? Ach, wann war das gewesen, vor wieviel hundert Jahren? Ach, Narziß! Um den zu sehen, um mit dem eine Stunde zu sprechen, seine Hand zu halten, seine ruhige kluge Stimme zu hören, hätte er gern seine zwei Golddukaten gegeben.

Warum waren denn diese Dinge so schön, dies Goldgeleucht unterm Wasser, diese Schatten und Ahnungen, alle diese unwirklichen und feenhaften Erscheinungen – warum waren sie denn so unsäglich schön und beglückend, da sie doch genau das Gegenteil von dem waren, was ein Künstler Schönes machen konnte? Denn wenn die Schönheit jener unnennbaren Dinge ohne jede Form war und ganz nur aus Geheimnis bestand, so war es ja bei Werken der Kunst gerade umgekehrt, sie waren ganz und gar Form, sie sprachen vollkommen klar. Nichts war unerbittlich klarer und bestimmter als die Linie eines gezeichneten oder in Holz geschnittenen Kopfes oder Mundes. Genau, haargenau hätte er die Unterlippe oder die Augenlider von Niklaus' Marienfigur nachzuzeichnen vermocht; da gab es nichts Unbestimmtes, Täuschendes, Zerfließendes.

Goldmund dachte hingegeben darüber nach. Es wurde ihm nicht klar, wie es möglich sei, daß das denkbar Bestimmteste und Geformteste ganz ähnlich auf die Seele wirke wie das Ungreifbarste und Gestaltloseste. Eines aber wurde ihm bei dieser Gedankenübung dennoch klar, nämlich warum so viele tadellose und gutgemachte Kunstwerke ihm ganz und gar nicht gefielen, sondern trotz einer gewissen Schönheit ihm langwellig und beinah verhaßt waren. Werkstätten, Kirchen und Paläste waren voll von solchen fatalen Kunstwerken, er selber hatte an einigen mitgearbeitet. Sie waren so schwer enttäuschend, weil sie das Verlangen nach Höchstem erweckten und es doch nicht erfüllten, weil ihnen die Hauptsache fehlte: das Geheimnis. Das war es, was Traum und höchstes Kunstwerk Gemeinsames hatten: das Geheimnis.

Weiter dachte Goldmund: ein Geheimnis ist es, das ich liebe, dem ich auf der Spur bin, das ich mehrmals habe aufblitzen sehen und das ich als Künstler, wenn es mir einmal möglich sein wird, darstellen und zum Sprechen bringen möchte. Es ist die Gestalt der größten Gebärerin, der Urmutter, und ihr Geheimnis besteht nicht, wie das einer anderen Figur, in dieser oder jener Einzelheit, in besonderer Fülle oder Magerkeit, Derbheit oder Zierlichkeit, Kraft oder Anmut, sondern es besteht darin, daß die größten Gegensätze der Welt, die sonst unvereinbar sind, in dieser Gestalt Frieden geschlossen haben und beisammenwohnen: Geburt und Tod, Güte und Grausamkeit, Leben und Vernichtung. Hätte ich diese Figur mir ausgesonnen, wäre sie nur mein Gedankenspiel oder ein ehrgeiziger Künstlerwünsch, so wäre es nicht schade um sie, ich könnte ihren Fehler einsehen und sie vergessen. Aber die Urmutter ist kein Gedanke, denn ich habe sie nicht erdacht, sondern gesehen! Sie lebt in mir, immer wieder ist sie mir begegnet. Zuerst habe ich sie geahnt, als ich in einem Dorf, in einer Winternacht, über dem Bett einer gebärenden Bäuerin das Licht halten mußte: damals fing das Bild in mir zu leben an. Oft ist es ferne und verloren, lange Zeit; aber plötzlich zuckt es wieder auf, auch heute wieder. Das Bild meiner eigenen Mutter, einst mein liebstes, hat sich ganz in dies neue Bild verwandelt, es ist in ihm drinnen wie der Kern in einer Kirsche.

Deutlich fühlte er jetzt seine augenblickliche Lage, das Bangen vor einer Entscheidung. Er war, nicht minder als damals beim Abschied von Narziß und dem Kloster, auf einem wichtigen Wege: dem Weg zur Mutter. Vielleicht würde einmal aus der Mutter ein allen sichtbares, gestaltetes Bild werden, ein Werk seiner Hände. Vielleicht lag dort das Ziel, war dort der Sinn seines Lebens verborgen. Vielleicht; er wußte es nicht. Eines aber wußte er: der Mutter zu folgen, zu ihr unterwegs zu sein, von ihr gezogen und gerufen zu werden, das war gut, das war Leben. Vielleicht konnte er nie ihr Bild gestalten, vielleicht blieb sie immer Traum, Ahnung, Lockung, goldenes Aufblinken heiligen Geheimnisses. Nun, auf jeden Fall hatte er ihr zu folgen, ihr hatte er sein Schicksal anheimzustellen, sie war sein Stern.

Und nun lag die Entscheidung schon nahe vor ihm, es war alles klar geworden. Die Kunst war eine schöne Sache, aber sie war keine Göttin und kein Ziel, für ihn nicht; nicht der Kunst hatte er zu folgen, nur dem Ruf der Mutter. Was konnte es nützen, seine Finger noch immer geschickter zu machen? Am Meister Niklaus konnte man sehen, wohin das führte. Es führte zu Ruhm und Namen, zu Geld und seßhaftem Leben, und zu einer Verdorrung und Verkümmerung jener inneren Sinne, denen allein das Geheimnis zugänglich ist. Es führte zum Herstellen hübscher kostbarer Spielwaren, zu allerlei reichen Altären und Kanzeln, heiligen Sebastianen und hübsch gelockten Engelsköpfchen, das Stück zu vier Talern. Oh, das Gold im Aug' eines Karpfens und der süße dünne Silberflaum am Rand eines Schmetterlingsflügels war unendlich viel schöner, lebendiger, köstlicher als ein ganzer Saal voll von jenen Kunstwerken.

Ein Knabe kam singend die Uferstraße herabgegangen, manchmal verstummte sein Gesang, und er biß in ein großes Stück Weißbrot, das er in der Hand trug. Ihn sah Goldmund und bat ihn um ein Stückchen von seinem Brot, krallte ein Stück Weiches mit zwei Fingern heraus und formte daraus kleine Kugeln. Über die Mauerbrüstung hinausliegend, warf er die Brotkugeln, langsam eine um die andere, ins Wasser hinab, sah im dunkeln Wasser die helle Kugel hinabsinken und sah sie von den raschen drängenden Köpfen der Fische umschwärmt, bis sie in einem der Mäuler verschwand. Kugel um Kugel sah er sinken und verschwinden, tief befriedigt. Dann fühlte er Hunger und suchte eine seiner Geliebten auf, die im Hause eines Fleischers Magd war und die er »Gebieterin der Würste und Schinken« nannte. Mit dem gewohnten Pfiff lockte er sie ans Küchenfenster und war willens, sich dies oder jenes Nahrhafte von ihr geben zu lassen, um es zu sich zu stecken und draußen überm Fluß auf einem der Rebhügel zu verzehren, deren roter fetter Boden so kräftig unterm satten Weinlaub leuchtete, und wo im Frühling die kleinen blauen Hyazinthen blühten, die so zart nach Steinobst dufteten.

Aber es schien heut ein Tag der Entscheidungen und Einsichten zu sein. Als Kathrine am Fenster erschien und mit dem festen, etwas derben Gesicht herüberlächelte, als er schon die Hand ausstreckte, um ihr das gewohnte Zeichen zu geben, da mußte er sich plötzlich anderer Male erinnern, da er ebenso hier gestanden war und gewartet hatte. Und mit langweilender Deutlichkeit sah er zugleich alles voraus, was in den nächsten Minuten geschehen würde: wie sie sein Zeichen erkennen und sich zurückziehen, wie sie in Bälde an der Hintertür des Hauses erscheinen würde, etwas Geräuchertes in der Hand, wie er es entgegennehmen und sie dabei ein wenig streicheln und an sich drücken würde, wie sie es erwartete – und plötzlich schien es ihm unendlich dumm und häßlich, diesen ganzen mechanischen Ablauf oft erlebter Dinge wieder hervorzurufen und seine Rolle darin zu spielen, die Wurst in Empfang zu nehmen, die kräftigen Brüste sich an ihn drängen zu fühlen und sie wie zum Gegengeschenk ein wenig zu drücken. Plötzlich meinte er in ihrem guten derben Gesicht einen Zug von entseelter Gewohnheit, in ihrem freundlichen Lächeln etwas allzuoft Gesehenes, etwas Mechanisches und Geheimnisloses, etwas seiner Unwürdiges zu sehen. Er beschrieb den gewohnten Wink mit der Hand nicht zu Ende, auf seinem Gesicht erfror das Lächeln. Liebte er sie denn noch, begehrte er sie noch ernstlich? Nein, allzuoft schon war er hier gewesen, allzuoft hatte er dies immer gleiche Lächeln gesehen und ohne Herzensantrieb erwidert. Was er gestern noch unbedenklich gekonnt hätte, war ihm heut plötzlich nicht mehr möglich. Die Magd stand noch und schaute, da hatte er sich schon umgewendet und war aus der Gasse verschwunden, entschlossen, sich nie mehr dort zu zeigen. Mochte ein anderer diese Brüste streicheln! Mochte ein anderer diese guten Würste essen! Überhaupt, was wurde hier in dieser fetten vergnügten Stadt nicht Tag für Tag gefressen und vergeudet! Wie faul, wie verwöhnt, wie wählerisch waren diese feisten Bürger, wegen deren jeden Tag so viel Säue und Kälber geschlachtet und so viel schöne arme Fische aus dem Fluß gezogen wurden! Und er selbst – wie war er selbst verwöhnt und verdorben, wie ekelhaft ähnlich war er diesen fetten Bürgern geworden! Auf Wanderung, im verschneiten Feld, da schmeckte eine gedörrte Pflaume oder eine alte Brotrinde köstlicher als hier im Wohlleben ein ganzes Zunftessen. O Wanderung, o Freiheit, o mondbeschienene Heide und vorsichtig beäugte Tierspur im graufeuchten Morgengras! Hier in der Stadt, bei den Seßhaften, ging alles so leicht und kostete so wenig, sogar die Liebe. Er hatte genug davon, plötzlich, er spie darauf. Dies Leben hier hatte seinen Sinn verloren, es war ein Knochen ohne Mark. Es war schön gewesen und hatte Sinn gehabt, solang der Meister ein Vorbild, Lisbeth eine Prinzessin gewesen war; es war erträglich gewesen, solang er an seinem Johannes gearbeitet hatte. Jetzt war es zu Ende damit, der Duft war dahin, das Blümlein war verwelkt. Mit heftiger Welle ergriff ihn das Gefühl der Vergänglichkeit, das ihn oft so tief peinigen und so tief berauschen konnte. Schnell verblühte alles, schnell war jede Lust erschöpft, und nichts blieb übrig als Knochen und Staub. Doch, eines blieb: die ewige Mutter, die uralte und ewig junge, mit dem traurigen und grausamen Liebeslächeln. Wieder sah er sie für Augenblicke: eine Riesin, Sterne im Haar, träumerisch sitzend am Rande der Welt, mit verspielter Hand pflückte sie Blume um Blume, Leben um Leben, und ließ sie langsam ins Bodenlose fallen.

In diesen Tagen, während Goldmund ein verblühtes Stück Leben hinter sich erblassen sah und in einem traurigen Rausch von Abschiednehmen durch die vertraute Gegend schweifte, gab sich Meister Niklaus große Mühe, für seine Zukunft zu sorgen und diesen unruhigen Gast für immer seßhaft zu machen. Er bewog die Zunft, Goldmund das Meisterzeugnis auszustellen, und erwog den Plan, ihn nicht als Untergebenen, sondern als Mitarbeiter dauernd an sich zu fesseln, alle großen Aufträge mit ihm zu beraten und auszuführen und ihn zum Teilhaber an deren Ertrag zu machen. Es mochte ein Wagnis sein, auch Lisbeths wegen, denn natürlich würde der junge Mensch dann bald sein Schwiegersohn werden. Aber eine Figur wie den Johannes hätte auch der beste aller Gehilfen, die Niklaus je besoldet hatte, niemals zu machen vermocht, und er selbst wurde alt und wurde ärmer an Einfallen und Schöpferkraft, und zu einem gewöhnlichen handwerklichen Gewerbe wollte er seine berühmte Werkstatt nicht herabsinken sehen. Es würde schwierig sein mit diesem Goldmund, aber es mußte gewagt werden.

So rechnete sorgenvoll der Meister. Er würde für Goldmund die hintere Werkstatt ausbauen und vergrößern lassen und ihm die Stube im Dachstock einräumen, ihn auch zu seiner Aufnahme in die Zunft mit neuer, schöner Kleidung beschenken. Vorsichtig holte er auch Lisbeths Meinung ein, die seit jenem Mittagessen auf etwas Dergleichen wartete. Und siehe, Lisbeth war nicht dagegen. Wenn der Bursche seßhaft gemacht wurde und Meister hieß, war er ihr schon recht. Auch hier gab es keine Hindernisse. Und wenn es dem Meister Niklaus und dem Handwerk noch immer nicht ganz gelungen war, diesen Zigeuner zu zähmen, Lisbeth würde es schon vollends fertigbringen.

So wurde alles eingefädelt und dem Vogel der Köder hübsch hinter die Schlinge gehängt. Und eines Tages wurde nach Goldmund geschickt, der sich nicht mehr hatte sehen lassen, und er wurde abermals zu Tische geladen, erschien wieder gebürstet und gekämmt, saß wieder in der schönen, etwas zu feierlichen Stube, stieß wieder mit dem Meister und des Meisters Tochter an, bis diese sich entfernte und Niklaus mit seinem großen Plan und Anerbieten herausrückte.

»Du hast mich verstanden«, fügte er seinen überraschenden Eröffnungen hinzu, »und ich brauche dir nicht zu sagen, daß wohl niemals ein junger Mensch, ohne auch nur die vorgeschriebene Lehrzeit abgedient zu haben, so rasch zum Meister aufgerückt und ins warme Nest gesetzt worden ist. Dem Glück ist gemacht, Goldmund.«

Verwundert und beklommen sah Goldmund seinen Meister an und schob den Becher von sich, der noch halbvoll vor ihm stand. Er hatte eigentlich erwartet, daß Niklaus ihn wegen der verbummelten Tage etwas schelten und ihm dann vorschlagen werde, als Gehilfe bei ihm zu bleiben. Nun stand es so. Es machte ihn traurig und verlegen, diesem Manne so gegenübersitzen zu müssen. Er fand nicht gleich eine Antwort.

Der Meister, schon mit etwas gespanntem und enttäuschtem Gesicht, als sein ehrenvolles Anerbieten nicht sofort mit Freude und Demut angenommen wurde, stand auf und sagte: »Nun, mein Vorschlag kommt dir unerwartet, vielleicht willst du erst darüber nachdenken. Es kränkt mich ja ein wenig, ich hatte gedacht, dir eine große Freude zu bereiten. Aber meinetwegen, nimm also Bedenkzeit.«

»Meister«, sagte Goldmund, um die Worte ringend, »seid mir nicht böse! Ich danke Euch von ganzem Herzen für Euer Wohlwollen und danke Euch noch mehr für die Geduld, mit der Ihr mich als Schüler behandelt habt. Ich werde nie vergessen, in welcher Schuld ich bei Euch stehe. Aber die Bedenkzeit brauche ich nicht, ich habe mich längst entschlossen.«

»Wozu entschlossen?«

»Es war bei mir beschlossen, noch ehe ich Euerer Einladung folgte und ehe ich eine Ahnung von Eueren ehrenvollen Anerbietungen hatte. Ich bleibe nicht länger hier, ich wandere.«

Bleich geworden, blickte ihn Nikiaus mit finsteren Augen an.

»Meister«, flehte Goldmund, »glaubet mir, daß ich Euch nicht kränken will! Ich habe Euch gesagt, wozu ich entschlossen bin. Es ist nichts mehr daran zu ändern. Ich muß fort, ich muß reisen, ich muß in die Freiheit. Laßt mich Euch noch einmal herzlich danken, und laßt uns freundlich voneinander Abschied nehmen.«

Er streckte ihm die Hand hin, die Tränen waren ihm nahe. Niklaus nahm seine Hand nicht, er war weiß im Gesicht geworden und begann jetzt rasch und rascher in der Stube auf und ab zu gehen, mit vor Wut dröhnenden Schritten. Nie hatte Goldmund ihn so gesehen.

Dann blieb der Meister plötzlich stehen, beherrschte sich mit furchtbarer Anstrengung und sagte, ohne Goldmund anzublicken, zwischen den Zähnen hervor: »Gut, also geh! Aber geh sogleich! Daß ich dich nicht wiedersehen muß! Daß ich nicht etwas tue und sage, was mich einmal reuen könnte. Geh!«

Nochmals streckte Goldmund ihm seine Hand entgegen. Der Meister machte Miene, auf die dargereichte Hand zu speien. Da wendete sich Goldmund, der nun auch bleich geworden war, ging leise aus der Stube, setzte draußen seine Mütze auf, schlich die Treppe hinab und ließ die Hand über ihre geschnitzten Pfostenköpfe laufen, trat unten in die kleine Hofwerkstatt, stand zum Abschied eine kleine Weile vor seinem Johannes und verließ das Haus mit einem Weh im Herzen, tiefer als er es einst beim Verlassen der Ritterburg und der armen Lydia empfunden hatte. Es ist wenigstens rasch gegangen! Es ist wenigstens nichts Unnützes gesprochen worden! Das war der einzige Trostgedanke, als er über die Schwelle hinausging und plötzlich Gasse und Stadt ihm mit jenem verwandelten, fremden Gesicht ins Auge sahen, das die gewohnten Dinge annehmen, wenn unser Herz von ihnen Abschied genommen hat. Er warf einen Blick auf die Haustür zurück – es war jetzt die Tür zu einem fremden, ihm verschlossenen Hause.

In seiner Kammer angekommen, stand Goldmund und begann die Zurüstungen zur Abreise. Freilich, es war da nicht viel zu rüsten; es war nichts zu tun, als Abschied zu nehmen. Es hing da ein Bild an der Wand, das er selbst gemalt hatte, eine sanfte Madonna, und es hingen und lagen Dinger herum, die sein Eigentum waren: ein Sonntagshut, ein Paar Tanzschuhe, eine Rolle Zeichnungen, eine kleine Laute, eine Anzahl von ihm gekneteter Tonfigürchen, einige Geschenke von Geliebten: ein künstlicher Blumenstrauß, ein rubinrotes Trinkglas, ein alter hartgewordener Lebkuchen in Herzform und dergleichen Kram, wovon jedes Stück seine Bedeutung und Geschichte gehabt hatte und ihm liebgewesen war und was jetzt alles lästiger Plunder war, denn nichts davon konnte er mitnehmen. Wenigstens tauschte er beim Hausherrn das Rubinglas gegen ein starkes gutes Jagdmesser um, das er am Schleifstein im Hofe scharf machte, er zerbröselte den Lebkuchen und fütterte ihn den Hühnern im Nachbarhof, schenkte das Madonnenbild der Hausfrau und bekam dafür auch ein nützliches Gegengeschenk: einen alten ledernen Reiseranzen und einen reichlichen Mundvorrat für die Reise. In den Ranzen packte er einige Hemden, die er besaß, und ein paar kleinere Zeichnungen, über ein Stück Besenstiel gerollt, dazu die Eßwaren. Der übrige Kram mußte zurückbleiben.

Es gab mehrere Frauen in der Stadt, von denen sich zu verabschieden schicklich gewesen wäre; bei einer von ihnen hatte er noch gestern geschlafen, ohne ihr von seinen Plänen zu sagen. Ja, so hängte sich einem dies und jenes an die Fersen, wenn man wandern wollte. Man durfte es nicht ernst nehmen. Er sagte niemandem Lebewohl als den Hausleuten. Er tat es am Abend, um in aller Frühe weggehen zu können. Trotzdem war am Morgen jemand aufgestanden und lud ihn, als er eben still das Haus verlassen wollte, zu einer Milchsuppe in die Küche ein. Es war die Tochter des Hauses, ein Kind von fünfzehn Jahren, ein stilles kränkliches Geschöpf mit schönen Augen, aber mit einem Schaden am Hüftgelenk, der sie hinken machte. Sie hieß Marie. Mit übernächtigem Gesicht, ganz bleich, aber sorgfältig gekleidet und gestrählt, bediente sie ihn in der Küche mit heißer Milch und Brot und schien sehr traurig darüber zu sein, daß er fortging. Er dankte ihr und küßte sie zum Abschied mitleidig auf den schmalen Mund. Andächtig, mit geschlossenen Augen, empfing sie den Kuß.

Dreizehntes Kapitel

In den ersten Zeiten seiner neuen Wanderschaft, im ersten gierigen Taumel der wiedergewonnenen Freiheit, mußte Goldmund erst wieder lernen, das heimatlose und zeitlose Leben der Fahrenden zu leben. Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit, kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen Zufällen offen, führen die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes, ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der unschuldigen. Aus der Hand des Himmels nehmen sie Stunde um Stunde, was ihnen gegeben wird: Sonne, Regen, Nebel, Schnee, Wärme und Kälte, Wohlsein und Not, es gibt für sie keine Zeit, keine Geschichte, kein Streben und nicht jenen seltsamen Götzen der Entwicklung und des Fortschritts, an den die Hausbesitzer so verzweifelt glauben. Ein Vagabund kann zart oder roh sein, kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tage, vor Anfang aller Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm; er kann tief in sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bißchen warmes Blut durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Seßhaften, der ihn haßt, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit alles Seins, an das beständige Hinwelken alles Lebens, an den unerbittlichen eisigen Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.

Die Kindlichkeit des Vagantenlebens, seine mütterliche Herkunft, seine Abkehr von Gesetz und Geist, seine Preisgegebenheit und heimliche immerwährende Todesnähe hatten längst Goldmunds Seele tief ergriffen und geprägt. Daß dennoch Geist und Wille in ihm wohnte, daß er dennoch ein Künstler war, machte sein Leben reich und schwierig. Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter? Sommer und Herbst sanken hinab, mühsam brachte sich Goldmund durch die kargen Monate, berauscht durchwanderte er den süßen duftenden Frühling, die Jahreszeiten liefen so eilig hinweg, so schnell sank immer wieder die hohe Sommersonne hinab. Es ging Jahr um Jahr, und es schien, als habe Goldmund vergessen, daß es anderes auf Erden gebe als Hunger und Liebe und diese stille unheimliche Eile der Jahreszeiten; es schien, als sei er ganz in der mütterlichen, triebhaften Urwelt versunken. In jedem Traum aber und bei jeder sinnenden Rast mit dem Blick über die blühenden und welkenden Täler war er voll Schauen, war Künstler, litt an quälender Sehnsucht, den holden dahintreibenden Unsinn des Lebens durch Geist zu beschwören und in Sinn zu verwandeln.

Einst traf er, der seit dem blutigen Abenteuer mit Viktor nie mehr anders als allein gewandert war, auf einen Kameraden, der sich unmerklich ihm anschloß und den er eine ganze Weile nicht loswurde. Doch war er nicht von der Art Viktors, sondern es war ein Rompilger, ein noch junger Mann in Kutte und Pilgerhut, der Robert hieß und am Bodensee zu Hause war. Dieser Mensch, ein Handwerkersohn und eine Weile bei den Mönchen des heiligen Gallus zur Schule gegangen, hatte sich schon als Knabe eine Wallfahrt nach Rom in den Kopf gesetzt und sich immer diesem Lieblingsgedanken hingegeben und die erste Gelegenheit, ihn auszuführen, ergriffen. Diese war der Tod seines Vaters, in dessen Werkstatt er als Schreiner gearbeitet hatte. Kaum war der Alte begraben, da erklärte Robert seiner Mutter und Schwester, daß nichts ihn zurückhalten könne, sofort zur Stillung seines Dranges, und um für seine und seines Vaters Sünden zu büßen, die Pilgerfahrt nach Rom anzutreten. Vergebens klagten die Frauen, vergebens schalten sie ihn aus, er blieb eigensinnig und trat, statt für die beiden Weiber zu sorgen, ohne den Segen der Mutter und unter den zornigen Schimpfreden seiner Schwester die Reise an. Was ihn trieb, war vor allem Wanderlust, mit ihr verband sich eine Art von oberflächlicher Frömmigkeit, das heißt eine Neigung zum Verweilen in der Nähe kirchlicher Stätten und geistlicher Verrichtungen, eine Freude an Gottesdienst, Taufe, Begräbnis, Messe, Weihrauch und Kerzenflammen. Er konnte ein wenig Latein, aber nicht Gelehrsamkeit war es, wonach seine kindliche Seele strebte, sondern Beschaulichkeit und stille Schwärmerei im Schatten der Kirchengewölbe. Er war als Knabe mit Leidenschaft dem Dienst als Meßbub hingegeben gewesen. Goldmund nahm ihn nicht sehr ernst und mochte ihn doch gern, ein wenig fühlte er sich ihm verwandt in dem triebhaften Hingegebensein an Wanderung und Fremde. Robert war also damals zufrieden losgewandert und auch bis nach Rom gekommen, hatte die Gastfreundschaft unzähliger Klöster und Pfarreien in Anspruch genommen, sich Gebirg und Süden betrachtet und sich in Rom zwischen allen den Kirchen und frommen Veranstaltungen sehr wohl gefühlt, Hunderte von Messen gehört und an den berühmtesten und heiligsten Örtern Andacht verrichtet und die Sakramente genossen und mehr Weihrauch eingeatmet, als für seine kleinen Jugendsünden und für die seines Vaters vonnöten war. Ein Jahr und länger war er ausgeblieben, und als er schließlich wiederkam und wieder ins väterliche Häuschen trat, empfing man ihn nicht wie den verlorenen Sohn, sondern die Schwester hatte sich inzwischen der häuslichen Pflichten und Rechte bemächtigt, hatte einen fleißigen Schreinergesellen eingestellt und geheiratet und regierte Haus und Werkstatt so vollkommen, daß der Heimgekehrte sich nach kurzem Aufenthalt dort als entbehrlich erkannte und von niemand zum Bleiben ermahnt wurde, als er bald wieder von Fortgehen und Reisen sprach. Er nahm es nicht schwer, ließ sich von der Mutter einige Spargroschen geben, schmückte sich wieder mit der Pilgertracht und trat eine neue Wallfahrt an, ohne Ziel, quer durchs Reich, ein halbgeistlicher Landfahrer. Kupferne Erinnerungsmünzen an bekannte Wallfahrtsorte und geweihte Rosenkränze klirrten an ihm herab.

So traf er auf Goldmund, wanderte einen Tag mit ihm, tauschte Landfahrererinnerungen mit ihm, verlor sich im nächsten Städtchen, traf da und dort wieder auf ihn und blieb schließlich ganz bei ihm, ein verträglicher und dienstwilliger Reisegefährte. Goldmund gefiel ihm sehr, er warb mit kleinen Dienstleistungen um ihn, bewunderte sein Wissen, seine Kühnheit, seinen Geist und liebte seine Gesundheit, Kraft und Aufrichtigkeit. Sie gewöhnten sich aneinander, denn auch Goldmund war verträglich. Nur eines vertrug er nicht: wenn er von seiner Traurigkeit oder Grübelei befallen war, dann schwieg er hartnäckig und sah am andern vorbei, als wäre er nicht vorhanden, und dann durfte man weder schwatzen noch fragen noch trösten und mußte ihn gewähren und schweigen lassen. Dies hatte Robert bald gelernt. Seit er gemerkt hatte, daß Goldmund eine Menge lateinischer Verse und Lieder auswendig wußte, seit er ihn vor dem Portal eines Domes die steinernen Gestalten hatte erklären hören, seit er ihn an eine leere Mauer, an der sie rasteten, mit Rötel in schnellen großen Strichen lebensgroße Figuren hatte hinzeichnen sehen, hielt er seinen Kameraden für einen Liebling Gottes und beinahe für einen Zauberer. Daß er auch ein Liebling der Frauen war und manche mit einem Blick und Lächeln sich zu eigen machte, sah Robert ebenfalls; es gefiel ihm weniger, aber bewundern mußte er es doch.

Ihre Fahrt wurde einst auf unerwartete Weise unterbrochen. Eines Tages kamen sie in die Nähe eines Dorfes, da empfing sie ein Häufchen Bauern, mit Knütteln, Stangen und Dreschflegeln bewaffnet, und der Anführer schrie ihnen von weitem zu, sie sollten alsbald umkehren und sich auf Nimmerwiedersehen davonmachen, dem Teufel zu, sonst würden sie totgeschlagen. Während Goldmund stehenblieb und zu wissen begehrte, was denn los sei, traf ihn schon ein Steinwurf an die Brust. Robert, nach dem er sich umblickte, war davongerannt wie besessen. Drohend rückten die Bauern vor, und es blieb Goldmund nichts übrig, als dem Fliehenden langsamer zu folgen. Zitternd erwartete ihn Robert unter einem Kreuz mit einem Heiland daran, das mitten im Felde stand.

»Heldenmäßig bist du gelaufen«, lachte Goldmund. »Aber was haben denn diese Mistfinken in ihren Dickköpfen? Ist denn Krieg? Stellen bewaffnete Wachen vor ihr Nest und wollen niemand hereinlassen! Nimmt mich wunder, was dahintersteckt.«

Sie wußten es beide nicht. Erst am folgenden Morgen machten sie in einem alleinstehenden Bauernhof gewisse Erfahrungen und begannen das Geheimnis zu erraten. Dieser Hof, aus Hütte, Stall und Scheune bestehend und von einer grünen Hofstatt mit hohem Gras und vielen Obstbäumen umgeben, lag merkwürdig still und verschlafen: keine Menschenstimme, kein Tritt, kein Kindergeschrei, kein Sensendengeln, nichts war zu hören; in der Hofstatt stand eine Kuh im Gras und brüllte, und man sah ihr an, daß es Zeit war, sie zu melken. Sie traten vors Haus, klopften an die Tür, bekamen keine Antwort, gingen zum Stall, der stand offen und leer, gingen zur Scheune, auf deren Strohdach das lichtgrüne Moos in der Sonne gleißte, fanden auch da keine Seele. Sie kehrten zum Hause zurück, verwundert und betreten über die Verödung dieser Heimstatt, sie schlugen nochmals mit Fäusten gegen die Tür, wieder kam keine Antwort. Goldmund versuchte zu öffnen und fand zu seinem Erstaunen die Türe unverschlossen, er drückte sie nach innen und trat in die finstere Stube. »Grüß Gott«, rief er laut, und »Niemand daheim?« aber es blieb alles still. Robert war vor der Tür geblieben. Neugierig drang Goldmund vor. Es roch schlecht in der Hütte, es roch sonderbar und widerlich. Die Feuerstelle war voll Asche, er blies hinein, auf dem Grunde glommen noch Funken in verkohlten Scheiten. Da sah er in der Dämmerung im Hintergrund des Herdplatzes jemand sitzen; jemand saß da in einem Sessel und schlief, es schien eine alte Frau zu sein. Rufen half nichts, das Haus schien verzaubert. Freundlich tippte er der sitzenden Frau auf die Schulter, sie bewegte sich nicht, und jetzt sah er, daß sie mitten in einem Spinnennetze saß, dessen Fäden zum Teil an ihrem Haar und ihren Knien befestigt waren. »Die ist tot«, dachte er mit einem leichten Grausen, und um sich zu überzeugen, machte er sich am Feuer zu schaffen, schürte und blies, bis er Flamme hatte und einen langen Span entzünden könnte. Mit dem leuchtete er der Sitzenden ins Gesicht. Er sah unter grauem Haar ein blauschwarzes Leichengesicht, das eine Auge stand offen und blinkte leer und bleiern. Das Weib war hier gestorben, im Stuhl sitzend. Nun ja, man konnte ihr nicht helfen.

Mit dem brennenden Span in der Hand stöberte Goldmund weiter und fand im selben Raum, auf der Schwelle zu einer hinteren Stube, noch eine Leiche hegen, einen Knaben von vielleicht acht oder neun Jahren, mit verschwollenem, entstelltem Gesicht, im bloßen Hemde. Er lag mit dem Bauch auf der Balkenschwelle, mit beiden Händen machte er feste grimmige Fäustchen. Das ist der zweite, dachte Goldmund; wie in einem häßlichen Traum ging er weiter, in die Hinterstube, dort standen die Läden offen, und der Tag schien hell herein. Vorsichtig löschte er seine Leuchte aus und zertrat die Funken auf dem Boden.

In der Hinterstube standen drei Bettladen. Eine war leer, unterm derben grauen Leilach sah das Stroh heraus. Im zweiten lag wieder einer, ein bärtiger Mann, starr auf dem Rücken mit zurückgelegtem Kopf und emporstehendem Kinn und Bart; es mußte der Bauer sein. Sein eingesunkenes Gesicht schimmerte fahl in unvertrauten Todesfarben, ein Arm hing bis zum Boden herab, dort lag umgeworfen und ausgelaufen ein irdener Wasserkrug, das zerronnene Wasser war vom Boden noch nicht ganz verschluckt, es war gegen eine Mulde gelaufen, in der stand noch eine kleine Lache. Im zweiten Bett aber lag, in Leintuch und Kotzen ganz eingegraben und verwickelt, eine starke große Frau, ihr Gesicht war ins Bett eingedrückt, derbes strohblondes Haar schimmerte im hellen Licht. Bei ihr und mit ihr verschlungen lag, wie im zerwühlten Leintuch gefangen und erdrosselt, ein halbwüchsiges Mädchen, strohblond auch sie, graublaue Flecken im Totengesicht.

Von einem Toten zum andern ging Goldmunds Blick. In dem Mädchengesicht, obwohl es schon sehr entstellt war, stand noch etwas von hilflosem Todesgrauen. Im Nacken und Haar der Mutter, die sich so tief und wild ins Lager eingewühlt hatte, war Wut, Angst und leidenschaftliches Fliehenwollen zu lesen. Namentlich das unbändige Haar konnte sich gar nicht ins Sterben ergeben. Im Antlitz des Bauern war Trotz und verbissener Schmerz; er war, so schien es, schwer, aber mannhaft gestorben, sein bärtiges Gesicht ragte steil und starr in die Luft wie das eines auf der Walstatt hingestreckten Kriegers. Diese still und trotzig gereckte, ein wenig verbissene Haltung war schön; es war wohl kein geringer und feiger Mensch gewesen, der den Tod so empfing. Rührend aber war der kleine Leichnam des Knaben, der bäuchlings über der Schwelle lag; sein Gesicht sagte nichts, aber seine Lage über der Schwelle samt den festgeballten Kinderfäusten verkündete viel: ratloses Leid, hilfloses Sichwehren gegen unerhörte Schmerzen. Dicht neben seinem Kopf war in die Tür ein Katzenloch gesägt. Aufmerksam betrachtete Goldmund alles. Es sah ohne Zweifel in dieser Hütte ziemlich scheußlich aus, und der Leichengeruch war wüst; dennoch hatte für Goldmund das alles eine tiefe Anziehungskraft, es war alles voll Größe und Schicksal, so wahr, so unverlogen, irgend etwas daran gewann seine Liebe und drang ihm in die Seele.

