Meine Stunde Null

Wie schreibt man eine lustige Geschichte? Genauer gefragt: Warum schreibt man sie? Die Antwort lautet: Weil man einen Vertrag hat. Der humoristische Schriftsteller bezieht von ei­nem der sogenannten Massenmedien - Zeitungen, Rundfunk, Fernsehen - ein bestimmtes Gehalt und muß dafür allwöchent­lich einen erstklassigen humoristischen Beitrag liefern, späte­stens Donnerstag, um 9.30 Uhr. Soweit ist alles klar.

Das Problem des Lieferanten besteht nun darin, daß er nicht weiß, worüber er schreiben soll. Er besitzt jedoch ein kleines gelbes Notizbuch, in das er mit Hilfe eines Kugelschreibers die brillanten Ideen einträgt, die ihm - oder einem seiner Be­kannten - plötzlich eingefallen sind. Wenn der Zeitpunkt der Ablieferung herannaht, beginnt der Humorist fieberhaft in seinem Notizbuch zu blättern und findet nichts. Deshalb be­zeichnet man diesen Zeitpunkt als »Stunde Null«.

Was den Humoristen besonders erbittert, sind jene eilig hin­zugekritzelten Einfalle, die er nicht mehr versteht. Ich, zum Beispiel, stoße in meinem Ideenfriedhof immer wieder auf rätselhafte Notizen wie: »Plötzliche Geburt, ungültig« oder: »Verzweifelt. Hohlkopf führt Hund Gassi. Schweißperlen.« Es ist mir längst entfallen, was diese geheimnisvollen Inschriften bedeuten sollen. Ich habe keine Ahnung, warum und wozu ein Hohlkopf einen Hund spazierengeführt haben könnte.

Welch ein Beruf!

Nach dem Fiasko mit dem Notizbuch begebe ich mich auf die Jagd nach neuen, ergiebigen Einfallen. Die Jagd bleibt erfolglos. Mein Kopf ist leer. Er erinnert mich an den Hohl­kopf. Was war's mit dem? Ich weiß es nicht. Ich denke verge­bens nach.

Kommt noch hinzu, daß mich ein unüberwindliches Schlaf­bedürfnis befällt, sowie ich mich hinsetze, um eine lustige Geschichte zu schreiben. Vermutlich handelt es sich hier um einen psychosomatisch-literarischen Müdigkeitskomplex oder dergleichen. Es beginnt im Kopf und breitet sich mit Win­deseile bis zu den Zehenspitzen aus. Ich habe schon mehrere prominente Psychiater konsultiert. »Die Sache ist die«, so beichte ich ihnen, »daß ich nicht das geringste Bedürfnis ver­spüre, lustige Geschichten zu schreiben. Und zum Schluß schreibe ich sie trotzdem. Glauben Sie, daß ich krank bin?«

Die Psychiater sind sofort mit einer Erklärung zur Hand. Sie sagen, daß mir meine Mutter in meiner Kindheit einen Witz erzählt hat, den ich nicht verstanden habe, und daraus hat sich bei mir ein traumatischer Widerstand gegen jede Art von Hu­mor entwickelt. Sagen sie. Aber auch das hilft mir nicht wei­ter.

Der Vorteil solcher Konsultationen besteht darin, daß man bequem auf einer Couch liegt und daß andere Menschen bzw. Mütter an allem schuld sind. Übrigens veranstalte ich auch die Jagd nach lustigen Themen mit Vorliebe liegend. Das Blut strömt in diesem Zustand leichter und besser ins Hirn, beson­ders wenn man die Füße ein wenig hebt und den Kopf ein wenig senkt. Man braucht dann nur noch auf die Einfalle zu warten, die mit dem Blut ins Hirn strömen und binnen kurzem schläft man ein.

Eine andere Lösung bietet der Schaukelstuhl. Man schaukelt sich halb blöd und hört zu denken auf. Sobald dieser Punkt erreicht ist, greife ich nach dem gelben Notizbuch und beginne zu blättern. Als Ergebnis verzeichne ich in den meisten Fällen zwei Drittel Perestroika und ein Drittel Steuerreform.

Was war das für ein Hund? Und warum hat ihn der Hohlkopf verfolgt?

Ich begebe mich zur Hausapotheke und schlucke ein Aspirin. Dann öffne ich das Fenster, damit, wenn schon kein Blut ins Hirn, so doch etwas feuchte, heiße Luft ins Zimmer strömt. Dann spitze ich sorgfältig alle Bleistifte im Haus, wobei ich die Klinge des Bleistiftspitzers zweimal wechsle, um bessere Resultate zu erzielen. Während ich mir mit demonstrativer Langsamkeit die Nägel schneide, entdecke ich im Durchein­ander auf meinem Schreibtisch eine kleine Schachtel. Ich öff­ne sie und zähle die darin befindlichen Büroklammern. Es sind 46. Ich esse ein Bisquit. Ich esse eine saure Gurke. Ich frage mich, was ich sagen wollte. Richtig: ich wollte eine lustige Geschichte schreiben. Aber worüber? Es dunkelt.

Kein Zweifel, daß diese Zeit sich nicht für schöpferische Ar­beit eignet. Das ist ja überhaupt die Schwierigkeit mit dem Schreiben lustiger Geschichten: am Morgen ist man noch ver­schlafen, zu Mittag erfolgt die Nahrungsaufnahme, der Nach­mittag eignet sich nicht zum Schreiben und am Abend ist man müde. In der Nacht schläft man.

Wann soll ich also schreiben? Ich frage: wann?

Mit Riesenschritten naht die Stunde Null. Das leere Papier auf meinem Schreibtisch starrt mir anklägerisch entgegen. Ich muß mich konzentrieren. Ich muß, es geht nicht anders. Aber auch so geht es nicht. Was ist in der letzten Zeit geschehen? Was ist mit der Steuerreform geschehen? Und wie komme ich auf den Gedanken, daß das lustig sein könnte?

Auf dem Fensterbrett liegt eine Fliege, lang ausgestreckt, die Füße ein wenig höher, den Kopf ein wenig tiefer. Sie denkt nach. Jetzt spitzt sie ihre Beine, obwohl sie um 9.30 Uhr keine lustige Geschichte abzuliefern hat. Ist es eine männliche oder eine weibliche Fliege? Oder ein Transvestit? Ich unternehme einen diskreten Erkundungsversuch, der zu nichts führt. So­dann beschließe ich, die Fliege zu ermorden. Es ist das erste interessante Ereignis des heutigen Tags. Zu dumm, daß ich schon mindestens ein Dutzend Geschichten über Fliegen ge­schrieben habe. Aber wenn ich's recht bedenke, habe ich im Verlauf meiner letzten 80 Lebensjahre schon über alles ge­schrieben, was es gibt.

Mir fällt ein, daß ich die Topfpflanzen gießen muß.

Kein sehr zweckdienlicher Einfall, aber in Zeiten der Not darf man nicht wählerisch sein. Ich gehe ins Badezimmer, fülle ein Glas mit Wasser und gieße die Topfpflanzen. Und da ich schon bei der Behandlung von Pflanzen bin, gehe ich in den Garten und entferne drei verwelkte Blätter vom Hibiskus­strauch. Hierauf gehe ich ins Zimmer zurück, setze mich an den Schreibtisch und weiß nicht, was ich schreiben soll.

Leider bin ich Nichtraucher, sonst könnte ich jetzt zuviel rau­chen. Nun, es gibt ja immer noch den Kaffee, wenn man sich unbedingt selbst vergiften will. Ich gehe in die Küche, koche einen sehr starken Kaffee und trinke ihn aus, ohne Milch und ohne Zucker. Dann warte ich auf die Ideen, die mit dem Kaf­fee in mein Hirn strömen müßten. Sie strömen nicht. Statt dessen werde ich nervös und merke, daß meine Hand zu zit­tern beginnt. Ich hole mir eine Flasche Bier und beruhige mich.

Vielleicht sollte ich etwas Politisches schreiben? Über Pere­stroika? Als Fliegentöter?

Das Bier macht mich schläfrig. Ich brauche einen Sliwowitz, um wieder lebendig zu werden. Außerdem brauche ich eine Tablette gegen Herzflattern, eine Tasse Kakao und ein Glas Wasser, um die Topfpflanzen zu gießen. Ich will das Fenster öffnen, aber es ist schon offen. Ich höre ein paar alte Schall­platten und rufe ein paar alte Freunde an, um mich zu erkundi­gen, was es Neues gibt. Es gibt nichts Neues. Ich esse einen Pfirsich, ich esse einen überreifen Camembert, putze die ande­re Hälfte von meinem Hemd weg, möchte wissen, wie Käse hergestellt wird, schaue in der Enzyklopaedia Judaica nach und finde keinen Käse. Es ist eine Schande.

Nachdem ich noch einen Kaffee, noch einen Kakao und noch ein Bier getrunken habe, rasiere ich mich. Das macht mir den Kopf frei. Einem medizinischen Fachmann zufolge gibt es funktioneile Ersatzhandlungen fürs Schlafen. Wenn man bei­spielsweise ein reines, weißes Hemd anzieht, so hat das den gleichen Erfrischungswert, als ob man eine halbe Stunde ge­schlafen hätte. Eine kalte Dusche ersetzt eine volle Stunde, ein heißes Bad eine weitere, und eine Stunde Schlaf ist so gut wie zwei Stunden. Aber dazu habe ich jetzt keine Zeit.

Ich torkle in das Zimmer der besten Ehefrau von allen und frage sie, ob sie nicht zufällig eine Idee für eine lustige Ge­schichte hat.

»Warum?« murmelt sie schlaftrunken. »Wieso? Es gibt doch eine Menge von Themen...«

»Welche?« brülle ich. »Welche?!«

»Was weiß ich. Perestroika.« Und sie schläft weiter.

Warum muß ich eigentlich eine lustige Geschichte schreiben? Wo steht es geschrieben, daß ich lustige Geschichten schrei­ben muß? In meinem Vertrag.

Die Stunde Null steht vor der Tür. Schon gut, schon gut.

Ich reiße mich zusammen. Papier... Bleistift... Radier­gummi... noch ein Bleistift... jetzt kann nichts mehr passieren. Alles ist vorbereitet. Die schöpferische Arbeit kann beginnen. Disziplin. Konzentration.

Der Hund war noch nicht draußen. Der Hund muß Gassi ge­hen. Aufatmend nehme ich Franzi an die Leine. Keine Eile, sage ich ihr. Laß dir Zeit, Franzi. Ich denke inzwischen dar­über nach, was »Humor« eigentlich bedeutet. Die Wörterbü­cher behaupten, daß das Wort aus dem Lateinischen kommt und ursprünglich »Feuchtigkeit« bedeutet. Was soll das? Ich zum Beispiel habe einen trockenen Humor. Aber ich habe kein Thema.

Es ist Zeit, einen endgültigen Entschluß zu fassen. Ich ent­schließe mich deshalb für eine kalte Dusche. Das Wasser überschwemmt mich mit einer Flut von Einfallen. Leider, und ohne daß ich es beeinflussen könnte, kreisen sie alle um die farbige Figur des internationalen Playboys Günther Sachs. Wahrscheinlich planscht der gerade an der französischen Ri­viera herum, in Gesellschaft wunderschöner Mädchen, die Füße ein wenig aufwärts, den Kopf ein wenig gesenkt. Ich hasse Günther Sachs, reibe mir den Rücken mit einem rauhen Badetuch ab und trinke einen Sliwowitz. Jetzt ist es soweit. Endlich!

Schweißperlen. Wenn ich nur wüßte, was damals mit den Schweißperlen los war. Die kalte Dusche hat, wie es ja auch ihre Aufgabe ist, mein Schlafbedürfnis gesteigert. Ich kann nicht weiter. Ein Glück,

daß das Fernsehen jetzt bald die Nachrichten bringt. Vielleicht ergibt sich da etwas Brauchbares, Perestroika oder so.

Wieder nichts. Ich bin um eine große Hoffnung ärmer. Und vom nachfolgenden Krimi ist noch weniger zu erwarten. We­niger als nichts. Genau das, was ich um 9.30 Uhr nicht ablie­fern kann.

Ich habe mir einen neuen, diesmal noch stärkeren Kaffee zu­bereitet, sehe nach, ob die Kinder schlafen, wecke sie auf, schimpfe mit ihnen, weil sie noch wach sind, gehe in mein Arbeitszimmer zurück, um zu arbeiten, erkundige mich bei der telefonischen Zeitansage nach der genauen Zeit, mit dem Summerton wird es null Uhr vierzig Minuten und fünfzehn Sekunden, um 9.30 Uhr muß ich abliefern, mein Kopf ist hohl, ich perle Schweiß, ich schwitze Perlen...

Und so, lieber Leser, entsteht eine lustige Geschichte. Es tut mir leid, Sie enttäuscht zu haben.  

Goldstein, kehre zurück, alles vergeben

Die Frage, wer Schlomo Goldstein aufgefordert hat, unser Schlafzimmer neu zu tünchen, ruft in unserer Familie immer noch stürmische Diskussionen hervor. Die beste Ehefrau von allen behauptet, ich hätte ihr wegen der Flecken auf der Decke das Leben zur Hölle gemacht. Ich meinerseits erinnere mich nur an ihren wenig abwechslungsreichen Ausruf:

»Schau dir die Wände an! Bitte schau dir die Wände an!«

Wie dem auch immer sei - eines Morgens erspähte sie vor der Türe unserer Wohnungsnachbarn Seelig zwei Zimmermaler mit Leitern und Eimern, schlich sich sofort an sie heran und lud sie in unser Schlafzimmer ein. Die beiden, Schlomo Gold­stein und sein Gehilfe Mahmud, sagten ja, sie würden kom­men, Donnerstag um halb acht in der Früh, wenn's recht ist. Die Frage der Bezahlung blieb zunächst offen; es wurde ledig­lich ein Vorschuß in der Höhe von 400 Shekel zur Auszahlung gebracht.

Am Donnerstag kamen sie überpünktlich um 7 Uhr 10. Mahmud verhüllte unsere Möbel sorgfältig mit ausländischen Zeitungen, für den Fußboden verwendete er die »Jerusalem Post«. Als nächstes stellten sie eine buntfarbene Holzleiter auf, banden sich Taschentücher vor den Mund, gegen den Staub, kratzten drei Wände und die halbe Decke ab und verschwan­den.

Es verschwanden allerdings nur Goldstein und Mahmud, nicht die Leiter, nicht die Zeitungen und nicht der Staub unter unseren Füßen. Anfangs dachten wir, daß die beiden Raum­pfleger nur weggegangen wären, um Farbe oder etwas Ähnli­ches zu kaufen, aber nach drei Tagen wurden wir doch ein wenig nervös. Es ist schwer, in einem mit Zeitungspapier ta­pezierten Zimmer zu schlafen und beim Aufstehen sofort in knöcheltiefem Staub zu versinken, den wir nämlich auf Gold­steins ausdrückliche Anordnung nicht wegkehren durften, weil er - der Sand, nicht Goldstein - einen natürlichen Schutz gegen herabtropfende Farbe darstellt. Aber es tropfte keine Farbe, und es war kein Goldstein zu sehen.

»Und er hat einen so soliden Eindruck gemacht...« Die beste Ehefrau von allen schüttelte den staubigen Kopf. »Ich hätte ihm das niemals zugetraut.«

Sie ging zu den Seeligs hinüber und fand deren Wohnung in gleichem Zustand wie die unsere: verwaiste Leitern, verein­samte Eimer, viel Staub und weder Goldstein noch Mahmud. Die beiden hatten auch bei Seeligs nur einen halben Tag gear­beitet, und Mahmud hatte sein bevorstehendes Verschwinden vorsorglich durch die Anfrage getarnt, ob er am Morgen im­mer ein Glas Milch haben könnte, er sei daran gewöhnt und danke im voraus. Seither fehlt von ihm und Goldstein jede Spur.

Die Seeligs besuchten letzten Samstag die mit ihnen be­freundete Familie Friedländer in Ramat-Gan und wurden gleich beim Eingang von einer alleinstehenden Leiter begrüßt. Sie ersetzte die Aufschrift »Goldstein war hier«. Allem An­schein nach hatte er seine dortige Arbeit unmittelbar nach seinem Abgang von uns aufgenommen. Einige Tage später erschien Mahmud mit der Mitteilung, daß ihre beiden Frauen, Goldsteins und die seine, sich im Krankenhaus befänden. Das war das letzte, was man von ihnen sah.

»Ephraim«, erklärte die beste Ehefrau von allen, »wir haben es mit zwei Verrückten zu tun.«

Es mußte eine sonderbare Verrücktheit sein, eine Art Sprach­fehler vielleicht: Die beiden konnten nicht nein sagen. Nach­forschungen in unserer näheren Umgebung ergaben nicht we­niger als acht Goldstein-Mahmud-Spuren. Die beiden emsigen Handwerker nahmen ganz einfach jeden Auftrag an, erschie­nen überall pünktlich, stellten ihre Leiter hin, schabten hier ein wenig Material ab, klatschten dort ein wenig Material an und machten sich auf die Suche nach neuen Jagdgründen. Eine Familie im nächsten Häuserblock hatte drei Monate in einer Wüstenei von Farbtöpfen und Mörtel gelebt, ehe Goldstein eines Abends plötzlich auftauchte, die Wände betastete, mit dem Ausruf: »Trocken!« einen anderen Arbeitskittel anzog und für weitere sechs Monate verschwand. Er hat viele Kun­den, Schlomo Goldstein. Eine Adresse läßt er niemals zurück. Er gehört zu jenem Typus, der immer sagt:

»Nein, Sie brauchen mich nicht anzurufen, ich rufe Sie an.«

Mahmud sagt gar nichts und glotzt stumm vor sich hin, wäh­rend er die Farbe umrührt und Zigarettenstummel raucht.

Die beiden beherrschen ihr Handwerk, daran besteht kein Zweifel. Niemand ist so gut wie Goldstein, vorausgesetzt, daß er kommt. Seine Spezialität sind Türen und Schwellen. Leider pflegt er die Türen zum Trocknen immer über zwei Stühle zu legen, aber man kann ja schließlich auf ihnen sitzen, sobald sie getrocknet sind. Zahlreiche Goldstein-Kunden speisen seit Monaten auf horizontalen Türen.

Vor ein paar Tagen besuchten wir die Spiegels. Sie hatten für die Ecke ihres Salons ein sehr geschmackvolles Leiter- und Eimer-Arrangement gefunden, das ein wenig an Pop-Art erin­nerte.

Natürlich sprachen wir über die Welt des Schlomo Goldstein und einigten uns darauf, daß er ein netter, freundlicher Zeitge­nosse sei. Ein wenig müde, nicht? Das schon, aber er ist ja auch ständig unterwegs. Wie bewegt er sich eigentlich? Wo­mit? Wann? Niemand hat ihn je unterwegs gesehen. Er ist plötzlich da, komplett mit Leiter und Mahmud.

»Vielleicht lebt er in einem Wohnwagen«, erwog Fried­länder. »Das macht ihn so beweglich.«

Ein von Goldstein Aufgesuchter und wieder Verlassener war einmal von der Polizei aufgefordert worden, ihn zu Identifizie­rungszwecken zu beschreiben, und mußte ablehnen. Er konnte sich nur an das Taschentuch vor Goldsteins Mund erinnern und brachte ihn damit vorübergehend in den gänzlich unge­rechtfertigten Verdacht, einen Raubüberfall geplant zu haben. Nichts liegt Goldstein ferner. Er erscheint zwar überfallartig, aber er raubt nicht. Im Gegenteil, er läßt etwas zurück: Leitern,

Eimer, Zeitungspapier.

Die Zahl der Goldstein-Opfer beträgt derzeit etwas über hun­dert. Wir haben uns zu einem Verein mit dem Titel »Die Ritter der Türtafelrunde« zusammengeschlossen. Unser Doyen ist ein angesehener Schriftsteller. Er wartet auf Goldsteins Wie­derkunft bereits seit achtzehn Monaten, das geht aus dem Da­tum der bei ihm zurückgelassenen Zeitungen klar hervor.

Zu unseren Diskussionsthemen gehört die Frage, wovon Goldstein lebt und wo er so viele Leitern her hat.

Wir kamen überein, daß er einen Computer haben muß, sonst hätte er längst den Überblick verloren. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er von Vorschüssen.

Nachforschungen unseres Exekutivkomitees ergaben, daß Goldstein an einem für ihn typischen Arbeitsmorgen gleichzei­tig in sieben Wohnungen erschienen war, eine davon im nörd­lichen Nazareth. Angeblich wurde auch Mahmud beim Aus­heben einer Türe in Galiläa gesichtet, während er am Strand Ping-Pong spielte.

Da es mir immer schwerer fiel, mich an ein Leben zwischen Eimern und alten Zeitungen zu gewöhnen, stellte ich in unse­rer letzten Vorstandssitzung den Antrag, Goldstein durch sy­stematische Suchaktionen stellig zu machen. Unsere Mitglie­der sollten miteinander ständig Kontakt halten, zum Teil durch Sprechfunkgeräte, und sobald Goldstein irgendwo aufkreuzte, würden wir ihn mit Suchhunden einkreisen. Friedländer, der über einen kräftigen Bariton verfügt, wurde mit dem Zuruf beauftragt:

»Sie sind umzingelt, Goldstein! Widerstand ist zwecklos! Er­geben Sie sich!«

In den anschließenden Verhandlungen wird Goldstein natür­lich versuchen, sich durch die Zusage, morgen ganz bestimmt zu erscheinen, aus der Schlinge zu ziehen. Aber darauf gehen wir nicht ein. Wir schicken ihm einen Wagen mit Chauffeur. Goldstein windet sich. Er bietet uns Mahmud als Geisel an. Nichts da! Njet und abermals njet. Er braucht Terpentin? Wir werden es zu seiner Arbeitsstätte schaffen.