Mittlerweile fing draußen Robert an zu rufen, ungeduldig und ängstlich. Goldmund hatte Robert gern, dennoch dachte er in diesem Augenblick, wie sehr doch eigentlich ein lebender Mensch in seiner Angst, seiner Neugierde, seiner ganzen Kinderei kleinlich und gering sei im Vergleich mit den Toten. Er gab Robert keine Antwort; er gab sich ganz dem Anblick der Toten hin, mit jener sonderbaren Mischung von herzlichem Mitfühlen und kalter Beobachtung, wie die Künstler sie haben. Er sah sich die liegenden Gestalten und auch die sitzende genau an, die Köpfe, die Hände, die Bewegung, in der sie erstarrt waren. Wie still war es in dieser verzauberten Hütte! Wie roch es sonderbar und schrecklich! Wie war diese kleine Menschenheimat, in der noch ein Rest von Herdfeuer glomm, gespenstisch und traurig, von Leichen bewohnt, ganz von Tod erfüllt und durchzogen! Bald würde diesen stillen Gestalten das Fleisch von den Wangen fallen, und die Ratten würden ihre Finger fressen. Was andere Menschen im Sarge und im Grab, in gutem Versteck und unsichtbar vollzogen, das Letzte und Armseligste, das Zerfallen und Verwesen, das vollzogen diese fünf hier zu Hause in ihren Stuben, bei Tageslicht, bei unverschlossener Türe, unbekümmert, schamlos, schutzlos. Goldmund hatte schon manchen Toten gesehen, aber solch einem Bilde von der unerbittlichen Arbeit des Todes war er noch nie begegnet. Tief nahm er es in sich auf.

Endlich störte ihn Roberts Schreien vor der Haustür, er ging hinaus. Ängstlich sah der Kamerad ihn an.

»Was ist?« fragte er leise, die Stimme voll Furcht. »Ist denn niemand im Haus? Oh, und was machst du für Augen. Sprich doch!«

Goldmund maß ihn mit kühlem Blick. »Geh hinein und sieh dir's an, es ist ein komisches Bauernhaus. Nachher melken wir die schöne Kuh drüben. Vorwärts!«

Unentschlossen betrat Robert die Hütte, steuerte auf die Herdstatt los, entdeckte die sitzende Alte und stieß, als er merkte, sie sei tot, einen lauten Schrei aus. Eilig kam er zurück, mit aufgerissenen Augen.

»Um Gottes willen! Da sitzt ein totes Weib am Herd. Was ist das? Warum ist niemand bei ihr? Warum begräbt man sie nicht? O Gott, es riecht ja schon.«

Goldmund lächelte.

»Du bist ein großer Held, Robert; aber du bist gar zu rasch wieder umgekehrt. Eine tote alte Frau ist ja, wenn sie so im Stuhl sitzt, ein merkwürdiger Anblick; aber du kannst, wenn du ein paar Schritte weitergehst, noch viel Merkwürdigeres sehen. Es sind fünf, Robert. In den Betten liegen drei, und ein toter Bub liegt mitten auf der Schwelle. Alle sind tot. Die ganze Familie liegt und ist tot, das Haus ist ausgestorben. Darum hat auch niemand die Kuh gemolken.«

Entsetzt starrte der andere ihn an, dann rief er plötzlich mit erstickter Stimme: »Oh, jetzt versteh ich auch die Bauern, die uns gestern nicht in ihr Dorf haben einlassen wollen. O Gott, jetzt wird mir alles klar. Es ist die Pest! Es ist bei meiner armen Seele die Pest, Goldmund! Und du bist so lange da drinnen gewesen, und womöglich hast du die Toten angerührt! Weg, du, komm mir nicht näher, du bist sicher vergiftet. Es tut mir leid, Goldmund, aber ich muß fort, ich kann nicht bei dir bleiben.«

Er wollte schon laufen, wurde aber am Pilgerrock festgehalten. Goldmund sah ihn streng mit stummem Tadel an und hielt ihn, der sich sträubte und stemmte, unerbittlich fest. »Mein kleiner Junge«, sagte er mit freundlich-spöttischem Ton, »du bist klüger, als man meinen sollte, du wirst wahrscheinlich recht haben. Nun, das werden wir im nächsten Hof oder Dorf erfahren. Wahrscheinlich ist die Pest in dieser Gegend. Wir werden sehen, ob wir wohlbehalten wieder davonkommen. Aber laufen lassen, kleiner Robert, kann ich dich nicht. Schau, ich bin ein barmherziger Mensch, mein Herz ist viel zu weich, und wenn ich denke, du könntest dich nun da drinnen angesteckt haben, und ich ließe dich fortlaufen, und du legtest dich da irgendwo im Feld zum Sterben hin, so ganz allein, und kein Mensch würde dir die Augen zutun und keiner dir ein Grab machen und etwas Erde auf dich werfen – nein, lieber Freund, da würgt mich der Jammer. Also paß auf und merke dir sehr gut, was ich sage, ich sage es nicht zweimal: wir zwei sind in der gleichen Gefahr, es kann dich oder mich treffen. Wir bleiben also beisammen, und wir werden beide miteinander entweder umkommen oder dieser verfluchten Pest entrinnen. Wenn du krank wirst und stirbst, so wirst du von mir begraben, das soll gelten. Und wenn ich es bin, der sterben muß, dann tu wie du magst, begrabe mich oder drücke dich davon, mir ist es einerlei. Vorher aber, Teurer, wird nicht ausgekniffen, merke dir das! Wir werden einer den andern nötig haben. Und jetzt halte das Maul, ich will nichts hören, und suche irgendwo im Stall einen Eimer, daß wir endlich die Kuh melken können.«

So geschah es, und vom Augenblick an war es Goldmund, der befahl, und Robert, der gehorchte, und es ging beiden gut dabei. Robert machte keinen Versuch mehr zu entfliehen. Er sagte nur begütigend: »Ich hatte einen Augenblick Angst vor dir. Dein Gesicht gefiel mir nicht, als du aus dem Totenhaus zurückkamst. Ich glaubte, du hättest dir die Pest geholt. Aber wenn es auch nicht die Pest ist, dein Gesicht ist anders geworden. War es so schlimm, was du dort drinnen gesehen hast?«

»Es war nicht schlimm«, sagte Goldmund zögernd. »Ich habe dort drinnen nichts gesehen als das, was mir und dir und allen bevorsteht, auch wenn wir nicht die Pest bekommen.«

Im Weiterwandern stießen sie bald überall auf den Schwarzen Tod, der im Land regierte. Manche Dörfer ließen keinen Fremden ein, in anderen konnten sie ungehindert durch alle Gassen gehen. Viele Höfe standen verlassen, viele unbeerdigte Tote verwesten auf dem Felde oder in den Stuben. In den Ställen brüllten ungemolken oder hungernd die Kühe, oder das Vieh lief wild im Felde. Sie molken und fütterten manche Kuh und Ziege, sie schlachteten und brieten am Waldrand manches Zicklein und Ferkel und tranken Wein und Most aus manchem herrenlos gewordenen Keller. Sie hatten ein gutes Leben, es herrschte Überfluß. Aber er schmeckte ihnen nur halb. Robert lebte in immerwährender Angst vor der Seuche, und beim Anblick der Leichen wurde ihm übel, oft war er ganz verstört von Furcht; immer wieder glaubte er sich angesteckt, hielt Kopf und Hände lang in den Rauch ihrer Lagerfeuer (das galt für heilsam), tastete sogar im Schlaf an sich herum, ob nicht an den Beinen, an den Armen, unter den Achseln die Beulen kämen.

Goldmund schalt ihn oft, oft spottete er ihn aus. Er teilte seine Furcht nicht, und auch nicht seinen Ekel; er ging gespannt und düster durch das Todesland, furchtbar angezogen vom Anblick des großen Sterbens, die Seele voll vom großen Herbst, das Herz schwer vom Lied der mähenden Sense. Manchmal erschien ihm das Bild der ewigen Mutter wieder, ein bleiches Riesengesicht mit Medusenaugen, mit einem schweren Lächeln voll Leid und Tod.

Sie kamen einst zu einer kleinen Stadt; sie war schwer befestigt, vom Tor lief ein Wehrgang in Haushöhe um die ganze Stadtmauer, aber kein Wächter stand oben und keiner im offenstehenden Tor. Robert weigerte sich, die Stadt zu betreten, und beschwor auch seinen Kameraden, es nicht zu tun. Indem hörten sie eine Glocke läuten, es kam zum Tor ein Priester heraus, ein Kreuz in den Händen, und hinter ihm kamen drei Lastwagen gefahren, zwei mit Pferden bespannt und einer mit einem Paar Ochsen, und die Wagen waren bis oben angefüllt mit Leichen. Ein paar Knechte in sonderbaren Mänteln, die Gesichter tief in Kapuzen verborgen, liefen nebenher und trieben die Tiere an.

Robert verlor sich mit bleichem Gesicht, Goldmund folgte den Totenwagen in kleiner Entfernung, es ging ein paar hundert Schritte weit, und da war kein Friedhof, sondern mitten in der leeren Heide war ein Loch gegraben, nur drei Spatenstiche tief, aber groß wie ein Saal. Goldmund stand und sah zu, wie die Knechte mit Stangen und Bootshaken die Toten von den Wagen rissen und sie zu Haufen in das große Loch stießen, wie der Priester murmelnd sein Kreuz darüber schwang und davonging, wie die Knechte auf allen Seiten des flachen Grabes große Feuer anzündeten und schweigend in die Stadt zurückliefen, ohne daß jemand darangegangen wäre, die Grube zuzuwerfen. Er schaute hinab, es mochten fünfzig oder mehr da drinnen liegen, übereinandergeschmissen, viele nackt. Starr und klagend ragte hier und dort ein Arm oder ein Bein in die Luft, ein Hemde flatterte schwach im Wind.

Als er zurückkam, flehte Robert ihn beinah auf Knien an, sie möchten doch eiligst weiterziehen. Er hatte wohl Grund zu seinem Flehen, er sah in Goldmunds abwesendem Blick diese ihm nun schon allzu bekannte Versunkenheit und Starre, dies Hingewendetsein zum Schrecklichen, diese furchtbare Neugierde. Es gelang ihm nicht, seinen Freund zurückzuhalten. Allein ging Goldmund in die Stadt. Er ging durchs unbewachte Tor, und indem er seinen Schritt vom Pflaster widerhallen hörte, standen in seinem Gedächtnis viele Städtchen und viele Tore auf, durch welche er so gewandert war, und er erinnerte sich, wie da Kindergeschrei, Knabenspiel, Weibergezänk, Schmiedegehämmer auf schönklingendem Amboß, Wagengerassel und viele andere Klänge ihn empfangen hatten, feine und derbe Geräusche, deren Durcheinander wie zu einem Netz geflochten das Vielerlei menschlicher Arbeit, Freude, Verrichtung und Geselligkeit verkündet hatte. Hier nun, in diesem hohlen Tor und dieser leeren Gasse, klang nichts, lachte nichts, schrie nichts, alles lag erstarrt in Todesschweigen, worin die plaudernde Melodie eines laufenden Brunnens allzu laut und beinah lärmend klang. Hinter einem offenen Fenster war ein Bäcker inmitten seiner Laibe und Wecken zu sehen; Goldmund deutete auf einen Wecken, und der Bäcker reichte ihn vorsichtig auf langer Backschaufel heraus, wartete darauf, daß Goldmund ihm Geld auf die Schaufel lege, und schloß sein Fensterchen böse, aber ohne Gezeter, als der Fremde in den Wecken biß und weiterging, ohne zu zahlen. Vor den Fenstern eines hübschen Hauses stand eine Reihe von tönernen Töpfen, in denen hatten sonst Blumen geblüht, jetzt hingen verdorrte Blätter über die leeren Scherben herab. Aus einem anderen Hause drang Schluchzen und Jammergeschrei von Kinderstimmen. Aber in der nächsten Gasse sah Goldmund oben hinter einem Fenster ein hübsches Mädchen stehen und die Haare kämmen; er schaute ihr zu, bis sie seinen Blick fühlte und herabblickte, errötend sah sie ihn an, und als er ihr freundlich zulächelte, lief langsam und schwach auch über ihr errötetes Gesicht ein Lächeln.

»Bald fertiggekämmt?« rief er hinauf. Lächelnd beugte sie das lichte Gesicht aus der Fensterhöhle.

»Noch nicht krank?« fragte er, und sie schüttelte den Kopf. »Dann komm mit mir aus dieser Totenstadt hinaus, wir wollen in den Wald gehen und ein gutes Leben haben.«

Sie machte fragende Augen.

»Besinn dich nicht lange, es ist mir Ernst«, rief Goldmund. »Bist du bei Vater und Mutter, oder bei fremden Leuten im Dienst? – Bei Fremden also. Dann komm, liebes Kind; laß die alten Leute sterben, wir sind jung und gesund und wollen es noch eine Weile gut haben. Komm, Braunhärchen, es ist mein Ernst.«

Prüfend sah sie ihn an, zögernd, erstaunt. Er ging langsam weiter, schlenderte durch eine Gasse ohne Menschen und durch eine zweite, und kehrte langsam zurück. Da stand das Mädchen noch immer am Fenster, vorgebeugt, und freute sich, daß er wiederkam. Sie winkte ihm zu, langsam ging er weiter, bald kam sie nach, noch vor dem Tore holte sie ihn ein, ein kleines Bündel in der Hand, ein rotes Tuch um den Kopf.

»Wie heißt du denn?« fragte er sie.

»Lene. Ich komme mit dir. Oh, es ist so schlimm hier in der Stadt, alle sterben. Nur fort, nur fort!«

In der Nähe des Tores kauerte Robert mißgelaunt am Boden. Er sprang auf, als Goldmund kam, und riß die Augen auf, als er das Mädchen sah. Diesmal ergab er sich nicht sogleich, er lamentierte und machte Szenen. Daß einer da aus dem verfluchten Pestloch eine Person mit herausbringe und daß man ihm zumuten wolle, ihre Gesellschaft zu dulden, das sei mehr als verrückt, es sei Gott versucht, und er weigere sich, er gehe nicht mehr mit, seine Geduld sei jetzt zu Ende.

Goldmund ließ ihn fluchen und klagen, bis er stiller wurde. »So«, sagte er, »du hast uns nun lang genug angesungen. Du wirst jetzt mit uns gehen und wirst dich freuen, daß wir eine so hübsche Gesellschaft haben. Sie heißt Lene, und sie bleibt bei mir. Aber nun will ich dir auch eine Freude machen, Robert, höre: wir wollen jetzt eine Weile in Ruhe und Gesundheit leben und der Pestilenz aus dem Wege gehen. Wir suchen uns einen hübschen Ort mit einer leeren Hütte, oder bauen selber eine, da will ich mit Lene Hausherr und Hausfrau sein, und du bist unser Freund und lebst mit uns. Wir wollen es jetzt ein bißchen hübsch und freundlich haben. Einverstanden?«

O ja, Robert war sehr einverstanden. Wenn man nicht von ihm verlange, daß er der Lene die Hand gebe oder ihre Kleider berühre – – –

»Nein«, sagte Goldmund, »das wird nicht verlangt. Es wird dir sogar aufs strengste verboten, die Lene mit einem Finger anzurühren. Laß dir das nicht einfallen!«

Sie marschierten zu dreien weiter, schweigend zuerst, dann allmählich fing das Mädchen zu sprechen an, wie froh sie sei, wieder Himmel und Bäume und Wiesen zu sehen, es sei so grausig gewesen da drinnen in der Peststadt, nicht zu sagen. Und sie fing an zu erzählen und ihr Gemüt von den traurigen und scheußlichen Bildern zu entladen, die sie hatte sehen müssen. Manche Geschichten erzählte sie, üble Geschichten, die kleine Stadt mußte eine Hölle sein. Von den beiden Ärzten sei einer gestorben, der andere gehe bloß zu den Reichen, und in vielen Häusern lägen die Toten und verfaulten, weil niemand sie holte, in anderen Häusern aber hätten die Totenknechte gestohlen, geludert und gehurt, und oft hätten sie mit den Leichen auch die noch lebenden Kranken aus den Betten gezerrt und auf ihre Schinderkarren geworfen und sie mit den Toten zusammen in die Gruben geschmissen. Vielerlei Schlimmes hatte sie zu erzählen; niemand unterbrach sie, Robert hörte entsetzt und lüstern zu, und Goldmund blieb still und gleichmütig, er ließ das Grausige sich entleeren und sagte nichts dazu. Was sollte man da auch sagen? Schließlich wurde Lene müde, und der Strom versiegte, die Worte gingen ihr aus. Da begann Goldmund langsamer zu gehen und fing ganz leise zu singen an, ein Lied mit vielen Strophen, und mit jeder Strophe wurde seine Stimme voller; Lene fing zu lächeln an, und Robert hörte beglückt und tief verwundert zu – nie hatte er Goldmund bisher singen hören. Alles konnte er, dieser Goldmund. Da ging er nun und sang, der wunderliche Mensch! Er sang kunstvoll und rein, aber mit gedämpfter Stimme. Und Lene summte schon beim zweiten Lied leise mit und fiel bald mit voller Stimme ein. Es ging gegen Abend, fern hinter der Heide standen schwarze Wälder und hinter ihnen blaue niedere Berge, die wie von innen her immer blauer wurden. Bald fröhlich, bald feierlich klang im Takt der Schritte ihr Gesang.

»Du bist heut so vergnügt«, sagte Robert.

»Ja, ich bin vergnügt, natürlich bin ich heute vergnügt, ich habe ja eine so hübsche Liebste gefunden. Ach Lene, es ist schon gut, daß dich die Totenknechte für mich übriggelassen haben. Morgen werden wir ein kleines Heimatchen finden, da wollen wir es gut haben und froh sein, daß wir Fleisch und Knochen noch hübsch beisammen haben. Lene, hast du schon einmal im Herbst in einem Walde den dicken Pilz gesehen, den die Schnecken so gern mögen und den man essen kann?«

»O ja«, lachte sie, »viele Male hab ich ihn gesehen.«

»Gerade so braun wie er ist dein Haar, Lene. Es riecht auch so gut. Wollen wir noch eins singen? Oder hast du etwa Hunger? In meinem Ranzen ist noch etwas Gutes.«

Am andern Tag fanden sie, was sie gesucht hatten. In einem kleinen Birkengehölz stand eine Hütte aus rohen Stämmen, vielleicht von Holzfällern oder von Jägern einmal gebaut. Sie stand leer, die Tür ließ sich aufbrechen, und auch Robert fand, daß es eine gute Hütte und eine gesunde Gegend sei. Unterwegs waren sie Ziegen begegnet, die ohne Hirt sich herumtrieben, und hatten eine schöne Geiß mit sich genommen.

»Nun, Robert«, sagte Goldmund, »wenn du auch kein Zimmermann bist, so warst du doch einmal ein Schreiner. Wir wollen hier wohnen, du mußt eine Zwischenwand in unser Schloß bauen, daß wir zwei Stuben haben, eine für Lene und mich, eine für dich und die Geiß. Zu essen haben wir nicht mehr viel, wir müssen heut mit der Geißmilch zufrieden sein, ob es viel oder wenig sei. Du mußt also die Wand bauen, und wir beide rüsten das Nachtlager für uns alle. Morgen geh ich dann nach Futter aus.«

Alle gingen sogleich an die Arbeit. Goldmund und Lene gingen nach Streu, nach Farnkraut, nach Moos für Schlaflager, und Robert zog sein Messer auf einem Feldkiesel ab, um Stämmchen für die Wand zu schneiden. Doch konnte er damit nicht an einem Tage fertig werden und ging am Abend im Freien schlafen. Goldmund fand an Lene eine süße Gespielin, scheu und unerfahren, aber voll Liebe. Sanft nahm er sie an seine Brust und wachte lange und hörte ihr Herz schlagen, als sie längst ermüdet und gesättigt eingeschlafen war. Er roch an ihrem braunen Haar und schmiegte sich an sie und dachte zugleich an jene große flache Grube, in welche die vermummten Teufel all die Wagen voll Leichen geworfen hatten. Schön war das Leben, schön und flüchtig war das Glück, schön und rasch verwelkt die Jugend.

Sehr hübsch wurde die Zwischenwand der Hütte, schließlich arbeiteten sie alle drei daran. Robert wollte zeigen, was er könne, und sprach eifrig darüber, was er alles bauen wollte, wenn er nur eine Hobelbank und Werkzeug und Winkeleisen und Nägel hätte. Da er nichts hatte als sein Messer und seine Hände, begnügte er sich damit, ein Dutzend Birkenstämmchen zu schneiden und aus ihnen einen festen derben Zaun in den Hüttenboden zu bauen. Die Zwischenräume aber, so verfügte er, mußten mit Flechtwerk aus Ginster zugebaut werden. Das brauchte Zeit, aber es wurde fröhlich und schön, alle halfen mit. Zwischenein mußte Lene auf die Beerensuche gehen und nach der Ziege sehen, und Goldmund suchte in kleinen Streifzügen die Gegend ab, fahndete nach Nahrung, erkundete die Nachbarschaft und brachte dies und jenes mit. Weit und breit waren keine Menschen in der Nähe, damit war namentlich Robert sehr einverstanden, man war sicher vor Ansteckung sowohl wie vor Feindseligkeiten; aber es hatte den Nachteil, daß sich sehr wenig zu essen fand. Es gab eine verlassene Bauernhütte in der Nähe, diesmal ohne Tote darin, so daß Goldmund vorschlug, sie zum Quartier zu wählen statt ihrer Blockhütte, aber Robert weigerte sich schaudernd und sah es ungern, daß Goldmund das leere Haus betrat, und jedes Stück, das jener von dort herüberbrachte, mußte erst geräuchert und gewaschen werden, eh Robert es anfaßte. Viel war es nicht, was Goldmund drüben fand, doch aber zwei Stabellen, einen Milcheimer, einige Stück irdenes Geschirr, ein Beil, und eines Tages fing er zwei verflogene Hühner im Felde. Lene war verliebt und glücklich, und allen dreien machte es Spaß, an ihrer kleinen Heimat zu bauen und sie jeden Tag ein bißchen hübscher zu machen. An Brot fehlte es, dafür stellten sie noch eine Ziege ein, und ein Äckerchen mit Rüben wurde auch gefunden. Tag um Tag verging, die geflochtene Wand war fertig, die Lagerstätten wurden verbessert und ein Herd gebaut. Der Bach war nicht weit, das Wasser war hell und süß. Oft wurde zur Arbeit gesungen. Eines Tages, als sie gemeinsam ihre Milch tranken und ihr häusliches Leben rühmten, sagte Lene plötzlich, mit träumerischem Ton: »Wie wird es aber, wenn dann der Winter kommt?«

Niemand gab Antwort. Robert lachte, Goldmund blickte sonderbar vor sich hin. Allmählich merkte Lene, daß niemand an den Winter dachte, daß niemand daran dachte, allen Ernstes so lange Zeit am selben Ort zu bleiben, daß die Heimat keine Heimat, daß sie unter Landfahrern war. Sie ließ den Kopf hängen.

Da sagte Goldmund, spielerisch und ermunternd wie zu einem Kind: »Du bist eine Bauerntochter, Lene, die sorgen weit voraus. Hab keine Angst, du wirst schon wieder nach Hause finden, wenn diese Pestzeit vorüber ist, sie wird ja nicht ewig dauern. Dann gehst du zu deinen Eltern oder wen du sonst hast, oder gehst wieder in die Stadt in einen Dienst und hast dein Brot. Jetzt aber ist noch Sommer, und überall in der Gegend ist das Sterben, hier aber ist es hübsch, und es geht uns gut. Darum bleiben wir hier, so lang oder so kurz als es uns gefällt.«

»Und nachher?« rief Lene heftig. »Nachher ist alles aus? Und du gehst fort? Und ich?«

Goldmund haschte ihren Zopf und zog sachte daran.

»Kleines dummes Kind«, sagte er, »hast du die Totenknechte schon vergessen, und die ausgestorbenen Häuser, und das große Loch vor dem Tor, wo die Feuer brennen? Du sollst froh sein, daß du nicht dort in dem Loch liegst und der Regen auf dein Hemdchen regnet. Daran sollst du denken, daß du entronnen bist, daß du noch das liebe Leben in deinen Gliedern hast und noch lachen und singen kannst.«

Sie war noch nicht zufrieden.

»Ich will aber nicht wieder fort«, klagte sie, »und will dich nicht fortlassen, nein. Man kann doch nicht froh sein, wenn man weiß, daß schon bald alles wieder aus und vorbei sein soll!«

Nochmals gab Goldmund Antwort, freundlich, aber mit einem verborgenen Klang von Drohung in der Stimme: »Darüber, kleine Lene, haben sich schon alle Weisen und Heiligen den Kopf zerbrochen. Es gibt kein Glück, das lange dauert. Wenn dir aber das, was wir jetzt haben, nicht gut genug ist und nicht mehr Freude macht, dann zünde ich noch in dieser Stunde die Hütte an, und jeder von uns geht seiner Wege. Laß es gut sein, Lene, es ist genug gesprochen.«

Dabei blieb es, und sie ergab sich, aber ein Schatten war auf ihre Freude gefallen.

Vierzehntes Kapitel

Noch eh der Sommer ganz verblüht war, fand das Hüttenleben sein Ende, anders als sie gedacht hatten. Es kam ein Tag, da trieb sich Goldmund lange mit einer Vogelschleuder in der Gegend herum in der Hoffnung, etwa ein Rebhuhn oder sonst ein Wild zu erwischen, die Nahrung war ziemlich karg geworden. Lene war in der Nähe und sammelte Beeren, manchmal strich er an ihrem Revier vorüber und sah überm Gesträuch ihren Kopf auf dem braunen Hals aus dem Leinenhemd ragen oder hörte sie singen; einmal naschte er ein paar Beeren bei ihr, dann streifte er weiter und sah sie eine Weile nicht mehr. Er dachte an sie, halb zärtlich, halb ärgerlich, sie hatte wieder einmal vom Herbst und von der Zukunft gesprochen, und daß sie schwanger zu sein glaube, und daß sie ihn nicht fortlasse. Nun geht es bald zu Ende, dachte er, bald wird es genug sein, dann wandere ich allein und lasse auch Robert zurück, ich will sehen, daß ich bis gegen den Winter wieder in die große Stadt zu Meister Niklaus komme, dann bleibe ich den Winter dort, und im nächsten Frühling kauf ich mir neue gute Schuhe und ziehe los und schlage mich durch, bis ich in unser Kloster nach Mariabronn komme und Narziß begrüßen kann, es werden wohl zehn Jahre sein, daß ich ihn nicht gesehen habe. Ich muß ihn wiedersehen, sei es auch nur für einen Tag oder zwei.

Ein unvertrauter Laut weckte ihn aus seinen Gedanken, und plötzlich ward ihm bewußt, wie er mit allen Gedanken und Wünschen schon weit fort und nicht mehr hier gewesen war. Er horchte scharf, jener bange Laut wiederholte sich, er glaubte Lenes Stimme zu erkennen und folgte ihr, obwohl es ihm nicht gefiel, daß sie ihm rufe. Bald war er nah genug – ja, das war Lenes Stimme, und sie schrie wie in großer Not seinen Namen. Er lief rascher, noch immer etwas geärgert, bei ihren wiederholten Schreien aber nahmen Mitleid und Besorgnis in ihm überhand. Als er sie endlich sehen konnte, saß oder kniete sie in der Heide, mit ganz zerrissenem Hemde, und rang schreiend mit einem Mann, der sie vergewaltigen wollte. In langen Sprüngen kam Goldmund heran, und was an Ärger, Unruhe und Trauer in ihm gewesen, entlud sich m einer rasenden Wut gegen den fremden Attentäter. Er überraschte ihn, wie er Lene vollends zu Boden drücken wollte, ihre nackte Brust blutete, gierig hielt der Fremde sie umklammert. Goldmund warf sich auf ihn und preßte ihm mit wütenden Händen die Kehle zusammen, die sich hager und sehnig anfühlte und mit wolligem Bart bewachsen war. Mit Wonne drückte Goldmund zu, bis der andere das Mädchen losließ und ihm erschlafft in den Händen hing; weiter würgend schleifte er den Kraftlosen und halb Entseelten ein Stück am Boden fort bis zu einigen grauen Felsrippen, die da nackt aus der Erde standen. Hier hob er den Besiegten, so schwer er war, zweimal, dreimal hoch und ließ seinen Kopf auf die kantigen Felsen schlagen. Mit gebrochenem Genick warf er den Körper weg, sein Zorn war noch nicht gesättigt, er hätte ihn noch weiter mißhandeln mögen.

Strahlend sah Lene zu. Ihre Brust blutete, und sie zitterte noch am ganzen Leibe und schnappte nach Luft, aber sie hatte sich alsbald aufgerafft und sah mit einem entrückten Blick voll Wollust und Bewunderung zu, wie ihr starker Geliebter den Eindringling dahinschleppte, wie er ihn würgte, wie er ihm das Genick brach und seinen Leichnam von sich schmiß. Wie eine totgeschlagene Schlange lag der Tote da, schlaff und verrenkt, sein graues Gesicht mit wüstem Bart und dünnen ärmlichen Haaren hing ihm jämmerlich hintenüber. Jubelnd richtete Lene sich auf und fiel Goldmund ans Herz, doch erbleichte sie plötzlich, der Schrecken lag ihr noch in den Gliedern, es wurde ihr übel, und sie sank erschöpft ins Blaubeerenkraut. Bald aber konnte sie mit Goldmund zur Hütte gehen. Goldmund wusch ihr die Brust, sie war zerkratzt, und die eine Brust hatte eine Bißwunde von den Zähnen des Unholds. Robert regte sich sehr über das Abenteuer auf, hitzig fragte er nach den Einzelheiten des Kampfes.

»Das Genick gebrochen, sagst du? Großartig! Goldmund, man muß dich fürchten.«

Aber Goldmund mochte nicht weiter davon reden, er war jetzt kühl geworden, und im Weggehen von dem Toten hatte er an den armen Schnapphahn Viktor denken müssen, und daß es nun der zweite Mensch sei, der von seiner Hand gestorben war. Um Robert loszuwerden, sagte er: »Nun könntest aber auch du etwas tun. Geh hinüber und schau, daß du die Leiche wegbringst. Wenn es zu schwer geht, ein Loch für sie zu machen, dann muß er in den Schilfsee hinübergetragen oder gut mit Steinen und Erde bedeckt werden.« Aber dies Ansinnen wurde abgelehnt, mit Leichen wollte Robert nichts zu tun haben, man wisse ja bei keiner, ob nicht das Pestgift in ihr stecke.

Lene hatte sich in der Hütte niedergelegt. Der Biß in der Brust schmerzte, doch fühlte sie sich bald besser, stand wieder auf, fachte Feuer an und kochte die Abendmilch; sie war sehr gut gelaunt, wurde aber früh zu Bett geschickt. Sie gehorchte wie ein Lamm, so sehr bewunderte sie Goldmund. Dieser war schweigsam und finster; Robert kannte das und ließ ihn in Ruhe. Als Goldmund spät seine Streu aufsuchte, bückte er sich horchend zu Lene hinab. Sie schlief. Er fühlte sich unruhig, dachte an Viktor, fühlte Bangigkeit und Wandertrieb; er spürte, daß es zu Ende sei mit dem Heimatspielen. Eines aber machte ihn besonders nachdenklich. Er hatte den Blick aufgefangen, mit dem Lene ihn ansah, als er den toten Kerl geschüttelt und weggeworfen hatte. Ein merkwürdiger Blick war das gewesen, er wußte, daß er ihn nie vergessen würde: aus aufgerissenen, entsetzten und entzückten Augen hatte da ein Stolz, ein Triumph gestrahlt, eine tiefe leidenschaftliche Mitlust am Rächen und Töten, wie er sie in einem Frauengesicht nie gesehen und nie geahnt hatte. Wäre dieser Blick nicht gewesen, dachte er, so würde er vielleicht Lenes Gesicht später einmal, mit den Jahren, vergessen haben. Dieser Blick hatte ihr Bauernmädchengesicht groß, schön und schrecklich gemacht. Seit Monaten hatten seine Augen nichts erlebt, das ihn mit dem Wunsch durchzuckte: »Das müßte man zeichnen!« Bei jenem Blick hatte er, mit einer Art von Schrecken, diesen Wunsch wieder zucken gefühlt.

Da er nicht schlafen konnte, stand er schließlich auf und ging aus der Hütte. Es war kühl, ein wenig Wind spielte in den Birken. Im Dunkeln ging er auf und ab, setzte sich dann auf einen Stein, saß und versank in Gedanken und in tiefe Traurigkeit. Es tat ihm leid um Viktor, es tat ihm leid um den, den er heut erschlagen hatte, es tat ihm leid um die verlorene Unschuld und Kindheit seiner Seele. War er darum aus dem Kloster fortgegangen, hatte Narziß verlassen, hatte den Meister Niklaus beleidigt und auf die schöne Lisbeth verzichtet – um nun da in einer Heide zu lagern, verlaufenem Vieh aufzulauern, und um dort in den Steinen diesen armen Kerl totzuschlagen? Hatte das alles Sinn, war es wert, gelebt zu werden? Eng wurde ihm das Herz vor Unsinn und Selbstverachtung. Er ließ sich zurücksinken, lag auf den Rücken gestreckt und starrte in das bleiche Nachtgewölk, im langen Starren vergingen ihm die Gedanken; er wußte nicht, blickte er ins Gewölk des Himmels oder in die trübe Welt seines eigenen Innern. Plötzlich, im Augenblick, da er auf dem Stein entschlief, erschien hinzuckend wie ein Wetterleuchten im treibenden Gewölk bleich ein großes Gesicht, das Eva-Gesicht, es blickte schwer und verhangen, plötzlich aber riß es die Augen weit auf, große Augen voll Wollust und voll Mordlust. Goldmund schlief, bis der Tau ihn näßte.

Andern Tags war Lene krank. Man ließ sie liegen, es gab viel zu tun: Robert hatte am Morgen zwei Schafe im Wäldchen angetroffen, die alsbald vor ihm davonflohen. Er holte Goldmund, sie jagten mehr als den halben Tag und fingen eins der Schafe ein; sie waren sehr müde, als sie gegen Abend mit dem Tier zurückkamen. Lene fühlte sich sehr schlecht. Goldmund beschaute und befühlte sie, und fand Pestbeulen. Er verheimlichte es, aber Robert schöpfte Verdacht, als er hörte, Lene sei noch krank, und blieb nicht in der Hütte. Er werde sich draußen eine Schlafstelle suchen, sagte er, und die Ziege nehme er auch mit, auch sie könnte angesteckt werden.

»So schere dich zum Teufel«, schrie Goldmund ihn wütend an, »ich begehre dich nicht wiederzusehen.« Die Ziege packte er und nahm sie zu sich hinter die Ginsterwand. Lautlos verlor sich Robert, ohne Ziege, ihm war übel vor Angst, Angst vor der Pest, Angst vor Goldmund, Angst vor der Einsamkeit und Nacht. Er legte sich nahe der Hütte nieder.

Goldmund sagte zu Lene: »Ich bleibe bei dir, mach dir keine Sorgen. Du wirst schon wieder gesund werden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nimm dich in acht, Lieber, daß du nicht auch die Krankheit kriegst, du darfst nicht mehr so nahe zu mir herkommen. Gib dir keine Mühe, mich zu trösten. Ich muß sterben, und es ist mir lieber zu sterben, als daß ich eines Tages sehen muß, daß dein Lager leer ist und du mich verlassen hast. Jeden Morgen habe ich daran gedacht und mich gefürchtet. Nein, ich sterbe lieber.«

Am Morgen stand es schon schlecht mit ihr. Goldmund hatte ihr von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser gegeben, hatte zwischenein eine Stunde geschlafen. Jetzt beim Hellwerden erkannte er in ihrem Gesicht deutlich den nahen Tod, es war schon so welk und mürbe. Er trat für einen Augenblick aus der Hütte, um Luft zu schöpfen und nach dem Himmel zu sehen. Ein paar krumme rote Kiefernstämme am Waldrand leuchteten schon sonnig, frisch und süß schmeckte die Luft, die fernen Hügel waren noch unsichtbar im Morgengewölk. Er ging eine kleine Strecke weit, reckte die müden Glieder und holte tief Atem. Schön war die Welt an diesem traurigen Morgen. Nun würde bald die Wanderschaft wieder beginnen. Es galt Abschied zu nehmen.

Vom Walde her rief Robert ihn an. Ob es besser gehe? Wenn es nicht die Pest sei, bleibe er da, Goldmund möge ihm doch nicht böse sein, er habe inzwischen das Schaf gehütet. »Geh zur Hölle samt deinem Schaf!« rief Goldmund ihm zu, »Lene liegt im Sterben, und auch ich bin angesteckt.«

Das letzte war gelogen; er sagte es, um den andern loszuwerden. Mochte dieser Robert ein gutherziger Kerl sein, Goldmund hatte genug von ihm, er war ihm zu feig und zu klein, er paßte ihm allzu schlecht in diese Zeit voll Schicksal und Erschütterung. Robert verlor sich und kam nicht wieder. Hell kam die Sonne herauf.

Als er wieder zu Lene kam, lag sie schlafend. Auch er schlief nochmals ein, im Traum sah er sein einstiges Pferd Bleß und den schönen Klosterkastanienbaum; ihm war zumute, als blicke er aus unendlicher Ferne und Öde auf eine verlorene holde Heimat zurück, und als er erwachte, liefen ihm Tränen über die blondbärtigen Wangen. Mit schwacher Stimme hörte er Lene sprechen; er glaubte, sie rufe ihm, und stemmte sich auf seinem Lager hoch, aber sie sprach zu niemand, sie lallte nur Worte vor sich hin, Koseworte, Schimpfworte, lachte ein wenig, begann alsdann schwer zu seufzen und zu schlucken und wurde allmählich wieder still. Goldmund stand auf, beugte sich über ihr schon entstelltes Gesicht, mit bitterer Neugierde folgte sein Auge den Linien, die sich unterm sengenden Hauch des Todes so elend verbogen und verwirrten. Liebe Lene, rief sein Herz, liebes gutes Kind, willst auch du mich schon verlassen? Hast du schon genug von mir?

Gern wäre er davongelaufen. Wandern, wandern, marschieren, Luft atmen, müde werden, neue Bilder sehen, das hätte ihm wohlgetan, das würde vielleicht seine tiefe Bedrücktheit lindern. Aber er konnte nicht, es war ihm unmöglich, das Kind hier allein liegen und sterben zu lassen. Kaum traute er sich, alle paar Stunden für eine Weile hinauszugehen, um frische Luft zu atmen. Da Lene keine Milch mehr annahm, trank er sich selbst daran satt, sonst war nichts zu essen da. Auch die Ziege führte er einige Male hinaus, daß sie fresse, Wasser trinke und sich bewege. Dann stand er wieder an Lenes Lager, murmelte ihr zärtlich zu, blickte unentwegt in ihr Gesicht und sah trostlos, aber aufmerksam ihrem Sterben zu. Sie war bei Bewußtsein, zuweilen schlief sie, und wenn sie erwachte, öffnete sie die Augen nur noch halb, die Lider waren müd und erschlafft. Hier um die Augen und die Nase herum sah das junge Mädchen von Stunde zu Stunde älter aus, auf dem frischen jungen Hals saß ein schnell welkendes Großmuttergesicht. Sie sprach nur selten ein Wort, sagte »Goldmund« oder »Liebster« und suchte die geschwollenen bläulichen Lippen mit der Zunge zu befeuchten. Dann gab er ihr ein paar Tropfen Wasser. In der folgenden Nacht starb sie. Sie starb, ohne zu klagen, es war nur ein kurzes Zucken, dann stand der Atem still, und es lief ein Hauch über die Haut, bei dem Anblick wogte ihm das Herz, und es fielen ihm die sterbenden Fische ein, die er oft auf dem Fischmarkt gesehen und bedauert hatte: gerade so waren sie erloschen, mit einem Zuck und mit einem leisen wehen Schauder, der über ihre Haut lief und den Glanz und das Leben mitnahm. Er kniete noch eine Weile neben Lene, dann ging er ins Freie und setzte sich m die Heidekrautbüsche. Die Ziege fiel ihm ein, er ging nochmals hinein und holte das Tier heraus, das sich nach kurzem Herumsuchen zu Boden legte. Er legte sich neben sie, den Kopf auf ihrer Flanke, und schlief, bis es hell wurde. Nun ging er zum letztenmal in die Hütte und hinter die geflochtene Wand, sah zum letztenmal das arme Totengesicht. Es widerstrebte ihm, die Tote da liegenzulassen. Er ging und suchte Arme voll Dürrholz und welkes Gestrüpp zusammen, das warf er in die Hütte, schlug Feuer und zündete an. Aus der Hütte nahm er nichts mit sich als das Feuerzeug. Hellauf brannte im Augenblick die dürre Ginsterwand. Draußen blieb er stehen und schaute zu, das Gesicht vom Feuer geröstet, bis auch das ganze Dach in Flammen stand und die ersten Dachbalken stürzten. Ängstlich und klagend sprang die Ziege. Es wäre richtig gewesen, das Tier zu töten und ein Stück von ihm zu rösten und zu essen, um Kraft für die Wanderschaft zu haben. Aber es war ihm nicht möglich; er trieb die Geiß in die Heide und ging davon. Bis in den Wald hinein folgte ihm der Rauch von der Brandstelle. Nie hatte er eine Wanderung so trostlos angetreten.

Und dennoch war das, was ihn nun erwartete, noch schlimmer, als er gedacht hätte. Bei den ersten Höfen und Dörfern begann es und dauerte an und wurde ärger, je weiter er kam. Die ganze Gegend, das ganze weite Land stand unter einer Wolke von Tod, unter einem Schleier von Grauen, Angst und Seelenverfinsterung, und das Schlimmste waren nicht die ausgestorbenen Häuser, die an der Kette verhungerten und verwesenden Hofhunde, die unbegraben liegenden Toten, die bettelnden Kinder, die Massengräber vor den Städten. Das Schlimmste waren die Lebenden, die unter der Last von Schrecken und Todesangst ihre Augen und ihre Seelen verloren zu haben schienen. Wunderliche und grausige Dinge bekam der Wanderer überall zu hören und zu sehen. Eltern hatten die Kinder und Gatten ihre Frauen verlassen, wenn sie krank geworden waren. Die Pestknechte und Spitalbüttel herrschten wie Henker, sie raubten in den leergestorbenen Häusern, ließen nach ihrer Willkür bald die Leichen unbeerdigt, bald rissen sie die Sterbenden, noch eh sie ausgeatmet hatten, aus den Betten und auf die Leichenkarren. Geängstete Flüchtlinge irrten einsam umher, verwildert, jede Berührung mit Menschen meidend, von Todesfurcht gejagt. Andere taten sich in aufgepeitschter, erschreckter Lebenslust zusammen, hielten Zechgelage und feierten Tanz- und Liebesfeste, bei denen der Tod die Fiedel strich. Verwahrlost, trauernd oder lästernd, mit irren Augen hockten andere vor den Friedhöfen oder vor ihren entvölkerten Häusern. Und, schlimmer als alles: jeder suchte für das unerträgliche Elend einen Sündenbock, jeder behauptete die Verruchten zu kennen, die an der Seuche schuld und ihre böswilligen Urheber seien. Teuflische Menschen, hieß es, sorgten schadenfroh für die Verbreitung des Sterbens, indem sie aus den Pestleichen das Seuchengift holten und an die Mauern und Türklinken strichen, Brunnen und Vieh damit vergifteten. Wer in den Verdacht dieser Greuel kam, war verloren, wenn er nicht gewarnt wurde und fliehen konnte; er wurde entweder von der Justiz oder vom Pöbel mit dem Tod bestraft. Außerdem gaben die Reichen den Armen die Schuld und umgekehrt, oder es sollten die Juden sein, oder die Welschen, oder die Ärzte. In einer Stadt sah Goldmund mit grimmigem Herzen zu, wie die ganze Judengasse brannte, Haus an Haus, rundum stand das johlende Volk, und die schreienden Flüchtlinge wurden mit Waffengewalt ins Feuer zurückgejagt. Im Irrsinn der Angst und Erbitterung wurden überall Unschuldige totgeschlagen, verbrannt, gefoltert. Mit Wut und Ekel sah Goldmund zu, die Welt schien zerstört und vergiftet, es schien keine Freude, keine Unschuld, keine Liebe mehr auf Erden zu geben. Oft floh er zu den heftigen Festen der Lebenslustigen, überall klang die Fiedel des Todes, er lernte ihren Klang bald kennen, oft nahm er teil an den verzweifelten Gelagen, oft spielte er dabei die Laute oder tanzte beim Pechfackelschein durch fiebernde Nächte mit.

Furcht fühlte er nicht. Einst hatte er die Todesangst gekostet, in jener Winternacht unter den Tannen, als Viktors Finger um seine Kehle gedrückt lagen, und auch im Schnee und Hunger manches harten Wandertages. Das war ein Tod gewesen, mit dem man kämpfen, gegen den man sich zur Wehr setzen konnte, und er hatte sich gewehrt, mit zitternden Händen und Füßen, mit klaffendem Magen, mit erschöpften Gliedern, hatte sich gewehrt, hatte gesiegt und war entkommen. Mit diesem Pesttod aber war nicht zu kämpfen, man mußte ihn toben lassen und sich ergeben, und Goldmund hatte sich längst ergeben. Er hatte keine Furcht, es schien, als sei ihm nichts mehr am Leben gelegen, seit er Lene in der brennenden Hütte zurückgelassen hatte, seit er Tag um Tag durch das vom Tod verheerte Land zog. Aber eine ungeheure Neugierde trieb ihn und hielt ihn wach; er war unermüdlich, dem Schnitter zuzusehen, das Lied der Vergänglichkeit zu hören, nirgends wich er aus, überall ergriff ihn dieselbe stille Leidenschaft, dabei zu sein und mit wachen Augen den Gang durch die Hölle zu tun. Er aß verschimmeltes Brot in ausgestorbenen Häusern, er sang und zechte Wein bei den wahnsinnigen Gelagen, pflückte die schnell welkende Blume der Lust, sah in die starren trunkenen Augen der Weiber, sah in die starren blöden Augen der Betrunkenen, sah in die erlöschenden Augen der Sterbenden, liebte die verzweifelten fiebernden Frauen, half Tote hinaustragen für einen Teller Suppe, half für zwei Groschen Erde über nackte Leichen schütten. Es war dunkel und wild in der Welt geworden, heulend sang der Tod sein Lied, Goldmund hörte es mit offenen Ohren, mit brennender Leidenschaft.

Sein Ziel war die Stadt des Meisters Nikiaus, dorthin zog ihn die Stimme in seinem Herzen. Lang war der Weg, und er war voll Tod, voll Welke und Sterben. Traurig zog er hin, berauscht vom Todeslied, hingegeben an das laut schreiende Leid der Welt, traurig und dennoch glühend, mit weit offenen Sinnen.

In einem Kloster sah er ein neugemaltes Wandbild, das mußte er lange betrachten. Es war da der Totentanz an eine Mauer gemalt, da tanzte der bleiche knöcherne Tod die Menschen aus dem Leben, den König, den Bischof, den Abt, den Grafen, den Ritter, den Arzt, den Bauer, den Landsknecht, alle nahm er mit, und beinerne Musikanten spielten auf hohlen Knochen dazu auf. Tief sogen Goldmunds neugierige Augen das Bild in sich ein. Da hatte ein unbekannter Kollege die Lehre aus dem gezogen, was er vom Schwarzen Tod gesehen hatte, und schrie die bittere Predigt vom Sterbenmüssen den Menschen gell in die Ohren. Es war gut, das Bild, es war eine gute Predigt, nicht schlecht hatte dieser fremde Kollege die Sache gesehen und hingestrichen, es klang beinern und schaurig aus seinem wilden Bilde. Aber doch war es nicht das, was er selbst, Goldmund, gesehen und erlebt hatte. Es war das Sterbenmüssen, das hier gemalt war, das strenge und unerbittliche. Goldmund aber hätte sich ein anderes Bild gewünscht, ganz anders klang in ihm das wilde Lied des Todes, nicht beinern und streng, sondern eher süß und verführend, heimwärtslockend, mütterlich. Da, wo der Tod seine Hand ins Leben streckte, klang es nicht nur so grell und kriegerisch, es klang auch tief und liebevoll, herbstlich und satt, und in der Todesnähe glühte das Lebenslämpchen heller und inniger. Mochte der Tod für andere ein Krieger, ein Richter oder Henker, ein strenger Vater sein – für ihn war der Tod auch eine Mutter und Geliebte, sein Ruf ein Liebeslocken, seine Berührung ein Liebesschauer. Als Goldmund den gemalten Totentanz betrachtet hatte und weiterging, zog es ihn mit erneuter Macht zum Meister und zum Schaffen. Aber überall gab es Aufenthalte, neue Bilder und Erlebnisse, mit bebenden Nüstern atmete er die Todesluft, überall verlangte Mitleid oder Neugierde eine Stunde, einen Tag von ihm. Drei Tage lang hatte er einen kleinen greinenden Bauernknaben bei sich, trug ihn stundenlang auf seinem Rücken, einen halbverhungerten Wicht von fünf oder sechs Jahren, der ihm viel Mühe machte und den er nur schwer wieder loswerden konnte. Endlich nahm ihm eine Köhlerfrau den Buben ab, ihr Mann war gestorben, sie wollte wieder etwas Lebendiges um sich haben. Tagelang begleitete ihn ein herrenloser Hund, fraß ihm aus der Hand, wärmte ihn beim Schlafen, eines Morgens aber hatte er sich wieder verloren. Es tat ihm leid, er hatte sich daran gewöhnt, mit dem Hunde zu sprechen; halbe Stunden lang richtete er grüblerische Reden an das Tier, über die Schlechtigkeit der Menschen, über die Existenz Gottes, über die Kunst, über die Brüste und Hüften einer jungen Ritterstochter namens Julie, die er einst in seiner Jugend gekannt hatte. Denn natürlich war Goldmund auf seiner Todeswanderung ein klein wenig verrückt geworden, alle Menschen im Pestgebiet waren ein wenig verrückt, und viele waren es ganz und gar. Ein klein wenig verrückt war vielleicht auch die junge Jüdin Rebekka, das schöne schwarze Mädchen mit den brennenden Augen, mit dem er sich zwei Tage versäumte.

Er fand sie vor einer kleinen Stadt im Felde, bei einem schwarz verkohlten Trümmerhaufen hockte sie und heulte, schlug sich ins Gesicht und riß an ihren schwarzen Haaren. Die Haare erbarmten ihn, sie waren so schön, und er fing ihre wütenden Hände und hielt sie fest und redete dem Mädchen zu und nahm dabei wahr, daß auch ihr Gesicht und Wuchs von großer Schönheit war. Sie klagte um ihren Vater, der war samt vierzehn anderen Juden auf Befehl der Obrigkeit zu Asche verbrannt worden, sie aber hatte fliehen können, war nun aber verzweifelt zurückgekehrt und klagte sich an, daß sie sich nicht habe mitverbrennen lassen. Geduldig hielt er ihre zuckenden Hände fest und sprach sanft auf sie ein, brummte mitleidig und beschützend, bot ihr Hilfe an. Sie verlangte, daß er ihr helfe, ihren Vater zu begraben, und sie sammelten aus der noch heißen Asche alle Knochen heraus, trugen sie feldeinwärts ins Verborgene und bedeckten sie mit Erde. Es war darüber Abend geworden, und Goldmund suchte einen Schlafplatz, in einem Eichenwäldchen richtete er dem Mädchen ein Lager, versprach ihr, zu wachen, und hörte zu, wie sie im Liegen weiterweinte und schluckte und endlich einschlief. Dann schlief auch er ein wenig, und am Morgen begann er seine Werbung. Er sagte ihr, daß sie so allein nicht bleiben könne, man würde sie als Jüdin erkennen und totschlagen, oder wüste Landfahrer würden sie mißbrauchen, und im Wald seien Wölfe und Zigeuner. Er aber, er nehme sie mit sich und schütze sie gegen Wolf und Mensch, denn sie tue ihm leid, und er sei ihr sehr gut, denn er habe Augen im Kopf und wisse, was Schönheit sei, und nie werde er dulden, daß diese süßen klugen Augenlider und diese holden Schultern von Tieren gefressen würden oder auf den Scheiterhaufen kämen. Finster hörte sie ihn an, sprang auf und lief davon. Er mußte sie jagen und fangen, eh er fortfahren konnte.

»Rebekka«, sagte er, »du siehest doch, daß ich es nicht schlimm mit dir meine. Du bist betrübt, du denkst an deinen Vater, du willst jetzt nichts von Liebe wissen. Aber morgen oder übermorgen oder später werde ich dich wieder fragen, und bis dahin beschütze ich dich und bringe dir zu essen und rühre dich nicht an. Sej du traurig, solange es nötig ist. Du sollst bei mir traurig sein können oder fröhlich, du sollst immer nur das tun, was dir Freude macht.«

Aber alles war in den Wind geredet. Sie wolle nichts tun, sagte sie verbissen und wütend, was Freude mache, sie wolle tun, was Schmerzen bringe, nie mehr werde sie an etwas wie Freude denken, und je eher der Wolf sie fräße, desto besser sei es für sie. Er solle nun gehen, es helfe nichts, es sei schon zuviel geredet.

»Du«, sagte er, »siehst du denn nicht, daß überall der Tod ist, daß in allen Häuseen und Städten gestorben wird und alles voll von Jammer ist. Auch die Wut der dummen Menschen, die deinen Vater verbrannt haben, ist nichts als Not und Jammer, sie kommt nur aus allzu großem Leiden. Schau, bald holt auch uns der Tod, und wir verfaulen im Feld, und mit unseren Knochen würfelt der Maulwurf. Laß uns vorher noch leben und lieb miteinander sein. Ach du, es wäre so schade um deinen weißen Hals und um deinen kleinen Fuß! Liebes schönes Mädchen, komm mit mir, ich rühre dich nicht an, ich will dich nur sehen und für dich sorgen.«

Er flehte noch lange und fühlte plötzlich selbst, wie nutzlos es sei, mit Worten und Gründen zu werben. Er schwieg und sah sie traurig an. Ihr stolzes königliches Gesicht war starr vor Abweisung.

»So seid ihr«, sagte sie endlich mit einer Stimme voll Haß und Verachtung, »so seid ihr Christen! Erst hilfst du einer Tochter ihren Vater begraben, den deine Leute gemordet haben und dessen letzter Fingernagel mehr wert ist als du, und kaum ist es getan, so soll das Mädchen dir gehören und mit dir buhlen gehen. So seid ihr! Zuerst dachte ich, vielleicht seiest du ein guter Mensch. Aber wie solltest du gut sein! Ach, ihr seid Säue.«

Während sie sprach, sah Goldmund in ihren Augen, hinter dem Haß, etwas glühen, was ihn rührte und beschämte und ihm tief zu Herzen ging. Er sah in ihren Augen den Tod, aber nicht das Sterbenmüssen, sondern das Sterbenwollen, das Sterbendürfen, die stille Gefolgschaft und Hingabe an den Ruf der Erdenmutter.

»Rebekka«, sagte er leise, »du hast vielleicht recht. Ich bin kein guter Mensch, obwohl ich es mit dir gut gemeint habe. Verzeih mir. Ich habe dich erst jetzt verstanden.«

Mit gezogener Mütze grüßte er sie tief wie eine Fürstin und ging davon, schweren Herzens; er mußte sie untergehen lassen. Lange blieb er betrübt und mochte mit niemand sprechen. So wenig sie einander glichen, so erinnerte dies stolze arme Judenkind ihn doch auf irgendeine Art an Lydia, die Tochter des Ritters. Es brachte Leiden, solche Frauen zu lieben. Aber eine Weile schien es ihm so, als habe er niemals eine andere geliebt als diese beiden, die arme ängstliche Lydia und die scheue bittere Jüdin.

Noch manchen Tag dachte er an das schwarze glühende Mädchen und träumte manche Nacht von der schlanken brennenden Schönheit ihres Leibes, die zu Glück und Blüte bestimmt schien und doch schon dem Sterben ergeben war. O daß diese Lippen und Brüste den »Säuen« zur Beute werden und im Felde verwesen sollten! Gab es denn keine Macht, keinen Zauber, diese kostbaren Blüten zu retten? Ja, es gab einen solchen Zauber: daß sie in seiner Seele weiterlebten und von ihm gestaltet und aufbewahrt würden. Mit Schrecken und mit Entzücken fühlte er, wie voll von Bildern seine Seele war, wie dies lange Wandern durch das Todesland ihn mit Figuren vollgeschrieben hatte. O wie spannte diese Fülle in seinem Innern, wie sehnlich verlangte ihn danach, sich still auf sie zu besinnen, sie abströmen zu lassen und in bleibende Bilder zu verwandeln! Glühender und begieriger strebte er weiter, noch immer mit offenen Augen und neugierigen Sinnen, aber voll heftiger Sehnsucht nach Papier und Stift, nach Ton und Holz, nach Werkstatt und Arbeit.

Der Sommer war vorüber. Viele versicherten, daß mit dem Herbst oder doch mit dem Winteranfang die Seuche aufhören werde. Es war ein Herbst ohne Fröhlichkeit. Goldmund kam durch Gegenden, in denen niemand mehr da war, das Obst zu ernten, es fiel von den Bäumen und faulte im Gras; an anderen Orten wurde es von verwilderten Horden, die aus den Städten kamen, in rohen Raubzügen geplündert und vergeudet.

Langsam näherte sich Goldmund seinem Ziel, und in dieser letzten Zeit befiel ihn mehrmals die Furcht, er möchte vorher noch die Pest erwischen und in irgendeinem Stalle sterben müssen. Er wollte jetzt nicht mehr sterben, nicht, ehe er das Glück genossen hätte, noch einmal in einer Werkstatt zu stehen und sich dem Schaffen hinzugeben. Zum erstenmal in seinem Leben war ihm jetzt die Welt zu weit und das deutsche Reich zu groß. Kein hübsches Städtchen konnte ihn zur Rast verlocken, keine hübsche Bauernmagd hielt ihn länger fest als eine Nacht.

Einmal kam er an einer Kirche vorüber, an deren Portal standen in tiefen, von Schmucksäulchen getragenen Nischen viele Steinfiguren aus sehr alter Zeit, Figuren von Engeln, Aposteln und Märtyrern, wie er ähnliche schon oft gesehen hatte; auch in seinem Kloster, in Mariabronn, hatte es manche Figuren dieser Art gegeben. Früher, als Jüngling, hatte er sie gerne, aber ohne Leidenschaft betrachtet; sie schienen ihm schön und würdevoll, aber ein wenig zu feierlich und etwas steif und altvaterisch. Später dann, nachdem er am Ende seiner ersten großen Wanderschaft von jener süßen traurigen Mutter Gottes des Meisters Niklaus so sehr ergriffen und entzückt worden war, hatte er diese altfränkisch feierlichen Steinfiguren allzu schwer und starr und fremd gefunden, er hatte sie mit einem gewissen Hochmut betrachtet und hatte in der neuen Art seines Meisters eine viel lebendigere, innigere, beseeltere Kunst gesehen. Heute nun, da er voll von Bildern, die Seele gezeichnet von den Narben und Spuren heftiger Abenteuer und Erlebnisse, voll schmerzlicher Sehnsucht nach Besinnung und nach neuem Schaffen aus der Welt zurückkam, rührten diese uralten strengen Figuren sein Herz plötzlich mit übermächtiger Gewalt. Andächtig stand er vor den ehrwürdigen Bildern, in welchen das Herz einer lang vergangenen Zeit fortlebte und die Ängste und Entzückungen längst verschwundener Geschlechter nach Jahrhunderten noch zu Stein erstarrt der Vergänglichkeit Trotz boten. In seinem verwilderten Herzen erhob sich schauernd und demütig das Gefühl der Ehrfurcht und ein Grauen vor seinem vergeudeten und verbrannten Leben. Er tat, was er unendlich lange nicht mehr getan hatte, er suchte einen Beichtstuhl auf, um zu bekennen und sich strafen zu lassen.

Aber wohl gab es Beichtstühle in der Kirche, doch in keinem einen Priester; sie waren gestorben, lagen im Hospital, waren geflohen, fürchteten Ansteckung. Die Kirche war leer, hohl klangen Goldmunds Schritte im Steingewölbe wider. Er kniete vor einem der leeren Beichtstühle nieder, schloß die Augen und flüsterte ins Sprechgitter hinein: »Lieber Gott, sieh, was aus mir geworden ist. Ich komme aus der Welt zurück und bin ein schlechter unnützer Mensch geworden, ich habe meine jungen Jahre vertan wie ein Verschwender, wenig ist übriggeblieben. Ich habe getötet, ich habe gestohlen, ich habe gehurt, ich bin müßig gegangen und habe andern das Brot weggegessen. Lieber Gott, warum hast du uns so geschaffen, warum führst du uns solche Wege? Sind wir nicht deine Kinder? Ist nicht dein Sohn für uns gestorben? Gibt es nicht Heilige und Engel, uns zu leiten? Oder sind das alles hübsche erfundene Geschichten, die man den Kindern erzählt und über die die Pfaffen selber lachen? Ich bin irr an dir geworden, Gottvater, du hast die Welt übel geschaffen, schlecht hältst du sie in Ordnung. Ich habe Häuser und Gassen voll von Toten liegen sehen, ich habe gesehen, wie die Reichen sich in ihren Häusern verschanzt haben oder geflohen sind und wie die Armen ihre Brüder unbegraben haben liegenlassen, wie sie einer den andern verdächtigt und die Juden wie Vieh totgeschlagen haben. Ich habe so viele Unschuldige leiden und untergehen sehen und so viele Böse im Wohlleben schwimmen. Hast du uns denn ganz vergessen und verlassen, ist dir deine Schöpfung ganz entleidet, willst du uns alle zugrunde gehen lassen?«

Seufzend trat er durchs hohe Portal heraus und sah die schweigenden Steinbilder, Engel und Heilige, hager und hoch in ihren starr gefalteten Gewändern stehen, unbewegt, unerreichbar, übermenschlich und doch von Menschenhand und aus Menschengeist geschaffen. Streng und taub standen sie da oben auf ihrem knappen Räume, keiner Bitte und Frage zugänglich, und waren doch ein unendlicher Trost, waren ein triumphierender Sieg über Tod und Verzweiflung, wie sie in ihrer Würde und Schönheit standen und ein hinsterbendes Menschengeschlecht ums andere überdauerten. Ach, daß hier auch die arme schöne Jüdin Rebekka stünde und die arme, mit der Hütte verbrannte Lene und die holde Lydia und Meister Niklaus! Aber sie würden einmal stehen und dauern, er würde sie hinstellen, und ihre Gestalten, die ihm heute Liebe und Qual, Angst und Leidenschaft bedeuteten, würden vor den später Lebenden stehen, ohne Namen und Geschichte, stille, schweigende Sinnbilder des Menschenlebens.

Fünfzehntes Kapitel

Endlich war das Ziel erreicht, und Goldmund betrat die ersehnte Stadt durch dasselbe Tor, durch das er einst, vor so viel Jahren, zum erstenmal geschritten war, um seinen Meister zu suchen. Manche Nachricht aus der Bischofsstadt hatte ihn schon unterwegs im Näherkommen erreicht; er wußte, daß auch dort die Pest gewesen war und vielleicht noch immer herrschte, man hatte ihm von Unruhen und Volksaufständen erzählt und daß ein kaiserlicher Statthalter gekommen sei, um Ordnung zu schaffen, Notgesetze zu geben und Gut und Leben der Bürger zu schützen. Denn der Bischof hatte die Stadt gleich nach dem Ausbruch der Seuche verlassen und residierte fern in einem seiner Schlösser auf dem Lande. An allen diesen Nachrichten hatte der Wanderer wenig teilgenommen. Wenn nur die Stadt noch stand und die Werkstätte, wo er arbeiten wollte! Alles andere war ihm nicht wichtig. Als er ankam, war die Pest erloschen, man erwartete die Rückkehr des Bischofs und freute sich auf den Abzug des Statthalters und die Wiederkehr des gewohnten friedlichen Lebens.

Als Goldmund die Stadt wiedersah, zog ihm eine nie zuvor erlebte Woge von Wiedersehen und Heimatgefühl durchs Herz, und er schnitt ein ungewohnt strenges Gesicht, um sich zu bemeistern. Oh, dies alles war noch da: die Tore, die schönen Brunnen, der alte klotzige Turm der Kathedrale und der schlanke neue der Marienkirche, das helle Geläut von Sankt Lorenz, der große strahlende Marktplatz! O wie gut, daß das alles auf ihn gewartet hatte! Hatte er nicht unterwegs einmal geträumt, daß er hier ankomme und alles fremd und verändert vorfinde, teils zerstört und in Trümmern, teils unkenntlich durch neue Bauten und wunderliche unerfreuchliche Zeichen? Die Tränen waren ihm nahe, während er durch die Gassen ging, Haus um Haus wiedererkennend. Waren am Ende nicht doch die Seßhaften zu beneiden, in ihren hübschen sicheren Häusern, in ihrem befriedeten Bürgerleben, in ihrem beruhigenden und stärkenden Gefühl von Heimathaben, von Zuhausesein in Stube und Werkstatt, zwischen Weib und Kind, Gesinde und Nachbarschaft?

Es war Spätnachmittag, und an der Sonnseite der Gasse standen die Häuser, die Wirts- und Zunftschilder, die geschnitzten Türen und die Blumentöpfe warm bestrahlt, nichts erinnerte daran, daß auch in dieser Stadt der wütende Tod und der irre Angstwahn der Menschen regiert habe. Kühl, hellgrün und hellblau strömte unter den tönenden Gewölben der Brücke der klare Fluß; Goldmund setzte sich eine Weile auf die Brüstung der Ufermauer, noch immer glitten unten im grünen Kristall die dunklen schattenhaften Fische hin oder standen regungslos, die Nasen gegen die Strömung gekehrt, noch immer blinkte aus den Dämmerungen der Tiefe hier und dort jenes schwache Goldleuchten herauf, das soviel verspricht und das Träumen so sehr begünstigt. Auch in anderen Wassern gab es das, und auch andere Brücken und Städte waren hübsch anzuschauen, und doch schien ihm, er habe seit sehr langer Zeit dergleichen nicht mehr gesehen und Ähnliches nicht mehr gefühlt.

Zwei Metzgerburschen trieben lachend ein Kalb vorüber, sie wechselten Blicke und Späße mit einer Magd, die über ihnen in einer Laube Wäsche abnahm. Wie schnell doch alles vorüberging! Vor kurzem noch hatten hier die Pestfeuer gebrannt und die scheußlichen Spittelknechte gewaltet, und jetzt lief das Leben wieder weiter, man lachte und machte Spaße; und ihm selbst ging es nicht anders, da saß er und war entzückt vom Wiedersehen und fühlte sich dankbar und hatte sogar ein Herz für die Seßhaften, als ob es kein Elend und keinen Tod, keine Lene und keine Judenprinzessin gegeben hätte. Lächelnd stand er auf und ging weiter, und erst als er sich der Gasse des Meisters Niklaus näherte und den Weg wieder ging, den er vor Zeiten jahrelang jeden Tag zu seiner Arbeit gegangen war, begann sein Herz beklommen und unruhig zu werden. Er ging schneller, er wollte heut noch beim Meister vorsprechen und Bescheid wissen, es ertrug keinen Aufschub mehr, es hätte ihm ganz unmöglich geschienen, noch bis morgen zu warten. Sollte der Meister ihm etwa noch böse sein? Das war so lange her, es konnte keine Bedeutung mehr haben; und wenn es doch so sein sollte, so würde er es überwinden. Wenn der Meister nur noch da war, er und die Werkstatt, dann war alles gut. Eilig, als ob er noch in letzter Stunde etwas versäumen könnte, schritt er auf das wohlbekannte Haus zu, faßte nach dem Türgriff und erschrak heftig, als er das Tor geschlossen fand. Konnte das Böses bedeuten? Früher war es nie vorgekommen, daß diese Tür am hellen Tag verschlossen gehalten wurde. Dröhnend ließ er den Klopfer fallen und wartete. Es war ihm plötzlich sehr bang ums Herz geworden.

Es kam dieselbe alte Magd, die ihn einst beim ersten Eintritt in dies Haus empfangen hatte. Sie war nicht häßlicher geworden, aber älter und unfreundlicher, und sie erkannte Goldmund nicht. Mit banger Stimme fragte er nach dem Meister. Sie blickte ihn blöde und mißtrauisch an.

»Meister? Es gibt hier keinen Meister. Geht nur weiter, Mann, es wird niemand eingelassen.«

Sie wollte ihn aus dem Tor zurückdrängen, er nahm sie am Arm und sehne auf sie ein: »So rede doch, Margrit, um Gottes willen! Ich bin Goldmund, kennst du mich denn nicht? Ich muß zum Meister Niklaus.«

Aus den weitsichtigen, halb erloschenen Augen schimmerte kein Willkomm.

»Es gibt hier keinen Meister Niklaus mehr«, sagte sie ablehnend, »der ist tot. Machet, daß Ihr weiterkommt, ich kann hier nicht stehen und schwatzen.«

Goldmund, während alles in ihm zusammenstürzte, drückte die Alte beiseite, die schreiend hinter ihm herlief, und eilte durch den dunklen Gang gegen die Werkstatt. Sie war geschlossen. Von der klagenden und schimpfenden Alten gefolgt, lief er die Treppe hinauf, in der Dämmerung sah er im bekannten Räume die Figuren stehen, die Niklaus gesammelt hatte. Mit lauter Stimme rief er nach Jungfer Lisbeth.

Es ging die Stubentür, und es erschien Lisbeth, und als er sie, erst beim zweiten Hinblicken, erkannte, drückte ihm der Anblick das Herz zusammen. War schon alles hier in diesem Hause, seit dem Augenblick, da er zu seinem Schrecken das Tor verschlossen gefunden hatte, gespenstisch und verzaubert und wie in einem beklommenen Traum gewesen, so fuhr ihm jetzt beim Anblick der Lisbeth wirklich ein Schaudern über den Rücken. Aus der schönen stolzen Lisbeth war eine scheue, gebückte Jungfer geworden, mit einem gelben, kränklichen Gesicht, in einem schwarzen schmucklosen Kleid, mit unsicherem Blick und ängstlicher Haltung.

»Verzeihet«, sagte er, »Margrit wollte mich nicht hereinlassen. Kennet Ihr mich nicht? Ich bin doch Goldmund. Ach, sagt mir: ist es denn wahr, daß Euer Vater gestorben ist?« An ihrem Blick sah er, daß sie ihn jetzt erkenne, und sah auch sogleich, daß er hier nicht in gutem Andenken stehe.

»So, Ihr seid Goldmund?« sagte sie, und in der Stimme erkannte er etwas von ihrer früheren hochmütigen Art. »Ihr habet Euch umsonst herbemüht. Mein Vater ist gestorben.«

»Und die Werkstatt?« fuhr es ihm heraus.