Am Abend bekommt er zwei Glas Milch, eines für Mahmud. Und übernachten muß er im Badezimmer...

Träumereien. Leere Phantasmagorien. Wenn wir das Haus, in dem wir Goldstein entdeckt haben, endlich stürmen, ist Gold­stein verschwunden. Wahrscheinlich stellt er gerade an der Schwelle eines Wohnzimmers in Herzlia seine Leiter auf. Und Mahmud beginnt im Farbtopf zu rühren. 

Trommeln und Tschinellen

Vor einiger Zeit waren wir wieder einmal bei den Spiegels eingeladen, unseren guten und nahrhaften Freunden. Während wir uns durch das hervorragende Abendessen hindurchkauten, fragte uns die Gastgeberin, ob wir nicht ein wenig stereopho­nische Musik hören möchten. Ohne unsere Antwort abzuwar­ten, schaltete sie den Apparat ein, und im nächsten Augenblick flutete von allen Seiten Musik durch den Raum. Aus dem Lautsprecher in der rechten Ecke des Zimmers drangen gewal­tige Mengen von Blech, von links kamen Zimbeln und Trom­meln in der Stärke von ungefähr 12 Megatoneinheiten. Hastig würgten wir die letzten Bissen hinunter und sausten ab, noch mehrere Straßenzüge lang von dröhnenden Paukenschlägen verfolgt.

Zu Hause wandte sich die beste Ehefrau von allen an mich: »Ephraim - warum haben wirkein Stereo?«

»Erstens«, antwortete ich, »ist unser Plattenspieler sehr gut. Und zweitens«, antwortete ich, »hast du offenbar vergessen, daß wir uns vorgenommen haben, in der nächsten Zeit keine überflüssigen Luxusgüter anzuschaffen.«

Der Tontechniker Avigdor, dem ich am nächsten Tag zufällig in seinem Laden begegnete, dampfte nur so von Höflichkeit und Sachverstand. Er erklärte mir die Nachteile der lächerli­chen altmodischen Plattenspieler, die nichts als Mono hervor­brächten - und das sei in unserem technisch fortgeschrittenen Zeitalter einfach untragbar. Sogar der staatliche Rundfunk sende nur noch Stereomusik, sagte er. Dann führte er mir das neueste, soeben eingetroffene Modell vor, das er als »automa­tischen Stereoplattenspieler« bezeichnete, und händigte mir eine farbige Broschüre ein, die eine genaue Beschreibung des kleinen Wunders enthielt:

»Vertikale und horizontale Tonarmeinstellung«, hieß es dort unter anderem. »Oszillograph-kontrollierter fotoelektrischer Stromkreis mit Servosystem und Digital-Computer auf Patro­nenbasis.«

Ich machte Avigdor darauf aufmerksam, daß ich keinen Ae­roplan kaufen wollte, sondern einen Plattenspieler. Er entgeg­nete mir, daß dieses Modell eines der einfachsten und billig­sten auf dem Markt sei. Ich erwarb es gegen eine erhebliche Anzahlung und 36 Monatsraten.

Zu Hause legte ich unsere einzige Stereoplatte, den Parade­marsch des Nahalregiments, auf den automatischen Stereoplat­tenteller, im folgenden kurz ASP genannt, und wartete. - Nichts geschah. Man hörte nur das leise Summen der Nadel.

Meine Familie reagierte auf die stereophonische Stille durch­aus unfreundlich, und mein Sohn Amir, der bekanntlich rot­haarig ist, gab der Vermutung Ausdruck, daß ich einen Plat­tenspieler für Taubstumme gekauft hätte, hahaha.

Ich rief Avigdor an und teilte ihm mit, daß der ASP, der in seinem Laden so wunderschön geklungen hatte, bei uns zu Hause keinen Ton von sich gab.

»Das darf Sie nicht wundern, lieber Herr«, belehrte mich Avigdor. »Seit wann funktionieren Plattenspieler ohne Laut­sprecher und ohne Verstärker?«

Ein Stereo ohne Verstärker ist, wie sich zeigte, ein Ping ohne Pong. Folglich bestellte ich bei Avigdor einen Verstärker und zwei Lautsprecher für links und rechts.

»18 Watt je Kanal«, verkündete die beigefügte Aufklärungs­broschüre in rotem Druck, »0,03 % Harmonieverzerrung« in Grün, und »20-50000 Hz Frequenzempfänglichkeit« in Ultra­marin. Diese letzte Angabe erläuterte Avigdor wie folgt:

»Der Apparat garantiert einen ungeheuren Umfang der Klangwiedergabe. Sie hören jede Nuance, vom tiefsten Brummen der Baßgeige bis zum höchsten Wimmern der Quer­flöte.«

So ausgerüstet, setzte ich die Wundermaschine aufs neue in Betrieb. Das Ergebnis war von dem vorangegangenen mit freiem Ohr nicht zu unterscheiden. Es belief sich auf 0,0.

Abermals rief ich Avigdor an.

»Kein Wunder«, sagte er abermals. »Sie brauchen einen Vorverstärker.«

»Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?«

»Andere Kundschaften wissen so etwas von selbst. Ich kann ja nicht an alles denken.«

Der Vorverstärker wirkte sich zwar recht günstig auf die Tonstärke aus, riß jedoch ein gewaltiges Loch in unser bis dahin auf Mono eingestelltes Haushaltsbudget. Außerdem erwies sich, daß das Nahalregiment eines Ton­aussteuerungsschalters bedurfte, um seinen Empfindlich­keitskoeffizienten auf 180000 Hz zu steigern — eine im­posante Ziffer, wie sie den militärischen Erfolgen unserer tap­feren Truppe angemessen ist.

»Jetzt«, sagte Avigdor, »nähern Sie sich der audiophonischen Vollkommenheit.«

Das stimmte nicht ganz. Etwas fehlte noch, zum Beispiel ein wechselseitiger Balanceregulator. Er wurde angeschafft und dem ständig wachsenden Drahtdschungel in unserem Wohn­zimmer angefügt. Aber die von ASP & Co. produzierten Töne blieben immer noch dürftig. Es tröstete uns nicht, daß die Trommeln von links kamen und die Tschinellen von rechts. Und das Schlimmste: Wir konnten die kostspielige Anlage keinem Besucher vorführen. Das aber war doch von Anfang an der ganze Sinn und Zweck unserer Stereoinvestition gewe­sen.

Wir begannen zu experimentieren, stellten den Trommellaut­sprecher auf das Bücherregal und die Tschinellen unter den Tisch, konstruierten eine kunstvolle Verbindung mit dem elek­trischen Mixer in der Küche, schalteten sogar die Waschma­schine ein - aber nichts von alledem half.

Ich ging zu Avigdor und gab ihm mit fester Stimme bekannt, daß ich das ganze Schaltwerk zurückzugeben wünschte.

Avigdor empfahl mir, keine vorschnelle Entscheidung zu treffen. Er hätte soeben eine neue quadrophonische De­tektoranlage bekommen, die eine phantastische Verbesserung gegen die bisherige -. Nachdem er sich von meinem spontanen Griff nach seiner Gurgel befreit hatte, gab er endlich klein bei:

»Es gibt überhaupt keine Verbesserungen mehr«, gestand er. »Es gibt nur noch neue Namen für das, was sowieso schon da ist. Von Montag bis Donnerstag heißt es >Panascop-Supersonic<, für den Rest der Woche >Superscop-Panasonic<. Was es bedeuten soll, weiß ich nicht.«

Avigdor bedauerte mich. Ich überließ ihn seinem stereopho­nischen Elend und begab mich in das meine zurück, das unge­fähr die Hälfte unseres Wohnzimmers ausfüllte. Den Ohren hatte das monströse Arrangement zwar nichts zu bieten, dafür den Augen um so mehr. Und seit wir für die einzelnen Be­standteile insgesamt 12 Plexiglasgehäuse erworben haben, thront das Ganze wie ein imposantes Statussymbol über unse­rer Wohnungseinrichtung. Es ist das, was man totale Dyna­mik-Balance nennt. Nicht minder imposant sind die Folgen für unser Budget. Ausgang: 17468 Shekel. Eingang: Trommeln und Tschinellen.  

Wie paradiere ich Hit?

Meine Abneigung gegen die Welt des mechanischen Lärms hat nicht nur ästhetische Ursachen, gilt nicht nur der Stereo­phonie. Ich bekenne mich darüber hinaus zu einem Gefühl der Mißgunst und des Neides. Es bezieht sich auf die Verfasser der erfolgreichen Schlager, auf die »Goldenen Schallplatten«, mit denen sie ausgezeichnet werden, und nicht zuletzt auf das Geld, das sie verdienen. Wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, und warum sollte es das, haben Komponist und Text­dichter des unsterblichen Liedes »Ich küsse Ihre Hand, Ma­dame« damit mehr Geld verdient als Dostojewski mit seinen sämtlichen Werken. Irgendein Schmierfink, der in fünf Minu­ten einen Schlagertext hinfetzt, wird für sein ganzes Leben zum Millionär. Das schmerzt.

Das erscheint sehr ungerecht, ist es aber nicht.

Wir alle kennen die Namen der Koryphäen, die allwö­chentlich die Hitparade anführen. Aber haben wir auch eine richtige Vorstellung von der unendlichen Mühe und Arbeit, die sie dorthin gebracht hat?

Wir haben keine richtige Vorstellung.

Daher die Kulturkrise.

Sie begann von einigen Jahren, als »Galei Zahal«, der Rund­funksender der israelischen Armee, eine Publikumsbefragung veranstaltete, die über den populärsten Schlager der Woche entscheiden sollte. Die Rundfunkhörer wurden aufgefordert, ihren Favoriten auf einer Postkarte namhaft zu machen und diese einzusenden. So einfach war das.

Ein begabter junger Komponist namens Gideon Wiesel wur­de daraufhin von einer genialen Inspiration überkommen. Er setzte sich ans Klavier, klappte den Deckel zu und schrieb 23 Postkarten, im Stil ein wenig verschieden, aber jede mit dem Titel seines letzten Schlagers versehen. »Schließlich bin ja auch ich ein Rundfunkhörer«, sagte er sich. »Also habe ich das

Recht, an der Abstimmung teilzunehmen.«

Zu seiner maßlosen Enttäuschung erreichte der von ihm so­wohl komponierte als auch genannte Schlager nicht den ersten Platz. Der erste Platz ging an die ebenfalls junge und begabte Ruthi Ron, die mit Hilfe ihrer Eltern, ihres Schwagers, des Telefonbuchs und eines untrüglichen musikalischen Instinkts insgesamt 88 Postkarten abgeschickt hatte, mit dem Ergebnis, daß ihre jüngste Platte sich wie warme Semmeln verkaufte.

An diesem Punkt betrat der international bekannte Impresario Emil Jehuda Beltzer die Szene.

»Wir dürfen das Feld nicht länger den Amateuren über­lassen«, wandte er sich an seinen Lakai, den Dichter Tola'at Shani. »Es wird Zeit, daß wir Profis ins Hitparade-Geschäft einsteigen.«

Das gesamte Personal der Firma Beltzer, bestehend aus To­la'at Shani, drei Sekretärinnen und dem Laufburschen Tuval, trat in Aktion und legte einen Index aller erreichbaren Rund­funkhörer sowie einen Vorrat von Kugelschreibern, Federn, Tinte, Bleistiften und Farbbändern an. Ein Gremium geschul­ter Psychologen verfaßte die nötigen Texte, die von Tuval in einer Mischung aus kindlicher Handschrift und eingeborenem Niveau verwertet wurden. Hier ein Muster:

»Ich glaube, das ich daß schöne Lied >Küß mich, Mummi< von Tola'at Shani für daß schönste Lied halte und es gehört auf den ersten und zweiten und dritten Platz. Hochachtungsvoll Uzzi Porat, Schüler, Tel Aviv.«

Binnen kurzem erreichte der Stab der Firma Beltzer den im­posanten Ausstoß von 135 Postkarten pro Stunde. Tuval be­kam eine Gehaltserhöhung, und Tola'at Shani bekam die Gol­dene Schallplatte, was dem von ihm textierten Schlager eine Verkaufsziffer von mehr als 50000 Exemplaren einbrachte. Der Minister für Unterricht und Volksbildung eröffnete die feierliche Preisverteilung und stellte in seiner Ansprache fest, daß »der einfache Mann auf der Straße durch sein Postkarten-Votum die künstlerisch-folkloristischen Werte unserer heimi­schen Produktion richtig erkannt und beurteilt hat«.

Tola'at Shani vergoß Tränen des Glücks und umarmte seinen Partner, den Komponisten Mordechai Schulchan, mehrmals vor mehreren Kameras.

Das Team hielt lange Zeit die Spitze. Seine Hauptrivalen, Gideon Wiesel und der begabte Textdichter Gogo, kamen niemals über 6000 Postkarten hinaus.

Zum Teil lag das an ihrer minderwertigen Propagandatech­nik, zum Teil an internen Streitigkeiten. Jeder bezichtigte den anderen der Zeitvergeudung und warf ihm vor, Songs statt Postkarten zu schreiben. Eines Abends attackierten die beiden den berühmten Popsänger Gershon Schulz in einem Cafe auf der Dizengoffstraße und verlangten von ihm, daß auch er sein Teil zum gemeinsamen Ringen um den Erfolg beitragen solle.

»Du verdienst ja ganz schön an unseren Platten, oder nicht? Da könntest du dich wenigstens mit hundert schäbigen Post­karten wöchentlich beteiligen!«

Schulz berief sich auf seine untaugliche Handschrift und be­hauptete, daß es ausschließlich Sache der Komponisten und Textdichter sei, Postkarten zu schreiben.

»Wer sagt das?« begehrten Wiesel & Gogo zu wissen.

Es stellte sich heraus, daß niemand etwas dergleichen gesagt, festgelegt, stipuliert oder vorgeschrieben hatte. Die Rundfunk­station hatte keine Regeln verlautbart und nirgends angegeben, ob die Abstimmungskarten von Komponisten, Textern oder Sängern kommen sollten.

Die Beendigung dieses anarchischen Zustands schien um so dringlicher geboten, als der Zweite Kanal eine eigene Postkar­ten-Parade ankündigte, wobei jede Karte aus Registrations­gründen zweifach auszufertigen war. Der Verkauf von Brief­marken und Telefonbüchern stieg sprunghaft.

Als die Namensreserven des Telefonbuchs erschöpft waren, wandte man sich dem reichen Quellenmaterial der Bibel zu. Ein pfiffiger Tonsetzer ging so weit, ein Exemplar von »Ar­chipel Gulag« käuflich zu erwerben und schob sich mit Ein­sendern wie Sergej Vavilov (Haifa) oder Michail Dimitre­witsch Krapotkin (Ramat-Gan) auf den fünften Platz vor.

Damit nicht genug, nahm eine neugegründete »Top-Pop-GmbH« den Betrieb auf. Ihre Reklameslogans lauteten: »Un­ser Schall fördert die Platte!« und »Mit Top-Pop zum Pop-Top«. Anstelle der bisherigen zeitraubenden Geschäftsmetho­den verwendete die Firma einen hochorganisierten Computer, der jede Adresse auf ihre geographische Authentizität und jeden Text auf seine Glaubhaftigkeit prüfte, ehe die Karten nach Postleitzahlen gestapelt und ihr Versand in praktisch unbegrenztem Umfang aufgenommen wurde. »Erfolg garan­tiert!« hieß es im Prospekt. »Sondergebühren für Jahresabon­nenten, Studenten und Militär.«

Die Rationalisierung des Kunstbetriebs hatte einen neuen, gewaltigen Schritt nach vorne getan. Fortan blieb es unseren ausübenden Künstlern erspart, ihr Talent und ihren Erfin­dungsgeist von so altmodischen Arbeitsprozessen wie dem Anfeuchten von Briefmarken behindern zu lassen.  

Frau Winternitz gegen Columbo

Ehe wir uns von der Unterhaltungsindustrie abwenden, wen­den wir uns noch rasch einer der erfolgreichsten Fernsehserien zu: der »Columbo«-Serie.

Die Situation ist die folgende:

Der gutaussehende Architekt hat zur Dämmerstunde den al­ten Mac O'Muck umgelegt, weil dieser sich skeptisch über den im Bau befindlichen Wolkenkratzer geäußert hatte, und Co­lumbo ist bereits auf einer heißen Spur, denn ein Blick ins Drehbuch hat ihn überzeugt, daß der Schurke nichts so sehr liebt wie klassische Musik. Klar? Eben.

Mein Fernsehschirm bebt vor innerer Spannung, ich selbst ertappe mich beim Nägelbeißen, und der Hauptverdacht richtet sich gegen die blonde Witwe des Leichnams. Aber das kann man mir nicht erzählen, ich habe den Mord gesehen, den Mör­der allerdings nicht, und wenn Columbo sich den Anschein gibt, als ob -

Rrrrr!

Irgendwo schrillt das Telefon, noch dazu außerhalb meiner Reichweite. Wer zum Teufel hat die Frechheit, mitten in einen Anschein Columbos hineinzuklingeln?

Ich erhebe mich, stolpere im Dunkeln über zwei Stühle und nehme den Hörer ans Ohr, während meine Augen auf den Fernsehschirm geheftet bleiben:

»Ja«, sage ich.

»Hallo«, sagt am anderen Ende die zaghafte Stimme einer unzweifelhaft alten Dame. »Ich störe Sie doch nicht?«

»Ja«, sage ich.

»Ich bin die Mutter von Gad!«

»Ja.«

»Gad Winternitz aus Naharia.«

Der gutaussehende Architekt macht sich über Columbo lu­stig. Kunststück. Sein Direktor hat ihm ja ein wasserdichtes

Alibi verschafft. Jetzt probiert er's sogar mit der Blonden. Und dabei wird die ganze Stadt von der Frage bewegt, wo er die Leiche versteckt hat.

»Ja!« brülle ich ins Telefon. »Wo!«

»Bitte, ich muß Sie um eine große Gefälligkeit bitten. Mein verstorbener Mann pflegte zu sagen - wir haben damals noch in Bat Jam gewohnt - und das sagte er immer: wenn ich einmal einen Rat brauche, den Rat eines künstlerisch veranlagten Menschen, dann soll ich mich an Sie wenden, weil Sie doch diese Zeichnungen machen und Gads Freund sind, nicht wahr.«

Wer ist Gad? Wo ist die Leiche?

»Die Leute sagen«, fuhr Frau Winternitz fort, »daß Sie im­mer so viel zu tun haben und daß Sie nichts für andere Men­schen tun. Aber ich habe ihnen immer widersprochen. Nein, sage ich immer, das stimmt nicht, wenn er kann, dann hilft er, auch wenn er noch so viel zu tun hat mit seinen Zeichnungen. Das habe ich immer gesagt. Hallo.«

»Hallo«, sage ich. »Wer spricht?«

»Die Mutter von Ihrem Freund Gad Winternitz. Hallo. Ich wollte Sie wirklich nicht stören, aber mein Schwager meint, daß wir jetzt doch ein wenig Druck ausüben sollten, sonst wissen Sie ja, was passiert. Sie kennen die Zustände in unse­rem Land, besonders die Regierung. Wenn mein Mann noch am Leben wäre, würde ich natürlich nie. Im Gegenteil. Nur, Sie verstehen, ganz allein mit der Hypothek, da spricht man natürlich zu einer Wand. Also bitte raten Sie mir, ob ich jetzt. Oder lieber noch warten?«

Ich könnte nicht schwören, daß sie sich wörtlich so aus­gedrückt hat, aber so habe ich es gehört. Wie soll man denn wörtlich zuhören, wenn gerade das Haus des gutaussehenden Architekten durchsucht wird, der den alten Mac O'Muck um­gelegt hat.

»Ja«, stöhne ich in die Muschel. »Hallo. Was wünschen Sie?« »Ich möchte wissen, ob ich trotzdem unterschreiben soll.«

»Das hängt noch von jemand anderem ab.«

»Von wem, bitte?«

»Von dieser Blonden.«

»Hallo, hier Frau Winternitz. Die Mutter von Gad. Hallo.«

Dem Mörder ist klargeworden, daß der Film zu Ende geht, aber er bleibt hart. Solange die Leiche nicht gefunden ist, kann ihm Columbo nichts nachweisen. Ich für meine Person habe den Verdacht, daß der Architekt den alten Mac O'Muck in die Mauer des Wolkenkratzers einzementiert hat.

»Hallo«, meldet sich Frau Winternitz aufs neue.

»Was für ein Zement, bitte? Hallo?«

»Mit wem wollen Sie eigentlich sprechen?«

»Mit dem Herrn Zeichner von der Zeitung. Sind das nicht Sie?«

»Jawohl, ich bin Sie.«

»Dann sagen Sie mir, ob Sie glauben, daß ich jetzt unter­schreiben soll!«

»Was glaubt Columbo?«

»Wer, bitte?«

»Ich meine: Wer vertritt Sie in dieser Angelegenheit?«

»Doktor Gelbstein.«

Da haben wir's. Jetzt geht's drunter und drüber. Oder soll sich Columbo vielleicht bei Dr. Gelbstein erkundigen? Der Fehler muß gleich am Anfang passiert sein. Gleich als Frau Winter­nitz mich fragte, ob ich bereit bin, einem Mitmenschen zu helfen, hätte ich antworten müssen: niemals, unter keinen Um­ständen. Jetzt stehe ich da mit meinem weichen jüdischen Herzen. Und dort steht Columbo, der soeben Auftrag gegeben hat, die Mauer einzureißen und den Leichnam auszugraben. Natürlich lacht ihm Gelbstein ins Gesicht. Nein, nicht Gelb­stein. Der Architekt.