»Die Werkstatt? Ist geschlossen. Wenn Ihr Arbeit sucht, müßt Ihr anderswohin gehen.«

Er versuchte, sich zusammenzunehmen.

»Jungfer Lisbeth«, sagte er freundlich, »ich suche keine Arbeit, ich wollte nur Grüßgott sagen, dem Meister und Euch. Es betrübt mich so sehr, daß ich das hören muß! Ich sehe, daß Ihr es schwer gehabt habet. Wenn Euch ein dankbarer Schüler Eures Vaters irgendeinen Dienst tun kann, so sagt es, es wäre mir eine Freude. Ach, Jungfer Lisbeth, es will mir das Herz brechen, daß ich Euch so – so tief im Leid finde.«

Sie zog sich in die Stubentür zurück.

»Danke«, sagte sie zögernd. »Ihr könnet ihm keinen Dienst mehr tun und mir auch nicht. Margrit wird Euch hinausführen.«

Schlecht klang ihre Stimme, halb böse, halb ängstlich. Er spürte: hätte sie Mut gehabt, sie hätte ihn schimpflich hinausgewiesen.

Schon war er unten, schon hatte die Alte das Haustor hinter ihm zugeschlagen und die Riegel gestoßen. Er hörte das harte Anschlagen der beiden Riegel noch, es klang ihm wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. Langsam kehrte er zu der Ufermauer zurück und setzte sich wieder an den alten Platz überm Flusse. Die Sonne war untergegangen, kalt zog es vom Wasser herauf, kalt war der Stein, auf dem er saß. Die Ufergasse war still geworden, am Brückenpfeiler rauschte die Strömung auf, dunkel lag die Tiefe, kein Goldschimmer blinkte mehr herauf. Oh, dachte er, daß ich jetzt über die Mauer fiele und im Fluß verschwände! Wieder war die Welt voll von Tod. Eine Stunde verging, und die Dämmerung war Nacht geworden. Endlich konnte er weinen. Er saß und weinte, über die Hände und Knie fielen ihm die warmen Tropfen. Er weinte um den toten Meister, er weinte um die verlorene Schönheit Lisbeths, er weinte um Lene, um Robert, um das Judenmädchen, um seine verwelkte, vergeudete Jugend.

Spät fand er sich in einer Weinschenke ein, wo er einst oft mit Kameraden gezecht hatte. Die Wirtin erkannte ihn, er bat um ein Stück Brot, sie gab es ihm und gab ihm freundlich auch einen Becher Wein. Er brachte weder Brot noch Wein hinunter. Auf einer Bank in der Schenke schlief er die Nacht. Die Wirtin weckte ihn am Morgen, er sagte Dank und ging, unterwegs aß er das Stück Brot.

Er ging zum Fischmarkt, da stand das Haus, in dem er damals seine Kammer gehabt hatte. Neben dem Brunnen hielten ein paar Fischweiber ihre lebende Ware feil, er starrte in die Bottiche zu den schönen schimmernden Tieren hinein. Oft hatte er dies früher gesehen, es fiel ihm wieder ein, daß er oft mit den Fischen Mitleid gehabt hatte und wütend auf die Weiber und Käufer gewesen war. Einstmals, so erinnerte er sich, hatte er sich auch einen Morgen hier so herumgetrieben, hatte die Fische bewundert und bemitleidet und war sehr traurig gewesen, es war viel Zeit seitdem vergangen und viel Wasser den Fluß hinabgeronnen. Er war sehr traurig gewesen, das wußte er noch wohl, aber was es war, worüber er so traurig gewesen war, wußte er nicht mehr. So war es: auch das Traurige verging, auch die Schmerzen und Verzweiflungen vergingen, ebenso wie die Freuden, sie gingen vorüber, verblaßten, verloren ihre Tiefe und ihren Wert, und schließlich kam eine Zeit, da konnte man sich nicht mehr darauf besinnen, was es gewesen war, das einem einmal so weh getan hatte. Auch die Schmerzen verblühten und verwelkten. Würde auch sein heutiger Schmerz einmal verwelken und wertlos sein, seine Verzweiflung darüber, daß der Meister tot und im Groll gegen ihn gestorben war und daß keine Werkstatt ihm offenstand, um das Glück des Schaffens zu kosten und sich die Bilderlast von der Seele zu wälzen? Ja, ohne Zweifel würde auch dieser Schmerz, auch diese bittere Not alt werden und müde werden, auch sie würde er vergessen. Nichts hatte Bestand, auch nicht das Leid.

Indem er auf die Fische starrte und diesen Gedanken hingegeben war, hörte er eine leise Stimme freundlich seinen Namen sagen.

»Goldmund«, rief es schüchtern, und als er hinschaute, stand da ein etwas zartes und kränkliches junges Mädchen, aber mit schönen dunklen Augen, das ihn angerufen hatte. Er kannte es nicht.

»Goldmund! Du bist es doch?« sagte die schüchterne Stimme. »Seit wann bist du wieder in der Stadt? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch Marie.«

Aber er kannte sie nicht.

Sie mußte ihm erzählen, daß sie die Tochter seiner einstigen Hauswirte sei und daß sie einst, in jener Morgenfrühe vor seiner Abreise, ihm in der Küche eine Milch gekocht habe. Sie wurde rot, als sie es erzählte. Ja, es war Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte. Er wußte nun alles wieder: sie hatte am kühlen Morgen auf ihn gewartet und war so traurig über seine Abreise gewesen, sie hatte ihm Milch gekocht, und er hatte ihr einen Kuß gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament. Nie mehr hatte er an sie gedacht. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus. Er gab ihr die Hand. Es freute ihn, daß doch jemand in dieser Stadt ihn noch kannte und liebhatte.

Marie nahm ihn mit, er wehrte sich nur schwach. Bei ihren Eltern in der Stube, wo sein Bild noch hing und sein rotes Rubinglas überm Kamin auf dem Bord stand, mußte er zu Mittag essen und wurde eingeladen, ein paar Tage dazubleiben, man freue sich, ihn einmal wiederzusehen. Hier erfuhr er auch, was im Haus seines Meisters geschehen war. Niklaus war nicht an der Pest gestorben, sondern die schöne Lisbeth war es, die die Pest bekam, sie lag todkrank, und ihr Vater pflegte sich an ihr zu Tode, er starb, noch eh sie ganz genesen war. Sie wurde gerettet, nur aber war ihre Schönheit dahin.

»Die Werkstatt steht leer«, sagte der Hausherr, »und für einen tüchtigen Bildschnitzer wäre da eine schöne Heimat bereit und Geld genug. Überleg dir das, Goldmund! Sie würde nicht nein sagen. Sie hat keine Wahl mehr.«

Er erfuhr auch dies und jenes andere aus der Pestzeit, daß der Pöbel zuerst ein Spital angezündet und später einige Häuser von Reichen erstürmt und geplündert habe, eine Weile sei keine Ordnung und Sicherheit mehr in der Stadt gewesen, da der Bischof geflohen sei. Da habe der Kaiser, der gerade in der Nähe war, einen Statthalter hergeschickt, den Grafen Heinrich. Nun ja, es sei ein schneidiger Herr, er habe mit seinen paar Reitern und Soldaten Ordnung in der Stadt geschafft. Aber nun sei es wohl Zeit, daß sein Regiment aufhöre, man erwarte den Bischof zurück. Der Graf habe der Bürgerschaft manches zugemutet, und auch von seiner Kebse habe man genug, der Agnes, die sei schon ein richtiger Teufelsbraten. Na, bald werden sie abziehen, der Gemeinderat habe es längst satt, statt seines guten Bischofs so einen Hof- und Kriegsmann auf dem Halse zu haben, der des Kaisers Günstling sei und beständig Gesandtschaften und Abordnungen empfange wie ein Fürst.

Nun wurde auch der Gast nach seinen Erlebnissen gefragt. »Ach«, sagte er traurig, »davon spricht man nicht. Ich bin gewandert und gewandert, und überall war die Seuche und lagen die Toten herum, und überall waren die Leute verrückt und böse vor Angst. Ich bin am Leben geblieben, vielleicht vergißt man das alles einmal wieder. Nun komme ich zurück, und mein Meister ist tot! Laßt mich ein paar Tage bleiben und ausruhen, dann geh ich weiter.«

Er blieb nicht des Ausruhens wegen. Er blieb, weil er enttäuscht und unentschlossen war, weil Erinnerungen an glücklichere Zeiten ihm die Stadt lieb machten und weil die Liebe der armen Marie ihm wohltat. Er konnte sie nicht erwidern, er konnte ihr nichts geben als Freundlichkeit und Mitleid, aber ihre stille, demütige Anbetung wärmte ihn doch. Mehr aber als alles dieses hielt ihn an diesem Ort das brennende Bedürfnis fest, einmal wieder Künstler zu sein, sei es auch ohne Werkstatt, sei es auch nur mit Notbehelfen. Ein paar Tage lang tat Goldmund nichts anderes als zeichnen. Marie hatte ihm Papier und Feder verschafft, nun saß er in seiner Kammer und zeichnete Stunde um Stunde, füllte die großen Bogen bald mit eilig gekritzelten, bald mit liebevoll zarten Figuren, ließ das überfüllte Bilderbuch seines Innern hinüberwandern aufs Papier. Er zeichnete viele Male das Gesicht Lenes, wie es nach dem Tod jenes Landstreichers voll Befriedigung, Liebe und Mordlust gelächelt hatte, und das Gesicht Lenes, wie es in ihrer letzten Nacht geworden war, begriffen schon im Hinüberschmelzen ins Formlose, in der Rückkehr zur Erde. Er zeichnete einen kleinen Bauernbuben, den er einst tot auf der Schwelle bei seinen Eltern hatte liegen sehen, mit geballten Fäustchen. Er zeichnete einen Karren voll Leichen, drei mühsam ziehende Klepper davor, Schinderknechte mit langen Stangen daneben, die Augen finster aus den Schlitzen schwarzer Pestmasken schielend. Er zeichnete immer wieder Rebekka, das schlanke schwarzäugige Judenkind, ihren schmalen stolzen Mund, ihr Gesicht voll Schmerz und voll Entrüstung, ihre holde junge Gestalt, die so sehr zur Liebe geschaffen schien, ihren hochmütigen bitteren Mund. Er zeichnete sich selbst, als Wanderer, als Liebenden, als Flüchtling vor dem mähenden Tod, als Tänzer bei den Pestorgien der Lebenshungrigen. Hingegeben hing er überm weißen Papier, strich das hochmütige feste Gesicht der Jungfer Lisbeth hin, so wie er sie früher gekannt hatte, die Fratze der alten Magd Margrit, das geliebte und gefürchtete Gesicht des Meisters Niklaus. Mehrmals auch deutete er mit dünnen, ahnenden Strichen eine große Frauengestalt an, die Erdenmutter, sitzend mit den Händen im Schoß, im Gesicht unter schwermütigen Augen ein Hauch von Lächeln. Unendlich wohl tat ihm dies Strömen, das Gefühl in der zeichnenden Hand, das Herrwerden über die Gesichte. Er zeichnete in wenigen Tagen alle die Bogen voll, die ihm Marie besorgt hatte. Vom letzten Bogen schnitt er ein Stück ab und zeichnete darauf, mit sparsamen Strichen, das Gesicht Maries, mit den schönen Augen, mit dem entsagenden Mund. Das schenkte er ihr. Durch das Zeichnen hatte er das Gefühl von Schwere, Stauung und Uberfülltsein in seiner Seele gelöst und erleichtert. Solang er zeichnete, hatte er nicht gewußt, wo er sei, seine Welt hatte aus nichts bestanden als dem Tisch, dem weißen Papier und abends der Kerze. Jetzt erwachte er, erinnerte sich der jüngsten Erlebnisse, sah unerbittlich neue Wanderschaft vor sich und begann durch die Stadt zu schweifen mit einer wunderlich gespaltenen Empfindung halb von Wiedersehen, halb von Abschiednehmen.

Auf einem dieser Gänge begegnete er einer Frau, deren Anblick allen seinen aus der Ordnung gekommenen Gefühlen eine neue Mitte gab. Es war eine Frau zu Pferde, ein großes hellblondes Weib mit neugierigen, etwas kühlen Blauaugen, mit festen, straffen Gliedern und einem blühenden Gesicht voll Lust zu Genuß und Macht, voll Selbstgefühl und witternder Sinnenneugierde. Etwas herrisch und hochmütig hielt sie sich auf ihrem braunen Pferde, ans Befehlen gewöhnt, doch nicht verschlossen oder abwehrend, sondern unter den etwas kühlen Augen standen bewegliche Nüstern allen Düften der Welt offen, und der große lockere Mund schien des Nehmens und Gebens im höchsten Grade fähig. Im Augenblick, da Goldmund sie sah, wurde er völlig wach und voll Begierde, sich mit diesem stolzen Weib zu messen. Diese Frau zu erobern, schien ihm ein edles Ziel, und auf dem Weg zu ihr den Hals zu brechen, hätte ihm kein übler Tod geschienen. Alsbald empfand er, daß diese blonde Löwin seinesgleichen sei, an Sinnen und Seele reich, allen Stürmen zugänglich, ebenso wild wie zart, aus uralt ererbter Bluterfahrung der Leidenschaften kundig.

Sie ritt vorüber, er sah ihr nach, zwischen krausem Blondhaar und blausamtenem Kragen sah er ihren festen Nacken ragen, stark und stolz und doch von der zartesten Kinderhaut umspannt. Sie war, so wollte ihm scheinen, die schönste Frau, die er gesehen hatte. Diesen Nacken wollte er in seine Hand zu fassen bekommen und ihren Augen das blaukühle Geheimnis entreißen. Wer sie sei, war nicht schwer zu erfragen. Alsbald erfuhr er, sie wohne im Schloß und sei Agnes, die Geliebte des Statthalters; es setzte ihn nicht in Erstaunen, sie hätte die Kaiserin selbst sein können. An einem Brunnenbecken blieb er stehen und suchte sein Spiegelbild. Das Bild paßte brüderlich zum Bild der blonden Frau, nur war es gar sehr verwildert. Noch in derselben Stunde suchte er einen Barbier auf, den er kannte, und brachte ihn mit guten Worten dazu, daß er ihm Haar und Bart kurz schnitt und sauber strählte.

Zwei Tage dauerte die Verfolgung. Agnes trat aus dem Schloß, und der fremde Blonde stand schon beim Tor und sah ihr bewundernd in die Augen. Agnes ritt ums Bollwerk, und aus den Erlen trat der Fremde. Agnes war beim Goldschmied, und beim Verlassen der Werkstatt begegnete sie dem Fremden. Sie blitzte ihn kurz aus den herrischen Augen an, dabei spielte es bebend um ihre Nasenflügel. Am andern Morgen, da sie ihn beim ersten Ausritt wieder bereitstehen fand, lächelte sie ihm ihre Herausforderung zu. Auch den Grafen sah er, den Statthalter; es war ein stattlicher und kühner Mann, er war ernst zu nehmen; aber er hatte schon Grau im Haar und hatte Sorgen im Gesicht, Goldmund fühlte sich ihm überlegen.

Diese beiden Tage machten ihn glücklich, er strahlte vor wiedergewonnener Jugend. Schön war es, sich dieser Frau zu zeigen und ihr den Kampf anzubieten. Schön war es, seine Freiheit an diese Schöne zu verlieren. Schön und tief aufreizend war das Gefühl, sein Leben auf diesen einen Wurf zu setzen.

Am Morgen des dritten Tages kam Agnes zu Pferde aus dem Schloßtor, von einem berittenen Knecht begleitet. Ihre Augen blickten sogleich nach dem Verfolger aus, kampflustig und etwas unruhig. Richtig, er war schon da. Sie schickte den Knecht mit einem Auftrag fort, allein ritt sie langsam voran, ritt langsam zum untern Brückentor hinaus und über die Brücke. Nur einmal blickte sie zurück. Sie sah den Fremden folgen. Am Weg zur Wallfahrtskirche Sankt Veit, wo es um diese Zeit sehr einsam war, erwartete sie ihn. Sie mußte eine halbe Stunde warten, der Fremde ging langsam, er wollte nicht außer Atem kommen. Frisch und lächelnd kam er gegangen, ein Zweigchen mit einer hellroten Hagebutte im Mund. Sie war abgestiegen und hatte das Pferd angebunden, sie stand an den Efeu der steilen Stützmauer gelehnt und blickte dem Verfolger entgegen. Aug in Auge mit ihr blieb er stehen und zog die Mütze.

»Warum läufst du mir nach?« fragte sie, »was willst du von mir?«

»Oh«, sagte er, »ich möchte dir viel lieber etwas schenken, als etwas von dir annehmen. Ich möchte mich dir zum Geschenk anbieten, schöne Frau, mach dann mit mir, was du willst.«

»Gut, ich will sehen, was sich mit dir machen läßt. Aber wenn du gedacht hast, hier draußen gefahrlos ein Blümchen pflücken zu können, dann hast du dich getäuscht. Ich kann nur Männer lieben, die im Notfall ihr Leben daran wagen.«

»Du hast über mich zu befehlen.«

Langsam nahm sie von ihrem Halse eine dünne Goldkette und reichte sie ihm hin. »Wie heißt du denn?«

»Goldmund.«

»Schön, Goldmund; ich werde schmecken, wie golden dein Mund ist. Hör mir gut zu: du wirst diese Kette gegen Abend im Schloß herzeigen und sagen, du habest sie gefunden. Du gibst sie nicht aus den Händen, ich möchte sie selbst von dir zurückempfangen. Du kommst so, wie du bist, mögen sie dich für einen Bettler halten. Wenn einer vom Gesinde dich anschnauzt, bleibst du ruhig. Du mußt wissen, daß ich nur zwei sichere Leute im Schloß habe: den Reitknecht Max und meine Zofe Berta. Einen von den beiden mußt du erreichen und dich zu mir führen lassen. Gegen alle andern im Schloß, den Grafen eingerechnet, benimm dich vorsichtig, sie sind Feinde. Du bist gewarnt. Es kann dir das Leben kosten.«

Sie streckte ihm die Hand hin, lächelnd nahm er sie, küßte sie sanft, rieb leise seine Wange an ihr. Dann steckte er die Kette zu sich und ging davon, bergabwärts dem Fluß und der Stadt entgegen. Die Weinberge waren schon kahl, von den Bäumen wehte ein gelbes Blatt ums andere. Goldmund schüttelte lächelnd den Kopf, als er, auf die Stadt hinunterblickend, sie so freundlich und liebenswert fand. Vor wenig Tagen noch war er so traurig gewesen, traurig sogar darüber, daß auch Not und Leid vergänglich sind. Und nun waren sie in der Tat schon vergangen, hingesunken wie das goldene Laub vom Ast. Ihm schien, noch niemals habe die Liebe ihm so gestrahlt wie aus dieser Frau, deren hohe Gestalt und blonde lachende Lebensfülle ihn an das Bild seiner Mutter erinnerte, wie er es damals, als Knabe in Mariabronn, im Herzen getragen hatte. Vorgestern noch hätte er es nicht für möglich gehalten, daß ihm noch einmal die Welt so froh ins Auge lachen, daß er noch einmal den Strom des Lebens, der Freude, der Jugend so voll und drängend durch sein Blut könnte strömen fühlen. Welches Glück, daß er noch am Leben war, daß in all diesen grausigen Monaten der Tod ihn verschont hatte!

Am Abend fand er sich im Schlosse ein. Im Schloßhof ging es lebhaft zu, Pferde wurden abgesattelt, Boten liefen, ein kleiner Zug von Priestern und geistlichen Würdenträgern wurde von Dienern durchs innere Tor und die Treppe hinangeführt. Goldmund wollte ihnen nach, der Türsteher hielt ihn zurück. Er holte die Goldkette hervor und sagte, er sei angewiesen, sie niemandem auszuhändigen als der gnädigen Frau selbst oder ihrer Zofe. Man gab ihm einen Diener mit, lange mußte er in den Gängen warten. Endlich erschien eine hübsche behende Frau, die ging an ihm vorbei, fragte leise: »Seid Ihr Goldmund?« und winkte ihm, ihr zu folgen. Still verschwand sie durch eine Tür, erschien nach einer Weile wieder und winkte ihn herein.

Er kam in ein kleines Zimmer, das duftete stark nach Pelz und nach süßem Parfüm und hing voll von Kleidern und Mänteln, Frauenhüte staken auf hölzernen Bolzen, allerlei Schuhwerk stand in einer offenen Truhe. Hier stand er und wartete, wohl eine halbe Stunde, roch an den duftenden Kleidern, fuhr mit der Hand über die Pelze und lächelte neugierig über all das hübsche Zeug, das da herumhing. Endlich ging die innere Tür, und es kam nicht die Zofe, es kam Agnes selbst, in einem hellblauen Kleid, einen weißen Pelzbesatz am Halse. Langsam kam sie auf den Wartenden zugegangen, Schritt für Schritt, ernst blickten ihm die kühlblauen Augen entgegen.

»Du hast warten müssen«, sagte sie leise. »Ich glaube, wir sind jetzt sicher. Es ist eine Abordnung von Geistlichen beim Grafen, er speist mit ihnen und wird wohl noch lange Verhandlungen mit ihnen haben, die Sitzungen mit den Priestern dauern immer lange. Die Stunde gehört dir und mir. Sei willkommen, Goldmund.«

Sie neigte sich ihm entgegen, ihre verlangenden Lippen näherten sich den seinen, schweigend begrüßten sie einander im ersten Kuß. Langsam schloß er seine Hand um ihren Nacken. Sie führte ihn durch die Tür, in ihr Schlafgemach, das war hoch und hell von Kerzen erleuchtet. Auf einem Tische stand eine Mahlzeit gerüstet, sie setzten sich, sorglich legte sie ihm Brot und Butter vor und etwas Fleisch und schenkte ihm weißen Wein in ein schönes bläuliches Glas. Sie aßen, sie tranken beide aus demselben bläulichen Kelch, ihre Hände spielten probend miteinander.

»Wo kommst du denn hergeflogen«, fragte sie ihn, »mein schöner Vogel? Bist du ein Krieger, oder ein Spielmann, oder bist du bloß ein armer Landfahrer?«

»Ich bin alles, was du willst«, lachte er leise, »ich bin ganz der Deine. Ich bin ein Spielmann, wenn du willst, und du bist meine süße Laute, und wenn ich die Finger um deinen Hals lege und auf dir spiele, hören wir die Engel singen. Komm, Herz, ich bin nicht gekommen, um deine guten Kuchen zu essen und deinen weißen Wein zu trinken, ich bin nur deinetwegen gekommen.«

Leise zog er ihr den weißen Pelz vom Halse und schmeichelte ihr die Kleider vom Leibe. Mochten draußen die Höflinge und Pfaffen ihre Beratungen abhalten, mochten die Diener schleichen und der dünne Sichelmond vollends hinter die Bäume hinabschwimmen, die Liebenden wußten nichts davon. Ihnen blühte das Paradies, zueinander gezogen und ineinander verschlungen verloren sie sich in seine duftende Nacht, sahen seine weißen Blumengeheimnisse dämmern, pflückten mit zärtlichen und dankbaren Händen seine ersehnten Früchte. Noch nie hatte der Spielmann auf einer solchen Laute gespielt, noch nie hatte die Laute unter so starken und kundigen Fingern geklungen.

»Goldmund«, flüsterte sie ihm glühend ins Ohr, »oh, was bist du für ein Zauberer! Von dir, du süßer Goldfisch, möchte ich ein Kind haben. Und noch lieber möchte ich an dir sterben. Trink mich aus, Geliebter, schmilz mich, töte mich!«

Tief in seiner Kehle summte ein Ton des Glückes, als er die Härte in ihren kühlen Augen hinschmelzen und schwach werden sah. Wie ein zärtliches Zittern und Sterben flog der Schauer in der Tiefe ihrer Augen vorüber, erlöschend wie der Silberschauder auf der Haut eines sterbenden Fisches, mattgolden wie das Aufblinken jener Zauberschimmer tief im Flusse. Alles nur irgend dem Menschen erlebbare Glück schien ihm in diesen Augenblick zusammengeronnen.

Gleich darauf, während sie mit geschlossenen Augen bebend lag, erhob er sich leise und schlüpfte in seine Kleider. Mit einem Seufzer sagte er ihr ins Ohr: »Mein schöner Schatz, ich verlasse dich. Ich mag nicht sterben, ich mag nicht von diesem Grafen totgeschlagen werden. Erst will ich noch einmal dich und mich so selig machen, wie wir es heut gewesen sind. Noch einmal, noch viele Male!«

Schweigend blieb sie liegen, bis er angekleidet war. Nun schlug er sachte die Decke über sie und küßte ihre Augen.

»Goldmund«, sagte sie, »oh, daß du fortgehen mußt! Komm morgen wieder! Wenn Gefahr ist, dann lasse ich dich warnen. Komm wieder, komm morgen wieder!«

Sie zog an einem Glockenstrang. In der Tür zur Kleiderkammer empfing ihn die Zofe und brachte ihn aus dem Schloß. Gern hätte er ihr ein Goldstück gegeben; er schämte sich einen Augenblick seiner Armut.

Gegen Mitternacht stand er auf dem Fischmarkt und sah am Hause empor. Es war spät, niemand mehr würde wach sein, wahrscheinlich würde er die Nacht draußen bleiben müssen. Zu seinem Erstaunen fand er die Haustür offen. Leise schlich er hinein und schloß hinter sich das Tor. Der Weg zu seiner Kammer führte durch die Küche. Dort war Licht. Bei einem winzigen Öllämpchen saß Marie am Küchentisch. Eben war sie eingenickt, nachdem sie zwei, drei Stunden gewartet hatte. Sie erschrak und sprang auf, als er eintrat.

»Oh«, sagte er, »Marie, bist denn du noch auf?«

»Ich bin auf«, sagte sie. »Sonst hättest du das Haus verschlossen gefunden.«

»Es tut mir leid, Marie, daß du gewartet hast. Es ist so spät geworden. Sei mir nicht böse.«

»Ich bin dir nie böse, Goldmund. Ich bin nur ein wenig traurig.«

»Traurig sollst du nicht sein. Warum denn traurig?«

»Ach, Goldmund, ich möchte wohl, daß ich gesund und schön und stark wäre. Dann müßtest du nicht in der Nacht in fremde Häuser gehen und andere Frauen liebhaben. Dann würdest du wohl auch einmal bei mir bleiben und mit mir ein wenig lieb sein.«

Keine Hoffnung klang in ihrer sanften Stimme, und keine Bitterkeit, nur Trauer. Verlegen stand er bei ihr, sie tat ihm so leid, er wußte nichts zu sagen. Mit vorsichtiger Hand faßte er nach ihrem Kopf und streichelte ihr Haar, und sie stand und hielt still, fühlte schauernd seine Hand auf ihrem Haar, weinte ein wenig, richtete sich wieder auf und sagte schüchtern:

»Geh nun zu Bett, Goldmund. Ich habe dummes Zeug gesprochen, ich war so schläfrig. Gute Nacht.«

Sechzehntes Kapitel

Einen Tag voll glücklicher Ungeduld brachte Goldmund auf den Hügeln zu. Hätte er ein Pferd gehabt, so wäre er heut ins Kloster zu der schönen Madonna seines Meisters geritten; es verlangte ihn, sie noch einmal zu sehen, auch schien ihm, er habe nachts vom Meister Niklaus geträumt. Nun, er würde es nachholen. Sollte auch dies Liebesglück mit Agnes vielleicht von kurzer Dauer sein, vielleicht zu Bösem führen – heut stand es in Blüte, er durfte nichts davon versäumen. Er wollte heute keine Menschen sehen und nicht zerstreut sein, er wollte den sanften Herbsttag draußen verbringen, unter den Bäumen und Wolken. Er sagte es Marie, daß er einen Gang über Land im Sinn habe und wohl erst spät zurückkommen werde, sie möge ihm ein tüchtiges Stück Brot mitgeben, und am Abend möge sie doch nicht seinetwegen warten. Sie sagte nichts dazu, sie steckte ihm die Tasche voll Brot und Äpfeln, fuhr mit der Bürste über seinen alten Rock, dessen Schäden sie gleich am ersten Tage geflickt hatte, und ließ ihn ziehen.

Er spazierte über den Fluß und durch die leeren Weinberge auf steilen Treppenwegen hügelan, verlor sich oben im Walde und hörte nicht auf zu steigen, bis er den letzten Höhenkranz erreicht hatte. Da schien die Sonne lau durch das Gestänge der kahlen Bäume, Amseln flohen vor seinen Schritten ins Gebüsch, saßen scheu geduckt und schauten aus schwarzblanken Augen aus dem Dickicht, und weit unten in blauem Bogen floß der Strom und lag die Stadt klein wie Spielzeug hingebaut, von dort war kein Ton mehr zu hören als die Geläute zu den Betzeiten. Hier oben gab es kleine grasbewachsene Wälle und Hügel aus alter heidnischer Zeit, vielleicht Befestigungen, vielleicht Gräber. Auf einem dieser Hügel ließ er sich nieder, hier saß man trocken im knisternden Herbstgras und übersah das ganze weite Tal und jenseits des Flusses die Hügel und Berge, Kette hinter Kette, bis wo Gebirg und Himmel in bläulichem Spiel sich begegneten und nicht mehr zu unterscheiden waren. All dies weite Land und viel weiter noch, als ein Auge sehen konnte, hatten seine Füße durchwandert; alle diese Gegenden, die jetzt Ferne und Erinnerung waren, waren einmal Nähe und Gegenwart gewesen. In diesen Wäldern hatte er hundertmal geschlafen, hatte Beeren gegessen, hatte gehungert und gefroren, über diese Bergkämme und Heidestriche war er gewandert, war froh und traurig, war frisch und war müde gewesen. Irgendwo in dieser Ferne, jenseits des Sichtbaren, lagen die verbrannten Knochen der guten Lene, dort irgendwo mochte sein Kamerad Robert noch immer auf Wanderung sein, wenn nicht die Pest ihn geholt hatte; da draußen irgendwo lag der tote Viktor, und irgendwo auch, weit und verzaubert, lag das Kloster seiner Jugendjahre, stand die Burg des Ritters mit den schönen Töchtern, lief arm und gehetzt die arme Rebekka oder war umgekommen. Alle diese vielen, weit zerstreuten Orte, diese Heiden und Wälder, diese Städte und Dörfer, Burgen und Klöster, alle diese Menschen, sie mochten leben oder tot sein, wußte er in sich innen vorhanden und miteinander verbunden, in seiner Erinnerung, in seiner Liebe, seiner Reue, seiner Sehnsucht. Und wenn morgen auch ihn der Tod holte, dann würde das alles wieder auseinanderfallen und auslöschen, dies ganze Bilderbuch, so voll von Frauen und Liebe, von Sommermorgen und Winternächten. Oh, es war an der Zeit, noch etwas zu tun, noch etwas zu schaffen und hinter sich zu lassen, das ihn überdaure.

Von diesem Leben, von diesen Wanderungen, von allen diesen Jahren seit seinem Auszug in die Welt war bis heute wenig Frucht übriggeblieben. Übriggeblieben waren die paar Figuren, die er einst in der Werkstatt gemacht hatte, namentlich der Johannes, und dann noch dies Bilderbuch, diese unwirkliche Welt in seinem Kopfe drin, diese schöne und schmerzliche Bilderwelt der Erinnerungen. Würde es ihm gelingen, einiges von dieser inneren Welt zu retten und nach außen zu stellen? Oder würde es nur immer so weitergehen: immer neue Städte, neue Landschaften, neue Frauen, neue Erlebnisse, neue Bilder, eins aufs andere gehäuft, von denen er nichts davontrug, als diese unruhige, ebenso quälende wie schöne Uberfülltheit des Herzens?

Es war ja schmählich, wie man vom Leben genarrt wurde, es war zum Lachen und zum Weinen! Entweder lebte man, ließ seine Sinne spielen, sog sich voll an der Brust der alten Eva-Mutter – dann gab es zwar manche hohe Lust, aber keinen Schutz gegen die Vergänglichkeit; man war dann wie ein Pilz im Walde, der heut in schönen Farben strotzt und morgen verfault ist. Oder man setzte sich zur Wehr, man sperrte sich in eine Werkstatt ein und suchte dem flüchtigen Leben ein Denkmal zu bauen – dann mußte man auf das Leben verzichten, dann war man bloß noch Werkzeug, dann stand man zwar im Dienst des Unvergänglichen, aber man dorrte dabei ein und verlor die Freiheit, Fülle und Lust des Lebens. So war es dem Meister Niklaus ergangen.

Ach, und es hatte dies ganze Leben doch nur dann einen Sinn, wenn beides sich erringen ließ, wenn das Leben nicht durch dies dürre Entweder-Oder gespalten war! Schaffen, ohne dafür den Preis des Lebens zu bezahlen! Leben, ohne doch auf den Adel des Schöpfertums zu verzichten! War denn das nicht möglich?

Vielleicht gab es Menschen, denen es möglich war. Vielleicht gab es Ehemänner und Familienväter, denen über der Treue nicht die Sinnenlust verlorenging? Vielleicht gab es Seßhafte, denen der Mangel an Freiheit und an Gefahr das Herz nicht eindorren ließ? Vielleicht. Gesehen hatte er noch keinen.

Es schien alles Dasein auf der Zweiheit, auf den Gegensätzen zu beruhen; man war entweder Frau oder Mann, entweder Landfahrer oder Spießbürger, entweder verständig oder gefühlig – nirgends war Einatmen und Ausatmen, Mannsein und Weibsein, Freiheit und Ordnung, Trieb und Geist gleichzeitig zu erleben, immer mußte man das eine mit dem Verlust des anderen bezahlen, und immer war das eine so wichtig und begehrenswert wie das andere! Die Frauen hatten es hierin vielleicht leichter. Bei ihnen hatte die Natur es so geschaffen, daß von selbst die Lust ihre Frucht trug und aus dem Liebesglück das Kind wurde. Beim Manne war statt dieser einfachen Fruchtbarkeit die ewige Sehnsucht da. War der Gott, der alles so geschaffen hatte, denn böse oder feindselig, lachte er schadenfroh über seine eigene Schöpfung? Nein, er konnte nicht böse sein, wenn er die Rehe und Hirsche, die Fische und Vögel, den Wald, die Blumen, die Jahreszeiten geschaffen hatte. Aber der Riß ging durch seine Schöpfung, sei es nun, daß sie mißglückt und unvollkommen war, sei es, daß Gott eben mit dieser Lücke und Sehnsucht des Menschendaseins besondere Absichten haben mochte, sei es, daß dies der Same des Feindes war, die Erbsünde? Aber warum denn sollte diese Sehnsucht und Ungenüge Sünde sein? Entstand nicht aus ihr alles Schöne und Heilige, was der Mensch geschaffen hatte und Gott als Dankesopfer zurückgab?

Von seinen Gedanken bedrückt, richtete er den Blick auf die Stadt, erspähte Markt und Fischmarkt, die Brücken, die Kirchen, das Rathaus. Und da war auch das Schloß, der stolze Bischofspalast, in dem jetzt der Graf Heinrich regierte. Unter diesen Türmen und langen Dächern wohnte Agnes, wohnte seine schöne königliche Geliebte, die so hochmütig aussah und in der Liebe sich doch so sehr vergessen und hingeben konnte. Freudig dachte er an sie, freudig und dankbar erinnerte er sich der vergangenen Nacht. Um das Glück dieser Nacht erleben, um diese wunderbare Frau so beglücken zu können, dazu hatte es seines ganzen Lebens bedurft, all der Schulung durch Frauen, all der Wanderschaft und Not, all der durchwanderten Schneenächte und all der Freundschaft und Vertrautheit mit Tieren, Blumen, Bäumen, Wassern, Fischen, Schmetterlingen. Es bedurfte dazu der in Wollust und in Gefahr geschärften Sinne, der Heimatlosigkeit, der ganzen in vielen Jahren gehäuften Bilderwelt im Innern. Solange sein Leben ein Garten war, in dem solche Zauberblumen wie Agnes blühten, durfte er nicht klagen.

Den ganzen Tag brachte er auf den herbstlichen Höhen zu, wandernd, rastend, Brot essend, an Agnes und den Abend denkend. Um die Zeit des Zunachtens war er wieder in der Stadt und näherte sich dem Schloß. Es war kühl geworden, und die Häuser blickten aus stillen roten Fensteraugen, es begegnete ihm ein kleiner Zug von singenden Knaben, die trugen auf Stäben ausgehöhlte Rüben über sich, in welche Gesichter geschnitzt und brennende Kerzen gesteckt waren. Der kleine Mummenschanz brachte einen Duft von Winter mit sich, lächelnd sah Goldmund ihm nach. Lange Zeit trieb er sich vor dem Schloß herum. Noch immer war die Pfaffengesandtschaft da, hier und dort sah man in einem Fenster einen der geistlichen Herren stehen. Endlich gelang es ihm, sich ins Innere zu schleichen und die Zofe Berta zu finden. Wieder wurde er in der Kleiderkammer verborgen, bis Agnes erschien und ihn zärtlich in ihr Zimmer führte. Zärtlich empfing ihn ihr schönes Gesicht, zärtlich, aber gar nicht froh; sie war traurig, sie machte sich Sorgen, sie war ängstlich. Er mußte sich viel Mühe geben, sie ein wenig zu erheitern. Langsam gewann sie unter seinen Küssen und Liebesworten etwas Zuversicht.

»Du kannst so sehr lieb sein«, sagte sie dankbar. »Du hast so tiefe Töne in deiner Kehle, mein Vogel, wenn du zärtlich bist und gurrst und schwatzest. Ich hab dich lieb, Goldmund. Wenn wir doch weit von hier wären! Es gefällt mir nicht mehr hier, es wird ja ohnehin bald zu Ende sein, der Graf ist abberufen, bald soll der dumme Bischof zurückommen. Der Graf ist heut böse, die Pfaffen haben ihn geplagt. Ach du, daß er dich nicht zu sehen bekommt! Du würdest keine Stunde mehr leben. Es ist mir so bange um dich.«

In seiner Erinnerung stiegen halbverlorene Klänge auf – hatte er nicht dies Lied schon vor Zeiten einmal gehört? So hatte einst Lydia zu ihm gesprochen, so liebend und angstvoll, so zärtlich-traurig. So war sie nachts in seine Kammer gekommen, voll Liebe und voll Angst, voll Sorgen, voll von schrecklichen Bildern der Furcht. Er hörte es gerne, das zärtlich-ängstliche Lied. Was wäre Liebe ohne Heimlichkeit! Was wäre Liebe ohne Gefahr!

Sanft zog er Agnes an sich, streichelte sie, hielt ihre Hand, summte ihr leise Werbungen ins Ohr, küßte ihre Augenbrauen. Es rührte und entzückte ihn, sie seinetwegen so angstvoll und besorgt zu finden. Dankbar empfing sie seine Liebkosungen, beinahe demütig, sie drängte sich voll Liebe an ihn, aber heiter wurde sie nicht.

Und plötzlich zuckte sie heftig zusammen, man hörte in der Nähe eine Tür zuschlagen, und rasche Schritte näherten sich dem Zimmer.

»Um Gottes willen, er ist es!« rief sie verzweifelt, »es ist der Graf. Schnell, durch die Kammer kannst du entkommen. Schnell! Verrate mich nicht!«

Schon hatte sie ihn in die Kleiderkammer gedrängt, allein stand er und tappte zögernd im Finstern. Drüben hörte er den Grafen laut mit Agnes sprechen. Er tastete sich zwischen den Kleidern hindurch zur Ausgangstür, lautlos setzte er Fuß vor Fuß. Nun war er bei der Türe, die zum Korridor führte, und suchte sie leise zu öffnen. Und in diesem Augenblick erst, als er die Tür von außen verschlossen fand, erschrak auch er, und sein Herz begann wild und schmerzhaft zu schlagen. Es konnte ein unglücklicher Zufall sein, daß jemand, seit er hier hereingekommen war, diese Tür verschlossen hatte. Er glaubte aber nicht daran. Er war in eine Falle gegangen, er war verloren; irgend jemand mußte ihn gesehen haben, als er hier hereinschlich. Es würde ihm den Hals kosten. Zitternd stand er im Finstern, und sogleich fiel Agnesens Abschiedswort ihm ein: »Verrate mich nicht!« Nein, er würde sie nicht verraten. Sein Herz hämmerte, aber der Entschluß machte ihn fest, trotzig biß er die Zähne zusammen.

Dies war alles in wenigen Augenblicken geschehen. Jetzt ging jenseits die Tür, und aus Agnesens Zimmer trat der Graf herein, mit einem Leuchter in der Linken und dem gezogenen Schwert in der Rechten. Im selben Augenblick raffte Goldmund mit hastigem Griff einige von den rings um ihn hängenden Kleidern und Mänteln zusammen und nahm sie über den Arm. Man sollte ihn für einen Dieb halten, vielleicht war dies ein Ausweg.

Der Graf hatte ihn sofort gesehen. Langsam kam er heran. »Wer ist man? Was tut man hier? Antwort, oder ich stoße zu.«

»Verzeihet«, flüsterte Goldmund, »ich bin ein armer Mann, und Ihr seid so reich! Ich gebe alles zurück, Herr, was ich genommen habe, seht!«

Und er legte die Mäntel an den Boden.

»So, also gestohlen hast du? Es war nicht klug von dir, für einen alten Mantel dein Leben zu wagen. Bist du ein Stadtbürger?«

»Nein, Herr, ich bin heimatlos. Ich bin ein armer Mann, Ihr werdet Nachsicht haben –«

»Hör auf! Ich möchte wohl wissen, ob du am Ende so frech warst, die gnädige Frau belästigen zu wollen. Aber da du ohnehin gehängt wirst, brauchen wir das nicht zu untersuchen. Der Diebstahl genügt.«

Er klopfte heftig gegen die geschlossene Tür und rief: »Seid ihr da? Aufmachen!«

Die Tür wurde von außen geöffnet, drei Knechte standen mit gezogenen Klingen bereit.

»Bindet ihn gut«, rief der Graf mit einer Stimme, die vor Hohn und Hochmut knarrte. »Es ist ein Landstreicher, der hier gestohlen hat. Setzt ihn fest, und morgen früh hängt den Schelm an den Galgen.«

Es wurden Goldmund, ohne daß er sich wehrte, die Hände zusammengeschnürt. So wurde er abgeführt, durch den langen Gang, die Treppen hinab über den inneren Hof, ein Diener trug ein Windlicht voraus. Vor einem runden eisenbeschlagenen Kellertor blieben sie stehen, es wurde verhandelt und gescholten, es fehlte der Schlüssel zum Tor, ein Knecht nahm das Windlicht, der Diener lief zurück, nach dem Schlüssel. So standen sie, die drei Bewaffneten und der Gebundene, und warteten vor dem Tor. Der mit dem Licht zündete dem Gefangenen neugierig ins Gesicht. In diesem Augenblick kamen zwei von den Priestern vorüber, deren so viele im Schloß zu Gast waren, sie kamen von der Schloßkapelle her und blieben vor der Gruppe stehen, beide sahen sich die nächtliche Szene aufmerksam an: die drei Knechte, den gebundenen Mann, wie sie dastanden und warteten. Goldmund bemerkte weder die Priester, noch sah er seine Wächter an. Er konnte nichts sehen als das leise flackernde Licht, das dicht vor sein Gesicht gehalten wurde und ihm in die Augen blendete. Und hinter dem Licht in einer Dämmerung voll Grauen sah er noch etwas, etwas Gestaltloses, Großes, Gespenstisches: den Abgrund, das Ende, den Tod. Mit starren Augen stand er, nichts sehend und hörend. Einer der Priester flüsterte angelegentlich mit den Knechten. Als er hörte, daß der Mann sterben müsse und ein Dieb sei, fragte er, ob er einen Beichtvater gehabt habe. Nein, hieß es, er sei auf frischer Tat festgenommen.

»So werde ich«, sagte der Priester, »am Morgen vor der Frühmesse mit den heiligen Sakramenten zu ihm kommen und seine Beichte hören. Ihr stehet mir dafür, daß er nicht vorher abgeführt wird. Mit dem Herrn Grafen spreche ich noch heut. Der Mann mag ein Dieb sein, er hat doch das Recht jedes Christen auf den Beichtvater und die Sakramente.«

Die Knechte wagten keinen Widerspruch. Sie kannten den geistlichen Herrn, er gehörte zu den Herren von der Gesandtschaft, sie hatten ihn mehrmals an des Grafen Tisch speisen sehen. Und warum auch sollte man dem armen Vagabunden die Beichte nicht gönnen? Die Herren gingen davon. Goldmund stand und starrte. Endlich kam der Diener mit dem Schlüssel und schloß auf. Der Gefangene wurde in ein Kellergewölbe geführt, stolpernd taumelte er die paar Stufen hinab. Ein paar dreibeinige Stühle ohne Lehne standen hier herum und ein Tisch, es war der Vorraum eines Weinkellers. Sie rückten ihm ein Stühlchen an den Tisch und hießen ihn sitzen.

»Es kommt morgen in der Frühe ein Pfaff, da kannst du noch beichten«, sagte ihm einer von den Knechten. Dann gingen sie und verschlossen das schwere Tor mit Sorgfalt.

»Laß mir das Licht da, Kamerad«, bat Goldmund.

»Nein, Brüderchen, damit könntest du Unfug anrichten. Es wird auch so gehen. Sei gescheit und schick dich drein. Und wie lang brennt denn so ein Licht? In einer Stunde wär es doch aus. Gut Nacht.«

Nun war er im Finstern allein, saß auf dem Stühlchen und legte den Kopf auf den Tisch. Es war schlecht so zu sitzen, und die Einschnürungen an seinen Handgelenken taten weh, doch drangen diese Empfindungen erst spät in sein Bewußtsein. Vorerst saß er nur und legte den Kopf auf den Tisch wie auf einen Richtblock, es trieb ihn ein Drang, auch mit Leib und Sinnen das zu tun, was jetzt seinem Herzen auferlegt war: sich hinzugeben in das Unentrinnbare, sich zu ergeben in das Sterbenmüssen.

Eine Ewigkeit lang blieb er so sitzen, jammervoll hingebogen, und versuchte, das Auferlegte auf sich zu nehmen, es einzuatmen, es einzusehen und sich mit ihm zu erfüllen. Es war jetzt Abend, es begann die Nacht, und das Ende dieser Nacht wird auch ihm das Ende bringen. Das mußte er versuchen zu begreifen. Er wird morgen nicht mehr leben. Er wird hängen, er wird ein Ding sein, auf das die Vögel sich setzen und an dem sie picken, er wird das sein, was der Meister Niklaus war, was die Lene in der verbrannten Hütte war, was alle jene waren, die er in den leergestorbenen Häusern und auf den vollgestopften Leichenkarren hatte hegen sehen. Es war nicht leicht, es einzusehen und sich davon erfüllen zu lassen. Es war geradezu unmöglich, es einzusehen. Es war allzu vieles, wovon er sich noch nicht getrennt hatte, wovon er noch nicht Abschied genommen hatte. Die Stunden dieser Nacht waren ihm gegeben, um es zu tun.

Er mußte Abschied nehmen von der schönen Agnes, nie mehr würde er ihre große Gestalt, ihr lichtes sonniges Haar, ihre kühlen blauen Augen sehen, nie das Schwachwerden und Zittern des Hochmuts in diesen Augen, nie mehr den süßen Goldflaum auf ihrer duftenden Haut. Lebt wohl, blaue Augen, leb wohl, feuchter zuckender Mund! Oft noch hatte er ihn zu küssen gehofft. Oh, noch heut auf den Hügeln, in der Spätherbstsonne, wie hatte er ihrer gedacht, ihr angehört, sich nach ihr gesehnt! Aber Abschied nehmen mußte er auch von den Hügeln, von der Sonne, vom blauen weißgewölkten Himmel, Abschied von den Bäumen und Wäldern, von der Wanderschaft, von den Tageszeiten und Jahreszeiten. Nun saß vielleicht Marie noch auf, die arme Marie mit den guten liebenden Augen und dem hinkenden Gang, saß und wartete, schlief in ihrer Küche ein und wachte wieder auf, und kein Goldmund kam mehr nach Hause.

Ach, und das Papier und der Zeichenstift, und die Hoffnung auf alle die Figuren, die er noch hatte machen wollen! Dahin, dahin! Und die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Narziß, mit dem lieben Jünger Johannes, auch sie mußte er hingeben.

Und Abschied nehmen mußte er von seinen eigenen Händen, von seinen eigenen Augen, von Hunger und Durst, Speise und Trank, von der Liebe, vom Lautenspielen, vom Schlafen und Erwachen, von allem. Morgen flog ein Vogel durch die Luft, und Goldmund sah ihn nicht mehr, es sang ein Mädchen am Fenster, und er hörte es nicht mehr singen, es lief der Strom und schwammen stumm die dunkeln Fische, es ging ein Wind und fegte das gelbe Laub am Boden, es schien eine Sonne und ein Sternenhimmel, es zogen junge Leute zum Tanzplatz, es lag ein erster Schnee auf den fernen Bergen – und alles ging weiter, alle Bäume legten ihre Schatten neben sich, alle Menschen blickten froh oder traurig aus ihren lebendigen Augen, die Hunde bellten, die Kühe brüllten in den Ställen der Dörfer, und alles ohne ihn, alles gehörte ihm nicht mehr, von allem war er weggerissen. Er roch den Morgengeruch der Heide, er schmeckte den süßen jungen Wein und die jungen festen Walnüsse, es flog eine Erinnerung, ein aufleuchtender Widerschein der ganzen farbigen Welt durch sein bedrängtes Herz, untersinkend und Abschied nehmend glänzte das ganze schöne wirre Leben noch einmal durch alle seine Sinne, und er zog sich in ausbrechendem Weh zusammen und fühlte Träne um Träne aus seinen Augen rinnen. Aufschluchzend gab er sich der Woge hin, heftig flossen seine Tränen, zusammenstürzend gab er sich dem unendlichen Weh anheim. Oh, ihr Täler und waldigen Berge, ihr Bäche im grünen Erlengehölz, ihr Mädchen, ihr Mondabende auf den Brücken, o du schöne strahlende Bilderwelt, wie soll ich dich lassen! Weinend lag er über dem Tisch, ein trostloses Kind. Aus der Not seines Herzens stieg ein Seufzer und flehender Klageruf: »O Mutter, o Mutter!«

Und indem er den Zaubernamen sprach, antwortete ihm ein Bild aus der Tiefe seiner Erinnerungen, das Bild der Mutter. Es war nicht die Muttergestalt seiner Gedanken und Künstlerträume, es war das Bild seiner eigenen Mutter, schön und lebendig, wie er es seit den Klosterzelten nie mehr gesehen hatte. An sie richtete er seine Klage, ihr weinte er dies unerträgliche Leid des Sterbenmüssens entgegen, ihr gab er sich anheim, ihr gab er den Wald, die Sonne, die Augen, die Hände, ihr gab er sein ganzes Wesen und Leben zurück, in die mütterlichen Hände.

Mitten in seinen Tränen schlief er ein; mütterlich nahm ihn Erschöpfung und Schlaf in die Arme. Eine Stunde schlief er, oder zwei, und war dem Elend entrückt.

Wieder erwacht, empfand er heftige Schmerzen. Peinlich brannten die zerschnürten Handgelenke, zerrende Schmerzen zogen durch Rücken und Nacken. Mit Mühe richtete er sich auf, kam zu sich und erkannte seine Lage wieder. Es war vollkommen schwarze Finsternis um ihn her, er wußte nicht, wie lang er geschlafen habe, er wußte nicht, wieviel Stunden ihm noch zu leben blieben. Vielleicht schon im nächsten Augenblick kamen sie und holten ihn fort, zum Sterben. Da erinnerte er sich, daß ihm ein Priester versprochen worden war. Er glaubte nicht, daß dessen Sakramente ihm viel würden nützen können. Er wußte nicht, ob auch die vollkommenste Lossprechung und Sündenvergebung ihn in den Himmel bringen könne. Er wußte nicht, ob es einen Himmel gebe, und einen Gottvater, und ein Gericht und eine Ewigkeit. Er hatte in diesen Dingen seit langem jede Gewißheit verloren.

Aber ob es nun eine Ewigkeit geben mochte oder nicht: er begehrte sie nicht, er wollte nichts als dies unsichere, vergängliche Leben, dieses Atmen, dieses Zuhausesein in seiner Haut, er wollte nichts als leben. Rasend richtete er sich auf, tappte schwankend im Dunkeln bis zur Mauer, lehnte sich aufrecht an die Wand und begann nachzudenken. Es mußte doch eine Rettung geben! Vielleicht war der Priester die Rettung, war vielleicht von seiner Unschuld zu überzeugen, legte ein Wort für ihn ein oder verhalf ihm zu Aufschub oder Flucht? Heftig vertiefte er sich in diese Gedanken, immer wieder. Und wenn es damit nichts war, so wollte er es doch nicht aufgeben, das Spiel durfte noch nicht verloren sein. Er würde also zuerst versuchen, den Priester für sich zu gewinnen, er würde sich die äußerste Mühe geben, ihn zu bezaubern, ihn warm zu bekommen, ihn zu überzeugen, ihm zu schmeicheln. Der Priester war die einzige gute Karte in seinem Spiel, alle andern Möglichkeiten waren Träume. Immerhin, es gab Zufälle und Fügungen; der Henker konnte eine Kolik bekommen, der Galgen konnte brechen, es konnte sich eine vorher nicht auszudenkende Fluchtmöglichkeit einstellen. Auf alle Fälle weigerte Goldmund sich zu sterben; er hatte vergeblich versucht, dies Schicksal in sich einzulassen und aufzunehmen, es war ihm nicht gelungen. Er würde sich zur Wehr setzen und bis aufs äußerste kämpfen, er würde dem Wächter ein Bein stellen, er würde den Henker niederrennen, er würde sich bis zum letzten Augenblick mit jedem Blutstropfen um sein Leben wehren. – Oh, wenn er doch den Pfaffen dazu bringen könnte, daß er ihm die Hände losbände! Unendlich viel wäre dann gewonnen.

Inzwischen versuchte er, auf die Schmerzen nicht achtend, mit seinen Zähnen an den Stricken zu arbeiten. Mit wütender Anstrengung brachte er es nach grausam langer Zeit dahin, daß sie ihm ein wenig gelockert schienen. Er stand keuchend in der Nacht seines Gefängnisses, die verschwollenen Arme und Hände taten sehr weh. Als er wieder zu Atem gekommen war, schlich er tastend die Mauer entlang, immer weiter, durchforschte Schritt um Schritt die feuchte Kellerwand, ob er keine vorspringende Kante finde. Da fielen die Stufen ihm ein, über die er in dies Verlies gestolpert war. Er suchte und fand sie. Er kniete nieder und versuchte, den Strick an einer der steinernen Stufenkanten zu reiben. Es ging schwer, immer trafen statt des Stricks seine Handknöchel auf den Stein, es schmerzte wie Feuer, er fühlte das Blut rinnen. Doch ließ er nicht nach. Als schon zwischen Tor und Schwelle ein kläglich dünner Streifen grauen Morgenscheines zu sehen war, hatte er es erreicht. Der Strick war durchgerieben, er konnte ihn lösen, er hatte die Hände frei! Nachher aber konnte er kaum einen Finger bewegen, die Hände waren verschwollen und abgestorben, und die Arme waren bis in die Schultern hinauf steif verkrampft. Er mußte sie üben, er zwang sie zu Bewegungen, damit das Blut sie wieder durchströme. Denn er hatte jetzt einen Plan, der ihm gut schien.

Sollte er es gar nicht erreichen können, daß der Pfaffe ihm half, nun dann mußte er, falls man den Mann auch nur die kleinste Weile mit ihm allein ließ, ihn totschlagen. Mit einem der Stühle würde es gehen. Erwürgen konnte er ihn nicht, dazu war nicht Kraft genug in Händen und Armen. Also ihn erschlagen, schnell sein Priesterkleid umnehmen und darin entkommen! Bis die andern den Totgeschlagenen fanden, mußte er aus dem Schlosse sein, und dann laufen, laufen! Marie würde ihn hereinlassen und verbergen. Er mußte es versuchen. Es war möglich.

Noch nie in seinem Leben hatte Goldmund das Morgengrauen so beobachtet, erharrt, ersehnt und doch gefürchtet wie in dieser Stunde. Bebend vor Spannung und Entschlossenheit äugte er mit Jägeraugen, wie der elende Lichtspalt unterm Tor langsam, langsam heller wurde. Er kehrte zum Tisch zurück und übte sich darin, so mit den Händen zwischen den Knien auf der Stabelle zu hocken, daß man das Fehlen seiner Fesseln nicht gleich bemerken konnte. Seit seine Hände frei waren, glaubte er nicht mehr an den Tod. Er war entschlossen durchzukommen, und wenn die ganze Welt dabei in Scherben ging. Er war entschlossen zu leben, um jeden Preis. Seine Nase bebte vor Begierde nach Freiheit und Leben. Und wer weiß, vielleicht kam man ihm von draußen zu Hilfe? Agnes war ein Weib, und ihre Macht reichte nicht weit, vielleicht auch nicht ihr Mut; es war möglich, daß sie ihn preisgab. Aber sie liebte ihn, vielleicht konnte sie doch etwas tun. Vielleicht schlich draußen die Zofe Berta – und gab es nicht auch noch einen Reitknecht, von dem sie meinte, daß Verlaß auf ihn sei? Und wenn niemand erschien und ihm kein Zeichen gegeben wurde, nun, dann führte er seinen Plan aus. Mißglückte er, so schlug er mit dem Stuhl die Wächter tot, zwei oder drei oder wie viele eben kamen. Eines Vorteils war er gewiß: seine Augen hatten sich an den finsteren Raum gewöhnt, jetzt in der Dämmerung erkannte er ahnend alle Formen und Maße, während die anderen hier zuerst ganz blind sein würden.

Fiebernd hockte er nun am Tisch, genau überlegend, was er dem Priester zu sagen habe, um ihn als Helfer zu gewinnen, denn damit mußte begonnen werden. Zugleich beobachtete er gierig das bescheidene Wachsen des Lichtes in der Spalte. Den Augenblick, den er vor Stunden so sehr gefürchtet hatte, ersehnte er jetzt mit Inbrunst, kaum konnte er ihn mehr erwarten; die furchtbare Spannung ließ sich nicht lange mehr ertragen. Auch mußten ja seine Kräfte, seine Aufmerksamkeit, seine Entschlußkraft und Wachheit allmählich wieder abnehmen. Der Wärter mit dem Priester mußte bald kommen, solang diese gespannte Bereitschaft, dieser entschlossene Wille zur Rettung noch in der Blüte stand.

Endlich erwachte draußen die Welt, endlich näherte sich der Feind. Es hallten Schritte auf dem Hofpflaster, es wurde der Schlüssel ins Loch gesteckt und gedreht, jeder dieser Laute klang nach der langen Todesstille laut wie Donner. Und jetzt öffnete sich langsam das schwere Tor ein Stückchen weit und kreischte in den Angeln. Herein kam ein Geistlicher, ohne Begleitung, ohne Wächter. Allein kam er herein, einen Leuchter mit zwei Kerzen tragend. Nun war alles wieder anders, als der Gefangene es sich gedacht hatte. Und wie sonderbar und bewegend: der eingetretene Priester, hinter welchem unsichtbare Hände die Tür wieder zudrückten, trug die Ordenstracht des Klosters Mariabronn, die wohlbekannte, heimatliche Tracht, wie sie einst der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Pater Martin getragen hatten! Der Anblick gab ihm einen wunderlichen Stoß im Herzen, er mußte die Augen abwenden. Das Erscheinen dieser Klostertracht mochte Freundliches versprechen, es mochte ein gutes Zeichen sein. Aber vielleicht gab es doch keinen andern Ausweg als den Totschlag. Er biß die Zähne zusammen. Es würde ihm sehr schwerfallen, diesen Ordensbruder umzubringen.

Siebzehntes Kapitel

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pater und setzte den Leuchter auf den Tisch. Murmelnd responsierte Goldmund, vor sich niederstarrend.

Der Geistliche schwieg. Wartend stand er da und schwieg, bis Goldmund unruhig wurde und seine Augen forschend auf den Mann richtete, der vor ihm stand. Dieser Mann, so sah er jetzt zu seiner Verwirrung, trug nicht nur die Tracht der Patres von Mariabronn, er trug auch die Abzeichen der Abtswürde.

Und nun blickte er dem Abt ins Gesicht. Es war ein hageres Gesicht, fest und klar geschnitten, mit sehr dünnen Lippen. Es war ein Gesicht, das er kannte. Wie verzaubert blickte Goldmund in dies Gesicht, das ganz von Geist und Wille geformt schien. Mit unsicherer Hand griff er nach dem Leuchter, hob ihn auf und näherte ihn dem fremden Gesicht, um die Augen darin sehen zu können. Er sah sie, und der Leuchter zitterte in seiner Hand, als er ihn zurückstellte.

»Narziß!« flüsterte er kaum hörbar. Es begann sich alles um ihn im Kreis zu drehen.

»Ja, Goldmund, ich bin einst Narziß gewesen, ab, er ich habe den Namen schon vor sehr langer Zeit abgelegt, du hast es wohl vergessen. Seit meiner Einkleidung heiße ich Johannes.«

Goldmund war bis ins Herz erschüttert. Plötzlich hatte sich die ganze Welt verändert, und das plötzliche Zusammenstürzen seiner übermenschlichen Anspannung drohte ihn zu ersticken, er zitterte, und Schwindelgefühl ließ ihn seinen Kopf wie eine leere Blase empfinden, sein Magen zog sich zusammen. Hinter den Augen brannte es wie andrängendes Schluchzen. Aufschluchzen und zusammensinken, in Tränen, in Ohnmacht – das war es, wonach alles in ihm in diesem Augenblick begehrte.

Aber es stieg aus der durch Narzissens Anblick beschworenen Tiefe der Jugenderinnerung eine Mahnung in ihm auf: einmal, als Knabe, hatte er vor diesem schönen strengen Antlitz, vor diesen dunklen allwissenden Augen geweint und sich gehen lassen. Er durfte das nicht wieder tun. Da erschien nun wie ein Gespenst im wunderlichsten Augenblick seines Lebens dieser Narziß wieder, wahrscheinlich, um ihm das Leben zu retten – und nun sollte er wieder vor ihm in Schluchzen ausbrechen oder in Ohnmacht fallen? Nein, nein, nein. Er hielt sich. Er bändigte sein Herz, er zwang seinen Magen, er jagte den Schwindel aus seinem Kopf. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Mit künstlich beherrschter Stimme gelang es ihm zu sagen: »Du mußt mir erlauben, dich noch immer Narziß zu nennen.«

»Nenne mich so, Lieber. Und willst du mir nicht die Hand geben?«

Wieder zwang sich Goldmund. Mit einem knabentrotzigen und leicht spöttischen Ton, ganz wie manchmal in den Schülerzeiten, brachte er seine Antwort heraus.

»Entschuldige, Narziß«, sagte er kühl und ein wenig blasiert. »Ich sehe, du bist Abt geworden. Ich aber bin noch immer ein Landstreicher. Und außerdem wird unsere Unterhaltung, so erwünscht sie mir ist, leider nicht lange dauern dürfen. Denn schau, Narziß, ich bin zum Galgen verurteilt, und in einer Stunde, oder früher, werde ich wohl gehängt sein. Ich sage es nur, um dir die Situation klarzumachen.«

Narziß verzog keine Miene. Das bißchen Knaben- und Renommistentum in des Freundes Haltung machte ihm großen Spaß und rührte ihn zugleich. Der Stolz aber, der dahinterstand und der es Goldmund verbot, ihm weinend an die Brust zu sinken, den verstand und billigte er zuinnerst. Wahrlich, auch er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, aber er war mit dieser kleinen Komödie innig einverstanden. Mit nichts hätte Goldmund sich rascher wieder in sein Herz schmeicheln können.

»Nun ja«, sagte er und spielte ebenfalls den Gleichmütigen. »Übrigens kann ich dich wegen des Galgens beruhigen. Du bist begnadigt. Ich habe Auftrag, dir das mitzuteilen und dich mitzunehmen. Denn hier in der Stadt darfst du nicht bleiben. Wir werden also Zeit genug haben, einander dies und jenes zu erzählen. Aber wie ist das nun: willst du mir jetzt die Hand geben?«

Sie gaben sich die Hände und hielten sie lange fest und drückten sie und fühlten sich tief bewegt, in ihren Worten aber dauerte die Sprödigkeit und Komödie noch eine ganze Weile an.

»Gut, Narziß, so werden wir also dieses wenig ehrbare Obdach verlassen, und ich werde mich deinem Gefolge anschließen. Reisest du nach Mariabronn zurück? Ja? Sehr schön. Und wie? Zu Pferde? Ausgezeichnet. Es wird sich also darum handeln, auch für mich ein Pferd zu bekommen.«

»Wir werden es bekommen, amice, und werden schon in zwei Stunden reisen. Oh, aber wie sehen deine Hände aus! Um Gottes willen, alles zerschunden und verschwollen und voller Blut! O Goldmund, wie ist man mit dir umgegangen!«

»Laß gut sein, Narziß. Ich habe mir selbst die Hände so zugerichtet. Ich war ja gebunden und mußte mich befreien. Ich sage dir, es ging nicht leicht. Übrigens war es recht mutig von dir, daß du so ohne Geleit zu mir hereingekommen bist.«

»Warum mutig? Es war ja keine Gefahr.«

»Oh, es war nur die kleine Gefahr, von mir erschlagen zu werden. Nämlich so hatte ich mir die Sache ausgedacht. Es war mir gesagt worden, daß ein Priester komme. Den hätte ich dann umgebracht und wäre in seinen Kleidern geflohen. Ein guter Plan.«

»Du wolltest also nicht sterben? Du wolltest dich dagegen wehren?«

»Gewiß wollte ich das. Daß gerade du der Priester sein würdest, nun, das konnte ich ja freilich nicht ahnen.«

»Immerhin«, sagte Narziß zögernd, »es war eigentlich ein recht häßlicher Plan. Hättest du wohl wirklich einen Priester, der als Beichtvater zu dir kam, totschlagen können?«

»Dich nicht, Narziß, natürlich nicht, und vielleicht auch keinen von deinen Patres, wenn er die Mariabronner Kutte trug. Aber einen beliebigen anderen Priester, o ja, verlaß dich drauf.«

Plötzlich wurde seine Stimme traurig und dunkel. »Es wäre nicht der erste Mensch gewesen, den ich umgebracht hätte.«

Sie schwiegen. Es war beiden peinlich zumute.

»Also über diese Sachen«, sagte Narziß mit kühler Stimme, »sprechen wir ja später. Du kannst mir einmal beichten, wenn du magst. Oder du kannst mir sonst von deinem Leben erzählen. Auch ich habe dir dies und das zu erzählen. Ich freue mich darauf. – Wollen wir gehen?«

»Noch einen Augenblick, Narziß! Etwas ist mir eingefallen, nämlich, daß ich dich doch schon einmal Johannes genannt habe.« »Ich verstehe dich nicht.«

»Nein, natürlich nicht. Du weißt ja noch nichts. Es ist schon vor manchen Jahren gewesen, da habe ich dir einmal den Namen Johannes gegeben, und er wird dir für immer bleiben. Ich bin nämlich früher ein Bildhauer und Figurenschnitzer gewesen, und ich denke es wieder zu werden. Und die beste Figur, die ich damals gemacht habe, ein Jüngling aus Holz, in natürlicher Größe, die ist dein Bildnis, aber sie heißt nicht Narziß, sondern Johannes. Es ist ein Jünger Johannes unter dem Kreuz.«

Er stand auf und ging gegen die Tür.

»Du hast also noch an mich gedacht?« fragte Narziß leise.

Ebenso leise gab Goldmund Antwort: »O ja, Narziß, ich habe an dich gedacht. Immer, immer.«

Heftig stieß er das schwere Tor auf, der fahle Morgen blickte herein. Sie sprachen nichts mehr. Narziß nahm ihn mit sich in sein Gastzimmer. Ein junger Mönch, sein Begleiter, war dort damit beschäftigt, das Reisegepäck fertigzumachen. Goldmund bekam zu essen, seine Hände wurden gewaschen und etwas verbunden. Bald schon wurden die Pferde vorgeführt.

Als sie aufstiegen, sagte Goldmund: »Ich habe noch eine Bitte. Laß uns dern Weg über den Fischmarkt nehmen, ich habe dort noch etwas zu besorgen.«

Sie ritten ab, und Goldmund blickte zu allen Fenstern des Schlosses hinan, ob vielleicht Agnes in einem zu sehen sei. Er bekam sie nicht mehr zu sehen. Sie ritten über den Fischmarkt, Marie war sehr in Sorge um ihn gewesen. Er nahm von ihr und ihren Eltern Abschied, dankte ihnen tausendmal, versprach, einmal wiederzukommen, und ritt weg. Unter der Haustür blieb Marie stehen, bis die Reiter verschwunden waren. Langsam hinkte sie ins Haus zurück.

Sie ritten zu vieren; Narziß, Goldmund, der junge Mönch und ein bewaffneter Reitknecht.

»Kannst du dich noch an mein Rößchen Bleß erinnern«, fragte Goldmund, das in eurem Klosterstall stand?«

»Gewiß. Das findest du nicht mehr und hast es wohl auch nicht erwartet. Es ist wohl sieben oder acht Jahre her, seit wir es abtun mußten.«

»Daß du dich dessen erinnerst!«

»O ja, ich erinnere mich.«

Goldmund war nicht traurig über Bleßleins Tod. Er war froh darüber, daß Narziß so gut um Bleß Bescheid wußte, er, der sich nie um Tiere gekümmert und sicher niemals ein anderes Klosterpferd beim Namen gekannt hatte. Sehr froh war er darüber.