»Wollen Sie mich nicht nach den Feiertagen anrufen? Dann bin ich gerne bereit -«

»Bitte nicht! Bitte jetzt gleich! Ich sagte Ihnen doch, daß er morgen verreist!«

»Wer?«

»Doktor Gelbstein.«

Vor meinen Augen entfaltet sich ein unerhörtes Drama, ein Mordfall allererster Klasse - und ich soll mich mit den Reise­plänen eines Herrn Gelbstein beschäftigen. Was geht er mich an? Ich hasse ihn. Er ist ein Verbrecher. Columbo wird es ihm schon beweisen. Wozu würde er sonst im Wagen des Archi­tekten dahinsausen?

Ich lege die quakende Telefonmuschel hin, das ist ja nicht auszuhalten. Meinetwegen kann Frau Winternitz mit dem Ar­chitekten verreisen, wohin sie will. Kein Zweifel, die Leiche liegt im Kofferraum. Ich wette jeden Betrag, daß Columbo -

»Hallo! Hallo! Hallo!« quakt es aus der Muschel.

»Ja? Wer spricht?«

»Frau Winternitz. Die Mutter von Gad. Hoffentlich störe ich Sie nicht. Mein seliger Mann...«

In Indien werden die Witwen seliger Männer verbrannt. Oder wurden. Das waren Zeiten. Vorbei, vorbei. Genau wie Colum­bo im sausenden Auto. Und Gelbstein dicht hinter ihm, als Architekt verkleidet. Geht er ihm in die Falle?

Sie haben ihn! Vorne Columbo mit quergestelltem Kof­ferraum in der Leiche, von beiden Seiten die Polizei, und der Architekt mittendrin. Du hast dir das alles sehr schön ausge­dacht, mein Junge, aber du hast nicht mit Gads Glasauge ge­rechnet. Das ist es ja, was ihn so menschlich macht.

»Dann glauben Sie also«, fragt Frau Winternitz, »daß Doktor Gelbstein verreisen kann?«

»Unbedingt.«

»Danke. Danke vielmals. Sie haben mir sehr geholfen. Ver­zeihen Sie die Störung.«

»Hauptsache, wir haben ihn.«

»Wen, bitte?«

»Den Architekten.«

»Ach so. Natürlich. Grüße von Gad.«

»Nicht der Rede wert.«

»Gute Nacht, Herr Kirschhorn.«

»Gute Nacht, Frau Columbo.«  

Kurzer Lehrgang im Profiringen

Nicht zuletzt dank dem Fernsehen wird der Sport immer po­pulärer. Es müssen nicht unbedingt 22 Fußballspieler sein, von denen 22000 Sportfanatiker angelockt und in höchste Erre­gung versetzt werden - manchmal genügen schon zwei Schwergewichtsringer, die ihr Geschäft verstehen. Damit will ich nicht gesagt haben, daß es im Sport nur ums Geschäft geht. Es geht auch darum, daß die Idealisten nichts davon merken.

Etwa so:

»Also paß gut auf, Weißberger. Du steigst nicht in den Ring wie jeder andere, sondern du springst mit einem Panthersatz über die Seile.«

»Warum?«

»Weil du der >Schrecken von Tanger< bist, Weißberger. Wie oft soll ich dir das noch sagen? Weiter. Die Zuschauer werden dich natürlich auspfeifen. Daraufhin machst du eine obszöne Geste ins Publikum und trittst einem Herrn mit Brille, der dicht am Ring sitzt, auf die Nase. Und zwar so stark, daß er blutet.«

»Muß das sein?«

»Frag nicht so dumm. Dafür wird er ja bezahlt. Als der Row­dy, der du bist, packst du auch noch den Schiedsrichter und wirfst ihn aus dem Ring.«

»Armer Kerl.«

»Arm? Er bekommt drei Prozent von den Bruttoeinnahmen. Wenn er wieder im Ring ist, wird er dich verwarnen, aber du lachst ihm nur ins Gesicht und schüttelst die Fäuste. Da be­kommst du von einem empörten Zuschauer eine Bierflasche an den Kopf geworfen.«

»Oiweh.«

»Keine Angst, Weißberger. Er verfehlt dich. Es ist nicht das erste Mal, daß er für mich wirft. Und die Polizisten werden ihn sofort abführen.«

»Kann man sich auf sie verlassen?«

»Wir haben die Szene gestern zweimal mit der Polizei ge­probt. Das ist in Ordnung. Und jetzt sprechen wir über unsern brutalen Kampf. Du darfst von Anfang an keinen Zweifel dar­an lassen, daß die Regeln der Fairneß für dich nicht existie­ren.«

»Warum?«

»Weißberger - es ist zum Verzweifeln mit dir. Willst du ein echter Profiringer werden oder willst du ewig ein Bettler blei­ben? Also. Du reißt mir die Ohren aus, schleuderst mich zu Boden, trampelst auf mir herum und verfluchst mich auf ara­bisch.«

»Jiddisch wäre mir lieber.«

»Geht nicht. Du vergißt, Weißberger, daß du der >Schrecken von Tanger< bist. Wenn du mich lang genug mißhandelt hast, wird eine Frau in der zweiten Reihe aufspringen und schreien: >Ich kann das nicht länger mitansehen! Pfui! Ringrichter hin­aus! Der Schrecken von Tanger hat den Ringrichter besto­chen!<«

»Sie lügt!«

»Sei nicht albern. Sie ist die Frau des Ringrichters. Man muß das alles im voraus organisieren. Der Ringrichter wird versu­chen, uns zu trennen, aber du drückst seinen Kopf zwischen die Seile, und wenn er nur noch röchelt, ziehst du ihm die Ho­sen herunter. Er wird vor Scham ohnmächtig. Der anwesende Arzt stellt eine Herzattacke fest.«

»Großer Gott!«

»Hör schon endlich auf zu jammern, Weißberger. Auch der Arzt ist organisiert. Während ein neuer Ringrichter herbeige­schafft wird, bricht von allen Seiten ein Pfeifkonzert über dich herein. Du machst wieder eine obszöne Gebärde und streckst die Zunge heraus.«

»Ist das notwendig?«

»Es ist üblich. Mittlerweile hat die Polizei Verstärkung be­kommen und umstellt den Ring.«

»Ist auch die Polizei -?«

»Selbstverständlich. Unser Kampf geht weiter und wird be­stialisch. Du steckst die Finger in meine Augenhöhlen und drückst mir die Augenbälle heraus.« »Mir ist übel... Könnte nicht ein anderer...«

»Weißberger, sei ein Mann. Catch-as-catch-can ist hart. Ar­beitslosigkeit ist härter.«

»Aber ich bin kein brutaler Mensch. Ich bin nur dick.«

»Wie kannst du hoffen, ohne Brutalität zu gewinnen?«

»Heißt das, daß ich den Kampf gewinne?«

»Ich sagte >hoffen<. Von Gewinnen ist keine Rede.

Samson ben Porat, der Stolz des Negev, kann gegen den >Schrecken von Tanger« unmöglich verlieren, das muß dir doch klar sein. Ja, schön, du wirst eine Weile auf mir sitzen und meinen Fuß so fürchterlich verdrehen, daß ich mich vor Schmerz krümme. Plötzlich liege ich auf beiden Schultern. Der Ringrichter beginnt mich auszuzählen. Aber gerade wenn er bei Neun hält, trete ich dir mit dem anderen Fuß so wuchtig in den Bauch, daß du —«

»Nein! Nein!!«

»Der Tritt ist vorgesehen, Weißberger. Er schleudert dich ungefähr drei Meter weit, du taumelst gegen die Seile, ich springe dich an, reiße dich nieder und mache dich unter dem begeisterten Jubel der Zuschauer fertig. Während mich der Ringrichter zum Sieger erklärt, schleuderst du einen Stuhl nach ihm.«

»Einen Stuhl?«

»Ja. Er steht eigens zu diesem Zweck in der Ecke. Du triffst aber nicht den Ringrichter, sondern einen alten Herrn in der dritten Reihe, der wimmernd zu Boden sinkt. Die erboste Menge stürmt in den Ring und will dich lynchen.«

»Um Himmels willen!«

»Es wird dir nichts geschehen, Weißberger, das verspreche ich dir. Hast du noch immer nicht kapiert? Auch die Zuschauer sind eingeweiht. Sie wissen, daß sie dich lynchen sollen, wenn der alte Herr zusammensinkt.«

»Ja, aber... vielleicht könnte dann jemand entdecken, daß al­ les geschoben ist...«

»Was heißt hier >vielleicht<? Soll ich warten, bis ein Un­eingeweihter dahinterkommt? Ich habe Vorsorge getroffen, daß die Polizei ein Verfahren gegen mich einleitet. Wegen Betrugs am Publikum. Wir brauchen einen Wirbel in der Pres­se. Auf Wunder kann man sich nicht verlassen. Noch eine Frage?«

»Eine einzige. Wenn die Leute ohnehin wissen, daß sie be­trogen werden - warum kommen sie dann überhaupt?«

»Weil sie Sportliebhaber sind, Weißberger. Lauter Sportlieb­haber.«  

Warum ich ein Fußballfan bin

Jeder Mensch hat seine Schwäche. Die meine besteht darin, daß ich ein Fußballfan bin und es nicht über mich bringe, wäh­rend der Übertragung eines Spiels den Fernsehapparat abzu­stellen. Ich habe es schon mehrmals versucht. Aber sobald meine Hand dem bewußten Knopf in die Nähe kommt, beginnt sie zu zittern wie die Hand eines Morphiumsüchtigen kurz vor der Injektion. Ich kann nicht. Ich muß zuschauen.

Dabei ist es mir vollkommen gleichgültig, ob gerade die Cupentscheidung zwischen Arsenic und Tottenhot übertragen wird oder das Nachtragsspiel zwischen Maccabi Eilat und Hakoah Ramat-Gan, den beiden Nachzüglern der israelischen B-Liga. Hauptsache, daß auf dem Bildschirm zwei Mannschaften hinter dem Ball herjagen. Und ich beschränke mich nicht etwa auf passives Glotzen, ich bin kein teilnahmsloser Zuseher, o nein. Mit anfänglich schriller und später heiserer Stimme feuere ich die Spieler an, und wenn die berühmte Sturmspitze Avigdor (»Tempotempo«) Falafel einen dieser unhaltbaren halbhohen Schüsse ins gegnerische Netz flitzen läßt, springe ich auf und brülle ein übers andere Mal:

»Tor! Tor! Tor!«

Natürlich verblassen meine Emotionen gegen die Erschüt­terung, die unsern Avigdor (»Tempotempo«) Falafel in sol­chen Augenblicken überwältigt. Er sinkt auf die Knie, hebt die Hände zu Gott dem Herrn empor, als wollte er sagen: »Wir haben's wieder einmal geschafft, wir zwei«, und wenn die Kamera an ihn heranfährt, sieht man deutlich, wie ihm Freu­dentränen über die Wangen rinnen.

Das nächste, was man sieht, ist ein unentwirrbarer Knäuel von Mitspielern, die über ihn herfallen, ihn küssen und umar­men und zu Boden reißen und vor Begeisterung nicht ein noch aus wissen. Es sind erhabene Augenblicke. Aus dem Hinter­grund glaubt man die weihevollen Klänge der Neunten Sym­phonie von Beethoven zu hören. Der Gipfel irdischer Wonnen ist erreicht.

Schreiber dieser Zeilen darf in aller Bescheidenheit darauf hinweisen, daß er im Leben einiges geleistet hat. Er hat eine Reihe erfolgreicher Bücher, Filme und Theaterstücke verfaßt, hat Preise und Auszeichnungen eingeheimst, hat dreimal ge­heiratet und ist im Besitz eines persönlichen Handschreibens von Golda Meir. Nichts von alledem hat ihm auch nur einen Bruchteil jener ekstatischen Beseligung vermittelt, von der Avigdor (»Tempotempo«) Falafel und seine Teamkameraden durchflutet werden, wenn einer der vorhin erwähnten halbho­hen Bälle im Tor des Gegners landet. Es ist schon so: Das Leben hält keinen Vergleich mit dem Fußballsport aus.

Und zwar in jeder Hinsicht. Man denke nur an einige neuer­dings populär gewordene Begriffe wie Recht, Gesetz und Ord­nung. Sie werden im Fußballspiel geradezu vorbildlich ge­wahrt. Während auf den Rängen des Stadions die Anhänger der beiden Mannschaften in wütende Raufhändel verstrickt sind, an denen sich auch Ordner und Polizisten beteiligen, herrscht unten auf dem grünen Rasen strengste Disziplin, wird der geringste Verstoß gegen die festgesetzten Regeln vom Schiedsrichter augenblicklich geahndet. Nirgends sonst folgt dem Verbrechen die Strafe so dicht auf dem Fuß wie hier, und die Zuschauer achten leidenschaftlich darauf, daß das ge­schieht. Wenn ein Spieler einen anderen regelwidrig zu Fall bringt, springt alles auf und brüllt: »Hundesohn! Gangster! Hinaus mit ihm!« Bierflaschen und andere Haushaltsgegen­stände fliegen aufs Feld, die Empörung kennt keine Grenzen.

Aber dieselben Menschen, die da in Saft geraten, drehen sich nicht einmal um, wenn auf einer verkehrsreichen Straße ein Passant von einem anderen niedergeschlagen wird.

Oder es geht der nun schon mehrfach genannte Avigdor (»Tempotempo«) Falafel nach einem Zweikampf zu Boden und krümmt sich. Sofort stürzt ein Rudel von Ärzten, Masseu­ren, Trainern und Krankenwärtern aufs Feld. Sie beugen sich über den Verletzten, hegen ihn, pflegen ihn, massieren ihn, streicheln ihn, und selbst der Gegenspieler, der an allem schuld ist, klopft ihm zärtlich auf den Rücken und flüstert: »Ich liebe dich, Tempotempo!«

Aber wenn ein normaler Bürger in einem dunklen Haustor eins über den Schädel bekommt, ist niemand da, sich über ihn zu beugen und ihm zu helfen.

Wir sollten, meine ich, das Leben mehr dem Fußballsport an­gleichen. Was wären das doch für paradiesische Zustände, wenn unser Alltag nach Fußballregeln abliefe! Kaum begeht jemand einen Regelverstoß, eilt ein schwarz bedreßter Referee herbei und stellt mit einem scharfen Pfiff die Ordnung wieder her. Um ein Beispiel zu nehmen: Du hast dich in die Schlange vor einer Kinokasse eingereiht, kommst in langsamen Rucken immer näher an das ersehnte Ziel und verspürst plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Rippen. Ein Rowdy will dich von deinem Platz verdrängen. »Verschwind, sonst gibt's was!« stößt er zwischen den Zähnen hervor. Du erstarrst vor Schreck. Aber da ist schon der Schiedsrichter vom Dienst zur Stelle und hält ihm die gelbe Karte unter die Nase: »Noch so ein Foul und Sie werden ausgeschlossen!«

Unter solchen Umständen wäre das Leben wieder lebenswert, Ruhe und Ordnung wären gesichert, Anstand und Moral kä­men zu ihrem Recht.

Ich bin ein Fußballfan.  

Wem die Stunde schlägt

Ohne Rücksicht auf die harten Tatsachen des Lebens und auf die Forschungsergebnisse der Kinderpsychologie dekretiert die jüdische Religion, daß ein Kind männlichen Geschlechtes sich an seinem dreizehnten Geburtstag übergangslos in einen Er­wachsenen verwandelt. Dieses schicksalsschwere Ereignis - »Bar-Mizwah« geheißen - begehen die Eltern des Wunderkin­des mit einer prunkvollen Feier, die dem neu geschaffenen Mann nicht nur auferlegt, wie ein ausgelernter Rabbiner zu beten, sondern sich bei Papi und Mammi für alle erwiesenen Wohltaten überschwenglich zu bedanken. Das Kind wird zum Mann, und die Eltern werden kindisch. Die Denkrede aber machte mir zu schaffen.

Im ersten Morgengrauen schrillte das Telefon.

»Hallo«, sagte eine gedämpfte Männerstimme. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?«

»Nicht telefonisch.«

Es war die übliche Eröffnung, den Schachfreunden als Israe­lisches Gambit geläufig. Ich wählte die Sizilianische Verteidi­gung: »Es tut mir leid, aber ich bekomme täglich ungefähr ein Dutzend Anrufe dieser Art, und meistens handelt sich's dann um die Bar-Mizwah des kleinen Jonas, für die ich ihm eine Rede schreiben soll. Ich bin nicht -«

»Herr!«, unterbrach mich hörbar empört mein Ge­sprächspartner. »Glauben Sie, daß ich Sie um diese frühe Morgenstunde wegen einer solchen Lappalie anrufen würde? Kommen Sie sofort!«

Er nannte mir seinen Namen, der mir bekannt vorkam - je­denfalls stand der Mann im Scheinwerferlicht der Öf­fentlichkeit, irgendwo zwischen Regierung und Großindustrie. Nun, man kann nie wissen. Ich machte notdürftig Toilette und eilte zu der angegebenen Adresse.

Der Regierungsindustrielle erwartete mich vor dem Haustor.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, informierte er mich streng, während wir die Stiegen hinaufkeuchten. »Mein Sohn Jonas begeht in wenigen Tagen seine Bar-Mizwah und braucht eine Rede.«

Ich wollte wortlos kehrtmachen, aber er hielt mich zurück. Seine Stimme wurde um einige Grade milder: »Bitte enttäu­schen Sie uns nicht. Ein bedrängtes Elternpaar baut auf Ihre Hilfe. Der Junge liebt und verehrt uns und hat keinen sehnli­cheren Wunsch, als uns für all die Wohltaten, die wir ihm erwiesen haben, so recht von Herzen zu danken.«

»Soll er.«

»Durch eine Rede.«

»Die soll er sich selber schreiben.«

»Das kann er nicht. Dazu reicht's bei ihm nicht. Bitte, bitte!« Tränen drohten seine Stimme zu ersticken. »Sie müssen uns helfen. Nur ein Genie wie Sie ist dazu imstande. Selbstver­ständlich gegen Honorar, wenn Sie es wünschen. Geld spielt keine Rolle. Wichtig ist nur die Zeit. Sie drängt. Jede Stunde ist kostbar. Was sage ich - jede Minute. Verstehen Sie mich doch! Verstehen Sie ein besorgtes Vaterherz!«

Und er traf Anstalten, vor mir niederzuknien. Ich verwehrte es ihm und fühlte, wie ich innerlich weich wurde. Auch er fühlte das.

»Nur eine kleine, kurze Rede. Gefühlvoll, überquellend von kindlicher Dankbarkeit, womöglich in Reimen. Wie oft im Leben hat man denn schon Bar-Mizwah? Ein einziges Mal! Sie können mir nicht Nein sagen.«

Ich konnte wirklich nicht. Das besorgte Vaterherz hatte mich herumgekriegt.

»Bis wann wollen Sie das Manuskript haben?«

»Bis gestern. Wir sind verzweifelt knapp dran.«

»Ich brauche mindestens zwei Tage.«

»Unmöglich!« Mein großzügiger Auftraggeber schauderte zusammen. »Bedenken Sie - das Kind muß ja noch den ganzen Text auswendig lernen. Heute abend, ich beschwöre Sie! Heu­ te abend!«

»Na schön. Sagen wir: um neun.«

»Halb neun! Ich verdopple das Honorar, wenn Sie um halb neun liefern!«

Beinahe hätte er mir zum Abschied die Hand geküßt. Und noch vom Haustor rief er mir nach: »Um acht! Vergessen Sie nicht - spätestens um acht!«

Zu Hause empfing mich die beste Ehefrau von allen mit der Mitteilung, es hätte soeben jemand angerufen und nichts wei­ter gesagt als »Zehn Minuten vor acht«. Ich bat sie, mir einen enorm starken, enorm schwarzen Kaffee zu kochen, und ging ans Werk.

Zunächst versuchte ich, die geistigen und seelischen Wal­lungen nachzuempfinden, die sich in des jungen Jonas Brust zum feierlichen Anlaß regen mochten. Wie würde er sie wohl ausdrücken? Vielleicht so:

Ihr lieben Eltern alle zwei Habt mich umsorgt vom ersten Schrei. Noch heute dank ich euch dafür, Ihr beiden lieben Eltern ihr!

Vielleicht ein wenig trocken, wenn auch keineswegs ohne die gewünschte Dankbarkeit und Ehrfurcht. Ein brauchbarer An­fang.

Während ich über die Fortsetzung nachdachte, wurde ich von einem Boten gestört, der mir einen Blumenstrauß mit einem Kärtchen überbrachte. Auf dem Kärtchen stand: »Alles Gute! Bitte um halb acht!«

Die nächste Strophe lautete:

Liebe Mutter und lieber Vater,

Ihr seid meine besten Berater,

Ihr zeigt mir das Leben so, wie es ist.

Seid in Verehrung umarmt und geküßt.

Die nächste Störung erfolgte durch das Telefon: »Wie sieht's aus?« erkundigte sich das besorgte Vaterherz. »Haben Sie schon etwas fertig?«

Ich las ihm das Ergebnis meiner bisherigen Arbeit vor.

»Nicht schlecht«, meinte er. »Aber auch der Name des Jun­gen sollte gereimt werden. Er liebt uns abgöttisch. Sieben Uhr zwanzig?«

»Ich werde mein Bestes tun«, versicherte ich ihm, schaltete das Telefon aus und machte mich auf die Suche nach einem Reim auf Jonas. Es war zu dumm. Hätten die Leute ihren über­flüssigen Sprößling nicht anders nennen können? Zum Bei­spiel Gideon, mit dem eingebauten Reim auf Sohn? Ganz zu schweigen von Ephraim, ein vorbildlicher Name, der sich wie von selbst auf Jeruscholajim reimt, und das paßt immer. Aber nein, Jonas muß er heißen.

Endlich hatte ich ihn erwischt:

Euch, Eltern, gilt mein kindlich Sehnen,

Euch gelten meine Dankestränen.

Schon machen sie mein Mikrophon naß –

Es schluchzt vor Rührung euer Jonas.