»Du wirst mich auslachen«, fing er wieder an, »daß das erste Wesen in eurem Kloster, nach dem ich fragte, das arme Pferdchen war. Es war nicht hübsch von mir. Eigentlich hatte ich nach ganz anderem fragen wollen, vor allem nach unserem Abt Daniel. Aber ich konnte mir ja denken, daß er gestorben ist, du bist ja sein Nachfolger. Und von lauter Todesfällen zu sprechen, das wollte ich fürs erste vermeiden. Ich bin auf den Tod zur Zeit nicht gut zu sprechen, wegen dieser vergangenen Nacht, und auch wegen der Pest, von der ich allzuviel gesehen habe. Aber nun sind wir schon dabei, und einmal muß es ja doch sein. Sage mir, wann und wie Abt Daniel gestorben ist, ich habe ihn sehr verehrt. Und sage mir auch, ob die Patres Anselm und Martin noch am Leben sind. Ich bin auf alles Schlimme gefaßt. Aber da wenigstens dich die Pest verschont hat, bin ich zufrieden. Zwar habe ich nie gedacht, du könntest gestorben sein, ich habe fest an unser Wiedersehen geglaubt. Aber der Glaube kann täuschen, das habe ich leider erfahren. Auch meinen Meister Niklaus, den Bildschnitzer, konnte ich mir nicht tot vorstellen, ich zählte bestimmt darauf, ihn wiederzufinden und aufs neue bei ihm zu arbeiten. Und doch war er tot, als ich kam.«

»Es ist rasch berichtet«, sagte Narziß. »Abt Daniel ist schon vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin, einst unser Schulvorsteher, er starb im vergangenen Jahr, nicht ganz siebzig Jahre alt. Und Pater Anselm ist auch nicht mehr da. Er hatte dich gern, er sprach noch oft von dir. In seiner letzten Zeit konnte er gar nicht mehr gehen, und das Liegen war ihm eine große Qual; er ist an der Wassersucht gestorben. Ja, und die Pest war auch bei uns, es sind viele gestorben. Sprechen wir nicht davon! Hast du noch mehr zu fragen?«

»Gewiß, sehr viel. Vor allem: wie kommst du hierher in die Bischofsstadt und zum Statthalter?«

»Das ist eine lange Geschichte, und sie wäre dir langweilig, es handelt sich um Politik. Der Graf ist ein Günstling des Kaisers und in manchen Fragen sein Bevollmächtigter, und es ist zur Zeit zwischen dem Kaiser und unserem Orden mancherlei zu schlichten. Der Orden hat mich einer Abordnung zugewiesen, die mit dem Grafen zu verhandeln hatte. Der Erfolg war gering.«

Er schwieg, und Goldmund fragte nicht weiter. Er brauchte ja auch nicht zu erfahren, daß gestern abend, als Narziß beim Grafen um Goldmunds Leben bat, dies Leben mit einigen Konzessionen an den harten Grafen hatte bezahlt werden müssen.

Sie ritten; Goldmund fühlte sich bald müde und hielt sich mit Mühe im Sattel.

Nach einer langen Weile fragte Narziß: »Ist es denn wahr, daß du wegen Diebstahls festgenommen warst? Der Graf behauptete, du hättest dich ins Schloß und in die inneren Gemächer geschlichen und hättest dort gestohlen.«

Goldmund lachte. »Nun, es hatte wirklich den Anschein, als sei ich ein Dieb. Ich hatte aber mit des Grafen Geliebten eine Zusammenkunft; ohne Zweifel hat er das auch gewußt. Es wundert mich sehr, daß er mich doch laufen ließ.«

»Nun, er ließ mit sich reden.«

Sie konnten die geplante Tagesstrecke nicht bewältigen, Goldmund war zu sehr erschöpft, seine Hände konnten die Zügel nicht mehr halten. Sie nahmen in einem Dorf Quartier; er wurde zu Bett gebracht und fieberte ein wenig und blieb auch noch den nächsten Tag dort liegen. Dann aber konnte er weiterreiten. Und als in Bälde seine Hände wieder gesund waren, begann er das Reisen zu Pferde sehr zu genießen. Wie lange war er nicht mehr geritten! Er lebte auf, er wurde jung und lebhaft, er ritt manche Strecke mit dem Reitknecht um die Wette und bestürmte in Stunden der Mitteilsamkeit seinen Freund Narziß mit hundert ungeduldigen Fragen. Gelassen und doch freudig ging Narziß darauf ein; er war wieder von Goldmund bezaubert, er liebte seine so heftigen, so kindlichen Fragen, die so voll unbegrenzten Vertrauens, zu des Freundes Geist und Klugheit waren.

»Eine Frage, Narziß: habt ihr auch einmal Juden verbrannt?«

»Juden verbrannt? Wie sollten wir? Es gibt ja bei uns keine Juden.«

»Richtig. Aber sage: wärest du imstande, Juden zu verbrennen? Kannst du dir den Fall als möglich denken?«

»Nein, warum sollte ich es tun? Hältst du mich für einen Fanatiker?«

»Versteh mich, Narziß! Ich meine: kannst du dir denken, daß du in irgendeinem Fall den Befehl zum Umbringen von Juden geben würdest oder doch deine Einwilligung dazu? Es haben ja so viele Herzöge, Bürgermeister, Bischöfe und andere Obrigkeiten solche Befehle gegeben.«

»Ich würde einen Befehl dieser Art nicht geben. Dagegen ist der Fall wohl denkbar, daß ich eine solche Grausamkeit mit ansehen und dulden müßte.«

»Du würdest es also dulden?«

»Gewiß, wenn mir nicht die Macht gegeben wäre, es zu verhindern. – Du hast wohl einmal eine Judenverbrennung gesehen, Goldmund?«

»Ach ja.«

»Nun, und hast du sie verhindert? – Nein? – Siehst du.«

Goldmund erzählte ausführlich die Geschichte Rebekkas, er wurde dabei warm und leidenschaftlich.

»Und nun«, schloß er heftig, »was ist das für eine Welt, in der wir da leben müssen? Ist es nicht eine Hölle? Ist es nicht empörend und scheußlich?«

»Gewiß. Die Welt ist nicht anders.«

»So!« rief Goldmund böse. »Und wie oft hast du mir früher behauptet, die Welt sei göttlich, sie sei eine große Harmonie von Kreisen, in deren Mitte der Schöpfer thront, und das Existierende sei gut, und so weiter. Du sagtest, es stehe im Aristoteles, oder beim heiligen Thomas. Ich bin begierig, deine Erklärung des Widerspruchs zu hören.«

Narziß lachte.

»Dein Gedächtnis ist erstaunlich, und doch hat es dich ein wenig getäuscht. Ich habe den Schöpfer stets als vollkommen verehrt, aber niemals die Schöpfung. Ich habe das Übel in der Welt nie geleugnet. Daß das Leben auf Erden harmonisch und gerecht und daß der Mensch gut sei, dies, mein Lieber, hat noch nie ein echter Denker behauptet. Daß vielmehr das Dichten und Trachten des Menschenherzens übel sei, steht ausdrücklich in der Heiligen Schrift, und wir sehen es jeden Tag bestätigt.«

»Sehr gut. Ich sehe nun endlich, wie ihr Gelehrte das meint. Also der Mensch ist böse, und das Leben auf Erden ist voll Gemeinheit und Schweinerei, das gebet ihr zu. Aber dahinter irgendwo, in euren Gedanken und Lehrbüchern, gibt es Gerechtigkeit und Vollkommenheit. Sie sind vorhanden, man kann sie beweisen, nur aber macht man keinen Gebrauch davon.«

»Du hast viel Groll gegen uns Theologen angesammelt, lieber Freund! Aber du bist noch immer kein Denker geworden, du wirfst alles durcheinander. Du wirst einiges hinzulernen müssen. Aber warum denn sagst du, wir machten von der Idee der Gerechtigkeit keinen Gebrauch? Jeden Tag und jede Stunde tun wir es. Ich zum Beispiel bin Abt und habe ein Kloster zu leiten, und in diesem Kloster geht es ebensowenig vollkommen und sündlos zu wie in der Welt draußen. Dennoch setzen wir der Erbsünde beständig und immer wieder die Idee der Gerechtigkeit entgegen und suchen unser unvollkommenes Leben an ihr zu messen und suchen das Böse zu korrigieren und unser Leben in beständige Beziehung zu Gott zu setzen.«

»Ach ja, Narziß. Ich meine ja nicht dich und daß du etwa kein guter Abt seiest. Aber ich denke an Rebekka, an die verbrannten Juden, an die Massengräber, an das große Sterben, an die Gassen und Stuben, in denen die Pestleichen lagen und stanken, an diese ganze grauenhafte Wüstenei, an die verwahrlosten, allein zurückgebliebenen Kinder, an die in ihren Ketten verhungerten Hofhunde – und wenn ich an das alles denke und diese Bilder vor mir sehe, dann tut das Herz mir weh, und es will mir scheinen, unsere Mütter hätten uns in eine hoffnungslos grausame und teuflische Welt hinein geboren, und es wäre besser, sie hätten es nicht getan und Gott hätte diese schreckliche Welt nicht erschaffen und der Heiland hätte sich nicht unnütz für sie ans Kreuz schlagen lassen.«

Freundlich nickte Narziß dem Freunde zu.

»Du hast ganz recht«, sagte er warm, »sprich es nur aus, sage mir alles. Aber in einem täuschest du dich sehr: du hältst das, was du da sprichst, für Gedanken. Es sind aber Gefühle! Es sind die Gefühle eines Menschen, dem das Grauen des Daseins zu schaffen macht. Nun vergiß aber nicht, daß diesen traurigen und verzweifelten Gefühlen ganz andere gegenüberstehen! Wenn du dich auf deinem Roß wohlfühlst und durch eine schöne Gegend reitest oder wenn du, leichtsinnig genug, dich am Abend ins Schloß einschleichst, um der Geliebten des Grafen den Hof zu machen, dann sieht die Welt für dich ganz anders aus, und alle Pesthäuser und alle verbrannten Juden können dich durchaus nicht hindern, deine Lust zu suchen. Ist es nicht so?«

»Gewiß, es ist so. Weil die Welt so voll von Tod und Grauen ist, darum suche ich immer wieder mein Herz zu trösten und die schönen Blumen zu pflücken, die es inmitten dieser Hölle gibt. Ich finde Lust, und ich vergesse für eine Stunde das Grauen. Darum ist es nicht minder da.«

»Du hast es sehr gut formuliert. Also du findest dich in der Welt von Tod und Grauen umgeben, und daraus entfliehst du in die Lust. Aber die Lust ist ohne Dauer, sie entläßt dich wieder in die Wüste.«

»Ja, so ist es.«

»Es geht den meisten Menschen so, nur empfinden es wenige mit solcher Stärke und Heftigkeit wie du, und wenige haben das Bedürfnis, dieser Empfindungen bewußt zu werden. Aber sage doch: außer diesem verzweifelten Hin und Her zwischen Lust und Grauen, außer dieser Schaukel zwischen Lebenslust und Todesgefühl – hast du nicht außerdem noch irgendeinen Weg probiert?«

»O ja, natürlich. Ich habe es mit der Kunst probiert. Ich sagte dir ja schon, daß ich unter anderem auch Künstler geworden bin. Eines Tages, ich war vielleicht drei Jahre in der Welt draußen und beinahe die ganze Zeit auf Wanderschaft gewesen, fand ich in einer Klosterkirche eine hölzerne Mutter Gottes stehen, die war so schön, und ihr Anblick ergriff mich so sehr, daß ich nach dem Meister fragte und suchte, der sie gemacht hatte. Ich fand ihn, es war ein berühmter Meister; ich wurde sein Schüler und habe einige Jahre bei ihm gearbeitet.«

»Du wirst mir davon später noch mehr erzählen. Aber was war es denn, was die Kunst dir gebracht und bedeutet hat?«

»Es war die Überwindung der Vergänglichkeit. Ich sah, daß aus dem Narrenspiel und Totentanz des Menschenlebens etwas übrigblieb und überdauerte: die Kunstwerke. Auch sie vergehen ja wohl irgendeinmal, sie verbrennen oder verderben oder werden wieder zerschlagen. Aber immerhin überdauern sie manches Menschenleben und bilden jenseits des Augenblicks ein stilles Reich der Bilder und Heiligtümer. Daran mitzuarbeiten scheint mir gut und tröstlich, denn es ist beinahe ein Verewigen des Vergänglichen.«

»Das gefällt mir sehr, Goldmund. Ich hoffe, du werdest noch viele schöne Werke machen, mein Vertrauen auf deine Kraft ist groß, und ich hoffe, du werdest in Mariabronn lange Zeit mein Gast sein und mir erlauben, dir eine Werkstatt einzurichten; unser Kloster hat seit langem keinen Künstler mehr gehabt. Aber ich glaube, du hast das Wunderbare der Kunst mit deiner Definition noch nicht erschöpft. Ich glaube, die Kunst besteht nicht bloß dann, daß durch Stein, Holz und Farben etwas Vorhandenes, aber Sterbliches dem Tod entrissen und zu längerer Dauer gebracht wird. Ich habe manches Kunstwerk gesehen, manchen Heiligen und manche Madonna, von denen ich nicht glaube, daß sie bloß treue Abbilder irgendeines einzelnen Menschen sind, der einmal gelebt hat und dessen Formen oder Farben der Künstler aufbewahrt hat.«

»Da hast du recht«, rief Goldmund eifrig, »ich hätte gar nicht geglaubt, daß du über die Kunst so gut Bescheid wüßtest! Das Urbild eines guten Kunstwerks ist nicht eine wirkliche, lebende Gestalt, obwohl sie der Anlaß dazu sein kann. Das Urbild ist nicht Fleisch und Blut, es ist geistig. Es ist ein Bild, das in der Seele des Künstlers seine Heimat hat. Auch in mir, Narziß, sind solche Bilder lebendig, die ich einmal darzustellen und dir zu zeigen hoffe.«

»Wie schön! Und jetzt, mein Lieber, hast du dich, ohne es zu wissen, mitten in die Philosophie begeben und hast eines ihrer Geheimnisse ausgesprochen.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»O nein. Du hast von den ‚Urbildern’ gesprochen, von Bildern also, die nirgends vorhanden sind als im schöpferischen Geist, die aber in der Materie verwirklicht und sichtbar gemacht werden können. Lang ehe eine Kunstgestalt sichtbar wird und Wirklichkeit gewinnt, ist sie schon vorhanden, als Bild in der Seele des Künstlers! Dieses Bild nun, dies ‚Urbild’ ist aufs Haar genau das, was die alten Philosophen eine ‚Idee’ nennen.«

»Ja, das klingt ganz glaubhaft.«

»Nun, und indem du dich zu Ideen bekennst und zu Urbildern, begibst du dich in die geistige Welt, in unsere Philosophen- und Theologenwelt, und gibst zu, daß mitten in dem verwirrten und schmerzlichen Schlachtfeld des Lebens, mitten in diesem endlosen und sinnlosen Totentanz des leiblichen Daseins der schöpferische Geist vorhanden ist. Schau, an diesen Geist in dir habe ich mich stets gewendet, seit du als Knabe zu mir kamst. Dieser Geist ist bei dir nicht der eines Denkers, er ist der eines Künstlers. Aber er ist Geist, und er ist es, der dir den Weg zeigen wird aus dem trüben Wirrwarr der Sinnenwelt, aus dem ewigen Schaukeln zwischen Lust und Verzweiflung. Ach Lieber, ich bin glücklich, dies Bekenntnis von dir gehört zu haben. Ich habe darauf gewartet – seit damals, seit du deinen Lehrer Narziß verlassen hast und den Mut fandest, du selbst zu sein. Jetzt können wir aufs neue Freunde sein.«

In dieser Stunde schien es Goldmund, als habe sein Leben einen Sinn gewonnen, als übersähe er es wie von oben, sähe deutlich seine drei großen Stufen: die Abhängigkeit von Narziß und ihre Lösung – die Zeit der Freiheit und des Wanderns – und die Rückkehr, die Einkehr, den Beginn der Reife und Ernte.

Die Vision verlor sich wieder. Aber zu Narziß hatte er nun das Verhältnis gefunden, das ihm zukam, kein Verhältnis der Abhängigkeit mehr, sondern eines der Freiheit und Gegenseitigkeit. Nun konnte er ohne Demütigung bei seinem überlegenen Geist zu Gaste sein, da der andere in ihm den Ebenbürtigen, den Schöpfer erkannt hatte. Sich ihm zu zeigen, ihm in Bildwerken seine innere Welt sichtbar zu machen, darauf freute er sich mit wachsender Sehnsucht während dieser Reise. Manchmal aber kamen ihm auch Bedenken.

»Narziß«, warnte er, »ich fürchte, du weißt nicht, wen du da eigentlich mit in dein Kloster bringst. Ich bin kein Mönch und will auch keiner werden. Ich kenne ja die drei großen Gelübde, und mit der Armut bin ich gern einverstanden, aber ich liebe weder die Keuschheit noch den Gehorsam; diese Tugenden scheinen mir auch nicht so recht männlich zu sein. Und von Frömmigkeit ist bei mir gar nichts mehr übriggeblieben, ich habe seit Jahren nicht gebeichtet noch gebetet noch kommuniziert.«

Narziß blieb gelassen. »Du scheinst ein Heide geworden zu sein. Aber davor haben wir keine Angst. Auf deine vielen Sünden brauchst du nicht weiter stolz zu sein. Du hast das übliche Weltleben geführt, du hast wie der verlorene Sohn die Säue gehütet, du weißt nicht mehr, was Gesetz und Ordnung ist. Gewiß würde ein sehr schlechter Mönch aus dir werden. Aber ich lade dich ja gar nicht dazu ein, in den Orden zu treten; ich lade dich bloß ein, unser Gast zu sein und dir bei uns eine Werkstatt einzurichten. Und noch eines: vergiß nicht, daß damals in unsern Jünglingsjahren ich es gewesen bin, der dich aufgeweckt hat und ins Weltleben hinaus hat ziehen lassen. Es mag aus dir Gutes oder Schlechtes geworden sein, nächst dir selbst trage dafür ich die Verantwortung. Ich will sehen, was aus dir geworden ist; du wirst es mir zeigen, in Worten, im Leben, in deinen Werken. Wenn du es gezeigt haben wirst und wenn ich dann etwa finden sollte, daß unser Haus keine Stätte für dich ist, so werde ich der erste sein, der dich bitten wird, es wieder zu verlassen.«

Goldmund war jedesmal voll Bewunderung, wenn sein Freund so sprach, wenn er als Abt auftrat, mit der stillen Sicherheit und diesem Anflug von Spott für Weltleute und Weltleben, denn dann wurde ihm sichtbar, was aus Narziß geworden war: ein Mann. Ein Mann des Geistes zwar und der Kirche, mit zarten Händen und einem Gelehrtengesicht, aber ein Mann voll Sicherheit und Mut, ein Führer, einer, der Verantwortung trug. Dieser Mann Narziß war nicht mehr der Jüngling von damals und nicht mehr der sanfte innige Jünger Johannes, und diesen neuen Narziß, diesen männlichen und ritterlichen, wollte er mit seinen Händen abbilden. Viele Figuren warteten auf ihn: Narziß, der Abt Daniel, der Pater Anselm, der Meister Niklaus, die schöne Rebekka, die schöne Agnes und noch so manche andere, Freunde und Feinde, Lebende und Tote. Nein, er wollte kein Ordensbruder werden, weder ein frommer noch ein gelehrter, er wollte Werke schaffen; und daß seine einstige Jugendheimat die Heimat dieser Werke sein würde, machte ihn glücklich.

Sie ritten durch den kühlen Spätherbst, und eines Tages, an dem morgens die kahlen Bäume dick voll Rauhreif hingen, ritten sie über ein welliges weites Land mit leeren rötlichen Moorgebieten, und die Linien der langen Hügelzüge blickten merkwürdig mahnend und altbekannt, und es kam ein hoher Eschenwald und ein Bachlauf und eine alte Scheuer, bei deren Anblick fing Goldmunds Herz in froher Bangigkeit zu schmerzen an; er erkannte die Hügel, über die er einstmals mit der Ritterstochter Lydia geritten war, und die Heide, über die er einst, vertrieben und tief betrübt, durch den dünnen Schneefall davongewandert war. Es tauchten die Erlengruppen auf, und die Mühle, und die Burg, mit wunderlichem Schmerz erkannte er das Fenster der Schreibstube, in der er damals, in der sagenhaften Jugendzeit, den Ritter von seiner Pilgerfahrt hatte erzählen hören und sein Latein hatte korrigieren müssen. Sie ritten in den Hof, er gehörte zu den vorbestimmten Stationen ihrer Reise. Goldmund bat den Abt, hier seinen Namen nicht zu nennen und ihn mit dem Reitknecht beim Gesinde speisen zu lassen. So geschah es. Es war kein alter Ritter mehr da und keine Lydia, wohl aber noch einige von den Jägern und Knechten, und im Hause lebte und regierte eine sehr schöne, stolze und herrische Edelfrau, Julie, an der Seite eines Ehegatten. Wunderbar schön sah sie noch immer aus, sehr schön und etwas böse; weder von ihr noch vom Gesinde wurde Goldmund erkannt. Nach dem Imbiß in der Abenddämmerung schlich er zum Garten hinüber, sah über den Zaun auf die schon winterlichen Beete, schlich zur Stalltür und schielte zu den Pferden hinein. Mit dem Reitknecht schlief er auf dem Stroh, und die Last der Erinnerungen lag ihm auf der Brust, er erwachte viele Male. O wie zerstückt und unfruchtbar lag hinter ihm sein Leben, an herrlichen Bildern reich, aber in so viele Scherben zerschmissen, so arm an Wert, so arm an Liebe! Morgens beim Wegreiten blickte er bang zu den Fenstern empor, ob er vielleicht Julie noch einmal zu Gesicht bekäme. So hatte er vor kurzem im Hof der Bischofsresidenz umhergeblickt, ob Agnes sich noch einmal zeige. Sie war nicht gekommen, und auch Julie zeigte sich nicht mehr. So war sein ganzes Leben gewesen, schien ihm: Abschiednehmen, Davonfliehen, Vergessenwerden, Dastehen mit leeren Händen und frierendem Herzen. Den ganzen Tag ging es ihm nach, er sprach kein Wort, finster hing er im Sattel. Narziß ließ ihn gewähren.

Nun aber näherten sie sich dem Ziel, und nach einigen Tagen war es erreicht. Kurz ehe Turm und Dächer des Klosters sichtbar wurden, ritten sie über jene steinigen Brachfelder hin, auf denen er, o vor wie langer Zeit, einst Johanniskraut für den Pater Anselm gesucht hatte und von der Zigeunerin Lise zum Mann gemacht worden war. Und nun ritten sie durchs Tor von Mariabronn und stiegen unter dem welschen Kastanienbaum von den Pferden. Zärtlich berührte Goldmund den Stamm und bückte sich nach einer der zersprungenen stacheligen Fruchtschalen, die braun und verwelkt am Boden lagen.

Achtzehntes Kapitel

Goldmund wohnte die ersten Tage im Kloster selbst, in einer der Gastzellen. Dann wurde ihm auf seine Bitte in einem der Wirtschaftsgebäude, die den großen Hof wie einen Marktplatz umstanden, Quartier gemacht, der Schmiede gegenüber.

Mit einem so heftigen Zauber, daß er selbst sich manchmal darüber verwunderte, ergriff ihn das Wiedersehen. Niemand hier kannte ihn außer dem Abt, niemand wußte, wer er sei; die Menschen hier, Brüder sowohl wie Laien, lebten in einer festen Ordnung und waren beschäftigt, sie ließen ihn in Ruhe. Aber es kannten ihn die Bäume des Hofes, es kannten ihn die Portale und Fenster, die Mühle und das Wasserrad, die Fliesen der Gänge, die welken Rosenbüsche im Kreuzgang, die Storchennester auf Kornhaus und Refektorium. Es duftete aus jeder Ecke seine Vergangenheit, seine erste Jugendzeit ihm süß und rührend entgegen, Liebe trieb ihn, alles wiederzuschauen, alle Klänge wiederzuhören, die Vesperglocke und das Sonntagsgeläut, das Rauschen des dunklen Mühlbachs in seinen engen moosigen Mauern, das Schreiten der Sandalen auf den Steinplatten, den abendlichen Klang des Schlüsselbundes, wenn der Bruder Pförtner schließen ging. Neben den steinernen Abflußrinnen, in die vom Dach des Laienrefektoriums das Regenwasser fiel, wucherten noch immer dieselben kleinen Kräuter, Storchschnabel und Wegerich, und der alte Apfelbaum im Garten der Schmiede hielt noch immer seine weitgreifenden Äste gleich gewunden. Stärker aber als alles andere bewegte es ihn jedesmal, wenn die kleine Schulglocke zu hören war und wenn in der Erholungsstunde alle die Klosterschüler die Treppen herab und auf den Hof gepoltert kamen. Wie jung und dumm und hübsch waren ihre Knabengesichter – war wirklich auch er einmal so jung, so täppisch, so hübsch und kindisch gewesen?

Aber außer diesem wohlbekannten Kloster fand er auch ein beinah unbekanntes wieder, schon in den ersten Tagen stach es ihm in die Augen, wurde ihm immer wichtiger und verband sich mit dem Wohlbekannten nur langsam. Denn war auch hier nichts Neues hinzugekommen, stand auch alles gleich, wie es in seiner Schülerzeit und vorher hundert und mehr Jahre gestanden war, so sah er es doch nicht mit den Augen des Schülers. Er sah und fühlte die Maße dieser Bauten, die Gewölbe der Kirche, die alten Malereien, die steinernen und hölzernen Figuren auf den Altären, in den Portalen, und obwohl er nichts sah, was nicht auch damals schon an seinem Ort gewesen wäre, sah er doch jetzt erst die Schönheit dieser Dinge und den Geist, der sie geschaffen hatte. Er sah die alte steinerne Mutter Gottes in der obern Kapelle, auch als Knabe schon hatte er sie gern gehabt und hatte sie abgezeichnet, aber erst jetzt sah er sie mit wachen Augen, und sah, daß sie ein Wunderwerk war, das er auch mit der besten und geglücktesten Arbeit niemals übertreffen konnte. Und solche wunderbare Dinge gab es viele, und jedes stand nicht für sich und war ein Zufall, sondern jedes stammte aus demselben Geist und stand zwischen den alten Mauern, Säulen und Gewölben als in seiner natürlichen Heimat. Was hier in ein paar hundert Jahren gebaut, gemeißelt, gemalt, gelebt, gedacht und gelehrt worden war, das war eines Stammes, eines Geistes, und paßte zusammen wie die Äste eines Baumes zusammenpassen.

Inmitten dieser Welt nun, dieser stillen mächtigen Einheit, fühlte Goldmund sich sehr klein, und nie fühlte er sich kleiner, als wenn er den Abt Johannes, seinen Freund Narziß, in dieser gewaltigen und doch still-freundlichen Ordnung walten und regieren sah. Mochte zwischen dem gelehrten, schmallippigen Abt Johannes und dem einfachen, gütig schlichten Abt Daniel ein noch so großer Unterschied der Personen bestehen, jeder von ihnen diente doch der gleichen Einheit, demselben Gedanken, derselben Ordnung, erhielt durch sie seine Würde, brachte ihr seine Person zum Opfer. Das machte sie einander ebenso ähnlich, wie die Klostertracht es tat.

Inmitten dieses seines Klosters wurde Narziß in Goldmunds Augen unheimlich groß, ohne daß er doch sich gegen ihn anders denn als freundlicher Kamerad und Wirt betragen hätte. Bald wagte er kaum mehr, ihn du und »Narziß« zu nennen.

»Höre, Abt Johannes«, sagte er einmal zu ihm, »allmählich werde ich mich doch wohl an deinen neuen Namen gewöhnen müssen. Ich muß dir sagen, daß es mir bei euch sehr wohl gefällt. Beinah hätte ich Lust, dir eine Generalbeichte abzulegen und nach getaner Buße um die Aufnahme als Laienbruder zu bitten. Aber sieh, dann würde unsere Freundschaft zu Ende sein; du wärest der Abt und ich der Laienbruder. Aber so neben dir hinzuleben und deine Arbeit zu sehen und selber nichts zu sein und zu leisten, das ertrage ich nicht länger. Auch ich möchte gern arbeiten und dir zeigen, was ich bin und kann, damit du sehen kannst, ob es sich gelohnt hat, mich vom Galgen loszubitten.«

»Ich freue mich darüber«, sagte Narziß und sprach seine Worte noch präziser und formulierter als sonst. »Du kannst zu jeder Stunde beginnen, dir deine Werkstatt einzurichten, sofort werde ich den Schmied und den Zimmermann anweisen, zu deiner Verfügung zu sein. Was an Arbeitsmaterial hier am Ort aufzutreiben ist, darüber verfüge! Was von auswärts bestellt werden muß, durch Fuhrleute, darüber fertige eine Liste an. Und nun höre, wie ich über dich denke und über deine Absichten! Du mußt mir etwas Zeit lassen mich auszudrücken: ich bin Gelehrter und möchte versuchen, dir die Sache aus meiner Denkwelt heraus darzustellen, ich habe keine andere Sprache als diese. Also folge mir noch einmal, wie du es in früheren Jahren oft so geduldig getan hast.«

»Ich versuche dir zu folgen. Sprich nur.« »Erinnere dich daran, wie ich dir schon in unsern Schüler-Zeiten manchmal sagte, daß ich dich für einen Künstler halte. Damals schien mir, es könnte ein Dichter aus dir werden; du hattest beim Lesen und Schreiben eine gewisse Abneigung gegen das Begriffliche und Abstrakte und liebtest in der Sprache die Worte und Klänge besonders, denen sinnlich-dichterische Qualitäten eigen waren, also die Worte, bei welchen man sich etwas vorstellen kann.«

Goldmund unterbrach. »Verzeih, aber sind Begriffe und Abstraktionen, die du bevorzugst, nicht doch auch Vorstellungen, Bilder? Oder brauchst und liebst du wirklich zum Denken die Worte, bei welchen man sich nichts vorstellen kann? Kann man denn denken, ohne sich etwas dabei vorzustellen?«

»Gut, daß du fragst! Aber gewiß kann man ohne Vorstellungen denken! Das Denken hat mit Vorstellungen nicht das mindeste zu tun. Es vollzieht sich nicht in Bildern, sondern in Begriffen und Formeln. Genau dort, wo die Bilder aufhören, fängt die Philosophie an. Dies war es ja, worüber wir einst als Jünglinge so oft gestritten haben: für dich bestand die Welt aus Bildern, für mich aus Begriffen. Ich sagte dir stets, du seiest zum Denker untauglich, und sagte dir auch, daß dies kein Mangel sei, da du dafür ein Herrscher im Gebiet der Bilder bist. Paß auf, ich werde es dir klarmachen. Wärest du, statt damals in die Welt zu laufen, ein Denker geworden, so hättest du Unheil anrichten können. Du wärest nämlich ein Mystiker geworden. Die Mystiker sind, kurz und etwas grob gesagt, jene Denker, welche nicht von den Vorstellungen loskommen können, also überhaupt keine Denker sind. Sie sind heimliche Künstler: Poeten ohne Verse, Maler ohne Pinsel, Musiker ohne Töne. Es sind höchst begabte und edle Geister unter ihnen, aber sie sind alle ohne Ausnahme unglückliche Menschen. So einer hättest auch du werden können. Statt dessen bist du, Gott sei Dank, ein Künstler geworden und hast dich der Bilderwelt bemächtigt, wo du ein Schöpfer und Herr sein kannst, statt als Denker im Unzulänglichen steckenzubleiben.«

»Ich fürchte«, sagte Goldmund, »es wird mir nie gelingen, mir von deiner Denkwelt, wo man ohne Vorstellungen denkt, einen Begriff zu machen.«

»O doch, sofort wird dir das gelingen. Höre zu: der Denker versucht das Wesen der Welt durch die Logik zu erkennen und darzustellen. Er weiß, daß unser Verstand und sein Werkzeug, die Logik, unvollkommene Instrumente sind – ebenso wie ein kluger Künstler recht wohl weiß, daß sein Pinsel oder Meißel niemals vollkommen das strahlende Wesen eines Engels oder Heiligen wird ausdrücken können. Dennoch versuchen es beide, der Denker wie der Künstler, auf ihre Weise. Sie können und dürfen nicht anders. Denn indem ein Mensch mit den ihm von Natur gegebenen Gaben sich zu verwirklichen sucht, tut er das Höchste und einzig Sinnvolle, was er kann. Darum sagte ich früher so oft zu dir: versuche nicht den Denker oder den Asketen nachzuahmen, sondern sei du selbst, suche dich selbst zu verwirklichen!«

»Ich verstehe dich so halb und halb. Aber was heißt das eigentlich: sich verwirklichen?«

»Es ist ein philosophischer Begriff, ich kann es nicht anders ausdrücken. Für uns Schüler des Aristoteles und des heiligen Thomas ist der höchste aller Begriffe: das vollkommene Sein. Das vollkommene Sein ist Gott. Alles andere, was ist, ist nur halb, ist teilweise, es ist werdend, ist gemischt, besteht aus Möglichkeiten. Gott aber ist nicht gemischt, er ist eins, er hat keine Möglichkeiten, sondern ist ganz und gar Wirklichkeit. Wir aber sind vergänglich,wir sind werdend, wir sind Möglichkeiten, es gibt für uns keine Vollkommenheit, kein völliges Sein. Dort aber, wo wir von der Potenz zur Tat, von der Möglichkeit zur Verwirklichung schreiten, haben wir Teil am wahren Sein, werden dem Vollkommenen und Göttlichen um einen Grad ähnlicher. Das heißt: sich verwirklichen. Du mußt ja diesen Vorgang aus eigener Erfahrung kennen. Du bist ja Künstler und hast manche Figuren gemacht. Wenn dir nun eine solche Figur wirklich geglückt ist, wenn du das Bildnis eines Menschen von Zufälligkeiten befreit und auf eine reine Form gebracht hast – dann hast du, als Künstler, dies Menschenbild verwirklicht.«

»Ich habe verstanden.«

»Du siehst mich, Freund Goldmund, an einem Ort und in einem Amte, wo es meiner Natur einigermaßen leicht gemacht wird, sich zu verwirklichen. Du siehst mich in einer Gemeinschaft und Überlieferung leben, die mir entspricht und mir hilft. Ein Kloster ist kein Himmel, es ist voll von Unvollkommenheit, aber dennoch ist ein anständig geführtes Klosterleben für Menschen von meiner Art unendlich viel fördernder als das Weltleben. Ich will nicht vom Sittlichen reden, aber schon rein praktisch verlangt das reine Denken, das zu üben und zu lehren meine Aufgabe ist, einen gewissen Schutz vor der Welt. Ich habe also hier in unserem Hause es viel leichter gehabt, mich zu verwirklichen, als du es gehabt hast. Daß du trotzdem einen Weg gefunden hast und ein Künstler geworden bist, das bewundere ich sehr. Denn du hast es ja so viel schwerer gehabt.«

Goldmund errötete vor Verlegenheit über das Lob, und auch vor Freude. Um abzulenken, unterbrach er den Freund: »Das meiste von dem, was du mir sagen wolltest, habe ich verstehen können. Eines aber will mir noch immer nicht in den Kopf: das, was du ‚das reine Denken’ nennst, also dein sogenanntes Denken ohne Bilder und das Operieren mit Worten, bei denen man sich nichts vorstellen kann.«

»Nun, an einem Beispiel kannst du es dir klarmachen. Denke doch an die Mathematik! Was für Vorstellungen enthalten die Zahlen? Oder die Zeichen Plus und Minus? Was für Bilder enthält eine Gleichung? Gar keine! Wenn du eine arithmetische oder algebraische Aufgabe lösest, so hilft dir keine Vorstellung dabei, sondern du vollziehst innerhalb gelernter Denkformen eine formale Aufgabe.«

»So ist es, Narziß. Wenn du mir eine Reihe von Zahlen und Zeichen hinschreibst, so kann ich mich ohne alle Vorstellungen durch sie hindurcharbeiten, kann mich von dem Plus und Minus, den Quadraten, den Einklammerungen und so weiter leiten lassen, und kann die Aufgabe lösen. Das heißt – ich konnte es einst, heut könnte ich es langst nicht mehr. Aber ich kann mir nicht denken, daß das Vollziehen solcher formaler Aufgaben einen anderen Wert habe als den einer Verstandesübung für Schüler. Rechnen lernen ist ja ganz gut. Aber ich fände es sinnlos und kindisch, wenn ein Mensch sein Leben lang über solchen Rechenaufgaben sitzen und ewig sein Papier mit Zahlenreihen bedecken würde.«

»Du täuschest dich, Goldmund. Du nimmst eben an, daß dieser fleißige Rechner immer neue Schulaufgaben löse, die ein Lehrer ihm stellt. Er kann sich die Fragen aber auch selbst stellen, sie können als zwingende Gewalten m ihm entstehen. Man muß manchen wirklichen und manchen fiktiven Raum mathematisch berechnet und gemessen haben, ehe man als Denker an das Problem des Raumes sich wagen kann.«

»Nun, ja. Aber das Problem des Raumes, als reines Denkproblem, scheint mir auch in der Tat nicht der Gegenstand zu sein, an den ein Mann seine Arbeit und seine Jahre verschwenden sollte. Das Wort ‚Raum’ ist für mich nichts und keines Gedankens wert, solange ich mir nicht einen wirklichen Raum dabei vorstelle, etwa den Sternenraum; den zu betrachten und auszumessen scheint mir allerdings keine unwürdige Aufgabe.«

Lächelnd fiel Narziß ein: »Du willst eigentlich sagen, daß du vom Denken nichts hältst, wohl aber von der Anwendung des Denkens auf die praktische und sichtbare Welt. Ich kann dir antworten: an Gelegenheiten zur Anwendung unseres Denkens und am Willen dazu fehlt es uns keineswegs. Der Denker Narziß zum Beispiel hat die Ergebnisse seines Denkens sowohl auf seinen Freund Goldmund wie auf jeden seiner Mönche hundertmal zur Anwendung gebracht und tut es zu jeder Stunde. Wie aber sollte er etwas ‚anwenden’, wenn er es nicht zuvor gelernt und geübt hätte. Auch der Künstler übt ja sein Auge und seine Phantasie immerzu, und wir erkennen seine Übung an, wenn sie auch nur in wenigen wirklichen Werken zur Auswirkung kommt. Du kannst nicht das Denken als solches verwerfen, seine ‚Anwendung’ aber billigen! Der Widerspruch ist klar. Also laß mich ruhig denken, und beurteile mein Denken nach seinen Auswirkungen, ebenso wie ich deine Künstlerschaft nach deinen Werken beurteilen werde. Du bist jetzt unruhig und gereizt, weil zwischen dir und deinen Werken noch Hindernisse liegen. Räume sie weg, suche oder baue dir eine Werkstatt und gehe auf deine Werke los! Viele Fragen werden sich dabei von selber lösen.«

Goldmund wünschte sich nichts Besseres. Er fand einen Raum neben dem Hoftor, der zur Zeit leer stand und sich zur Werkstatt eignete. Er gab dem Zimmermann einen Zeichentisch und anderes Gerät in Auftrag, das er ihm genau aufzeichnete. Er stellte eine Liste der Gegenstände auf, die ihm von den Klosterfuhrleuten nach und nach aus den nächsten Städten mitgebracht werden sollten, eine lange Liste. Er schaute sich beim Zimmermann und im Walde alle Vorräte von geschlagenem Holze an, wählte viele Stücke für sich aus und ließ eins ums andere in den Grasgarten hinter seiner Werkstatt schaffen, wo er sie trocken lagerte und mit eigenen Händen ein Schutzdach darüber zimmerte. Auch hatte er viel beim Schmied zu tun, dessen Sohn, einen jungen träumerischen Menschen, er ganz bezauberte und für sich gewann. Mit ihm stand er nun halbe Tage an der Esse, am Amboß, am Kühltrog und am Schleifstein, da stellten sie alle die krummen und geraden Schnitzmesser, Meißel, Bohrer und Schabeisen her, die er zur Bearbeitung der Hölzer brauchte. Der Schmiedssohn Erich, ein Jüngling von etwa zwanzig Jahren, wurde Goldmunds Freund, er half überall mit und war voll glühender Teilnahme und Neugierde. Goldmund versprach ihm, ihn im Lautenspiel zu unterrichten, was er sich sehnlich wünschte, und auch das Schnitzen sollte er bei ihm probieren dürfen. Wenn Goldmund zuzeiten sich im Kloster und bei Narziß recht unnütz und bedrückt fühlte, konnte er sich bei Erich erholen, der ihn schüchtern liebte und ohne Maß verehrte. Oft bat er ihn, ihm vom Meister Niklaus und von der Bischofsstadt zu erzählen; manchmal tat Goldmund es gerne und war dann plötzlich verwundert darüber, daß er nun hier sitze und wie ein alter Mann von Reisen und Taten der Vergangenheit berichte, da doch sein Leben erst richtig beginnen sollte.