Darüber war es Nachmittag geworden und Zeit für die An­kunft eines Telegramms: »Mehr Gefühl mehr Tempo bitte um Fertigstellung bis sieben Uhr.«

Allmählich begannen sich bei mir gewisse Ermüdungser­scheinungen bemerkbar zu machen. Nach der vierzehnten Strophe ging ich unter die Dusche, wo ich es bis zur achtzehn­ten brachte, dann dichtete ich in der Badewanne weiter, aber ein geeigneter Schluß wollte sich auch am Schreibtisch nicht einstellen und fehlte selbst dann noch, als um halb sieben der Bote des abgöttisch geliebten Elternpaares eintraf, um das Manuskript abzuholen. Er pflanzte sich dicht hinter meinem Schreibtisch auf und ließ mich wissen, daß er den Motor sei­nes Wagens nicht abgestellt hätte.

Unter dem Druck dieser Inspiration warf ich die abschließen­de Strophe aufs Papier:

So laßt mich, teure Eltern, enden –

Mein Schicksal liegt in euern Händen.

Dort bleibt es liegen allezeit,

In Freud und Leid und Dankbarkeit.

Der Bote riß das Papier an sich und verschwand. Ich durfte mir sagen, daß ich die einseitig festgesetzte Stunde der Ablie­ferung genau eingehalten hatte. Dann fiel ich in tiefen, traum­losen Schlummer.

Wochen vergingen, ohne daß ich von meiner Bank etwas über den Eingang eines Honorars oder von meinem Auftrag­geber ein diesbezügliches Sterbenswörtlein gehört hätte.

Ich griff zum Telefon und fragte ihn, ob die Sache damals in Ordnung gewesen sei.

»Welche Sache?« fragte er zurück. »Wann?«

Nicht ohne Stolz gab ich mich als Verfasser der kunstvoll gereimten Rede zu erkennen, die Jung-Jonas zur Feier seiner Bar-Mizwah gehalten hatte.

»Ach so«, klang es mir ans Ohr. »Richtig. Ich erinnere mich. Leider habe ich noch keine Zeit gehabt, ihr Manuskript zu lesen. Rufen Sie mich doch noch einmal an.«

»Morgen früh? Um acht?«

»Es eilt nicht. Vielleicht gegen Mittag. Oder nächste Wo­che.«  

Ein nicht ganz orthodoxes Gespräch

Bei jeder »Bar-Mizwah«-Feier stellt sich die Frage, nach welchem Ritus die Wandlung des Jünglings zum Manne voll­zogen werden soll. Das Streitgespräch über diesen Punkt fin­det nicht etwa zwischen den jeweils beteiligten Eltern und Söhnen statt, sondern zwischen den verschiedenen rabbini­schen Gremien. Und es geht dabei schon deshalb so hitzig zu, weil der Mensch seinem Mitmenschen alles verzeihen kann bis auf eines: daß er nach einem anderen Ritus zu seinem Schöpfer betet. Im Lande Israel tobt der Disput am leiden­schaftlichsten zwischen jenen, welche die von Moses erlasse­nen Gesetze bis zum kleinsten Buchstaben genauso beobach­ten, wie sie damals auf der Generalversammlung am Berg Sinai protokolliert wurden - und einer Reformbewegung, die darauf Rücksicht nimmt, daß sich seither einiges auf Erden ge­ändert hat und daß die Menschheit mit Computern, Vitaminta­bletten, Che Guevara und der Ehe ohne Trauschein gesegnet wurde.

Daß ich in diese Diskussion geriet, habe ich mir selbst zuzu­schreiben.

Es war ein stürmischer Abend, stürmisch wie der im Parla­ment erfolgte Angriff der Nationalreligiösen Fraktion auf das Reformjudentum, als mir plötzlich der Gedanke kam, den ei­gentlich und unmittelbar Betroffenen um Seine Meinung zu fragen. Es würde schon in Anbetracht des delikaten Themas kein leichtes Interview werden, das war mir klar. Aber es in­teressierte mich, den offiziellen Standpunkt zu unserem offen­bar unvermeidlichen Kulturkampf kennenzulernen.

ICH: Was ist Ihrer Meinung nach der wesentliche Unter­schied zwischen den beiden Haupttendenzen innerhalb der jüdischen Religion?

DER HERR (entschuldigend): Ich bin da leider nicht ganz auf dem laufenden, da mich in der letzten Zeit ein völlig an­ders geartetes Problem beschäftigt. Die Schwerkraft im Welt­raum nimmt ab, das Universum beginnt sich auszudehnen, und es besteht die Gefahr, daß es mit der sogenannten Unendlich­keit über kurz oder lang vorbei sein wird. Dann stehe ich da und kann von vorne anfangen. Wie weit seid ihr - ich meine die Erde - von der Sonne entfernt?

ICH: In jüdischen oder arabischen Ziffern?

DER HERR: Natürlich arabisch.

ICH: 153 000 000 km.

DER HERR: Dann werdet ihr also... dann werdet ihr in unge­fähr einer Billion Jahre mehr als zweihundert Millionen Kilo­meter von der Sonne entfernt sein... Wer weiß, was dann pas­siert... Bedenken Sie bitte, daß die Erde nur ein kleiner Planet im Sonnensystem ist und daß es in jeder Galaxie Millionen von Sonnensystemen gibt.

ICH: Als der Rabbiner des Orthodoxenviertels von Jerusalem einem Reformgottesdienst beiwohnte, spuckte er zweimal aus.

DER HERR: Da die erwähnten Millionen von Sonnensyste­men mir einiges zu schaffen geben, kann ich meine Aufmerk­samkeit nicht restlos auf den ehrwürdigen Rabbi konzentrie­ren.

(Ich stellte mit Vergnügen fest, daß der Herr sich als höfli­cher, urbaner, ja geradezu brillanter Gesprächspartner erwies. Er ist, wie man weiß, weltberühmt für die Erschaffung der Welt und hat ungefähr 3000 Jahre vor Christi Geburt der Erde ihre heutige Gestalt gegeben, einschließlich Bevölkerung, in insgesamt sechs Tagen. Das Gespräch wurde in idiomatischem Hebräisch geführt, dann und wann mit ungarischen Brocken dazwischen.)

ICH: Ich nehme an, Herr, daß Sie mehr als irgend jemand anderer auf die strikte Befolgung Ihrer Gebote Wert legen. Sind Sie religiös?

DER HERR (nach einigem Zögern): Nein. Ursprünglich stand ich auf Seiten der Orthodoxen, aber jetzt gehen sie mir auf die Nerven. (Scharf.) Euch dort unten ist jeder Vorwand recht, um eure politischen oder persönlichen Ziele zu fördern!

Ihr denkt an alles, nur nicht an mich. Überhaupt befinde ich mich in einer unmöglichen Situation. Ihr schreibt mir die Er­schaffung der Welt zu, ich gelte euch als ein überirdisches Wesen, dessen Werke das menschliche Fassungsvermögen weit übersteigen. Und trotzdem behandelt ihr mich wie einen Schmierenschauspieler, dem der Applaus über alles geht. Je­den Morgen muß ich mir die gleichen unterwürfigen Lobes­hymnen anhören (er zitiert aus einem aufgeschlagenen Buch): »Herrscher der Welt, unser Vater, König der Könige, dem nichts verborgen bleibt, wir preisen Dich in Ehrfurcht, All­mächtiger, der Du entscheidest über Leben und Tod und des­sen Augen alles sehen...« (Klappt das Buch zu.) Und so weiter und so fort. Ich muß schon sagen...

ICH: Herr, sie singen Ihren Preis aus Liebe.

DER HERR: Sie schmeicheln mir, das ist alles. Und sie be­leidigen meine Intelligenz. Als ob der Schöpfer der Welt auf solche Lobhudelei angewiesen wäre. Sie würden es niemals wagen, den Computer der Stadtverwaltung von Tel Aviv mit so etwas zu füttern. Glauben Sie mir, lieber Freund: es ist höchste Zeit, die Dinge ein wenig aufzulockern. Ein paar klei­ne Kürzungen und Änderungen werden niemandem weh tun. Warum sollen Männer und Frauen nicht zusammen beten? Und wo steht geschrieben, daß die Männer immer etwas auf dem Kopf tragen müssen, vielleicht gar eine mittelalterliche polnische Pelzmütze? Habe ich euch jemals befohlen, in lan­gen, schwarzen, schweren Mänteln herumzulaufen, auch im Sommer? Bin ich euer Feind? Auf diese Weise entfremdet ihr mir die Jugend!

ICH: Es ist Tradition, Herr. Ihre Tradition.

DER HERR: Reden Sie sich doch nicht immer auf mich aus, wenn ich bitten darf. In einer Zeit, in der die Menschen auf den Mond fliegen, beharren Sie darauf, daß sie am Sabbath nicht fahren dürfen. Oder nehmen Sie Ihre Hochzeitszeremo­nie. Die wird noch immer auf aramäisch abgehalten, in einer Sprache, die nicht einmal ich verstehe. Was soll das alles? Ich habe nichts gegen die Orthodoxen, solange sie mich nicht zwingen, ebenso zu denken wie sie. Aber gleich ausspucken, wenn jemand nach einem ändern Ritus betet? Wie läßt sich das mit der Tatsache vereinbaren, daß es schließlich in jedem Ritus um mich geht? Habe ich euch dazu euern Staat gründen lassen? Was werden sich die Zodiac-Anbeter auf dem Mars denken?

ICH: Das klingt beinahe, Herr, als ob Sie ein Ungläubiger geworden wären.

DER HERR (energisch): Bin ich nicht! In keiner Weise! Bit­te machen Sie das Ihren Lesern eindeutig klar! Ich versuche nur, den Fanatikern gegenüber meine Position zu wahren. Sie sollen mir doch nicht länger unterstellen, daß ich nach wie vor die strikte Einhaltung aller 613 Gebote und Verbote erwarte, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Damit mache ich mich ja in den Augen jedes denkenden Menschen einfach lä­cherlich. Versuchen Sie die Dinge doch einmal von meinem Standpunkt aus zu sehen, um Gottes willen...

ICH: Dann gehören Sie also der Reformbewegung an?

DER HERR (vorsichtig): Ich möchte mich nicht festlegen. Sagen wir, daß ich mit den Reformern sympathisiere. Haupt­sache bleibt, daß ich Jude bin.

ICH: Mit allem Respekt, Herr: wie wollen Sie das beweisen?

DER HERR (überrascht): Da haben Sie recht. Es gibt keine gesetzliche Definition des jüdischen Gottes... Ich bin Jude, weil ich Jude bin... (Mit wärmerer Stimme): Ich liebe euch alle. Ich bin des guten Willens voll. Aber auch Sie müssen Konzessionen machen. Treiben Sie keinen Keil zwischen mich und meine Religion. Geben Sie mir die Möglichkeit, mein Amt auch in kommenden Zeiten und für kommende Genera­tionen zu versehen.

ICH: Herr, ich danke Ihnen für dieses Gespräch. Darf ich meinen Lesern sagen, daß Sie uns noch immer für das auser­wählte Volk halten?

DER HERR (herzlich): Gewiß. Ich mag euch mehr als alle anderen Völker.

ICH: Warum?

DER HERR: Ihr seid so komisch.  

Kleine Geschenke erhalten Vater und Sohn

Amir, mein zweitgeborener und, wie man weiß, rothaariger Sohn, hatte ziemlich mühelos das Alter von dreizehn Jahren und damit nach jüdischem Gesetz seine offizielle Mannbarkeit erreicht. Dies äußerte sich u. a. darin, daß er - am ersten Sab­bath nach seinem Geburtstag - in der Synagoge zur Vorlesung des fälligen Thoraabschnitts an die Bundeslade gerufen wurde. Es äußerte sich ferner in einer abendlichen Feier, die wir nach alter Elternsitte für ihn veranstalteten und zu der wir zahlrei­che Freunde sowie, vor allem, wohlhabende Bekannte einlu­den.

Kurz vor Beginn des Empfangs trat ich an meinen zum Man-ne gewordenen Sohn heran, um ihm die Gewichtigkeit dieses Anlasses klarzumachen:

»Generationen deiner Vorfahren, mein Junge, blicken heute stolz auf dich nieder. Du übernimmst mit dem heutigen Tag die Verantwortung eines volljährigen Bürgers dieses Landes, das nach zweitausend Jahren endlich wieder -«

»Apropos zweitausend«, unterbrach mich mein verantwor­tungsbewußter Nachfahre. »Glaubst du, daß wir so viel zu­sammenbekommen?«

»Wer spricht von Geld?« wies ich ihn zurecht. »Wer spricht von Schecks und von Geschenken? Was zählt, ist das Ereignis als solches, ist sein spiritueller Gehalt, ist-«

»Ich werde ein Bankkonto auf meinen Namen eröffnen«, vollendete Amir laut und deutlich seinen Gedankengang. Den­noch zeigte er sich ein wenig unsicher und verlegen, als die ersten Gäste erschienen. Er wußte nicht recht, wo sein Platz war, er begann zu schwitzen und fragte mich immer wieder, was er sagen sollte.

Geduldig brachte ich es ihm bei.

»Sag: ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

»Und wenn man mir das Geschenk überreicht?«

»Dann sag: danke vielmals, aber das war wirklich nicht not­wendig.«

Solcherart instruiert, bezog Amir Posten nahe der Türe. Schon von weitem rief er jedem Neuankömmling entgegen: »Danke, das war nicht notwendig« und hielt ihm begehrlich die Hand hin. Als er den ersten Scheck bekam, lautend auf damals 50 Pfund, mußte ich ihn zurückhalten, sonst hätte er seinem Wohltäter die Hand geküßt. Über die erste Füllfeder geriet er beinahe in Ekstase, und beim Anblick eines Expan­ders brach er in Freudentränen aus.

»Ein empfindsames Kind«, bemerkte seine Mutter.

»Und so begeisterungsfähig!«

Die Sammelstelle für Geschenke wurde im Zimmer meiner jüngsten Tochter Renana eingerichtet, und mein ältester Sohn Raphael übernahm es, die Beute zu ordnen.

Eine Trübung der festlichen Atmosphäre ergab sich, als ein zur Prunksucht neigender Geschäftsmann sich mit einem Scheck in der exhibitionistischen Höhe von 250 Pfund einstellte. Neben solchen Großzügigkeiten verblaßten sämtliche Kompasse und Enzyklopädien. Immer nachlässiger murmelte von da an der junge Vollbürger sein »danke... nicht notwendig...«, und bald darauf beklagte er sich bei mir über zwei Gäste, von denen er nichts weiter bekommen hatte als einen Händedruck, was wirklich nicht notwendig war. Ich behielt die beiden schamlosen Geizkragen scharf im Auge und sah mit hilfloser Empörung, wie sie sich am Büffet gütlich taten.

»Nur Geduld«, tröstete ich meinen zornbebend neben mir stehenden Sohn. »Die kriegen wir noch. Geh auf deinen Kon­trollposten.«

Im allgemeinen durfte man jedoch mit den Geschenken zu­frieden sein, obwohl sie von wenig Phantasie zeugten und zahlreiche Duplikate aufwiesen. Es wimmelte von Feldfla­schen, Ferngläsern, Kompassen und Füllfedern, und die Ex­pander vermehrten sich wie Kaninchen. Wer hätte gedacht, daß diese Instrumente so billig sind.

Wir empfanden es geradezu als Erlösung, als die Seeligs mit dem Minimodell eines zusammenlegbaren Plastikbootes an­kamen. Amir vergaß sich und sagte statt des üblichen »Danke nicht nötig« mit anerkennendem Kopfnicken: »Nicht schlecht.«

Ich selbst schlüpfte von Zeit zu Zeit aus meiner Rolle als freundlicher Gastgeber, um Inventur zu machen. Die Bücher hatten sich mittlerweile zu Türmen hochgeschichtet: wohlfeile Ausgaben der Bibel, Reisebeschreibungen, Bildbände mit schlechten Reproduktionen und ein Bändchen mit dem zu­nächst rätselhaften Titel »Hinter dem Feigenblatt«, das sich als Anleitung zum Geschlechtsverkehr für Minderjährige entpuppte. Und irgendein Idiot hatte sich nicht entblödet, meinem Sohn ein »Lexikon des Humors« zu schenken, in dem der Name seines Vaters nicht erwähnt war. Ich gab Auftrag, dem Kerl keine Getränke anzubieten.

In einer Kampfpause versuchte ich mich an dem Expander und stellte befriedigt fest, daß ich ihn über zwei Stufen span­nen konnte. Außerdem beschlagnahmte ich eine Füllfeder. Es waren ihrer sowieso schon zu viele. Amir sollte sich nach der Feier eine aussuchen, meinetwegen sogar zwei, und den Rest würden wir umfunktionieren.

Im übrigen veränderte sich der Charakter meines rothaarigen Sohnes gewissermaßen unter meinen Augen. Er hatte längst aufgehört, die ankommenden Gäste zu begrüßen. Die stumme Gebärde, mit der er ihnen entgegensah, bedeutete unverkenn­bar: »Wo ist das Geschenk?«, und die Stimme, mit der er sich bedankte, klang je nach den gegebenen Umständen von herz­lich bis kühl. Auch sonst benahm er sich wie ein Erwachsener.

Bei meinem nächsten Besuch im Lagerraum stieß ich auf zwei Flakons Toilettenwasser, für die der Junge keine Ver­wendung hatte. Die Leute könnten wirklich ein wenig nach­denken, bevor sie Geschenke machen. Auch einen goldenen Kugelschreiber und eine Mundharmonika nahm ich an mich. Dann wurde ich in meinen Ordnungsbemühungen gestört.

»Um Himmels willen«, zischte die beste Ehefrau von allen.

»Kümmere dich doch um unsere Gäste!«

Ich postierte mich neben Amir, der den jetzt schon etwas spärlicher eintreffenden Gästen mit dem lüsternen Blick eines Wegelagerers entgegensah und sie erstaunlich richtig einzu­schätzen wußte.

»Höchstens achtzig«, flüsterte er mir zu; oder, verächtlich: »Taschenmesser.«

Gegen zehn Uhr vertrieb er alle Familienmitglieder aus dem Abstellmagazin und versperrte die Türe.

»Hinaus!« rief er. »Das gehört mir!«

Als er auf Seeligs Plastikboot ein Preisschildchen mit der Aufschrift »Isr. Pfund 7.25« entdeckte, ließ er sich's nicht verdrießen, den Spender in der Menge ausfindig zu machen, und spuckte ihm zielsicher zwischen die Augen.

Rätselhaft blieb uns allen ein Transistor mit Unterwasser-Kopfhörern, der keinen Herkunftsvermerk trug. Von wem stammte er? Wir gingen rasch das von meiner Tochter Renana angelegte Namensverzeichnis der Anwesenden durch. Es ka­men nur zwei in Betracht, die auf der Geschenkliste nicht er­schienen: unser Zahnarzt und ein Unbekannter mit knallroter Krawatte. Aber welcher von beiden war es? Die Ungewißheit wurde um so quälender, als wir uns bei dem einen bedanken und den anderen maßregeln mußten. Da bewährte sich Amirs Instinkt aufs neue. Er machte sich an den Zahnarzt heran und trat ihn ans Schienbein. Der Zahnarzt nahm das widerstandslos hin. Kein Zweifel: Die edle Spende stammte vom Kra­wattenträger.

Heftigen Unmut rief bei uns allen die Festgabe eines Frank­furter Juden namens Jakob Sinsheimer hervor, die aus einer Holzschnittansicht seiner Geburtsstadt bestand. Was uns erbitterte, war nicht die Wertlosigkeit des Blattes, sondern die auf der Rückseite angebrachte Widmung: »Meinem lieben Kobi zur Bar-Mizwah von seinem Onkel Samuel.« Wir gössen ein wenig Himbeersaft über Herrn Sinsheimers Anzug und entschuldigten uns. Inzwischen begrüßte Amir die letzten Gä­ste.

»He!« rief er. »Wieviel?«

Er hatte sich zu einem richtigen Monstrum ausgewachsen, seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen, seine Krallenhände zitterten vor Gier, sein ganzer Anblick war so abscheulich, daß ich mich abwandte und in den Lagerraum flüchtete, wo ich die beste Ehefrau von allen in flagranti er­wischte, wie sie sich mit Golda Meirs Lebenserinnerungen aus dem Staub machte.

Allein geblieben, befeuchtete ich Daumen und Zeigefinger und begann die Schecks zu zählen. Guter Gott, welch eine Verschwendung! So viel Geld in einem so armen Land wie dem unsern! Der Gedanke, daß mein mißratener Sohn über all diese Summen verfügen könnte, hatte etwas höchst Beunruhi­gendes an sich. Ich ließ ihm ein paar auf kleinere Beträge lau­tende Schecks zurück und barg die anderen an meiner väterli­chen Brust.

Nein, ich hatte kein schlechtes Gewissen, es war nur recht und billig, was ich tat. Hatte ich nicht in seine Erziehung eine Menge Geld investiert? Und wer hatte für diesen kostspieligen Festempfang gezahlt? Ich oder er? Na also. Er soll arbeiten gehen und Geld verdienen. Schließlich ist er heute zum Mann geworden.  

Ein Triumph der Technik

So ungern wir's zugeben: Das Klima zählt nicht gerade zu den Attraktionen des Nahen Ostens. Offenbar ist da schon ganz am Anfang, beim klimatischen Lastenausgleich, ein bö­ser Irrtum passiert, sonst könnte die uns umgebende Atmo­sphäre im Sommer nicht zehnmal mehr Wasser als Luft enthalten. Während dieser Zeit lebt der Israeli nicht, er vegetiert nicht einmal, er dampft. Sein einziges Mittel zur Selbsterhaltung ist eine Wundermaschine, durch die sich die Feuchtigkeit von draußen in Lärm nach innen umsetzt.