Daß er sich in den letzten Zeiten stark verändert hatte und weit über seine Jahre gealtert war, konnte niemand sehen, sie hatten ihn ja vorher nicht gekannt. Die Nöte der Wanderschaft und des unsteten Lebens mochten schon früher an ihm gezehrt haben; dann aber hatte die Pestzeit mit ihren vielen Schrecken und zuletzt seine Gefangenschaft beim Grafen und jene grausige Nacht im Schloßkeller ihn bis ins tiefste erschüttert, und es blieb davon dies und jenes zurück: graue Haare im blonden Bart, dünne Falten im Gesicht, Zeiten mit schlechtem Schlaf und zuweilen innen im Herzen eine gewisse Ermüdung, ein Erschlaffen der Lust und Neugierde, ein graues laues Gefühl von Genughaben und Sattsein. Beim Vorbereiten seiner Arbeit, in den Gesprächen mit Erich, in den Hantierungen beim Schmied und Zimmermann taute er auf, wurde lebhaft und jung, alle bewunderten ihn und hatten ihn gern, aber dazwischen saß er nicht selten halbe und ganze Stunden müde, lächelnd und träumerisch, einer Apathie und Gleichgültigkeit hingegeben.

Sehr wichtig war ihm die Frage, wo er denn mit seiner Arbeit beginnen solle. Das erste Werk, das er hier machen und mit dem er die Gastfreundschaft des Klosters heimzahlen wollte, sollte kein zufälliges sein, das man irgendwo zur Neugierde aufstellt, sondern es sollte gleich den alten Werken des Hauses ganz zum Bau und zum Leben des Klosters gehören und ein Teil von ihm werden. Am liebsten hätte er einen Altar gemacht oder auch eine Kanzel, für beides aber war kein Bedürfnis und Raum. Dafür fand er etwas anderes. Im Refektorium der Patres gab es eine erhöhte Nische, in der während der Mahlzeiten stets ein junger Bruder die Legende vorlas. Diese Nische war ohne Schmuck. Goldmund beschloß, den Aufgang zum Lesepult und dieses selbst mit einer hölzernen Schmuckverkleidung zu versehen, der einer Kanzel ähnlich, mit halb erhabenen und einigen beinah freistehenden Figuren. Er teilte den Plan dem Abte mit, der ihn lobte und willkommen hieß.

Als nun endlich die Arbeit beginnen konnte – es lag Schnee, und Weihnachten war schon vorüber –, nahm Goldmunds Leben eine neue Gestalt an. Fürs Kloster war er wie verschwunden, niemand sah ihn mehr, er wartete nicht mehr am Ende der Schulstunden auf die Schülerschar, strich nicht mehr im Walde herum, wandelte nicht mehr im Kreuzgang. Die Mahlzeiten nahm er jetzt beim Müller – es war nicht mehr der, den er als Schüler einst viel besucht hatte. Und in seine Werkstatt ließ er keinen Menschen eintreten als seinen Gehilfen Erich; auch dieser bekam an manchen Tagen kein Wort von ihm zu hören.

Für sein erstes Werk, die Vorleserempore, hatte er in langem Sinnen diesen Plan aufgestellt: von den beiden Teilen, aus denen das Werk bestand, sollte der eine die Welt, der andere das göttliche Wort darstellen. Der untere Teil, die Treppe, aus einem starken Eichenstamm hervorwachsend und sich um ihn drehend, sollte die Schöpfung darstellen, Bilder der Natur und des einfachen Lebens der Patriarchen. Der obere Teil, die Brüstung, würde die Bilder der vier Evangelisten tragen. Einem der Evangelisten wollte er die Gestalt des seligen Abtes Daniel geben, einem andern die des seligen Pater Martin, seines Nachfolgers, und in der Figur des Lukas wollte er seinen Meister Niklaus verewigen.

Er stieß auf große Schwierigkeiten, auf größere, als er gedacht hatte. Sie machten ihm Sorgen, aber es waren süße Sorgen, er warb um das Werk entzückt und verzweifelt wie um eine spröde Frau, er kämpfte mit ihm erbittert und zart, wie ein Angler mit einem großen Hecht kämpft, jeder Widerstand belehrte ihn und machte ihn feinfühliger. Er vergaß alles andere, er vergaß das Kloster, vergaß beinahe Narziß. Dieser fand sich einige Male ein, bekam aber nichts zu sehen als Zeichnungen.

Dafür überraschte ihn eines Tages Goldmund mit der Bitte, ihm Beichte zu hören.

»Ich konnte mich bisher nicht dazu bringen«, gestand er, »ich kam mir zu gering vor, ich fühlte mich vor dir schon gerade genug gedemütigt. Jetzt ist mir wohler, ich habe jetzt meine Arbeit und bin kein Nichts mehr. Und da ich nun schon einmal in einem Kloster mitlebe, möchte ich mich der Ordnung fügen.«

Er fühlte sich der Stunde jetzt gewachsen und wollte nicht länger damit warten. Und in dem beschaulichen Leben der ersten Wochen, in der Hingabe an all das Wiedersehen und Jugendgedenken und auch in den Erzählungen, um die ihn Erich bat, war der Rückblick auf sein Leben in eine gewisse Ordnung und Klarheit gerückt.

Narziß empfing ihn ohne Feierlichkeit zur Beichte. Sie dauerte gegen zwei Stunden. Mit unbewegtem Gesicht hörte der Abt die Abenteuer, Leiden und Sünden seines Freundes an, stellte manche Fragen, unterbrach nie und hörte auch jenen Teil der Beichte gleichgültig an, in dem Goldmund das Hinschwinden seines Glaubens an Gottes Gerechtigkeit und Güte bekannte. Er war ergriffen von manchen Bekenntnissen des Beichtenden, er sah, wieviel er geschüttelt und erschreckt worden war und wie nah er zuweilen am Untergang gewesen war. Dann wieder mußte er lächeln – und war gerührt von des Freundes unschuldig gebliebener Kindlichkeit, denn er fand ihn besorgt und reuig wegen unfrommer Gedanken, die im Vergleich mit seinen eigenen Zweifeln und Denkabgründen harmlos waren.

Zu Goldmunds Verwunderung, ja Enttäuschung, nahm der Beichtvater seine eigentlichen Sünden nicht allzu schwer, mahnte und strafte ihn aber ohne Schonung wegen seiner Vernachlässigung des Betens, Beichtens und Kommunizierens. Er legte ihm die Buße auf, vor dem Empfang der Kommunion vier Wochen mäßig und keusch zu leben, jeden Morgen die erste Frühmesse zu hören und jeden Abend drei Vaterunser und einen Marienhymnus zu sprechen.

Nachher sagte er zu ihm: »Ich ermahne und bitte dich, diese Buße nicht leicht zu nehmen. Ich weiß nicht, ob du den Text der Messe noch genau kennst. Du sollst ihn Wort für Wort verfolgen und dich seinem Sinn hingeben. Das Vaterunser und einige Hymnen werde ich noch heute selbst mit dir sprechen und dir Anweisungen geben, auf welche Worte und Bedeutsamkeiten du ganz besonders deine Aufmerksamkeit zu richten hast. Du sollst die heiligen Worte nicht sprechen und anhören, wie man Menschenworte spricht und anhört. So oft du dich darauf ertappst, daß du die Worte nur herunterleierst, und das wird öfter geschehen, als du glaubst, dann sollst du dich an diese Stunde und an meine Ermahnung erinnern, sollst von vorn beginnen und die Worte so sprechen und so in dein Herz einlassen, wie ich es dir zeigen werde.«

Ob es nun ein schöner Zufall war oder ob des Abtes Seelenkunde so weit reichte, es ergab sich aus dieser Beichte und Buße für Goldmund eine Zeit der Erfülltheit und des Friedens, die ihn tief beglückte. Inmitten seiner an Spannungen, Sorgen und Befriedigungen reichen Arbeit fand er sich jeden Morgen und Abend durch die leichten, aber mit Gewissenhaftigkeit begangenen geistlichen Übungen von den Erregungen des Tages erlöst und mit seinem ganzen Wesen zurückbezogen auf eine höhere Ordnung, die ihn der gefährlichen Einsamkeit des Schöpfers entriß und ihn als Kind in ein Reich Gottes einbezog. Mußte er den Kampf um sein Werk durchaus als Einsamer bestehen und ihm alle Leidenschaft seiner Sinne und Seele geben, so führte ihn doch die Andachtsstunde immer wieder zur Unschuld zurück. Während der Arbeit oft vor Wut und Ungeduld rauchend oder bis zur Wollust verzückt, tauchte er in den frommen Übungen wie in einem tiefen kühlen Wasser unter, das den Hochmut der Begeisterung ebenso wie den Hochmut der Verzweiflung von ihm abwusch.

Es gelang nicht immer. Manchmal fand er am Abend nach glühenden Arbeitsstunden die Ruhe und Sammlung nicht, einige Male vergaß er die Übungen, und mehrmals, wenn er sich um die Versenkung mühte, hinderte und quälte ihn der Gedanke, daß das Gebetsprechen am Ende eine kindische Bemühung um einen Gott sei, den es gar nicht gebe oder der ihm doch nicht helfen könne. Er klagte es dem Freunde.

»Fahre fort«, sagte Narziß, »du hast es versprochen und mußt es halten. Du hast nicht darüber nachzudenken, ob Gott dein Gebet hört oder ob es den Gott, den du dir vorstellen magst, überhaupt gebe. Du hast auch nicht darüber nachzudenken, ob deine Bemühungen kindisch seien. Im Vergleich mit dem, an den unsere Gebete sich wenden, ist all unser Tun kindisch. Du sollst dir diese törichten Kleinkindergedanken während der Übung ganz und gar verbieten. Du sollst dein Paternoster und dein Marienlied sprechen und sollst dich ihren Worten hingeben und dich mit ihnen erfüllen, so, wie du etwa beim Singen oder Lautespielen auch nicht irgendwelchen klugen Gedanken und Spekulationen nachjagst, sondern einen Ton und einen Fingergriff um den andern so rein und vollkommen wie möglich ausführst. Während man singt, denkt man nicht darüber nach, ob das Singen etwa nützlich sei oder nicht, sondern man singt. Ebenso sollst du beten.«

Und wieder gelang es. Wieder erlosch sein gespanntes und begieriges Ich in der weitgewölbten Ordnung, wieder zogen die ehrwürdigen Worte über ihn hinweg und durch ihn hindurch wie Sterne.

Mit großer Befriedigung sah der Abt, daß Goldmund nach dem Ablauf seiner Bußzeit und dem Empfang des Sakramentes die täglichen Übungen weiter vollzog, wochen- und monatelang.

Währenddessen rückte sein Werk voran. Aus der dicken Treppenspindel wuchs eine kleine quellende Welt von Gestaltungen, von Pflanzen, Tieren und Menschen empor, in ihrer Mitte ein Vater Noah zwischen Weinlaub und Trauben, ein Bilderbuch und Lobpreis der Schöpfung und ihrer Schönheit, frei spielend, aber von einer geheimen Ordnung und Zucht geleitet. Während all der Monate sah niemand das Werk außer Erich, der dabei Handreichung tun durfte und keinen andern Gedanken mehr hatte, als ein Künstler werden zu dürfen. An manchen Tagen durfte auch er die Werkstatt nicht betreten. An andern Tagen nahm Goldmund sich seiner an, unterwies ihn und ließ ihn probieren, froh daran, einen Gläubigen und Schüler zu haben. War das Werk fertig und geglückt, so dachte er ihn von seinem Vater loszubitten und zum ständigen Gehilfen zu erziehen. An den Figuren der Evangelisten arbeitete er an seinen besten Tagen, wenn alles im Einklang war und keine Zweifel ihn beschatteten. Am besten, so schien ihm, gelang ihm die Figur, der er die Züge des Abtes Daniel gab, er liebte sie sehr, von ihrem Gesicht strahlte Unschuld und Güte aus. Mit der Figur des Meisters Niklaus war er weniger zufrieden, obwohl Erich diese am meisten bewunderte. Diese Gestalt zeigte Zwiespalt und Trauer, sie schien voll hoher Schöpferpläne und zugleich voll verzweifelten Wissens um die Nichtigkeit des Schöpfertums, voll Trauer um eine verlorene Einheit und Unschuld.

Als der Abt Daniel fertig war, hieß er Erich die Werkstatt säubern. Er verhängte das übrige Werk mit Tüchern und stellte nur diese eine Figur ans Licht. Dann ging er zu Narziß und wartete, da dieser beschäftigt war, geduldig bis zum nächsten Tag. Dann führte er zur Mittagsstunde den Freund in seine Werkstatt und vor die Figur.

Narziß stand und schaute. Er stand und ließ sich Zeit, mit der Aufmerksamkeit und Sorgfalt des Gelehrten betrachtete er die Gestalt. Goldmund stand hinter ihm, schweigend, und suchte den Sturm in seinem Herzen zu bändigen. »Oh«, dachte er, »wenn jetzt einer von uns beiden nicht besteht, dann ist es böse. Wenn mein Werk nicht gut genug ist oder wenn er es nicht verstehen kann, dann hat alle meine Arbeit hier ihren Wert verloren. Ich hätte doch noch warten sollen.«

Die Minuten schienen ihm Stunden, er dachte an die Stunde, da Meister Niklaus seine erste Zeichnung m den Händen gehalten hatte, er preßte die heißfeuchten Hände ineinander vor Spannung.

Narziß wendete sich zu ihm um, und alsbald fühlte er sich erlöst. Er sah in des Freundes schmalem Gesicht etwas blühen, das ihm seit den Knabenjahren nicht mehr geblüht hatte: ein Lächeln, ein beinah schüchternes Lächeln in diesem Gesicht voll Geist und Willen, ein Lächeln der Liebe und Hingabe, einen Schimmer, als sei die Einsamkeit und der Stolz dieses Gesichts für einen Augenblick durchbrochen und es schiene nichts daraus hervor als ein Herz voll Liebe.

»Goldmund«, sagte Narziß ganz leise, auch jetzt die Worte wägend, »du erwartest nicht von mir, daß ich plötzlich ein Kunstkenner sein soll. Ich bin es nicht, du weißt es. Ich kann dir über deine Kunst nichts sagen, was dir nicht lächerlich wäre. Aber laß mich dir das eine sagen: beim ersten Blick habe ich in diesem Evangelisten unsern Abt Daniel erkannt, und nicht nur ihn, sondern auch alles, was er uns damals bedeutet hat: die Würde, die Güte, die Einfalt. So, wie der selige Vater Daniel vor unserer jugendlichen Ehrfurcht stand, so steht er hier wieder vor mir, und mit ihm alles, was damals uns heilig war und was uns jene Zeit unvergeßlich macht. Du hast mich mit diesem Anblick reich beschenkt, mein Freund, du hast mir nicht nur unsern Abt Daniel wiedergegeben, du hast mir, zum erstenmal, dich selbst ganz erschlossen. Ich weiß jetzt, wer du bist. Laß uns nicht mehr darüber reden, ich darf es nicht. O Goldmund, daß uns diese Stunde gekommen ist!«

Es war still in dem großen Raum. Goldmund sah, daß sein Freund im Herzen bewegt war. Eine Verlegenheit engte ihm den Atem.

»Ja«, sagte er kurz, »ich bin froh darüber. Aber es ist nun wohl Zeit, daß du zu Tische gehst.«

Neunzehntes Kapitel

Zwei Jahre arbeitete Goldmund an diesem Werk, und vom zweiten Jahr an bekam er Erich ganz als Schüler zugewiesen. Im Schnitzwerk der Treppe dichtete er ein kleines Paradies, mit Wollust gestaltete er eine holde Wildnis von Bäumen, Laubwerk und Gekräute, mit Vögeln im Geäste, und die Leiber und Köpfe von Tieren tauchten überall dazwischen auf. Inmitten dieses friedlich sprossenden Urgartens stellte er einige Szenen aus dem Leben der Patriarchen dar. Selten erlitt dies fleißige Leben eine Unterbrechung. Selten kam ein Tag, an dem die Arbeit ihm unmöglich war, an dem Unrast oder Überdruß ihm sein Werk entleideten. Dann gab er dem Schüler eine Arbeit, lief oder ritt ins Land hinein, atmete im Wald den mahnenden Duft der Freiheit und des Vagantenlebens, suchte da oder dort eine Bauerntochter auf, ging auch auf die Jagd und lag Stunden im Grünen, in die Gewölbehallen der Waldwipfel starrend und in die wuchernden Wildnisse von Farnkraut und Ginster. Nie blieb er länger weg als einen Tag oder zwei. Dann ging er mit neuer Leidenschaft ans Werk, schnitzte mit Wollust die krautig wuchernden Pflanzen, holte sacht und zärtlich die Menschenköpfe aus dem Holz, schnitt einen Mund mit kräftigem Schnitt, ein Auge, einen faltigen Bart. Außer Erich kannte nur Narziß das Werk, oft kam er herüber, die Werkstatt wurde ihm zuzeiten der liebste Raum im Kloster. Mit Freude und Erstaunen sah er zu. Da kam nun zur Blüte, was sein Freund in seinem unruhigen, trotzigen und kindlichen Herzen getragen hatte, da wuchs und blühte es herauf, eine Schöpfung, eine kleine quellende Welt: ein Spiel vielleicht, aber gewiß kein schlechteres als das Spiel mit Logik, Grammatik und Theologie.

Nachdenklich sagte er einmal: »Ich lerne viel von dir, Goldmund. Ich beginne zu verstehen, was Kunst ist. Früher schien mir, sie sei, mit dem Denken und der Wissenschaft verglichen, nicht ganz ernst zu nehmen. Ich dachte etwa so: da nun einmal der Mensch eine zweifelhafte Mischung aus Geist und Materie ist, da ihm der Geist die Erkenntnis des Ewigen öffnet, die Materie aber ihn hinabzieht und ans Vergängliche fesselt, sollte er von den Sinnen weg ins Geistige streben, um sein Leben zu erhöhen und ihm Sinn zu geben. Ich gab zwar vor, die Kunst hochzuachten, aus Gewohnheit, aber eigentlich war ich hochmütig und sah auf sie herab. Jetzt erst sehe ich, wie viele Wege zur Erkenntnis es gibt und daß der Weg des Geistes nicht der einzige und vielleicht nicht der beste ist. Es ist mein Weg, gewiß; ich werde auf ihm bleiben. Aber ich sehe dich auf dem entgegengesetzten Weg, auf dem Weg durch die Sinne, das Geheimnis des Seins ebenso tief erfassen und viel lebendiger ausdrücken, als die meisten Denker es können.«

»Du begreifst nun«, sagte Goldmund, »daß ich nicht verstehen kann, was Denken ohne Vorstellungen sein soll?«

»Ich habe es längst begriffen. Unser Denken ist ein beständiges Abstrahieren, ein Wegsehen vom Sinnlichen, ein Versuch am Bau einer rein geistigen Welt. Du aber nimmst gerade das Unbeständigste und Sterblichste ans Herz und verkündest den Sinn der Welt gerade im Vergänglichen. Du siehst nicht davon weg, du gibst dich ihm hin, und durch deine Hingabe wird es zum Höchsten, zum Gleichnis des Ewigen. Wir Denker suchen uns Gott zu nähern, indem wir die Welt von ihm abziehen. Du näherst dich ihm, indem du seine Schöpfung liebst und nochmals erschaffst. Beides ist Menschenwerk und unzulänglich, aber die Kunst ist unschuldiger.«

»Ich weiß nicht, Narziß. Aber mit dem Leben fertig zu werden, die Verzweiflung abzuwehren, das scheint euch Denkern und Theologen doch besser zu gelingen. Ich beneide dich längst nicht mehr um deine Wissenschaft, mein Freund, aber ich beneide dich um deine Ruhe, um deinen Gleichmut, um deinen Frieden.«

»Du solltest mich nicht beneiden, Goldmund. Es gibt keinen Frieden, so, wie du es meinst. Es gibt den Frieden, gewiß, aber nicht einen, der dauernd in uns wohnt und uns nicht mehr verläßt. Es gibt nur einen Frieden, der immer und immer wieder mit unablässigem Kämpfen erstritten wird und von Tag zu Tag neu erstritten werden muß. Du siehst mich nicht streiten, du kennst weder meine Kämpfe beim Studium, noch kennst du meine Kämpfe in der Betzelle. Es ist gut, daß du sie nicht kennst. Du siehst nur, daß ich weniger als du Launen unterworfen bin, das hältst du für Frieden. Es ist aber Kampf, es ist Kampf und Opfer wie jedes rechte Leben, wie das deine auch.«

»Wir wollen darüber nicht streiten. Auch du siehst meine Kämpfe nicht alle. Und ich weiß nicht, ob du verstehen kannst, wie mir ums Herz ist, wenn ich daran denke, daß nun bald dieses Werk hier fertig sein wird. Es wird dann fortgebracht und aufgestellt, und man sagt mir einige Lobsprüche, und dann kehre ich in eine nackte leere Werkstatt zurück, betrübt über alles das, was in meinem Werk mir nicht gelungen ist und was ihr andern gar nicht sehen könnt, und ich bin im Innern so leer und beraubt, wie die Werkstatt es ist.«

»Das mag so sein«, sagte Narziß, »und keiner von uns kann den andern darin ganz verstehen. Gemeinsam aber ist allen Menschen, die des guten Willens sind, dieses: daß unsere Werke uns am Ende beschämen, daß wir immer wieder von vorn beginnen müssen, daß das Opfer immer neu gebracht werden muß.«

Einige Wochen später war Goldmunds große Arbeit fertig und aufgestellt. Es wiederholte sich, was er schon längst erlebt hatte: sein Werk ging in den Besitz der andern über, ward betrachtet, beurteilt, gelobt, man rühmte ihn und erwies ihm Ehre; sein Herz aber und seine Werkstatt standen leer, und er wußte nicht mehr, ob das Werk des Opfers wert gewesen sei. Am Tag der Enthüllung war er bei den Patres zur Tafel geladen, es gab ein Festmahl und den ältesten Wein des Hauses; Goldmund schluckte den guten Fisch und das Wildbret, und mehr als der alte Wein erwärmte ihn die Teilnahme und Freude, mit welcher Narziß sein Werk und seine Ehrung begrüßte.

Eine neue Arbeit, vom Abt gewünscht und bestellt, war schon entworfen, ein Altar für die Marienkapelle in Neuzell, die dem Kloster gehörte und in der ein Mariabronner Pater als Priester amtete. Für diesen Altar wollte Goldmund eine Marienfigur machen und wollte in ihr eine der unvergeßlichen Gestalten seiner Jugend verewigen, die schöne ängstliche Ritterstochter Lydia. Im übrigen war dieser Auftrag ihm wenig wichtig, er schien ihm aber dazu geeignet, daß Erich sein Gesellenstück an ihm mache. Bewährte sich Erich, so würde er an ihm für immer einen guten Mitarbeiter haben, der ihn ersetzen konnte und ihn für jene Arbeiten freimachte, die allein ihm noch am Herzen lagen. Jetzt suchte er mit Erich die Hölzer für den Altar aus und ließ ihn sie herrichten. Oft ließ Goldmund ihn allein, er hatte das Streifen und die weiten Waldgänge wieder angefangen; als er einmal mehrere Tage ausblieb, meldete Erich es dem Abt, und auch der Abt fürchtete ein wenig, er möchte sich für immer davongemacht haben. Er kam indessen zurück, arbeitete eine Woche lang an der Lydiafigur, dann fing er wieder an zu schweifen.

Er hatte Sorgen; seit dem Fertigwerden der großen Arbeit war sein Leben in Unordnung, er versäumte die Frühmesse, er war tief unruhig und unzufrieden. Viel dachte er jetzt an den Meister Niklaus und ob nicht bald auch er selbst so werden würde, wie Niklaus war, fleißig und bieder und kunstfertig, aber unfrei und unjung. Kürzlich hatte ein kleines Erlebnis ihn nachdenklich gemacht. Auf seinen Streifen hatte er ein junges Bauernmädchen namens Franziska gefunden, die ihm sehr gefiel, so daß er sich Mühe gab, sie zu bezaubern,und alle seine einstigen Werbekünste anwandte. Das Mädchen hörte sein Geplauder gern, sie lachte beglückt zu seinen Witzen, aber seine Werbungen lehnte sie ab, und zum erstenmal spürte er, daß er einem jungen Weibe alt erscheine. Er war nicht mehr hingegangen, aber er hatte es nicht vergessen. Franziska hatte recht, er war anders geworden, er fühlte es selbst, und zwar waren es nicht die paar verfrühten grauen Haare und die paar Falten um die Augen, es war mehr etwas im Wesen, im Gemüt; er fand sich alt, er fand sich dem Meister Niklaus unheimlich ähnlich geworden. Mit Unwillen beobachtete er sich selber und zuckte die Achseln über sich; er war unfrei und seßhaft geworden, er war kein Adler und kein Hase mehr, er war ein Haustier geworden. Trieb er sich draußen herum, so suchte er den Duft der Vergangenheit, das Gedächtnis seiner einstigen Wanderschaft mehr als neue Wanderung und neue Freiheit, er suchte sehnlich und mißtrauisch danach wie ein Hund nach einer verlorengegangenen Witterung. Und war er einen Tag oder zwei draußen gewesen, hatte er ein wenig gebummelt und gefeiert, so zog es ihn unweigerlich wieder zurück, er hatte ein schlechtes Gewissen, er fühlte die Werkstatt warten, er fühlte sich für den begonnenen Altar, für das vorbereitete Holz, für den Gehilfen Erich verantwortlich. Er war nicht mehr frei, er war nicht mehr jung. Fest nahm er sich vor: wenn die Lydia-Maria fertig wäre, wollte er eine Reise antreten und es noch einmal mit dem Wanderleben probieren. Es war nicht gut, so lange in einem Kloster und bei lauter Männern zu leben. Für Mönche mochte es gut sein, für ihn aber nicht. Mit Männern konnte man schön und klug sprechen, und sie hatten Verstand für die Arbeit eines Künstlers, aber alles andere, das Schwatzen, das Zärtlichsein, das Spiel, die Liebe, das Behagen ohne Gedanken – das gedieh unter Männern nicht, dazu brauchte es Frauen und Wanderung und Schweifen und immer neue Bilder. Es war alles hier um ihn her ein wenig grau und ernsthaft, ein wenig schwer und männlich, und er war davon angesteckt, es war ihm ins Blut gekrochen.

Der Gedanke an die Reise tröstete ihn; er hielt sich brav zur Arbeit, um desto eher frei zu werden. Und wie ihm aus dem Holz die Gestalt Lydias allmählich entgegenkam, wie er von ihren edlen Knien die strengen Kleidfalten niederstreben ließ, entzückte ihn eine innige und schmerzliche Freude, eine wehmütige Verliebtheit in das Bild, in die schöne scheue Mädchenfigur, in die Erinnerung an damals, an seine erste Liebe, an seine ersten Reisen, an seine Jugend. Andächtig arbeitete er an dem zarten Bilde, fühlte es eins mit dem Besten in sich, mit seiner Jugend, mit seinen zärtlichen Erinnerungen. Es war ein Glück, ihren geneigten Hals zu bilden, ihren freundlich-traurigen Mund, ihre vornehmen Hände, die langen Finger, die schön gewölbten Kuppen der Fingernägel. Mit Bewunderung und ehrfürchtiger Verliebtheit betrachtete auch Erich die Figur, so oft er konnte.

Als sie nahezu fertig war, zeigte er sie dem Abt. Narziß sagte: »Das ist dein schönstes Werk, Lieber, wir haben nichts im ganzen Kloster, was ihm gleichkommt. Ich muß dir gestehen, daß ich in diesen letzten Monaten einige Male um dich in Sorge gewesen bin. Ich sah dich unruhig und leidend, und wenn du verschwandest und länger als einen Tag ausbliebest, dachte ich manchmal mit Sorge: vielleicht kommt er nicht wieder. Und nun hast du diese wundervolle Figur gemacht! Ich bin froh über dich und bin stolz auf dich!«

»Ja«, sagte Goldmund, »die Figur ist ganz gut geworden. Aber nun höre mich, Narziß! Daß diese Figur gut geworden ist, dazu war meine ganze Jugend nötig, meine Wanderschaft, meine Verliebtheit, mein Werben um viele Frauen. Das ist der Brunnen, aus dem ich geschöpft habe. Der Brunnen wird bald leer sein, es wird mir dürr im Herzen. Ich werde diese Maria fertigmachen, dann aber werde ich für eine gute Weile Urlaub nehmen, ich weiß nicht, für wie lange, und werde meine Jugend und alles dies wieder aufsuchen, was mir einst so lieb gewesen ist. Kannst du es verstehen? – Nun ja. Du weißt, ich war dein Gast, und ich habe für meine Arbeit hier nie eine Bezahlung genommen …«

»Ich habe sie dir oft angeboten«, warf Narziß ein.

»Ja, und jetzt nehme ich sie an. Ich werde mir neue Kleider machen lassen, und wenn sie fertig sind, bitte ich dich um ein Pferd und um ein paar Taler Geld, dann reite ich in die Welt. Sage nichts, Narziß, und sei nicht betrübt. Es ist nicht, daß es mir hier nicht mehr gefallen würde, ich könnte es nirgends besser haben. Es geht um anderes. Wirst du mir meinen Wunsch erfüllen?«

Es wurde wenig mehr darüber gesprochen. Goldmund ließ sich ein einfaches Reiterkleid und Stiefel machen, und während der Sommer näher kam, machte er die Maria fertig, als sei es sein letztes Werk, mit liebender Behutsamkeit gab er den Händen, dem Gesicht, dem Haar die letzte Vollendung. Es konnte sogar so scheinen, als zögere er die Abreise hinaus, als lasse er sich recht gerne von diesen letzten zarten Arbeiten an der Figur immer wieder ein wenig aufhalten. Tag um Tag verging, und er hatte noch immer dies und jenes anzuordnen. Narziß, obwohl er den bevorstehenden Abschied schwer empfand, lächelte manchmal ein wenig über die Verliebtheit Goldmunds und sein Nichtloskommenkönnen von der Marienfigur.

Dann aber überraschte ihn Goldmund doch eines Tages, indem er plötzlich kam, um sich zu verabschieden. Über Nacht hatte er seinen Entschluß gefaßt. Im neuen Kleide, in einem neuen Barett, kam er zu Narziß, um Abschied zu nehmen. Er hatte schon vor einer Weile gebeichtet und kommuniziert. Jetzt kam er, um Lebewohl zu sagen und sich den Reisesegen zu holen. Beiden fiel der Abschied schwer, und Goldmund tat forscher und gleichmütiger, als ihm ums Herz war.

»Werde ich dich denn wiedersehen?« fragte Narziß.

»O ja, wenn dein hübscher Gaul mir den Hals nicht bricht, wirst du mich gewiß wiedersehen. Es wäre ja sonst niemand da, der dich noch Narziß nennt und dir Sorgen macht. Verlaß dich drauf. Vergiß nicht, ein Auge auf Erich zu haben. Und daß niemand mir meine Figur anrührt! Sie bleibt in meiner Kammer stehen, wie ich gesagt habe, und du darfst mir den Schlüssel nicht aus der Hand geben.«

»Freust du dich auf die Reise?«

Goldmund zwinkerte mit den Augen.