Zwar haben wir ganz selten auch einmal Herbst, aber es han­delt sich dann immer noch um einen sehr heißen Herbst. Die­sen Herbst war es so heiß, daß die beste Ehefrau von allen das Wort »Klimaanlage« ins Gespräch einflocht. »Jetzt?« fragte ich. »Im Herbst?« Aber das beeindruckte sie nicht. Vielmehr entfaltete sie mit einiger Mühe die schweißgebadete Zeitung, die auf dem Tisch lag, und deutete auf eine halbseitige Anzei­ge der Firma »Pronto Klima-Anlagen Ges.m.b.H.«, die in blumigen Worten ein neues, »Flüsterkasten« genanntes Modell anpries: Kühle im Sommer, Wärme im Winter, Stille in jeder Jahreszeit, Stille bei Tag und Nacht. Ich willigte seufzend ein.

Der Chefingenieur der Firma »Pronto«, ein gewisser Schlo­mo, erschien persönlich, um von unseren Fenstern dasjenige auszusuchen, das für die Anbringung des Apparats am besten geeignet wäre. Er machte uns überdies auf einen speziell ein­gebauten Schalthebel aufmerksam, den sogenannten »Besänf­tiger«, der dazu diente, die beim Anlaufen des Apparats mög­licherweise auftretenden Geräusche bis zur Unhörbarkeit ab­zumildern. Die ganze Pracht käme auf 9999 Shekel plus 3000 Shekel Installationsgebühr, beides in bar und im voraus. Den hohen Preis für die Installation begründete Schlomo mit der einjährigen Garantie für das Loch in der Mauer.

Nachdem wir gezahlt hatten, winkte Schlomo zwei vier­schrötige Gesellen herbei, die unter seiner fachkundigen An­leitung das Fensterbrett aufbrachen, einen Schweißbohrer an­setzten, ein wenig hämmerten und ein wenig sägten. Bald dar­auf war der »Flüsterkasten« zu einem integralen Bestandteil unserer Wohnung und unseres Lebens geworden.

»Ich gratuliere«, sagte Schlomo. »Sie werden mit dem...«

Der Rest seiner Ansprache ging im ohrenbetäubenden Lärm der von ihm in Betrieb gesetzten Maschine unter. Es war ein Lärm wie von einer Boeing 747 vor dem Start.

Eine Weile standen wir regungslos auf unserem Privat­flugfeld und lauschten dem akustischen Wunder, ehe ich mich an Schlomo wandte.

»Ganz hübsch laut, wie?«

»Wie?« replizierte Schlomo. »Ich kann Sie nicht hören!«

»Lärm!« brüllte ich. »Es lärmt!«

»Was? Wo?«

Er sprach noch weiter, aber da in dem einstmals von mir be­suchten Gymnasium das Lippenlesen nur als Freigegenstand unterrichtet worden war, hatte ich es nicht erlernt und verstand ihn nicht. Mittels Gebärdensprache forderte ich ihn auf, mir in die Küche zu folgen, wo das Getöse der Jetmotoren nur ge­dämpft herüberklang. Dort erklärte mir Schlomo, daß jede jungfräuliche Maschine ein bis zwei Tage benötige, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen und warmzulaufen. Aber, so fügte er hinzu, indem er mir seine Telefonnummer einhändigte, wenn es morgen noch irgendwelche Beschwerden gäbe, möge ich ihn anrufen, er würde sich freuen.

Was sich in dieser Nacht abspielte, braucht den Vergleich mit der aufwendigsten »Son et Lumiere«-Produktion nicht zu scheuen. Alle zehn Minuten erhob ich mich von meinem La­ger, drehte das Licht an und versuchte den Lärm abzustellen, indem ich wieder und wieder den Besänftiger einschaltete. Dieser jedoch besänftigte überhaupt nichts, nicht einmal die beste Ehefrau von allen, die langsam hysterisch wurde. Ich tröstete mich mit der alten Binsenweisheit, daß der Mensch sich an alles gewöhnt, aber als mir um 2 Uhr früh der Besänf­tigungshebel in der Hand blieb, konnte ich nur noch auf unga­risch reagieren, und das ist bei mir immer ein Zeichen plötzli­chen Nervenversagens.

Der jetzt durch nichts mehr gehemmte Lärm paarte sich im­merhin mit einer Art Kühle, die mir vielleicht eine Art Schlaf ermöglicht hätte, wenn nicht von Zeit zu Zeit die Kinder he­reingekommen wären, um sich schluchzend zu beklagen, daß sie nicht schlafen könnten, weil die Betten unaufhörlich zitter­ten.

Um drei Uhr unternahm die beste Ehefrau von allen einen Rundgang und verteilte Ohrenpfropfen. Daraufhin breitete sich wohltätige Stille aus. Nur dann und wann durchbrach eine Boeing die Schallmauer.

Um fünf Uhr schrieb meine Frau auf den Notizblock, den wir zwischen uns plaziert hatten: »Das Monstrum geht morgen an Schlomo zurück, verstanden?« Ich benachrichtigte sie gleich­falls schriftlich, daß der Kaufpreis bar erlegt worden war. Der stumme Schmerzensschrei, den ich sie ausstoßen sah, schnitt mir das Herz entzwei. In einer plötzlichen Eingebung stürzte ich zum Flüsterkasten und stellte ihn ab.

Die Wirkung war sensationell. Der Flugverkehr kam zum Stillstand, und in der sommerlichen Wärme, die uns zu um­schmeicheln begann, schliefen wir alsbald ein, wie zwei Spio­ne, die aus der Kälte kamen.

Gleich am Morgen rief ich Schlomo an. »Hören Sie«, sagte ich. »Diese Klimaanlage -«

»Schon gut, schon gut.« Er ließ mich gar nicht ausreden. »Wir nehmen sie zurück und refundieren Ihnen den vollen Kaufpreis.«

Eine halbe Stunde nach diesem Gespräch erschienen die bei­den Vierschröter, montierten die Höllenmaschine ab und er­klärten sich bereit, das himmelblaue Loch, das in der Mauer zurückgeblieben war, gegen Erlag von 1000 Shekel zuzumau­ern. Ich feilschte nicht. Ich bin ein guter Verlierer.

Es brauchte einige Zeit, ehe wir uns an die Ruhe ringsum gewöhnten. Aber, wie schon gesagt: Der Mensch gewöhnt sich an alles.

Als wir bald darauf ein mit uns befreundetes Ehepaar besuch­ten, schlug uns beim Betreten der angenehm kühlen Wohnung das vertraute Dröhnen einer startfertigen Boeing 747 an die Ohren.

»Das Ding ist erst heute vormittag montiert worden«, schrie mir die Frau des Hauses entgegen. »Aber wir haben die Firma Pronto bereits verständigt, daß wir's zurückgeben. Wir verlie­ren eben die Installationsgebühr. Immer noch besser.«

Ich trat an die Maschine heran. Der Besänftigungshebel war abgebrochen.

Als Fachmann erkannte ich das auf den ersten Blick. War mir doch erst vor wenigen Absätzen ein gleiches widerfahren.

Schlomo retirierte gegen die Rückwand des Büros und mach­te verzweifelte Anstrengungen, sich aus meinem Würgegriff zu befreien. Aber ich ließ erst locker, als er zu seinem Ge­ständnis ansetzte.

«Mit den Klimaanlagen läßt sich ja nichts verdienen«, stöhn­te er. »Die Einfuhrzölle und die Steuern sind zu hoch. Das einzige, was Geld bringt, ist die Installation und das Zumauern der Löcher.«Ich drehte ihm den Arm auf den Rücken und drängte ihn in den Lagerraum. Mein Verdacht bestätigte sich: Das ganze Inventar bestand aus einer alten Boeing. Daneben hockten die beiden Vierschröter und kauten an je einem Sala­mibrot.

Schlomo senkte den Kopf.

»Jawohl, wir verkaufen immer denselben Apparat, und am nächsten Tag wird er abmontiert. Ich gebe es zu. Aber schließ­lich muß ich ja von irgend etwas leben. Ich habe eine Frau. Ich habe Kinder. Ich habe eine Freundin...«

Warum die »Pronto Klima-Anlagen Ges.m.b.H.« trotz anhal­tend gutem Geschäftsgang plötzlich Konkurs ansagte, konnte sich zunächst niemand erklären, auch der Eingeweihte nicht. Keinesfalls lag es daran, daß der potentielle Käuferkreis be­reits erschöpft gewesen wäre. Das geht nicht so schnell.

Geduldige Nachforschungen ergaben folgenden Tatbestand: Schlomo hatte seinen Flüsterkasten nach Bat Jam verkauft, an den Nestor der Siedlung, einen der ältesten noch lebenden Einwanderer überhaupt, und hatte am nächsten Tag vergebens auf den üblichen Anruf gewartet. Als auch tags darauf nichts dergleichen geschah, wurde er von Panik erfaßt und rief sei­nerseits an.

»Ist der Apparat nicht ein wenig lärmend?« erkundigte er sich.

»Leider«, antwortete der greise Pionier. »Für Freitag abend bin ich schon vergeben.«

Der Mann war stocktaub. Und Schlomos Boeing, die einzige ihrer Art, war aus dem Verkehr gezogen.

Der Kampf mit dem Installateur

Eines friedlichen Vormittags wurde der Wasserhahn in unse­rer Küche undicht und begann zu tropfen. Ich eilte sofort zu Stucks, dem einzigen Installateur in der Gegend, um ihn an das Krankenlager unseres Hahns zu bitten. Es war jedoch nur Frau Stucks zu Hause, die mir versprach, daß Stucks zu Mittag kommen würde. Als Stucks auch am frühen Nachmittag nicht gekommen war, ging ich wieder zu ihm. Zu Hause war nur Frau Stucks. Sie sagte mir, sie hätte Herrn Stucks gesagt, daß er zu uns kommen solle, aber Herr Stucks hätte nicht zu uns kommen können, weil er zu jemandem anderen gehen mußte. Er würde jedoch am frühen Abend zu uns kommen.

Stucks kam am frühen Abend nicht und nicht am späten, und als ich zu ihm kam, war niemand zu Hause. Von den Nachbarn erfuhr ich, daß das Ehepaar Stucks ins Kino gegangen sei. Ich steckte einen Zettel ins Schlüsselloch: Herr Stucks möchte bitte am nächsten Morgen zu uns kommen, weil unser Was­serhahn einer Reparatur bedürfe.

Als ich am Morgen aufwachte und Stucks noch nicht da war, ging ich zu ihm. Ich erwischte ihn beim Verlassen seiner Wohnung. Er behauptete, daß er sich gerade auf den Weg zu mir machen wollte, aber da er mich jetzt sowieso getroffen hätte, wäre ich vielleicht damit einverstanden, daß er erst mit­tags zu mir käme, weil er vorher noch zu jemandem andern gehen müsse. Er würde um eins kommen, sagte er. Ich fragte ihn, ob er nicht um halb zwei kommen könnte, da ich um eins noch auswärts zu tun hätte. Nein, antwortete er, leider, seine Zeit sei zu knapp, entweder um eins oder gar nicht.

Ich wartete bis drei, und als er nicht kam, ging ich zu ihm. Er war nicht zu Hause. Seine Frau versprach mir, nach seiner Rückkehr dafür zu sorgen, daß er am nächsten Morgen oder spätestens gegen Mittag kommen würde.

Stucks kam weder am nächsten Morgen noch gegen Mittag.

Als ich zu ihm kam, saß er beim Mittagessen und sagte, er hätte nicht kommen können, weil er so viel zu tun hatte, aber jetzt sei es endlich soweit, er würde nur noch rasch etwas es­sen und käme in einer Stunde.

Ich wartete bis zum Abend. Stucks kam nicht. Deshalb ging ich zu Stucks. Diesmal war niemand zu Hause. Ich setzte mich auf die Türschwelle, um zu warten. Gegen Mitternacht er­schienen Herr und Frau Stucks. Ich fragte ihn, warum er mich bis in die Abendstunden vergebens hatte warten lassen. Weil er bis jetzt beschäftigt gewesen sei, sagte Stucks. Aber ich sollte mir, sagte Stucks, keine Sorgen machen, er käme ganz bestimmt morgen früh um halb sieben. Ich fragte ihn, ob er nicht um sieben kommen könnte. Nein, sagte er, völlig ausge­schlossen, halb sieben oder gar nicht. Schließlich einigten wir uns auf 6 Uhr 45.

Um zehn war er noch immer nicht da. Was tun? Ich ging zu ihm. Seine Frau - er selbst war nicht zu Hause - versprach mir, zu meinen Gunsten bei ihm zu intervenieren. Als ich fortging, lief sie mir nach und erkundigte sich, wer ich sei und was ich wolle. Ich sagte, daß unser Wasserhahn in der Küche ständig tropfe und ob Herr Stucks nicht endlich kommen könnte, um ihn zu reparieren. Wenn Herr Stucks versprochen hätte, zu kommen, sagte Frau Stucks, dann käme er ganz bestimmt.

Da er bis zum Mittag nicht kam, suchte ich ihn auf. Er saß gerade beim Mittagessen und stellte mir sein Kommen in Aus­sicht, sobald er fertig wäre.

»Wissen Sie was?« sagte ich. »Ich warte hier auf Sie.«

Stucks beendete in aller Ruhe seine umfängliche Mahlzeit, stand auf, gähnte und streckte sich. Es täte ihm leid, sagte er, aber er sei gewohnt, nach dem Essen ein wenig zu schlafen. Damit verschwand er im Nebenzimmer. Ich blieb sitzen.

Um sieben Uhr abends gab mir Frau Stucks auf Anfrage be­kannt, daß ihr Gatte schon längst das Haus verlassen habe, durch die Hintertüre. Aber wenn er zurückkäme, würde sie ihm sagen, ich hätte auf ihn gewartet.

Allmählich wurde mir bewußt, daß dieses ewige Hin und Her zwischen meinem und seinem Haus zwecklos war. Ich be­schloß, bei Stucks sitzen zu bleiben. Um neun Uhr abends kam er und bedauerte, infolge der Hitze völlig vergessen zu haben, daß es mich überhaupt gab.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte er.

»Herr Stucks«, sagte ich, »wenn Sie nicht zu uns kommen wollen, dann sagen Sie's doch. Ich kann meinen tropfenden Wasserhahn ja auch von einem anderen Installateur reparieren lassen.« Stucks war betroffen.

»Aber warum sollte ich nicht kommen?« sagte Stucks. »Das ist ja mein Geschäft. Davon lebe ich.«

Und er gab mir sein Ehrenwort, daß er morgen um sieben Uhr zur Stelle sein würde. Mein Instinkt trieb mich bereits um sechs zu seinem Haus. Ich fing ihn gerade noch ab, als er es verließ. Er sei zu einer Reserveübung seiner Truppeneinheit einberufen worden, sagte er.

»Ich gehe mit Ihnen«, sagte ich. Auf dem Übungsplatz ließ ich ihn nicht aus den Augen.

Wir übten zusammen, entschärften einige Minen und entfern­ten uns gemeinsam.

»Gehen Sie ruhig nach Hause«, sagte er. »Ich ziehe nur rasch meine Zivilkleider an und komme Ihnen nach.«

Als er mir nach fünf Stunden noch nicht nachgekommen war, ging ich zu ihm, fand ihn jedoch nicht vor. Seine Frau ver­sprach mir, ihn über meinen Besuch zu unterrichten.

Am nächsten Morgen kaufte ich einen Revolver, ging zu Stucks und wartete. Zu Mittag kam er nach Hause, nahm die übliche Mahlzeit ein und schickte sich zum üblichen Nicker­chen an. Ich fragte ihn, ob er etwas dagegen hätte, wenn ich seinen linken Arm mit einer Handschelle an meinen rechten fesselte. Nein, sagte er, er habe nichts dagegen.

Wir schliefen etwa eine Stunde und machten uns dann auf den Weg zu meinem Haus. Plötzlich befreite sich Stucks von seinen Fesseln und rannte davon. Ich schickte ihm eine Salve nach. Er erwiderte das Feuer. Als ihm die Munition ausging, kam er mit erhobenen Händen auf mich zu, begleitete mich ohne weiteren Widerstand und reparierte den Wasserhahn. Gestern begann der Hahn wieder zu tropfen.  

Massive Massage

Seit einiger Zeit lese auch ich die Annoncen, die im »Kleinen Anzeiger« unserer Tageszeitungen unter der Chiffre »Körper­pflege« oder »Verschiedenes« immer üppiger ins Kraut schie­ßen. »Kraut« ist vielleicht kein passender Ausdruck, aber »üp­pig« kommt in manchen Texten ganz ausdrücklich vor. Zum Beispiel teilt mir eine »Exotin mit üppiger Oberweite« mit, daß sie meinen Anruf erwartet, oder es ist, im Gegenteil, »Ma­rilyn, schlank, blond, langbeinig«, die sich mir als Masseuse empfiehlt. Vergebens denke ich darüber nach, inwieweit die Tatsache, daß Marilyn blond und nicht brünett ist, ihre Massa­ge beeinflußt, und was die Oberweite einer Exotin mit ihrer Knet-Technik zu tun hat. Wie, frage ich mich, kommt das zu dem? Und warum hat man noch nie ein Inserat gelesen, in dem sich ein schlanker, sonnengebräunter Buchhalter um einen Posten bewirbt?

Das Ganze ist wirklich sehr geheimnisvoll. Was meint die vollschlanke Sandra, wenn sie mir »individuelle Behandlung in privater Atmosphäre« anbietet? Will sie damit sagen, daß sie, solange ich bei ihr bin, keinen anderen Rücken reiben wird? Und was heißt »privat«? Hatte sie etwa die Absicht, mich vor Zuschauern zu massieren? Die dunkelhäutige Shos­hana hingegen, die mir »Halt! Überraschung!« zuruft -bläst sie ein Papiersäckchen auf, um es plötzlich dicht an meinem Ohr zu zerknallen? Oder macht sie mir eine Trillerpfeife zum Geschenk?

Noch tiefer beeindruckt mich die schmiegsame Lily, die mich schon beim Frühstückskaffee wissen läßt, daß sie auch noch nach Mitternacht zu einer Spezialmassage bereit ist. Man muß sich vorstellen, wie diese humanitäre Bereitschaft sich in der Praxis auswirkt. Da erwacht man beispielsweise um drei Uhr früh mit Schmerzen im Genick, und während man sich anklei­det, beruhigt man die aufgestörte Gattin: »Das alte Rheuma,

Liebling. Dieser verdammte Ventilator im Büro. Ich mach nur rasch einen Sprung zur schmiegsamen Lily. Schlaf ruhig wei­ter...«

Früher oder später erhebt sich die Frage, wie eine echte Mas­seuse klarstellen soll, daß sie wirklich massiert. Vielleicht durch ein Inserat des folgenden Wortlauts: »Frau Selma Fried­länder, Anfang 50, häßlich, Brillenträgerin, bietet Heilmassage ohne jede Überraschung.« Oder soll sie sich einen anderen Beruf suchen?

Man muß sich jedoch darüber klar sein, daß die Kunst der Massage schon am Anfang der Menschheitsgeschichte stand, daß schon Adam, sofort nachdem Eva seiner Rippe entsprun­gen war, sich auf die Suche nach einer Masseuse machte, um die schmerzhafte Entsprungstelle ihren lindernden Händen anzuvertrauen. Mit anderen Worten: Die Masseusen gehören zum ältesten Beruf der Welt, und es ist kein Wunder, daß sie sich gewerkschaftlich organisieren wollen.

Ich für meine Person habe allerdings nie verstanden, warum zwei erwachsene Menschen verschiedenen Geschlechts, wenn es sie drängt, von dieser Verschiedenheit Gebrauch zu ma­chen, für die dazu nötige Zeitdauer nicht in aller Form heiraten und sich nach einer oder zwei Stunden nicht scheiden lassen sollten. Wem entstünde dadurch ein Schaden? Unsere hypokri­tische Gesellschaft gestattet jeder Frau, die ihre Seele dem Teufel oder einer politischen Partei verkauft, den Käufer je nach Höhe des Angebots zu wechseln. Aber wenn sie ihren Körper verkaufen will, dann muß sie sich fürs ganze Leben binden.

Auch die Klassenfrage spielt da mit hinein. Wenn Fräulein Oberweite mit einem Mann im Bett liegt, macht sie sich der Heimprostitution schuldig. Wenn Jackie Onassis mit Gastritis ins Bett geht, macht sie Schlagzeilen. Madame Pompadour hat gar nicht gewußt, daß sie eine Masseuse war.

In jahrtausendelangem Kampf ist es dem Menschen ge­lungen, die Natur zu beherrschen - nur seine eigene nicht. Dem Trieb seiner Sinne, dem Drängen seiner Drüsen steht er machtlos gegenüber. Und was tut er infolgedessen? Er betätigt seine Macht im Punkt des schwächsten Widerstandes. Er sperrt die Masseusen ein. Fünfzig Prozent unserer Polizeikräf­te veranstalten Razzien auf liebeshungrige Männer, die ande­ren fünfzig Prozent jagen den Mädchen nach, die jenen Hun­ger zu stillen bereit sind. Zweifellos ist das eine besonders reizvolle Abwechslung im täglichen Trott der Dienststunden.

Aber warum sollen nur die Massagesalons für die Heuchelei unserer Gesellschaft büßen? Warum kontrolliert man nicht auch die Garagen und Werkstätten, die in der Rubrik »Auto-Service« auf Kundenfang gehen? Wer weiß, vielleicht verbirgt sich das Laster auch hinter so harmlosen Inseraten wie: »Las­sen Sie Ihren Wagen bei uns überholen! Sorgfältiger Service! Kulante Preise!«

Klingt das nicht verdächtig nach individueller Behandlung, privater Atmosphäre und diskreter Oberweite?

Ich werde der Sache demnächst auf den Grund gehen.  