»Na, ich habe mich darauf gefreut, das ist schon so. Aber jetzt, wo ich losreiten soll, kommt es mir doch weniger lustig vor, als man meinen sollte. Du wirst mich auslachen, aber ich trenne mich gar nicht leicht, und diese Anhänglichkeit gefällt mir nicht. Es ist wie eine Krankheit, junge und gesunde Leute haben das nicht. Der Meister Niklaus war auch so. Ach, schwatzen wir nicht unnützes Zeug! Segne mich, Lieber, ich will abreisen.«

Er ritt davon.

Narziß war in seinen Gedanken viel mit dem Freunde beschäftigt, er sorgte um ihn und hatte Sehnsucht nach ihm. Würde er ihm denn zurückkommen, der entflohene Vogel, der liebe Leichtfuß? Nun zog dieser wunderliche und geliebte Mensch wieder seine krause, willenlose Bahn, nun strich er wieder lüstern und neugierig durch die Welt, seinen starken dunklen Trieben nach, stürmisch und unersättlich, ein großes Kind. Möge Gott mit ihm sein, möge er heil zurückkommen. Nun flog er wieder kreuz und quer, der Schmetterling, nun sündigte er wieder, verführte Frauen, ging seinen Gelüsten nach, geriet vielleicht wieder in Totschlag, in Gefahr und Gefangenschaft und kam darin um. Wieviel Sorgen machte einem dieser blonde Knabe, der über sein Altwerden klagte und aus solchen Kinderaugen blickte! Wie mußte man um ihn in Angst sein. Und doch freute sich Narziß von Herzen über ihn. Es gefiel ihm im Grunde sehr, daß dieses trotzige Kind so schwer zu bändigen war, daß er solche Launen hatte, daß er nun wieder ausgebrochen war und sich die Hörner ablief.

Jeden Tag kehrten die Gedanken des Abts zu irgendeiner Stunde zu seinem Freunde zurück, in Liebe und Sehnsucht, in Dankbarkeit, in Sorge, zuweilen auch mit Bedenken und Selbstvorwürfen. Hätte er dem Freunde nicht vielleicht mehr davon verraten sollen, wie sehr er ihn liebte, wie wenig er ihn anders wünschte, wie reich er durch ihn und durch seine Kunst geworden war? Er hatte ihm wenig davon gesagt, viel zu wenig vielleicht – wer weiß, ob er ihn nicht hätte halten können?

Er war durch Goldmund aber nicht nur reicher geworden. Er war durch ihn auch ärmer geworden, ärmer und schwächer, und es war gewiß gut, daß er das dem Freunde nicht gezeigt hatte. Die Welt, in der er lebte und Heimat hatte, seine Welt, sein Klosterleben, sein Amt, seine Gelehrsamkeit, sein schön gegliedertes Gedankengebäude waren ihm durch den Freund oft stark erschüttert und zweifelhaft geworden. Kein Zweifel: vom Kloster aus, von der Vernunft und Moral aus gesehen war sein eigenes Leben besser, es war richtiger, steter, geordneter und vorbildlicher, es war ein Leben der Ordnung und des strengen Dienstes, ein dauerndes Opfer, ein immer neues Streben nach Klarheit und Gerechtigkeit, es war sehr viel reiner und besser als das Leben eines Künstlers, Vagabunden und Weiberverführers. Aber von oben gesehen, von Gott aus gesehen – war da wirklich die Ordnung und Zucht eines exemplarischen Lebens, der Verzicht auf Welt und Sinnenglück, das Fernbleiben von Schmutz und Blut, die Zurückgezogenheit in Philosophie und Andacht besser als das Leben Goldmunds? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, ein geregeltes Leben zu führen, dessen Stunden und Verrichtungen die Betglocken anzeigten? War der Mensch wirklich dazu geschaffen, den Aristoteles und Thomas von Aquin zu studieren, Griechisch zu können, seine Sinne abzutöten und der Welt zu entfliehen? War er nicht von Gott geschaffen mit Sinnen und Trieben, mit blutigen Dunkelheiten, mit der Fähigkeit zur Sünde, zur Lust, zur Verzweiflung? Um diese Fragen kreisten des Abts Gedanken, wenn sie bei seinem Freunde weilten.

Ja, und es war vielleicht wirklich nicht bloß kindlicher und menschlicher, ein Goldmundleben zu führen, es war am Ende wohl auch mutiger und größer, sich dem grausamen Strom und Wirrwarr zu überlassen, Sünden zu begehen und ihre bitteren Folgen auf sich zu nehmen, statt abseits der Welt mit gewaschenen Händen ein sauberes Leben zu führen, sich einen schönen Gedankengarten voll Harmonie anzulegen und zwischen seinen behüteten Beeten sündelos zu wandeln. Es war vielleicht schwerer, tapferer und edler, mit zerrissenen Schuhen durch die Wälder und auf den Landstraßen zu wandern, Sonne und Regen, Hunger und Not zu leiden, mit den Freuden der Sinne zu spielen und sie mit Leiden zu bezahlen.

Jedenfalls hatte Goldmund ihm gezeigt, daß ein zu Hohem bestimmter Mensch sehr weit in die blutige, trunkene Wirrsal des Lebens hinabtauchen und sich mit vielem Staub und Blut beschmutzen könne, ohne doch klein und gemein zu werden, ohne das Göttliche in sich zu töten, daß er durch tiefe Verdunkelungen irren könne, ohne daß im Heiligtum seiner Seele das göttliche Licht und die Schöpferkraft erlosch. Tief hatte Narziß in seines Freundes verworrenes Leben geblickt, und weder seine Liebe zu ihm noch seine Achtung für ihn war kleiner geworden. O nein, und seit er aus Goldmunds befleckten Händen diese wunderbar still-lebendigen, von innerer Form und Ordnung verklärten Gebilde hatte hervorgehen sehen, diese innigen, von Seele leuchtenden Gesichter, diese unschuldigen Pflanzen und Blumen, diese flehenden oder begnadeten Hände, all diese kühnen und sanften, stolzen oder heiligen Gebärden, seitdem wußte er wohl, daß in diesem unsteten Künstler- und Verführerherzen eine Fülle von Licht und Gottesgnade wohne.

Leicht hatte er es gehabt, in ihren Gesprächen dem Freund überlegen zu scheinen, dessen Leidenschaft seine Zucht und Gedankenordnung entgegenzusetzen. Aber war nicht jede kleine Gebärde einer Goldmundfigur, jedes Auge, jeder Mund, jede Ranke und Kleidfalte mehr, war wirklicher, lebendiger und unersetzlicher als alles, was ein Denker leisten konnte? Hatte dieser Künstler, dessen Herz so voll Widerstreit und Not war, nicht für unzählige Menschen, heutige und kommende, Sinnbilder ihrer Not und ihres Strebens aufgestellt, Gestalten, zu welchen Andacht und Ehrfurcht, Herzensangst und Sehnsucht Unzähliger sich wenden konnten, um in ihnen Trost, Bestätigung und Stärkung zu finden?

Lächelnd und traurig erinnerte Narziß sich all der Szenen seit früher Jugend, in denen er seinen Freund geführt und belehrt hatte. Dankbar hatte der Freund es angenommen, hatte immer wieder seine Überlegenheit und Führerschaft gelten lassen. Und dann hatte er in aller Stille die aus dem Sturm und Leid seines gepeitschten Lebens geborenen Werke hingestellt: keine Worte, keine Lehren, keine Aufklärungen, keine Ermahnungen, sondern echtes, erhöhtes Leben. Wie arm war er selbst dagegen mit seinem Wissen, seiner Klosterzucht, seiner Dialektik!

Dies waren die Fragen, um welche seine Gedanken kreisten. So wie er vor vielen Jahren einst erschütternd und mahnend in Goldmunds Jugend eingegriffen und sein Leben in einen neuen Raum gestellt hatte, so hatte seit seiner Rückkehr der Freund ihm zu schaffen gemacht, ihn erschüttert, ihn zu Zweifel und Selbstprüfung gezwungen. Er war ihm ebenbürtig; nichts hatte Narziß ihm gegeben, das er nicht vielfach wiederbekommen hätte.

Der davongerittene Freund ließ ihm Zeit zu seinen Gedanken. Die Wochen vergingen, längst hatte der Kastanienbaum geblüht, längst war das milchig hellgrüne Buchenlaub dunkel, fest und hart geworden, längst hatten die Störche auf dem Torturm gebrütet, hatten Junge und hatten sie fliegen gelehrt. Je länger Goldmund ausblieb, desto mehr sah Narziß, was er an ihm gehabt hatte. Er hatte einige gelehrte Patres im Hause, einen Kenner des Plato, einen vorzüglichen Grammatiker, einen oder zwei subtile Theologen. Er hatte unter den Mönchen einige treue, redliche Seelen, denen es Ernst war. Aber er hatte keinen seinesgleichen, keinen, an dem er sich ernstlich messen konnte. Dies Unersetzliche hatte nur Goldmund ihm gegeben. Es nun wieder entbehren zu müssen, fiel ihm schwer. Mit Sehnsucht dachte er an den Entfernten.

Oft ging er in die Werkstatt hinüber, ermunterte den Gehilfen Erich, der am Altar weiterarbeitete und sehr nach der Rückkehr seines Meisters bangte. Manchmal schloß der Abt Goldmunds Kammer auf, wo die Maria stand, hob vorsichtig das Tuch von der Figur und verweilte bei ihr. Er wußte nichts von ihrer Herkunft, Goldmund hatte ihm die Geschichte Lydias nie erzählt. Aber er fühlte alles, er sah, daß diese Mädchengestalt lange in seines Freundes Herzen gelebt habe. Vielleicht hatte er sie verführt, vielleicht sie betrogen und verlassen. In seiner Seele aber hatte er sie mitgenommen und bewahrt, treuer als der beste Gatte, und schließlich hatte er, vielleicht nach vielen Jahren, in denen er sie nie mehr gesehen, diese schöne rührende Mädchenfigur gemacht und in ihr Gesicht, ihre Haltung, ihre Hände alle Zärtlichkeit, Bewunderung und Sehnsucht eines Liebenden beschlossen. Auch in den Figuren der Lesekanzel im Refektorium las er dies und jenes von der Geschichte seines Freundes. Es war die Geschichte eines Landfahrers und Triebmenschen, eines Heimatlosen und Treulosen, aber was hier davon übriggeblieben, war alles gut und treu, war voll lebendiger Liebe. Wie geheimnisvoll war dieses Leben, wie trüb und reißend flossen seine Ströme, und wie edel und klar standen die Ergebnisse da!

Narziß kämpfte. Er wurde Herr darüber, er wurde seiner Bahn nicht untreu, er versäumte nichts an seinem strengen Dienst. Aber er litt unter dem Verlust und litt unter der Erkenntnis, wie sehr sein Herz, das doch nur Gott und seinem Amt gehören sollte, an diesem Freunde hing.

Zwanzigstes Kapitel

Der Sommer ging hin, Mohn und Kornblume, Rade und Sternblume welkte und schwand, still wurden die Frösche im Weiher, und die Störche flogen hoch und bereiteten sich zum Abschied. Da kam Goldmund wieder!

Er kam an einem Nachmittag, bei leisem Regen, und trat nicht ins Kloster, er ging vom Tore sofort nach seiner Werkstatt. Er war zu Fuß gekommen, ohne Pferd.

Erich erschrak, als er ihn eintreten sah. Zwar erkannte er ihn auf den ersten Blick, und sein Herz schlug ihm entgegen, und doch schien es ein ganz anderer Mensch zu sein, der da zurückgekommen war: ein falscher Goldmund, um viele Jahre älter, mit einem halb erloschenen, staubigen, grauen Gesicht, mit eingefallenen Zügen, kranken, leidenden Zügen, in denen aber doch kein Schmerz geschrieben stand, sondern eher ein Lächeln, ein gutmütiges, altes, geduldiges Lächeln. Er ging mühsam, er schleppte sich, und er schien krank und sehr müde zu sein.

Wunderlich blickte dieser veränderte, fremde Goldmund seinem jungen Gehilfen in die Augen. Er machte kein Aufhebens von seiner Rückkehr, er tat, als käme er nur aus dem Nebenzimmer und sei eben noch dagewesen. Er gab die Hand und sagte nichts, keinen Gruß, keine Frage, keine Erzählung. Er sagte nur: »Ich muß schlafen«, furchtbar müde schien er zu sein. Er schickte Erich fort und ging in seine Kammer neben der Werkstatt. Da zog er die Mütze ab und ließ sie fallen, zog die Schuhe aus und trat gegen die Bettstatt. Hinten im Räume sah er unter Tüchern seine Madonna stehen; er nickte ihr zu, aber er ging nicht, die Tücher abzunehmen und sie zu begrüßen. Statt dessen schlich er ans Fensterchen, sah draußen den betretenen Erich warten und rief ihm zu: »Erich, du brauchst niemand zu sagen, daß ich gekommen bin. Ich bin sehr müde. Es hat Zeit bis morgen.« Dann legte er sich in den Kleidern aufs Bett. Nach einiger Zeit, da er noch keinen Schlaf gefunden hatte, stand er auf, ging schwerfällig zur Wand, wo ein kleiner Spiegel hing, und schaute hinein. Aufmerksam blickte er den Goldmund an, der ihm aus dem Spiegel entgegensah: einen müden Goldmund, einen müd und alt und welk gewordenen Mann, mit stark grau gewordenem Bart. Es war ein alter, etwas verwahrloster Mann, der ihm aus der kleinen trüben Spiegelfläche entgegenblickte, ein wohlbekanntes Gesicht, aber ein fremd gewordenes, es schien nicht recht gegenwärtig zu sein, es schien ihn wenig anzugehen. Es erinnerte ihn an dies und jenes Gesicht, das er gekannt hatte, ein wenig an den Meister Nikilaus, ein wenig an den alten Ritter, der ihm einst ein Pagenkleid hatte machen lassen, ein wenig auch an den heiligen Jakob in der Kirche, an den alten bärtigen Sankt Jakob, der unter seinem Pilgerhut so uralt und grau und doch eigentlich heiter und gut aussah.

Mit Sorgfalt las er in dem Spiegelgesicht, als sei ihm daran gelegen, über diesen fremden Menschen Auskunft zu bekommen. Er nickte ihm zu und kannte es wieder: ja, es war er selber, es entsprach dem Gefühl, das er von sich selber hatte. Ein sehr müder und etwas stumpf gewordener alter Mann war da von der Reise zurückgekommen, ein unscheinbarer Mann, es war mit ihm kein Staat zu machen, und doch hatte er nichts gegen ihn, und doch gefiel er ihm: er hatte etwas im Gesicht, was der frühere hübsche Goldmund nicht gehabt hatte, in aller Müdigkeit und Zerfallenheit einen Zug von Zufriedenheit oder doch von Gleichmut. Er lachte leise vor sich hin und sah das Spiegelbild mitlachen: einen schönen Kerl hatte er da von der Reise mit nach Hause gebracht! Schön zerschlissen und abgebrannt kam er da von seinem kleinen Ausritt wieder heim, und nicht nur sein Roß und seine Reisetasche und seine Taler hatte er eingebüßt, es war ihm auch anderes abhanden gekommen und hatte ihn verlassen: die Jugend, die Gesundheit, das Selbstvertrauen, das Rot im Gesicht und die Kraft im Blick. Dennoch gefiel ihm das Bild: dieser alte schwache Kerl im Spiegel war ihm lieber als der Goldmund, der er so lang gewesen war. Er war älter, schwächer, kläglicher, aber er war harmloser, er war zufriedener, es war besser mit ihm auszukommen. Er lachte und zog eins der faltig gewordenen Augenlider herunter. Dann legte er sich wieder aufs Bett und schlief nun ein.

Andern Tages saß er in seiner Kammer über den Tisch gebückt und versuchte ein wenig zu zeichnen, da kam Narziß, ihn zu besuchen. In der Tür blieb er stehen und sagte: »Man hat mir erzählt, du seiest zurückgekommen. Gott sei Dank, meine Freude ist groß. Da du mich nicht aufgesucht hast, komme ich zu dir. Störe ich dich in der Arbeit?«

Er kam näher; Goldmund richtete sich von seinem Papier auf und streckte ihm die Hand entgegen. Obwohl Erich ihn vorbereitet hatte, erschrak er bis ins Herz über den Anblick seines Freundes. Der lächelte ihm freundlich entgegen.

»Ja, ich bin wieder da. Sei gegrüßt, Narziß, wir haben uns eine Weile nicht gesehen. Entschuldige, daß ich dich noch nicht besucht habe.«

Narziß sah ihm in die Augen. Auch er sah nicht nur die Erloschenheit und jämmerliche Welke dieses Gesichts, er sah auch das andere, diesen wunderlich angenehmen Zug von Gleichmut, ja Gleichgültigkeit, von Ergebung und guter Greisenlaune. Im Lesen von Menschengesichtern erfahren, sah er auch, daß dieser so fremd gewordene und veränderte Goldmund nicht mehr ganz gegenwärtig sei, daß entweder seine Seele sich weit von der Wirklichkeit entfernt habe und auf Traumwegen gehe oder daß sie schon bei der Pforte stehe, die ms Jenseits führt.

»Bist du krank?« fragte er behutsam.

»Ja, krank bin ich auch. Ich wurde schon im Anfang meiner Reise krank, schon in den ersten Tagen. Aber du begreifst, daß ich nicht gleich wieder heimkehren mochte. Ihr hättet mich schön ausgelacht, wenn ich so schnell wieder angerückt wäre und meine Reitstiefel wieder ausgezogen hätte. Nein, das mochte ich also nicht. Ich bin weitergegangen und habe mich noch ein bißchen herumgetrieben, ich schämte mich, weil die Reise mir mißglückt war. Ich hatte das Maul zu voll genommen. Gut, also ich schämte mich. Nun ja, du begreifst es schon, du bist ein so kluger Mensch. Verzeih, hast du etwas gefragt? Es ist wie verhext, ich vergesse immer wieder, um was es sich eigentlich handelt. Aber das mit meiner Mutter, das hast du gut gemacht. Es hat recht weh getan, aber …«

Sein Gemurmel erlosch in einem Lächeln.

»Wir werden dich wieder gesund machen, Goldmund, es soll dir an nichts fehlen. Aber daß du nicht gleich wieder umgekehrt bist, als es dir anfing schlecht zu gehen! Du brauchst dich doch wahrlich vor uns nicht zu schämen. Du hättest sofort umkehren sollen.«

Goldmund lachte.

»Ja, jetzt weiß ich wieder. Ich traute mich nicht, so einfach wieder umzukehren. Es wäre ja eine Schande gewesen. Aber jetzt bin ich gekommen. Es geht mir jetzt wieder gut.«

»Hast du viel Schmerzen gehabt?«

»Schmerzen? Ja, Schmerzen habe ich genug. Aber schau, die Schmerzen sind ganz gut, sie haben mich zur Vernunft gebracht. Ich schäme mich jetzt nicht mehr, auch vor dir nicht. Damals, als du mich im Gefängnis besucht hast, um mir das Leben zu retten, da mußte ich sehr auf die Zähne beißen, weil ich mich vor dir schämte. Das ist jetzt ganz vergangen.«

Narziß legte ihm die Hand auf den Arm, sofort schwieg er und schloß lächelnd die Augen. Er schlief friedlich ein. Verstört lief der Abt und holte den Arzt des Hauses, Pater Anton, daß er nach dem Kranken sehe. Als sie zurückkamen, saß Goldmund schlafend an seinem Zeichentisch. Sie brachten ihn zu Bette, der Arzt blieb bei ihm. Er fand ihn hoffnungslos krank. Man brachte ihn in eines der Krankenzimmer, Erich wurde ihm zur ständigen Wache gegeben.

Die ganze Geschichte seiner letzten Reise kam nie zutage. Einzelnes erzählte er, manches ließ sich erraten. Oft lag er teilnahmslos, manchmal fieberte er und redete verwirrt, manchmal war er klar, und dann wurde jedesmal Narziß gerufen, dem diese letzten Gespräche mit Goldmund sehr wichtig wurden.

Einige Bruchstücke aus Goldmunds Berichten und Bekenntnissen hat Narziß überliefert, andere der Gehilfe.

»Wann die Schmerzen begonnen haben? Es war noch am Anfang meiner Reise. Ich ritt im Wald, und ich bin samt dem Gaul gestürzt und bin in einen Bach gefallen und bin eine ganze Nacht im kalten Wasser gelegen. Da drinnen, wo ich mir die Rippen gebrochen habe, da sind seither die Schmerzen. Damals war ich noch nicht sehr weit von hier, aber ich mochte nicht umkehren, es war kindisch, aber ich dachte, es würde komisch aussehen. Ich ritt also weiter, und als ich nicht mehr reiten konnte, weil es so weh tat, habe ich das Pferdchen verkauft, und dann bin ich lange Zeit in einem Hospital gelegen.

Ich bleibe jetzt hier, Narziß, es ist nichts mehr mit dem Reiten. Es ist nichts mehr mit dem Wandern. Es ist nichts mehr mit dem Tanzen und mit den Weibern. Ach, sonst wäre ich noch lang ausgeblieben, noch jahrelang. Aber wie ich denn sah, daß es da draußen keine Freude mehr für mich gibt, da dachte ich mir: ehe ich hinunter muß, will ich noch ein wenig zeichnen und ein paar Figuren machen, irgendeine Freude will man doch haben.«

Narziß sagte ihm: »Ich bin so froh, daß du wiedergekommen bist. Du hast mir so sehr gefehlt, ich habe jeden Tag an dich gedacht, und oft hatte ich Angst, du würdest nie mehr wiederkommen wollen.«

Goldmund schüttelte den Kopf: »Nun, der Verlust wäre nicht groß gewesen.«

Narziß, das Herz vor Weh und Liebe brennend, bückte sich langsam zu ihm herab, und nun tat er, was er in den vielen Jahren ihrer Freundschaft niemals getan hatte, er berührte Goldmunds Haar und Stirn mit seinen Lippen. Verwundert zuerst, dann ergriffen, merkte Goldmund, was geschehen sei.

»Goldmund«, flüsterte ihm der Freund ins Ohr, »verzeih, daß ich es dir nicht früher habe sagen können. Ich hätte es dir sagen sollen, als ich dich damals in deinem Gefängnis aufsuchte, in der Bischofsresidenz, oder als ich deine ersten Figuren zu sehen bekam, oder irgendeinmal. Laß es mich dir heute sagen, wie sehr ich dich liebe, wieviel du mir immer gewesen bist, wie reich du mein Leben gemacht hast. Es wird dir nicht sehr viel bedeuten. Du bist an Liebe gewöhnt, sie ist für dich nichts Seltenes, du bist von so vielen Frauen geliebt und verwöhnt worden. Für mich ist es anders. Mein Leben ist arm an Liebe gewesen, es hat mir am Besten gefehlt. Unser Abt Daniel sagte mir einst, daß er mich für hochmütig halte, wahrscheinlich hat er recht gehabt. Ich bin nicht ungerecht gegen die Menschen, ich gebe mir Mühe, gerecht und geduldig mit ihnen zu sein, aber geliebt habe ich sie nie. Von zwei Gelehrten im Kloster ist der Gelehrtere mir lieber; nie habe ich etwa einen schwachen Gelehrten trotz seiner Schwäche liebgehabt. Wenn ich trotzdem weiß, was Liebe ist, so ist es deinetwegen. Dich habe ich lieben können, dich allein unter den Menschen. Du kannst nicht ermessen, was das bedeutet. Es bedeutet den Quell in einer Wüste, den blühenden Baum in einer Wildnis. Dir allein danke ich es, daß mein Herz nicht verdorrt ist, daß eine Stelle in mir blieb, die von der Gnade erreicht werden kann.«

Goldmund lächelte froh und etwas verlegen. Mit der leisen ruhigen Stimme, die er in seinen klaren Stunden hatte, sagte er: »Als du mich damals vom Galgen befreit hattest und wir heimritten, fragte ich dich nach meinem Pferde Bleß, und du gabst mir Auskunft. Damals sah ich, daß du, der du sonst Pferde kaum auseinanderkennst, dich um das Rößchen Bleß bekümmert hattest. Ich verstand, daß du es meinetwegen getan hattest, und war sehr froh darüber. Jetzt sehe ich, daß es wirklich so war und daß du mich wirklich liebhast. Auch ich habe dich immer liebgehabt, Narziß, die Hälfte meines Lebens ist ein Werben um dich gewesen. Ich wußte, daß auch du mich gern hattest, aber nie hätte ich gehofft, daß du es mir einmal sagen würdest, du stolzer Mensch. Jetzt hast du es mir gesagt, in diesem Augenblick, wo ich nichts anderes mehr habe, wo Wanderschaft und Freiheit, Welt und Weiber mich im Stich gelassen haben. Ich nehme es an, ich danke dir dafür.«

Die Lydia-Madonna stand in der Kammer und sah zu.

»Du denkst immer ans Sterben?« fragte Narziß.

»Ja, ich denke daran und an das, was aus meinem Leben geworden ist. Als Jüngling, als ich noch dein Schüler war, hatte ich den Wunsch, ein so geistiger Mensch zu werden wie du. Du hast mir gezeigt, daß ich nicht dazu berufen war. Dann warf ich mich auf die andere Seite des Lebens, auf die Sinne, und die Frauen haben es mir leicht gemacht, dort meine Lust zu finden, sie sind so willig und gierig. Doch möchte ich ja nicht verächtlich von ihnen sprechen und auch nicht von der Sinnenlust, ich bin oft sehr glücklich gewesen. Und ich habe auch das Glück gehabt zu erleben, daß die Sinnlichkeit beseelt werden kann. Daraus entsteht die Kunst. Jetzt aber sind beide Flammen erloschen. Ich habe das tierische Glück der Wollust nicht mehr – und ich hätte es auch nicht, wenn die Frauen mir noch heute nachliefen. Und Kunstwerke zu schaffen, ist auch nicht mehr mein Wunsch, ich habe genug Figuren gemacht, es kommt auf die Zahl nicht an. Darum ist es für mich Zeit zu sterben. Ich bin willig dazu und bin neugierig darauf.«

»Warum neugierig?« fragte Narziß.

»Nun, es ist wohl etwas dumm von mir. Aber ich bin wirklich neugierig darauf. Nicht auf das Jenseits, Narziß, darüber mache ich mir wenig Gedanken, und wenn ich es offen sagen darf, ich glaube nicht mehr daran. Es gibt kein Jenseits. Der verdorrte Baum ist tot für immer, der erfrorene Vogel kommt nie wieder zum Leben und ebensowenig der Mensch, wenn er gestorben ist. Man mag noch eine Weile an ihn denken, wenn er fort ist, aber auch das dauert ja nicht lange. Nein, neugierig auf das Sterben bin ich nur darum, weil es noch immer mein Glaube oder mein Traum ist, daß ich unterwegs zu meiner Mutter bin. Ich hoffe, der Tod werde ein großes Glück sein, ein Glück, so groß wie das der ersten Liebeserfüllung. Ich kann mich von dem Gedanken nicht trennen, daß statt des Todes mit der Sense es meine Mutter sein wird, die mich wieder zu sich nimmt und in das Nichtsein und in die Unschuld zurückführt.«

Bei einem seiner letzten Besuche, nachdem Goldmund mehrere Tage nichts mehr gesprochen hatte, fand Narziß ihn wieder wach und gesprächig.

»Der Pater Anton meint, du müssest oft große Schmerzen haben. Wie machst du es, Goldmund, daß du sie so ruhig erträgst? Mir scheint, du habest jetzt den Frieden gefunden.«

»Meinst du den Frieden mit Gott? Nein, den habe ich nicht gefunden. Ich will keinen Frieden mit ihm. Er hat die Welt schlecht gemacht, wir brauchen sie nicht zu preisen, und ihm wird ja auch wenig daran gelegen sein, ob ich ihn lobpreise oder nicht. Schlecht hat er die Welt gemacht. Aber mit den Schmerzen in meiner Brust habe ich Frieden geschlossen, das ist richtig. Früher konnte ich Schmerzen nicht gut ertragen, und obwohl ich manchmal der Meinung war, das Sterben würde mir leichtfallen, so war das doch ein Irrtum. Als es damit Ernst werden sollte, in jener Nacht im Gefängnis des Grafen Heinrich, hat es sich ja gezeigt: ich konnte einfach nicht sterben, ich war noch viel zu stark und zu wild, sie hätten jedes Glied von mir zweimal totschlagen müssen. Jetzt aber ist es anders.«

Das Sprechen ermüdete ihn, seine Stimme wurde schwächer. Narziß bat ihn, sich zu schonen.

»Nein«, sagte er, »ich will es dir erzählen. Früher hätte ich mich geschämt, es dir zu sagen. Du wirst lachen müssen. Nämlich als ich damals meinen Gaul bestieg und von hier weggeritten bin, geschah es nicht ganz ins Blaue hinein. Ich hatte ein Gerücht gehört, der Graf Heinrich sei wieder im Lande und seine Geliebte sei wieder bei ihm, die Agnes. Nun gut, dir scheint das nicht wichtig, und auch mir scheint es heut nicht wichtig. Aber damals brannte mich die Nachricht gewaltig, und ich dachte an nichts mehr als an Agnes; sie war die schönste Frau, die ich gekannt und geliebt habe, ich wollte sie wiedersehen, ich wollte noch einmal mit ihr glücklich sein. Ich ritt, und nach einer Woche fand ich sie. Dort, in jener Stunde, ist die Veränderung mit mir geschehen. Ich fand also die Agnes, sie war nicht weniger schön geworden, ich fand sie und fand Gelegenheit, mich ihr zu zeigen und mit ihr zu sprechen. Und denke, Narziß: sie wollte nichts mehr von mir wissen! Ich war ihr zu alt, ich war ihr nicht mehr hübsch und vergnügt genug, sie versprach sich nichts mehr von mir. Damit war meine Reise eigentlich zu Ende. Ich ritt aber weiter, ich mochte nicht so enttäuscht und lächerlich zu euch zurückkommen, und wie ich so ritt, hatte mich die Kraft und die Jugend und die Klugheit schon ganz verlassen, denn ich fiel mit meinem Pferd eine Schlucht hinab und in einen Bach und brach mir die Rippen und blieb im Wasser liegen. Damals habe ich zuerst richtige Schmerzen kennengelernt. Ich spürte gleich beim Fall in meiner Brust innen etwas brechen, und das Brechen machte mir Freude, ich hörte es gern, ich war damit zufrieden. Ich lag da im Wasser und sah, daß ich sterben müsse, aber es war alles ganz anders als damals im Gefängnis. Ich hatte nichts dagegen, das Sterben schien mir nicht mehr schlimm. Ich spürte diese heftigen Schmerzen, die ich seither oft gehabt habe, und ich hatte dazu einen Traum oder ein Gesicht, wie du es nennen willst. Ich lag, und in meiner Brust tat es brennend weh, und ich wehrte mich und schrie, aber da hörte ich eine Stimme lachen – eine Stimme, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Es war die Stimme meiner Mutter, eine tiefe Frauenstimme, voll von Wollust und Liebe. Und da sah ich denn, daß sie es war, daß die Mutter bei mir war und mich auf dem Schoß hatte und daß sie mir die Brust geöffnet und ihre Finger tief in der Brust zwischen meinen Rippen hatte, um mir das Herz herauszulösen. Als ich das gesehen und verstanden hatte, tat es nicht mehr weh. Auch jetzt, wenn diese Schmerzen wiederkommen, sind es nicht Schmerzen, es sind nicht Feinde; es sind die Finger der Mutter, die mir das Herz herausnehmen. Fleißig ist sie daran. Manchmal drückt sie zu und stöhnt wie in Wollust. Manchmal lacht sie und brummt zärtliche Töne. Manchmal ist sie nicht bei mir, sondern am Himmel oben, zwischen den Wolken seh ich ihr Gesicht, groß wie eine Wolke, da schwebt sie und lächelt traurig, und ihr trauriges Lächeln saugt an mir und zieht mir das Herz aus der Brust.« Immer wieder sprach er von ihr, von der Mutter.

»Weißt du noch?« fragte er an einem der letzten Tage. »Einmal hatte ich meine Mutter vergessen, aber du hast sie wieder beschworen. Auch damals hat es sehr weh getan, wie wenn Tiermäuler in meinen Eingeweiden fräßen. Da waren wir noch Jünglinge, hübsche junge Knaben waren wir. Aber schon damals hat die Mutter mir gerufen, und ich mußte folgen. Sie ist überall. Sie war die Zigeunerin Lise, sie war die schöne Madonna des Meisters Niklaus, sie war das Leben, die Liebe, die Wollust, sie war auch die Angst, der Hunger, der Trieb. Jetzt ist sie der Tod, sie hat ihre Finger in meiner Brust.«

»Sprich nicht zu viel, Lieber«, bat Narziß, »warte bis morgen.«

Goldmund blickte ihm mit seinem Lächeln in die Augen, mit diesem neuen Lächeln, das er von seiner Reise mitgebracht hatte, das so alt und so gebrechlich aussah und das manchmal ein wenig schwachsinnig zu sein schien, manchmal wie lauter Güte und Weisheit blickte.

»Mein Lieber«, flüsterte er, »ich kann nicht bis morgen warten. Ich muß Abschied von dir nehmen, und zum Abschied muß ich dir noch alles sagen. Höre mir noch einen Augenblick zu. Ich wollte dir von der Mutter erzählen, und daß sie ihre Finger um mein Herz geschlossen hält. Es ist seit manchen Jahren mein liebster und geheimnisvollster Traum gewesen, eine Figur der Mutter zu machen, sie war mir das heiligste von allen Bildern, immer trug ich es in mir herum, eine Gestalt voll Liebe und voll Geheimnis. Vor kurzem noch wäre es mir ganz unerträglich gewesen zu denken, daß ich sterben könnte, ohne ihre Figur gemacht zu haben; mein Leben wäre mir unnütz erschienen. Und nun sieh, wie wunderlich es mir mit ihr gegangen ist: statt daß meine Hände sie formen und gestalten, ist sie es, die mich formt und gestaltet. Sie hat ihre Hände um mein Herz und löst es los und macht mich leer, sie hat mich zum Sterben verführt, und mit mir stirbt auch mein Traum, die schöne Figur, das Bild der großen Eva-Mutter. Noch sehe ich es, und wenn ich Kraft in den Händen hätte, könnte ich es gestalten. Aber sie will das nicht, sie will nicht, daß ich ihr Geheimnis sichtbar mache. Lieber will sie, daß ich sterbe. Ich sterbe gern, sie macht es mir leicht.«

Bestürzt hörte Narziß den Worten zu, er mußte sich tief über seines Freundes Gesicht hinabbücken, um sie noch verstehen zu können. Manche hörte er nur undeutlich, manche hörte er wohl, doch blieb ihr Sinn ihm verborgen. Und nun schlug der Kranke nochmals die Augen auf und blickte lang in seines Freundes Gesicht. Mit den Augen nahm er Abschied von ihm. Und mit einer Bewegung, als versuche er den Kopf zu schütteln, flüsterte er: »Aber wie willst denn du einmal sterben, Narziß, wenn du doch keine Mutter hast? Ohne Mutter kann man nicht lieben. Ohne Mutter kann man nicht sterben.«

Was er später noch murmelte, war nicht mehr verständlich. Die beiden letzten Tage saß Narziß an seinem Bett, Tag und Nacht, und sah zu, wie er erlosch. Goldmunds letzte Worte brannten in seinem Herzen wie Feuer.