Unterwegs mit der Familie

Was immer ich zum Thema »Massage« äußern könnte, ist rein akademisch, denn ich bin ein fanatischer Anhänger der Ehe - einer Institution, die auf Erden nicht ihresgleichen hat. Gewiß, man schuftet wie ein Sklave, aber man weiß, wofür. Man hat ein Heim, das von süßen Kinderstimmchen erfüllt ist, man vergeudet seine Zeit nicht mit leichtfertigen Weibern und trinkfreudigen Kumpanen - man hat, kurzum, nichts mehr mit jener armseligen Figur gemein, die man in früheren, glückli­cheren Junggesellentagen einmal war. Denn was, so frage ich, was ist die wahre Sehnsucht des Mannes? Er sehnt sich nach einer Frau, die des Lebens Bürde mit ihm teilt, die ihn versteht und stützt, der er von seinen Sorgen und Kümmernissen erzäh­len kann. Also heiratet er, und von da an hat er was zu erzäh­len.

Im vorliegenden Fall rühren die erwähnten Kümmernisse hauptsächlich von Autofahrten im Kreis der Familie her. Kaum bin ich zehn Meter gefahren, stößt die beste Ehefrau von allen ihren ersten schrillen Schrei aus:

»Rot! Rot!« Oder: »Ein Radfahrer! Gib auf den Radfah­reracht!«

Diese Begleittexte kommen immer paarweise: der erste mit einem Rufzeichen, der zweite im Sperrdruck. Früher einmal versuchte ich meiner Gattin beizubringen, daß ich seit meiner Kindheit einen Führerschein besitze und noch keines einzigen Vergehens gegen die Verkehrsordnung schuldig geworden bin, daß ich ebenso viele Augen habe wie sie, vielleicht sogar mehr, und daß ich sehr gut ohne ihren Sperrdruck auskommen kann. Seit einigen Jahren habe ich diesen Zuspruch aufgege­ben. Es hilft nichts. Genausogut könnte man den Arabern zu­reden, sich mit der Existenz Israels abzufinden. Sie hört mir einfach nicht zu. Sie ihrerseits hat schon elf Verkehrsstrafen bekommen, aber an denen bin ich schuld.

Es kann geschehen, daß wir durch eine völlig menschenleere Straße fahren - und plötzlich dringt ihr Schreckensruf an mein Ohr:

»Ephraim! Ephraim!«

Ich reiße das Steuer rum, gerate auf den Gehsteig, stoße zwei Koloniakübel um und krache in den Rollbalken einer Wäsche­rei. Dann stelle ich die Reste des Motors ab und blicke um mich. Weit und breit ist nichts und niemand zu sehen. Die Straße ist so verlassen wie der unwirtlichste Teil der Negev-Wüste.

»Warum hast du geschrien?« erkundige ich mich und füge im Sperrdruck hinzu: » Warum hast du geschrien?«

»Weil du unkonzentriert gefahren bist, überhaupt - wie du fährst! Wie du fährst!« Und sie schnallt demonstrativ ihren Sicherheitsgurt etwas fester.

Die Kinder nehmen natürlich Partei für Mammi. Das erste Tier, das meine kleine Tochter Renana erkennen lernte, war ein Zebrastreifen. Ein Zebrastreifen! Auch ihr Großvater stellt oft und gerne fest, daß ich wie ein Verrückter fahre. Wie ein Verrückter! Neulich nahm er mich zur Seite, um von Mann zu Mann ein paar mahnende Worte an mich zu richten:

»Du hast doch Sorgen genug, mein Junge. Du bist ein schöp­ferischer Mensch. Du denkst beim Fahren an alles mögliche. Warum überläßt du es nicht meiner Tochter?«

Auch die Kinder haben es schon gelernt:

»Pappi«, tönt es von den Hintersitzen, » du bist nicht konzen­triert. Laß doch Mammi... laß doch Mammi...

Diese entwürdigenden Sticheleien finden ihre Fortsetzung, wenn ich nach Hause komme:

»Es ist nur Pappi«, ruft mein rothaariger Sohn Amir in die Küche. »Nichts ist passiert.«

Warum soll etwas passiert sein? Und warum »nur« Pappi?

Und ihre Mutter unterstützt sie noch:

»Ich würde lachen, wenn dich jetzt ein Verkehrspolizist er­wischt! Ich würde lachen!« Oder: »Das kostet dich den Füh­rerschein! Das kostet dich den Führerschein!«

Laut eigener Aussage kann sie sich nur entspannen, wenn sie selbst fährt. Manchmal entwindet sie mir das Lenkrad mit Gewalt und unter lautem Beifall der Galerie. Bisher ist sie zweimal mit je einem Fernlaster zusammengestoßen, einmal mit einem Klavier, hat mehrere Parkometer umgelegt und ungezählte Katzen überfahren.

»Weil deine wilde Fahrerei mich ansteckt«, erläutert sie.

Neuerdings beteiligt sich sogar unsere Hündin Franz an der gegen mich gerichteten Verschwörung. In jeder Kurve steckt sie den Kopf zum Fenster hinaus und bellt laut und scharf:

»Wau! Wau!« Zweimal. Das zweite Mal im Sperrdruck. Sie will, so dolmetscht meine Mitfahrerin, zum Ausdruck bringen, daß ich das Lenkrad mit beiden Händen halten soll. Wie jeder andere. Wie jeder andere!

Es gibt auch rückwirkende Zurechtweisungen. Zum Beispiel passiere ich glatt und anstandslos zwei Fußgänger und werde nach ein paar Metern vorwurfsvoll gefragt:

»Hast du sie gesehen, Hast du sie gesehen?«

Natürlich habe ich sie gesehen. Natürlich habe ich sie gese­hen. Sonst hätte ich sie ja niedergefahren oder wenigstens gestreift, nicht wahr.

»Was machst du denn, um Gottes willen!« lautet der nächste Mahnruf. » Was machst du?«

»Ich mache 45 Kilometer in der Stunde.«

»Du wirst noch im Krankenhaus enden. Oder im Gefängnis. Oder im Krankenhaus!«

Sie selbst fährt einen Stundendurchschnitt von 120 km, was ungefähr der Schnelligkeitsrate ihrer Kommentare entspricht. Unlängst riß sie den Wagen an sich, sauste zum Supermarkt und wurde unterwegs von einer Verkehrsampel angefahren. Sie kroch unter den Trümmern hervor, bleich, aber ungebro­chen, und seither folgt mir ihr vorwurfsvoller Blick auf Schritt und Tritt.

»Stell dir vor, du armer Kerl«, will dieser Blick bedeuten, »stell dir vor, was für ein Unglück es gegeben hätte, wenn du gefahren wärst.«

Ich bin nach längerem Nachdenken zu dem Entschluß ge­langt, mir die bewährte »Doityourself«-Methode zu eigen zu machen, und tatsächlich geht es jetzt viel besser. Um meiner Familie jede Aufregung zu ersparen, stoße ich selbst die ent­sprechenden Vorwarnungen aus:

»Nach 50 Metern kommt ein Stoppzeichen«, verlautbare ich bei einer Stundengeschwindigkeit von 30 km. »Ein Stoppzei­chen nach SO Metern!« Oder: »Nicht bei Gelb, Ephraim! Nicht bei Gelb!« Und nachdem ich über eine harmlose Kurve hinweggekommen bin: »Wie ich fahre! Wie ich fahre!«

Auf diese Weise herrscht in meinem Wagen nun doch eine Art von Fahrerfrieden. Die beste Ehefrau von allen sitzt mit zusammengepreßten Lippen neben mir, die Kinder verachten mich stumm, der Hund bellt zweimal, und ich fahre langsam aus der Haut. 

Wie Napoleon besiegt wurde

Ein weiterer Wermutstropfen im Freudenbecher unserer Ehe ist meine verwerfliche Gewohnheit, mich nicht sofort an den Tisch zu setzen, wenn die Chefin des Hauses den Ruf erschal­len läßt, daß das Essen aufgetragen ist. Ich weiß wirklich nicht, warum ich ihr das immer wieder antun muß, ich weiß es so wenig wie Millionen anderer Ehemänner. Vielleicht handelt es sich um einen Protest meines Unterbewußtseins gegen ihre selbstherrliche Art, die Mahlzeit-Zeiten festzulegen, ohne mich zu fragen. Vielleicht ist ihre Kochkunst nicht mehr das, was sie war. Sei dem wie immer - der Fall hat auch historische Aspekte; zumindest in der folgenden Geschichte.

Man schrieb den 18. Juni 1815.

Die Sonne ging über den Schlachtfeldern auf. Im Sit­zungssaal seines Landschlößchens stand der Kaiser, umgeben von seinen Marschällen und Generälen, am Tisch mit der gro­ßen Landkarte, um die letzten Anordnungen für den entschei­denden Zusammenstoß mit Europas Monarchen zu treffen. Sein Selbstbewußtsein und sein strategisches Genie hatten unter dem Exil auf Elba in keiner Weise gelitten. Nur sein Haar war ein wenig schütter geworden und zeigte an den Schläfen die ersten silbrigen Strähnen.

Aus der Ferne wurde Geschützfeuer hörbar: Blüchers Armee marschierte vom Norden her gegen Waterloo. Man glaubte zu spüren, wie die Welt den Atem anhielt.

»Napoleon! Dein Frühstück ist fertig!«

In der Türe erschien Sarah, Napoleons dritte Ehefrau und die beste von allen, ihre Frisur von einem hinten zusammengekno­teten Kopftuch geschützt, in der Hand einen Staublappen.

Der Kaiser hatte sie auf Elba geheiratet. Wie es hieß, ent­stammte sie einer der besten jüdischen Familien der Insel.

»Das Frühstück wird kalt, Napoleon!« rief die Kaiserin. »Komm zu Tisch! Deine Freunde hier werden nicht weg­laufen. Ach Gott, ach Gott...« Und während sie sich mit dem Staublappen an einigen Möbelstücken zu schaffen machte, wandte sie sich an den respektvoll schweigenden Generalstab: »Jeden Tag die gleiche Geschichte. Ich frage ihn: Napoleon, willst du essen oder willst du nicht essen, sag ja oder nein, er sagt ja, ich mach das Essen, und kaum ist es fertig, hat er plötzlich irgend etwas zu tun, stundenlang läßt er mich warten, ich muß das Essen immer von neuem aufwärmen, erst gestern hat uns das Mädchen gekündigt und jetzt steh ich da, ganz allein mit dem Buben... Napoleon! Hörst du nicht? Das Früh­stück ist fertig!«

»Einen Augenblick«, murmelte der Kaiser und zeichnete auf dem Schlachtplan eine Linie ein. »Nur einen Augenblick noch.«

Der Kanonendonner wurde lauter. Die Artillerie des Herzogs von Wellington begann sich einzuschießen. Marschall Ney sah besorgt nach der Uhr.

»Ich kann mich kaum auf den Füßen halten«, jammerte Sa­rah. »Überall in der Wohnung läßt du deine Kleidungsstücke herumliegen, und ich hab das Vergnügen, sie einzusammeln und in den Schrank zu hängen. Wie soll ich das alles bewälti­gen? Und steck nicht immer die Hand zwischen die zwei obe­ren Brustknöpfe, hundertmal hab ich dir gesagt, daß der Rock davon einen häßlichen Wulst bekommt, der sich nicht mehr ausbügeln läßt... Wirklich, meine Herren, Sie haben keine Ahnung, wieviel mir die schlechten Gewohnheiten meines Herrn Gemahl zu schaffen machen... Napoleon! Komm end­lich frühstücken!«

»Ich komm ja schon«, antwortete der große Korse.

»Ich hab nur noch ein paar Worte mit meinen Generälen zu sprechen.« Er nahm Haltung an, seine Gesichtsmuskeln spann­ten sich. »Blücher und Wellington, daran besteht für mich kein Zweifel, werden ihre Armeen vereinigen wollen. Wir müssen einen Keil zwischen sie treiben.«

»Das Essen ist schon wieder eiskalt!« kam aus dem Ne­benzimmer Sarahs Stimme.

»In einer Stunde greifen wir an«, sagte Napoleon ab­schließend.

Von draußen klang das Geräusch schwerer, eiliger Schritte. General Cambron, der Adjutant des Kaisers, nahm immer drei Marmorstufen auf einmal, so eilig hatte er's.

»O nein! Kommt gar nicht in Frage!« Am Treppenabsatz trat ihm Sarah entgegen. »Ziehen Sie zuerst Ihre Stiefel aus! Ich lasse mir von Ihnen nicht das ganze Haus verschmutzen.«

In Strümpfen trat General Cambron zu den anderen be­strumpften Heerführern.

»Wenn ich eine Hilfe im Haushalt hätte, war's etwas ande­res«, erläuterte die Kaiserin ihre Anordnung. »Aber seit ge­stern hab ich keine mehr. Herrn Bonaparte interessiert das natürlich nicht. Den interessiert alles, nur nicht sein eigenes Haus. Jetzt bin ich am Wochenende ohne Mädchen und kann mich wegen eurer dummen Schlacht nicht einmal um einen Ersatz kümmern. Wenn Sie vielleicht von einem anständigen Mädchen hören, lassen Sie mich's bitte wissen. Mit Koch­kenntnissen. Und sie muß auch auf den Buben aufpassen. Aber keine Korsin, bitte. Die reden zuviel.«

»Gewiß, Majestät.« General Cambron salutierte und übergab dem Kaiser ein zusammengefaltetes Papier. Napoleon las es und erbleichte:

»Meine Herren - Fouche ist zum Feind übergegangen. Was tun wir jetzt?« »Jetzt frühstücken wir«, entschied die Kaiserin und ging ins Nebenzimmer voran. Noch einmal trat Napoleon an den Tisch und fixierte mit dem Zeigefinger einen Punkt auf der Karte:

»Hier wird sich das Schicksal Europas entscheiden. Wenn der Gegenangriff von Südwesten kommt, fangen wir ihn an der Flanke auf. Meine Herren -«

»Napoleon!« unterbrach Sarahs Stimme. »Willst du Rühr- oder Spiegeleier?«

»Egal.«

»Rühreier?«

»Ja.«

»Dann sag's doch.«

»Meine Herren - vive la France!« beendete Napoleon den un­terbrochenen Satz.

»Vive la France!« riefen die Marschälle und Generäle.

»Vive l'Empereur!«

»Napoleon!« rief Sarah und steckte den Kopf durch die Türe. »Der Bub will dich sehen!«

»Majestät!« rief Marschall Murat. »Der Feind nähert sich!«

»Ich, lieber Herr«, fuhr die Kaiserin dazwischen, »ich bin es, die den ganzen Tag mit dem weinenden Kind auskommen muß, ich, nicht Sie. Wollen Sie dem Kaiser vielleicht verbie­ten, seinem Sohn einen Abschiedskuß zu geben?«

»Wo ist er?« fragte Napoleon.

»Er macht gerade Pipi.«

Und während der Kaiser sich zum Aiglon begab, stimmte die Kaiserin nochmals ihr Klagelied an.

»Ich hab kein Mädchen. Ich muß alles allein machen. Drei Stockwerke. Wie oft, meine Herren, habe ich Sie schon gebe­ten, keine Asche auf den Teppich zu streuen ?«

Im Hintergrund erschien Napoleon und strebte mit hastigen Schritten dem Ausgang zu.

»Was soll ich sagen, wenn jemand nach dir fragt?« wollte die Kaiserin wissen.

»Sag, daß ich in der Schlacht bei Waterloo bin.«

»Wann kommst du nach Hause?«

»Weiß ich nicht.«

»Hoffentlich rechtzeitig zum Mittagessen. Was möchtest du haben?«

»Egal.«

»Gestopften Gänsehals?«

»Ja.«

»Dann sag's doch. Und vergiß nicht«, rief sie ihm nach, »ich brauch ein Mädchen. Und komm nicht zu spät...«

Der Kaiser hatte sein Pferd bestiegen. An der Spitze seiner Heerführer nahm Napoleon den Weg durch die eng gewunde­ne Schlucht, die in Richtung Waterloo führte.

Sarah nahm Besen und Schaufel, um die Halle vom Stra­ßenschmutz zu säubern, der von den Stiefeln der Militärs zu­rückgeblieben war. Sie mußte alles allein machen, denn sie hatte kein Mädchen.

Durch das offene Fenster konnte man jetzt schon das Mün­dungsfeuer der Geschütze sehen. Blücher und Wellington setz­ten zu ihrem erfolgreichen Umklammerungsmanöver an.

Die Geschichte weiß zu berichten, daß die beiden siegreichen Feldherren ihre Ehefrauen weit, weit hinter sich gelassen hat­ten.  

Jerusalem antwortet nicht

Mit zunehmenden Jahren wird man als Dichter gerne von dem Bedürfnis heimgesucht, sein Leben zu überschauen und eine Art Bestandsaufnahme zu veranstalten. Ich habe geliebt und gelernt, sagt der alternde Poet, ich habe gutes Geld ver­dient und habe es schlecht verwaltet, ich habe die Welt durch­fahren, habe alte Städte und neue Gräber gesehen, habe mich bemüht, weise zu werden, und habe die Vergeblichkeit meiner Bemühungen erkannt. So ist das Leben...

Auf ungefähr diese Weise würde ein durchschnittlicher Dich­tersmann sich ausdrücken.

Sollte jedoch eines Tages an mich die Frage gerichtet wer­den, wie ich mein Leben verbracht habe - ich würde kurz und bündig antworten:

»Ich habe versucht, telefonische Verbindung mit Jerusalem zu bekommen.«

Die Vorwahlziffer von Jerusalem im automatischen Tele­fonverkehr lautet nämlich 02 und ist besetzt. Man wählt gleich nach dem Erwachen 02, und es ist besetzt. Es ist, bevor man's endlich aufgibt, fünf Stunden lang besetzt. Das bedeutet einen Gesamtverlust von 227 Arbeitstagen im Jahr, Schaltjahre aus­genommen. 227 Tage steht man da, den Hörer in der Hand, und wartet darauf, daß Jerusalem frei wird.

»Haben Sie morgen Zeit?«

»Nein, ich muß Jerusalem anrufen!«

Natürlich gilt das nur für die Tagesstunden. Wenn es Mitter­nacht schlägt, läßt das Besetztzeichen nach, und zwischen drei und fünf Uhr am Morgen besteht sogar einige Aussicht, daß man durchkommt. Leider wünschen die Einwohner Jerusalems nicht zwischen drei und fünf angerufen zu werden, sondern bei Tag. Und bei Tag ist 02 besetzt.

Manchmal genügt schon der bloße Gedanke an Jerusalem, um beim Abheben des Hörers das Besetztzeichen hervorzu­locken. Darum ist es ratsam, an Rechovot oder an Haifa zu denken, bevor man wählt, obwohl auch diese beiden in der Regel besetzt sind. Selbst wenn es einem gelingt, sich an der 0 vorbeizuschmuggeln - nach der 2 ertönt unweigerlich Jerusa­lems satanisches Pip-Pip. Sollte es aber auch nach der 2 im Hörer ruhig bleiben, dann darf man mit Sicherheit annehmen, daß eine Störung vorliegt.

Vor ein paar Tagen, als ich gerade mit erquickender und ge­sundheitsfördernder Gartenarbeit beschäftigt war, kam mein Sohn Amir herbeigestürzt:

»Komm schnell!« rief das liebe Kind, zitternd vor Aufre­gung, »Mammi hat Jerusalem!«

Es war eine richtige Sensation. Die beste Ehefrau von allen war über 02 hinausgekommen, hatte durch tiefe, tapfere Atemzüge den drohenden Herzanfall hintenangehalten, hatte die Drehscheibe weiterbetätigt und die Nummer ihrer Tante in Jerusalem gewählt. Kurz darauf war die Verbindung mit dem Wohlfahrtsministerium hergestellt. Unser Jubel kannte keine Grenzen. Wir übergaben der Telefonistin des Ministeriums eine vollständige Liste unserer in Jerusalem wohnhaften Freunde und baten sie, diese anzurufen und sie zu bitten, uns in Tel Aviv anzurufen. Denn von Jerusalem bekommt man Verbindung nach Tel Aviv. Von Tel Aviv nach Jerusalem nicht.

Die israelischen Eisenbahnen machen sich diesen Zustand neuerdings mit Reklameplakaten zunutze: »Sparen Sie Ihre Zeit!« heißt es da. »Wählen Sie nicht 02! Wählen Sie die Zug­verbindung nach Jerusalem!«

Die Jerusalemer Telefonzentrale ist allerdings ein wenig ver­altet und arbeitet noch nach dem ottomanischen System, mit Handkurbel, lautem Zuruf und notfalls Boten auf Fahrrädern.

Schon Theodor Herzl soll sich vergebens bemüht haben, eine Verbindung mit dem türkischen Gouverneur in Jerusalem her­zustellen. Nach einer Woche war sein Muskelkrampf im rech­ten Arm so schmerzhaft geworden, daß er aufhören mußte. Damals sprach er die historischen Worte:

»Meine rechte Hand verdorre, wenn ich jemals dein vergäße,

o Jerusalem!«

Unser Minister für öffentliches Verkehrswesen weiß über dieses Problem natürlich Bescheid. Erbitterte Bürger riefen ihn immer wieder an, um ihm zu sagen, was sie von ihm hielten - bis er sich eines Tages entschloß, nach Jerusalem zu übersie­deln. Seither hat er Ruhe.

Er gibt jedoch freimütig zu, daß die Lage nicht eben rosig ist. Die Zahl der Telefonkabel zwischen Tel Aviv und Jerusalem beläuft sich auf 40. Zur klaglosen Aufrechterhaltung des Ver­kehrs wären etwa 40 000 vonnöten. Die Errichtung eines neu­en Schaltwerks auf dem Ölberg ist geplant. Bis zur Inbetrieb­nahme empfiehlt der Minister die gute, alte Autosuggestion. Jeder Teilnehmer soll im Bad oder während der Morgengym­nastik mindestens zehnmal vor sich hinsagen:

»Null-Zwei ist frei, Null-zwei ist frei...« Ich möchte dieses Klagelied nicht vorübergehen lassen, ohne es mit einem kleinen Inserat abzuschließen:

GESUCHT WAHLHELFER FÜR VORWAHL 02

Telefonteilnehmer in Tel Aviv sucht dringend Amateur­masochisten, der bereit ist, zwischen 8 und 13 Uhr Jerusalem anzurufen. Gute Verpflegung garantiert. Arzt im Hause.  

Wer die Durchwahl hat, hat die Qual

Ferngespräche mit dem Ausland waren lange Zeit eines der beliebtesten Geduldspiele in Israel. Man wählte die Nummer 18 und wurde sofort mit einer Stimme verbunden, die sich in mehreren Sprachen der höflichen Mitteilung befliß, daß leider alle Linien besetzt wären, bitte seien Sie nicht ungehalten, wenn Sie noch ein wenig warten müssen, danke. Und nicht selten geschah es, daß man von einer schmerzhaften Finger­lähmung befallen wurde, bevor man endlich Chikago erreicht hatte. Da sich jedoch der Fortschritt der Technik nicht aufhal­ten läßt, können wir seit kurzem nach allen überseeischen Ländern selbst durchwählen. Seither wächst unter den israeli­schen Telefonteilnehmern die Anzahl der Konkurse.

Beim erstenmal ist es ja noch Spaß. In der Abenddämme­rung, wenn die Schafherden heimwärts ziehen und im Fernse­hen arabisch gesprochen wird, überkommt dich das dringende Verlangen, direkt mit Tante Frieda in Los Angeles zu spre­chen. Du begibst dich an die Drehscheibe, drehst so lange, bis du die Nummer 001213957342189 zu Ende gedreht hast, hältst den Hörer ans Ohr und freust dich des summenden Ge­räusches, das ihn erfüllt. Es wird von einem kurzen »Klick« abgelöst, dem ein Klingelsignal folgt - und dann, wahrhaftig, hebt jemand in einer Entfernung von 12 000 km den Hörer ab.

»Tante Frieda?« fragst du atemlos.

»Nein«, antwortet eine männliche Stimme.

»Ist dort 001213957342189?«

»Hier ist sechs Uhr früh, Sie Idiot.«

Immerhin - es war eine direkte Verbindung mit Kalifornien, und das darf man sich getrost die 4,18 Shekel pro Sekunde kosten lassen, die das Tarifbulletin des Verkehrsministeriums angibt. Wie aus dieser lehrreichen Publikation des weiteren hervorgeht, vermerkt das Telefonamt bei internationalen Fern­gesprächen weder Ort noch Zeit des Anrufs. Von einem auto­matischen Zähler registriert, wird die Gebühr ohne nähere Angaben in die Monatsrechnung des Teilnehmers einbezogen.

Der Umstand, daß seine Anonymität gewahrt bleibt, regt den israelischen Telefonbenützer zu einer interessanten Überle­gung an, mit der er sich wie folgt an die beste Ehefrau von allen wendet:

»Ich habe Lust, Kamtschatka anzurufen. Wie war's -und wir besuchen heute abend die Seeligs?«

Der Rest ist ein Kinderspiel. Um 22.30 Uhr - für Kamtschat­kianer eine frühe Nachmittagsstunde - erhebt man sich aus dem Fauteuil in Seeligs gastlichem Wohnzimmer, wirft einen besorgten Blick auf die Armbanduhr und murmelt, sotto, aber doch voce,

»Entschuldigt mich einen Augenblick - ich habe den Kindern versprochen, sie anzurufen...«

»Aber bitte«, sagt Erna Seelig. »Das Telefon steht im Schlaf­zimmer.«

Besser könnte man's gar nicht treffen. Man laßt sich behag­lich auf die weiche Schlafstatt des Hausherrn nieder und hat alsbald die Verbindung mit Lajos Friedländer hergestellt, ei­nem ehemaligen Mitschüler, der jetzt als erfolgreicher Rechts­anwalt in Kamtschatka lebt. Nach einem Viertelstündchen erinnerungsträchtigen Geplauders kehrt man ins Wohnzimmer zurück und verkündet zufrieden, daß zu Hause alles in Ord­nung ist.

So weit, so gut.

Einige Zeit danach bekommt Felix Seelig seine monatliche Telefonrechnung und stellt befremdet fest, daß sie um 1800 % über der vorangegangenen liegt. Bei einer zufälligen Begeg­nung im Stiegenhaus wirft er mir einen stummen, vorwurfs­vollen Blick zu, den ich jedoch ignoriere. Er kann mir ja nichts beweisen, oder?

Tags darauf nimmt die Sachlage eine unerfreuliche Wen­dung. Unsere eigene Telefonrechnung ist auf die er­schreckende Summe von mehr als 4000 Shekel gestiegen, obwohl ich seit dem abortiven Versuch mit Tante Frieda von meinem Telefon kein wie immer geartetes Ferngespräch ge­führt habe. Zweifellos hat da jemand in der schäbigsten Weise unsere Gastfreundschaft mißbraucht. Aber wer?

»Einen Augenblick.« Die beste Ehefrau von allen legt die Stirne in nachdenkliche Falten. »Vorige Woche hatten wir die Picklers zu Besuch. Erinnerst du dich, wie Akiba Pickler mit seiner Schwester telefonieren wollte? Ja? Aber weißt du auch, daß er italienisch gesprochen hat?«

Meiner Meinung nach war es nicht Akiba Pickler. Es war un­ser Nachbar Felix Seelig, der sich an uns gerächt hat. Er kam eines Abends zu uns herüber und bat um die Erlaubnis, unser Telefon zu benützen - seines, so behauptete er, sei gestört.

Zur Liste der Verdächtigen gehört auch der Mann von der Kühlschrankfirma, der zum Zweck einer angeblich fälligen Kontrolle erschien und dann die Zentrale anrief, die sich mög­licherweise in Philadelphia befand.

Diese Beispiele menschlicher Niedertracht erschütterten mich so sehr, daß ich einen Besuch im Hause des Ehepaars Spiegel benützte, um mit meinen in aller Welt verstreuten Familienan­gehörigen Fühlung zu nehmen. Als ich gerade mit einer weit­läufigen Verwandten in Buenos Aires sprach, mußte ich ein plötzliches Absinken der Tonqualität feststellen, woraus ich schloß, daß Frau Spiegel, diese heimtückische Hexe, von ihrer Nebenstelle in der Küche mithörte. Ich wechselte blitzschnell zu Hebräisch, sagte: »Gut, dann werde ich den Wagen morgen abholen« und legte auf, Mir kann man mit so billigen Tricks nicht beikommen.

Jedenfalls ist das israelische Volk seit Einführung des direk­ten Durchwahlsystems mit den Juden der ganzen Welt in inni­gerem Kontakt als je zuvor. Allerdings erfordern diese Gratis­gespräche ein beträchtliches Ausmaß von Erfindungsgeist und Umsicht. Man darf beispielsweise nicht allzu laut sprechen, wenn man einen Babysitter anruft, der in New York wohnt. Auch sollte man Fremdsprachen nach Möglichkeit vermeiden. Im übrigen sind diese Gratisgespräche in Wahrheit gar nicht so gratis, weil man ja auf Umwegen doch wieder für sie bezahlt.

Aber damit die Dinge nicht ausarten, haben wir jetzt an unse­rer Wohnungstür eine kleine Tafel angebracht:

»Gestörtes Telefon. Bissiger Hund. Bitte lassen sie Nachricht zurück. Wir besuchen Sie gerne.«  

Übergewicht

Auslandsreisen gehören schon deshalb zu den Freuden des Bürgers, weil sie ihm immer wieder, immer aufs neue die un­beschreiblichen Wonnen der Heimkehr vermitteln. Dieses großartige Arrangement hat nur den einen Nachteil, daß der Mensch nicht allein reist, sondern mit einem Koffer, auf den sich die Verfolgungswut des gesamten internationalen Boden­personals konzentriert.

Nein, keine Angst, es wird hier nicht von Diät und Kalorien die Rede sein. Es handelt sich um Gepäck, genauer: um die beklagenswerte Angewohnheit der internationalen Fluggesell­schaften, Passagiere, deren Gepäck mehr als 20 kg wiegt, mit schweren Geldstrafen zu belegen. Wo bleiben da die Men­schenrechte? Was unternehmen die Vereinigten Nationen ge­gen diese offene Diskriminierung? Ein feister Fahrgast mit einem Lebendgewicht von beispielsweise 115 kg und den zugelassenen 20 kg Gepäck kommt mit insgesamt 135 kg un­behindert durch die Kontrolle - der kleine Mann hingegen, der seine 70 persönlichen kg durch einen 25 kg wiegenden Koffer auf lächerliche 95 kg steigert, wird an Ort und Stelle bestraft. Nach meinen Erfahrungen ist das mitgenommene Gepäck immer schwerer als 20 kg. Beim Verlassen des Landes viel­leicht noch nicht - bei der Heimkehr um so sicherer. Ganz abgesehen vom neuen Regenmantel, den der Heimkehrer non­chalant überm Arm trägt, mit einem elektrischen Bügeleisen in der einen Manteltasche und einem japanischen Transistor in der anderen.

Seltsamerweise entsteht das Übergewicht völlig unabhängig von Elektrizität oder Japan. Selbst wenn man im Ausland nichts eingekauft hat, wiegt der Koffer um ein paar Kilo­gramm mehr als zuvor. Kenner behaupten, daß sich das spezi­fische Gewicht heimischer Erzeugnisse in der Fremde ändert. Andere machen die Atombombe dafür verantwortlich. Wie immer dem sei - der vom Übergewicht niedergedrückte Flug­gast steht jedesmal vor dem Problem, wie er der drohenden Bestrafung entrinnen könnte. Jedesmal versucht er unter den Damen an den Abfertigungsschaltern die freundlichste ausfin­dig zu machen, eine, aus deren Augen ihm eine Andeutung von Menschlichkeit entgegenschimmert - und in deren Stimme dann auch wirklich aufrichtiges Bedauern mitschwingt.

»Es tut mir leid, mein Herr - Sie haben fünfeinhalb Kilo Übergewicht. Bitte zahlen Sie am zweiten Schalter links.«

Worte vermögen den Haß, den man in solchen Augenblicken fühlt, nicht zu schildern. Was bildet sich diese Person eigent­lich ein? Nur weil auf dem Ticket steht, daß es verboten ist, mehr als 20 kg Handgepäck mitzunehmen? Es ist ja auch ver­boten, das Weib des Nächsten zu begehren, und niemand kümmert sich darum. Wo soll das hinführen?

Im gegebenen Fall führt es zum diensthabenden Manager der Fluggesellschaft, einem wohlerzogenen, glattrasierten Funk­tionär, der deiner gerechten Beschwerde höflich lauscht, dich persönlich in den Schalterraum zurückbegleitet und dir nach kurzem Gespräch mit der Abfertigungsbestie den Kompro­mißvorschlag macht, für die fünfeinhalb Kilo Übergewicht am zweiten Schalter links zu bezahlen.

Eines steht fest: Mit dieser Linie fliegst du nie wieder. Diese Luftwegelagerer sollen sich in acht nehmen. Man hört ja so allerlei über den Zustand ihrer Flugzeuge.

Pflege und Instandhaltung lassen zu wünschen übrig. Und die Betreuung der Fluggäste erst recht.

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Es ist nicht die Zusatz­zahlung, die mich erbittert, es ist die Erniedrigung des Er­tapptwerdens. Die paar Shekel, die man zu zahlen hat, spielen wirklich keine Rolle. Das heißt, sie würden keine Rolle spie­len, wenn es wirklich nur ein paar Shekel wären. Aber in Wirklichkeit kostet jedes Kilogramm Übergewicht nicht weni­ger als 40 Shekel, und das summiert sich. Ein unbescholtener Vater, der aus der Diaspora in die alte Heimat zurückkehrt, bringt seinem darbenden Söhnchen ein Spielzeug mit - und die Furie am Schalter knöpft ihm dafür den Gegenwert von 640 Shekel ab, als ob Israel nicht sowieso von lauter Feinden um­geben wäre. Das zwingt den Israeli geradezu naturnotwendig zur Selbsthilfe. Er kauft also eine kleine Handtasche, in der er fünf Kokosnüsse als Wehzehrung unterbringt und das Fahrrad dazu. »Diese Handtasche, Fräulein? Nur Gebrauchsgegenstän­de für die Reise...« Aber in der gleichen Sekunde, in der du die Handtasche hochhebst - du darfst keine Anstrengung zeigen, es sind ja nur ein paar kleine Gebrauchsgegenstände drin, nicht wahr, Zahnbürste, Taschentücher, Kokosnüsse -, in der gleichen Sekunde wirft die röntgenäugige Dame einen Blick auf die Waage, die bereits etwas über 20 kg anzeigt, und säu­selt mit engelsgleichem Lächeln:

»Stellen Sie die Handtasche neben Ihren Koffer, mein Herr.«

Wie sich zeigt, wiegt die Handtasche mehr als der Koffer. Daran sind die beiden antiken Kerzenhalter schuld.

Es empfiehlt sich deshalb, die Handtasche in einer Ecke der Abfertigungshalle stehenzulassen, bevor man zum Check-in an den Schalter tritt. Auf allen Flughäfen der Welt wimmelt es von vorübergehend verwaisten Handtaschen.

Aber das Schlimmste kommt erst. Fräulein Röntgenauge händigt dir ein Spezialetikett mit Bindfaden ein, welches an deiner kontrollierten Handtasche zu befestigen ist; erst dann darfst du sie ins Flugzeug mitnehmen.

Erfahrene Übergewichtler begegnen diesem Sabotageakt durch die sogenannte Kästchenstrategie. Sie besteht darin, daß man in einem Garderobekästchen, wie es gegen geringes Münzentgelt auf jedem Flughafen gemietet werden kann, den Inhalt der Handtasche verstaut und mit der leeren Handtasche zum Schalter geht, wo man sie bereitwillig auf die Waage stellt und das unentbehrliche Etikett ausgefolgt bekommt. Zurück zum Kästchen - hinein mit dem Übergewicht in die Handtasche - hinaus mit der Handtasche zum Flugzeug -und das Leben ist wieder lebenswert.

Schwitzende Israelis, die in fieberhafter Eile den Inhalt eines Garderobekästchens in eine etikettbewehrte Handtasche stop­fen, gehören zu den Alltäglichkeiten des internationalen Flug­verkehrs. Die Umgangssprache im Garderobenraum ist das Hebräische. Und wenn sich eine Boeing nach dem Aufstieg leicht seitwärts neigt, weiß man sofort, daß auf dieser Seite die israelischen Fluggäste sitzen.

Um die Wahrheit zu sagen:

Es gibt nichts Schöneres als unbezahltes Übergewicht. Neue­re psychologische Forschungen haben ergeben, daß das Be­dürfnis, für Übergewicht nichts zu zahlen, sofort nach dem Geschlechtstrieb kommt. Jedenfalls ist es ein unvergleichli­ches Hochgefühl mit einer Handtasche im Gewicht von 32 unbezahlten kg ein Flugzeug zu besteigen. Was mich betrifft, so fliege ich überhaupt nur deshalb.  

Das Trinkgeld-Problem

Der Schreiber dieser Zeilen darf sich schmeicheln, alle Pro­bleme des Reisens, einschließlich verklemmter Reißverschlüs­se, gelöst zu haben - bis auf eines: wieviel Trinkgeld man ge­ben soll.

Das hat nichts mit Inflation, Rezession, Konjunktur und der­gleichen zu tun. Es ist ein rein psychologisches Phänomen. Wann und wo immer ich dem Boten einer Blumenhandlung oder der Garderobenhexe eines öffentlichen Lokals gegenü­berstehe, treten kleine, kalte Schweißperlen auf meine Stirne und ich fühle mich einer Ohnmacht nahe. Dabei weiß ich ganz genau, daß ich in meiner Not nicht allein bin, daß alle Men­schen von der Trinkgeldfrage bedrängt werden, seit jeher, seit Erschaffung der Welt, wahrscheinlich haben schon Adam und Eva der Schlange eine Kleinigkeit zugesteckt, zum Dank da­für, daß sie ihnen den richtigen Baum gezeigt hat... aber was hilft's. Jeder hergelaufene Kellner versetzt mich in Panik, wenn er, kaum daß ich mich über das Steak hermache, an mei­nem Tisch vorüberstreicht und mir zuflüstert: »Der Herr ist doch kein Amerikaner? Amerikaner sind nämlich sehr knaus­rig!« Nach solcherlei Andeutungen bin ich versucht, meine Brieftasche auf den Tisch zu legen und dem Kerl zu sagen, er möge sich doch bitte herausnehmen, was er für angemessen hält. Einmal, in einem Pariser Fischrestaurant, habe ich das wirklich getan. Ich mußte zu Fuß ins Hotel zurückkehren.

Die Frage des Trinkgelds läßt sich schon deshalb nicht be­antworten, weil sie in einem Niemandsland gestellt wird, zu dem nicht einmal die Gewerkschaften Zutritt haben. Es ist immer wieder ein neu entstehender Kampf, ein Kampf zwi­schen zwei Gegnern, deren einer von allem Anfang an hoff­nungslos im Nachteil ist. Dieser eine bin ich. Ich weiß nicht, wieviel Trinkgeld ich geben soll.

Hinterher weiß ich's. Ich habe zuviel gegeben, wenn der Ta­xifahrer meine Koffer in die Hotelhalle schleppt, und zuwenig, wenn der Hotelportier bei meiner Abreise die Drehtüre nicht in Schwung setzt. Undurchsichtig bleiben nur die englischen Hotelportiers, die selbst das generöseste Trinkgeld mit so he­rablassender Selbstverständlichkeit entgegennehmen, daß man ihnen am liebsten die Hand küssen möchte für die Gnade, die sie einem erwiesen haben. Anders die türkischen Portiers. Die sind menschlich. Wie hoch die Summe auch sein mag, die man ihnen in die Hand drückt - sie halten ungerührt die andere Hand hin und machen große Augen, als wollten sie sagen: »Schön, das war das Trinkgeld. Wo bleibt das Bakschisch?«

Der Einfluß der Geographie auf das Trinkgeldwesen ist nicht zu unterschätzen. Im allgemeinen steigt die Höhe des Trink­gelds in direkt proportionalem Verhältnis zur Höhe der Tem­peratur. Je heißer, desto höher. Am Mittelmeer doppelt so hoch. In Venedig zum Beispiel steht seit Jahrhunderten an jedem Gondel-Halteplatz ein pockennarbiger, zahnloser Greis, nähert sich dem Ein- oder Aussteigenden mit dem Ruf »Atten­zione, attenzione« und beginnt in gotteslästerlichem Sizilia­nisch zu fluchen, wenn man ihn nicht dafür bezahlt. Für 200 Lire sagte er »Grazie«, für 500 oder mehr sagt er etwas auf englisch, für 100 sagt er nichts, für 50 spuckt er.

Demgegenüber ziemt sich ein Wort des Lobs für die italieni­schen Tankstellenwärter, diese Großmeister der Aufrundung. Gleichgültig, wieviel Benzin du verlangt hast - sie füllen dir den Tank für genau 9800 Lire, nicht einen Tropfen darüber, und gehen nicht fehl in der Annahme, daß du dir auf eine 10000 Lire-Note doch nicht zwei schäbige Münzen zurückge­ben lassen wirst. Hier zeigt sich der psychologische Aspekt des Trinkgeld-Problems in Reinkultur.

Es hat auch noch andere Aspekte. In Ländern mit hoher Ein­kommenssteuer ist es höher, weil es netto berechnet wird. Noch höher ist es in Ländern, deren Regime zum Marxismus tendiert. Diese Regime, haben die menschenunwürdige Ge­pflogenheit, den Arbeitsmann durch Trinkgelder zu erniedri­gen, so gründlich abgeschafft, daß der Arbeitsmann seinen Gram darüber im Alkohol ertränken muß. Daher der Name Trinkgeld. Das Ganze geht auf die programmatische Zielset­zung der sozialistischen Staaten zurück, einen neuen Men­schentypus zu schaffen, den klassenbewußten Proletarier, des­sen Arbeitsmoral ihm die Annahme von Trinkgeld verbietet. Leider müssen wir darauf verzichten, den Erfolg dieser Erzie­hungsmaßnahme zu untersuchen, da der in Rede stehende Proletarier vor sieben Jahren in Bulgarien gestorben ist.

Insgesamt läßt sich sagen, daß die werkenden Massen sich in dieser Angelegenheit bedeutend flexibler verhalten als ihre vorgesetzten Behörden. Es ist weniger das Trinkgeld als sol­ches, durch das sich die Massen in ihrer Selbstachtung verletzt fühlen, als vielmehr die geringe Höhe des Trinkgelds - das man im übrigen, um der Menschenwürde willen, einfach auf dem Tisch zurücklassen kann, von wo es der Kellner an sich nimmt. Dieses Verfahren birgt allerdings das Risiko einer freudigen Überraschung für den nächsten Gast.

Es muß hier noch auf einen Punkt hingewiesen werden, den sämtliche Moralisten, Reformer und Revolutionäre bisher übersehen haben. Das Trinkgeld fördert nämlich die soziale Gleichstellung. Der Kellner, der am Morgen den gegenüber­liegenden Frisiersalon aufsucht, verabschiedet sich dort mit einem reichlichen Trinkgeld, und wenn der Friseur am Mittag im gegenüberliegenden Restaurant seine Mahlzeit eingenom­men hat, gibt er dem Kellner das reichliche Trinkgeld wieder zurück. Das bewirkt ein vollkommenes Gleichgewicht zwi­schen zwei verschiedenen Klassen und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung klassenlose Gesellschaft dar.

All diese tiefschürfenden Überlegungen helfen indessen nicht zur Bewältigung des Grundproblems, wieviel Trinkgeld man geben soll.

Nüchtern betrachtet, erkauft man mit dem Trinkgeld das Lä­cheln des Empfängers oder zumindest seine Geneigtheit, von

Beschimpfungen Abstand zu nehmen. Daraus folgt, daß sich die Höhe des Trinkgelds nach der Festigkeit deines Charakters richtet. Je unsicherer du dich fühlst, desto höher wird die Be­stechungssumme sein, die du für ein paar flüchtige Augenblik­ke der Selbstbestätigung zu zahlen bereit bist. Die Schwierig­keit liegt darin, daß du dir in einem Sekundenbruchteil und ohne jede Hilfe darüber klar werden mußt, wieviel dir das Wohlwollen der betagten Matrone, die dir beim Verlassen des Kaffeehauses in den Mantel hilft, wert ist. Damit nicht genug, mußt du auch noch das Gehässigkeitspotential des jeweiligen Trinkgeldempfängers und seine Fähigkeit, dir durch eine ge­zielte Flegelei den Rest des Tages zu verderben, richtig ein­schätzen können. Wer kann das schon? Höchstens ein Compu­ter.

In der Schweiz wird das Trinkgeld von der Regierung gere­gelt, und zwar durch ein seltsam widersprüchliches System. Einerseits teilt dir die Saaltochter, die dich im alkoholfreien Tearoom bedient hat und der du ein paar Münzen zuschieben willst, hochnäsig mit, daß das Trinkgeld bereits im Rech­nungsbetrag eingeschlossen ist, andererseits mußt du dem Taxichauffeur auf behördliche Anordnung einen zehnprozen­tigen Zuschlag zum Fahrpreis entrichten. »Macht zehn Fran­ken und 1,50 für den Service«, gibt er dir am Bestimmungsort unwidersprechlich bekannt und deutet auf eine Affiche, die sicherheitshalber in zwei Sprachen am Schaltbrett angebracht ist: »Service nicht inbegriffen/Service not included« - ein ekla­tanter Widerspruch zu der Tatsache, daß du ja für den Service, was auf deutsch soviel heißt wie Dienstleistung, soeben 10 Franken bezahlt hast.

Natürlich wäre es einfacher, das Trinkgeld in den Fahrpreis einzuschließen. Macht 11,50 und damit gut. Warum das nicht geschieht, gehört zu den unerforschlichen Rätseln der Men­schenseele. Ich weiß nicht, warum die eidgenössischen Taxi­fahrer auf einer Trennung von Taxe und Trinkgeld bestehen. Ich weiß nur, daß sie um nichts glücklicher sind als ihre Kol­legen anderswo auf der Welt. Das von Amts wegen festgesetz­te Trinkgeld mag ihrem Berufsstolz förderlich sein. Aber es bringt sie um jenen unvergleichlichen Moment der Spannung, der das Trinkgeldgeben so überaus populär gemacht hat.

Das Trinkgeld gehört zum Dasein wie die Verkehrsampel und der Tod. Wir können es nicht abschaffen. Wir müssen mit dem Trinkgeld leben. Bleibt nur die Frage: Wieviel, um des Himmels willen, wieviel Trinkgeld gibt man?  

Ein Weltrekord an Dummheit

Für den Titel des dümmsten Menschen der Welt gibt es eine große Zahl von Anwärtern. Vor einiger Zeit wollte ich ihn an jenen zypriotischen Fremdenführer vergeben, der mir die Schönheiten der Insel erschloß, den Rückweg nicht finden konnte und schluchzend ausrief:

»Gestern war er noch da, das kann ich beschwören!«

Später lief ihm ein israelischer Verkehrspolizist den Rang ab, als ich in Herzlia mit den Außenaufnahmen zu meinen Film »Salach« beschäftigt war.

»Wie heißt der Film?« fragte er.

»Salach«, antwortete ich.

»Salach?« er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Den hab ich noch nicht gesehen...«

Aber selbst diese Rekord-Idiotie wurde vor kurzem über­boten. Ein Hotelportier in Barcelona erwies sich als un­schlagbarer Weltmeister. Ich hatte ihn von meinem Zimmer aus angerufen, und das Gespräch - es erfolgte in englischer Sprache, mit der er überaus radebrecherisch umging -nahm folgenden Verlauf.

»Ich fliege morgen nach Madrid«, begann ich. »Bitte bestel­len Sie für mich ein Hotelzimmer mit Bad.«

»Sie warten, ich nachschau, Herr«, antwortete der Portier und legte den Hörer hin. Nach einer Weile meldete er sich wieder: »Es leidtut mir, Herr. Wir haben kein Zimmer frei. Sie versu­chen nächste Woche.« Damit legte er den Hörer nicht hin, sondern auf.

Ich läutete aufs neue. »Sie haben mich schlecht verstanden. Ich brauche ein Zim­mer in Madrid, nicht hier.«

»Es leidtut mir, Herr, daß Sie sich Mühe machen und rufen noch einmal an von Madrid. Wir haben kein Zimmer. Sie bitte versuchen nächste Woche, Herr.«

»Uno momento!« rief ich in meinem besten Spanisch.

»Ich bin nicht in Madrid. Ich möchte ein Zimmer in Madrid haben.«

»Gewiß, Herr. Aber dieses Hotel ist nicht in Madrid. Dieses Hotel in Barcelona.«

»Das weiß ich.«

»Warum?«

»Weil ich hier wohne.«

»Sie wohnen?«

»Ja. Hier. Bei Ihnen.«

»Und mit Ihrem Zimmer Sie sind nicht glücklich?«

»Ich bin sehr glücklich mit meinem Zimmer, aber ich muß morgen nach Madrid fliegen.«

»Sie wollen, ich nehme herunter Ihr Gepäck?«

»Ja. Morgen. Nicht jetzt.«

»Ist in Ordnung, Herr. Gute Nacht, Herr.«

Abermals legte er auf, abermals läutete ich an.

»Das bin wieder ich. Der Mann, der morgen nach Madrid fliegt. Ich habe Sie gebeten, mir ein Zimmer mit Bad zu reser­vieren.«

»Sie warten, ich nachschau, Herr.« Die Pause von vorhin wiederholte sich. »Ich nachgeschaut habe. Es tutet leid mir, Herr. Unsere alle Zimmer sind belegt. Sie versuchen nächste-«

»Ich will kein Zimmer in diesem Hotel! Ich habe schon ei­nes! Ich wohne auf Nummer 206!«

»206? Moment, Herr... Nein, tutet mir leid. Zimmer 206 ist besetzt.«

»Natürlich ist es besetzt. Von mir.«

»Und Sie wollen anderes Zimmer?«

»Nein. Ich fliege morgen nach Madrid und möchte von Ihnen ein Zimmer reserviert bekommen.«

»Für morgen?«

»Ja.«

»Sie warten, ich nachschau... Mit Bad?«

»Ja.«

»Sie Glück haben, Herr. Ich für Sie Zimmer habe für morgen.« »Gott sei Dank.« »Zimmer 206 wird morgen frei.« »Danke.« »Bitte sehr, Herr. Sonst etwas noch, Herr?« »Einen Schnaps.« »Kommt sofort, Herr.«  

Die Brille, das unbekannte Wesen

Der Mensch ist ständig nach etwas auf der Suche - nach Glück, nach Liebe, nach Öl oder was immer. Manche suchen den heiligen Gral, manche den Stein der Weisen.

Schreiber dieses sucht seine Brille.

Sie geht unweigerlich verloren, kaum daß ich sie abnehme. Manchmal schon vorher. Sie scheint irgendwie zu verdamp­fen, Gläser, Fassung und Gestell. Es ist rätselhaft.

Meistens geschieht es, wenn ich etwas notieren will.

Da ich kurzsichtig bin - ich wurde schon kurzsichtig geboren -, schiebe ich die Brille über meine eindrucksvoll hohe Stirne hinauf, und schon ist sie verschwunden. Die Brille, nicht die Stirne. Auch wenn ich sie vor dem Schlafengehen auf meinen Nachttisch lege oder ihr einen sicheren Platz auf dem Rand der Badewanne zuweise, bevor ich ins Wasser steige, ist sie nach­her nicht mehr vorhanden. Sie hat sich irgendwo im Haus ver­steckt. Vielleicht auch außerhalb des Hauses, ich weiß es nicht, wenn ich es wüßte, müßte ich sie ja nicht suchen. Ich habe den Eindruck, daß sie mich haßt.

Die eigentliche Qual, der geradezu unlösbare Konflikt be­steht darin, daß jemand, der seine Brille verloren hat, sie nur mit Hilfe seiner Brille finden kann. Ohne Brille ist man halb blind und tastet hilflos durch die Gegend, einer kurzsichtigen Schlange vergleichbar, die sich in den eigenen Schwanz beißt und ihn auffrißt, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt. Oder von ihr.

Die Optiker, die ich zu Rate zog, bestätigten mir, daß Brillen zu jenen Gegenständen gehören, die leicht verlorengehen. Besonders hebräische Brillen lieben es, ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Ganz besonders solche mit dünner Fassung. Sie haben keinen richtigen Halt. Und es wäre zwecklos, sie etwa an einem Kettchen zu befestigen und sie vor der Brust bau­meln zu lassen wie ein Medaillon. Sie kennen ihren Karl

Marx: Brillengläser aller Länder, vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten! Schwupps - weg sind sie.

Mein Fall ist um so schlimmer, als ich nur wenig Dioptrien aufzuweisen habe, so daß mir auch bei bloßen Augen eine gewisse Sehkraft verbleibt. Es kann geschehen, daß ich mit meinem Wagen eine Viertelstunde lang durch eine merkwür­dig verwischte Gegend fahre, ehe ich merke, daß ich keine Brille habe. Oder ich suche sie verzweifelt in den Polsterspal­ten eines Fauteuils und entdecke sie schließlich auf meiner Nase. Leute mit dicken Brillengläsern kann so etwas nie pas­sieren. Nur unsereins ist ständig auf der Suche nach seiner Brille und wird wütend, wenn sie wieder einmal verschwun­den ist. Ich für meine Person pflege sie dann auf ungarisch zu verfluchen und trommle mit den Fäusten gegen die Wand, ehe ich Vernunft an- und die Rekonstruktion des Vorgangs auf­nehme.

»Wo habe ich sie zuletzt gesehen?« frage ich mich unter hef­tigem Blinzeln. »Wenn ich nicht irre - worauf man sich ohne Brille allerdings nicht verlassen kann -, hatte ich sie beim Le­sen der Morgenblätter noch in Gebrauch. Dann habe ich die Blechdose mit den Erdnüssen geöffnet. Dann habe ich mich rasiert. Halt!«

Das Rasieren liefert mir einen vielversprechenden Anhalts­punkt. Ich eile ins Badezimmer, suche, stöbere, kehre alles von oben nach unten und finde nichts. Auch die Erdnüsse und die Zeitungen lassen mich im Stich. Ich muß mich bis auf weiteres an den Nebel gewöhnen.

Plötzlich gegen Mittag, erscheint die Brille auf dem Klavier, und zwar auf den oberen Tasten. Wie sie dorthin gekommen ist, ahne ich nicht. Ich habe das letzte Mal im Alter von sieben Jahren Klavier gespielt.

»Wollen Sie damit sagen«, unterbricht mich an dieser Stelle der unfreundliche Leser, »daß Ihre Brille mit Ihnen Verstecken spielt?«

Ja. Genau das will ich sagen. Meine Brille führt ein eigenes Leben, sogar ein sehr munteres und vergnügtes. Kaum lege ich sie für einen Augenblick beiseite, entfernt sie sich auf Zehen­spitzen und geht verloren. Sie weiß, daß mich das ärgert. Des­halb tut sie's ja. Wenn ich sie dann irgendwo finde, wo sie nicht hingehört, zum Beispiel in der Vorhangschnalle am Fen­sterbrett oder im Kühlschrank unter den Steaks, grinst sie mich an und macht keinen Hehl aus ihrer Schadenfreude. Einmal habe ich sie sogar tief innen in unserem Fernsehapparat ent­deckt, wo sie die Drähte durcheinanderbrachte. Und während der letzten Hitzewelle fand sie ihren Weg bis aufs Dach hin­auf. Sie kann fliegen.

Manchmal nehme ich sie in Präventivhaft. Bevor ich schlafen gehe, sperre ich sie zwischen dem Bleistifthalter und dem Fa­milienfoto auf meinem Schreibtisch ein und memoriere noch im Bett:

»Zwischen den Bleistiften und der Familie, zwischen den Bleistiften und...«

Am Morgen führt mich mein erster Weg zum Schreibtisch. Bleistifte und Familie sind da, die Brille nicht. Ein paar Stun­den später setze ich mich ans Steuer meines Wagens, um in die Stadt zu fahren - und höre aus dem Fond ein leises Hallo. Es ist meine Brille.

Manchmal verschwindet sie für Tage, und ich reiße verge­bens die Tapeten von der Wand. Die einzig erfolgreiche Ge­genwehr besteht darin, sofort eine neue Brille zu bestellen. In der Regel taucht dann die alte fünf Minuten vor dem Anruf des Optikers auf, der mir mitteilt, daß die neue abholbereit ist. Sie wird in die Reserve versetzt, als diejenige, mit der man die andere sucht. Das funktioniert so lange, bis eine von beiden spurlos verschwindet. Beide zugleich gibt es immer nur für ganz kurze Zeit. Sie hassen einander.

Die beste Ehefrau von allen behauptet, daß die Misere nicht an den Brillengläsern liegt, sondern an mir, weil ich so zer­streut bin. Sie hat keine Ahnung von Brillenpsychologie. Also muß ich den Kampf allein ausfechten.

Eines Tages kam mir der geniale Einfall, unsere gemischte Rassehündin Franzi als Brillenjagdhund abzurichten. Ich ließ sie Witterung nehmen, indem ich die Gläser ausführlich an ihrer Nase rieb, dann versteckte ich die Brille im Garten, dann tappte ich nach Franzi, geleitete sie zu meiner Brille und gab ihr ein Stück Zucker als Finderlohn. Nach mehrmaliger Wie­derholung dieses Vorgangs führte ich gestern einen Test durch.

»Franzi!« rief ich. »Such die Augengläser!«

Franzi spitzte die Ohren, schnüffelte in die Luft und zog mich schnurstracks zum Zuckerbehälter. Ich konnte den Zucker verstecken, wo immer ich wollte - Franz kam ihm unfehlbar auf die Spur. Man kann sich auf das Witterungsvermögen von Hunden verlassen. Sie brauchen keine Brillen.

Nach langem Nachdenken habe ich jetzt die endgültige Lö­sung gefunden. Ich nehme meine Brillengläser nicht mehr ab. Ich wasche mich mit ihnen, ich weine mit ihnen, ich schlafe mit ihnen. Und ich träume von ihnen. Ich träume, daß ich sie verloren habe.

Am Morgen wache ich auf - und was muß ich feststellen? Ich habe sie verloren.  

Madeleine

Jüngst im Abenddämmer, als aus den Orangenhainen rings­um das heisere Lachen der Schakale ertönte und der Wind gelbe Wölkchen von Wüstensand herbeiblies, stand plötzlich Schultheiss in meinem Garten. Ich freute mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Er hatte sich nicht verändert, er war ganz der alte, elegante Schultheiss, jeder Zoll ein Intellek­tueller von Distinktion. Nur in seinen Augen, ich merkte es sofort, lag etwas sonderbar Trauriges.

Ich bot ihm Platz und einen Becher bekömmlichen Jor­danwassers an. Schultheiss nahm schweigsam einige Schluk­ke.

»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er dann.

»Tun Sie das getrost. Ich vermute, daß Sie deshalb herge­kommen sind.«

»Es war nicht leicht für mich, diesen Entschluß zu fassen. Aber ich ertrage es nicht länger. Ich muß mich jemandem an­vertrauen. Auch wenn ich ein höherer Regierungsbeamter bin, der seinen guten Ruf zu wahren hat.«

Ich goß ihm noch eine Portion Jordan nach und machte eine aufmunternde Geste.

»Wenn ich nur wüßte, wo ich beginnen soll«, begann er. »Sie kennen mich schon lange. Sie wissen, daß ich ein gesunder, ausgeglichener Mensch bin, der das volle Vertrauen seiner Vorgesetzten genießt.«

»Das sind Sie.«

»So scheint es jedenfalls dem oberflächlichen Betrachter. In Wahrheit jedoch, das dürfen Sie mir glauben, führe ich ein zutiefst einsames Leben. Ich bin Junggeselle, weil ich nie eine passende Gefährtin gefunden habe. Und dabei ging meine ganze Sehnsucht immer nach ein wenig Wärme. Aber ich habe sie nie gefunden - bis zu dem Augenblick, da Madeleine in mein Leben trat.«

Er starrte eine Weile in die Luft, ehe er fortfuhr:

»Der Mensch weiß ja nie, wann das Schicksal an seine Türe pocht. An jenem Tag ließ ich mir nichts davon träumen... Es war der dritte November vorigen Jahres.«

»Die Liaison dauert also schon sechs Monate?«

»Ja. Ich wachte damals mit einem Schüttelfrost auf und rief den Arzt, der eine fiebrige Grippe konstatierte und mir irgend etwas verschrieb. Mein Wohnungsnachbar ging in die Apo­theke, um es zu holen, und kam mit einer Schachtel zurück. Ich öffnete sie und fand einen größeren Gegenstand aus rosa­farbenem Gummi.«

»Eine Wärmflasche?«

»Eine ganz gewöhnliche Wärmflasche. Heimisches Er­zeugnis. Mit Metallverschluß. Nichts Besonderes... mein Gott, wie ich mich schäme!«

»Aber warum?«

»Es fällt mir so schwer, über Angelegenheiten der Intim­sphäre zu sprechen. Haben Sie Geduld mit mir!«

»Hab ich.«

»Ich erinnere mich genau. Als ich die Wärmflasche das erste Mal füllte, regnete es draußen und im Zimmer war's kalt. Ich legte mir die Flasche auf die Brust und... und... ob Sie's glau­ben oder nicht: zum erstenmal im Leben fühlte mein Herz etwas Wärme. Zum erstenmal im Leben war ich nicht allein. Können Sie mich verstehen?«

»Natürlich.«

»Da liegt dieses Ding neben Ihnen, dieses warme, weiche Ding, und seine einzige Aufgabe besteht darin, Ihnen das Le­ben zu erleichtern. Ich war ihr so dankbar, meiner Madeleine.«

»Wie bitte?«

»So nannte ich sie. Madeleine. Gleich von Anfang an. War­um Madeleine? Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich einmal in Paris ein Mädchen namens Madeleine geliebt. Vielleicht wollte ich sie nur lieben. Oder vielleicht wollte ich nur nach Paris fahren. Wie immer dem sei - von jetzt an konnten mir die Stürme des Lebens nichts mehr anhaben. Ich hatte meine Ma­deleine bei mir, unter der Decke. Finden Sie das absurd?«

»In keiner Weise. Sehr viele Menschen verwenden Wärmfla­schen.«

»Sie schätzen das nicht ganz richtig ein. Bedenken Sie doch: Wenn ich kalte Füße habe - Madeleine wärmt sie. Schmerzen in der Hüfte - Madeleine vertreibt sie. Ich kann sie mir auch auf den Bauch legen, wenn ich will. Ihre Möglichkeiten sind unbegrenzt. Und Madeleine bleibt immer bescheiden, immer loyal, immer dienstbereit. Alles, was sie verlangt, ist ein wenig heißes Wasser. Ich wollte es mir lange nicht eingestehen, aber es läßt sich nun einmal nicht leugnen. Ich...«

»Sie haben sich in sie verliebt?«

»Ja, so könnte man's sagen. Ich muß immer an Pygmalion denken. Sie kennen doch die wunderschöne Geschichte von diesem englischen Sprachforscher, der sich in eine Statue der Aphrodite verliebt. So ähnlich liegt mein Fall. Manchmal fra­ge ich mich, wie ist es möglich, daß ein erwachsener, intelli­genter Mensch nach einer nichtssagenden, unscheinbaren Wärmflasche verrückt ist. Es gibt weiß Gott viel schönere und größere. Aber ich will nur meine kleine Madeleine. Ich muß sogar gestehen, daß ich eifersüchtig auf sie bin.«

»Sie betrügt Sie?«

»Sie hat mich schon einmal betrogen.« Schultheiss zündete sich eine Zigarette an und begann nervös zu paffen. »Es war nicht ihre Schuld. Es lag an den Umständen. Vor ein paar Mo­naten war Madeleine undicht geworden. In meiner rasenden Verliebtheit wollte ich sie immer noch wärmer haben und hatte sie mit so heißem Wasser angefüllt, daß sie an der Seite eine Brandwunde erlitt und zu tropfen begann. Ich war ver­zweifelt. Ich ging mit ihr zum berühmtesten Wärmflaschen­spezialisten, den wir haben - und dort geschah das Schreckli­che. Als ich sie am Abend abholen wollte, drückte mir dieser Verbrecher eine vollkommen Fremde in die Hand. Er hatte sie mit einer anderen verwechselt. Ich glaube nicht, daß er es ab­sichtlich getan hat, aber das ist keine Entschuldigung. Ich ließ mir ein Verzeichnis seiner Kundschaften geben und suchte

Madeleine in der ganzen Stadt, straßauf, straßab. Gegen Mit­ternacht fand ich sie endlich, im Bett eines dicken, ächzenden Gemischtwarenhändlers... dort fand ich sie...«

»In flagranti?«

Schultheiss konnte nur wortlos nicken.

»Seither habe ich sie nie mehr aus den Augen gelassen. Oft wache ich in der Nacht schweißgebadet auf, weil mir geträumt hatte, daß sie tropft. Meine Angstzustände wurden so schlimm, daß ich eine Eheberatungsstelle aufsuchte. Man untersuchte mich und fand, daß es für mich nur eine einzige Lösung gäbe: eine neue Wärmflasche zu kaufen, um den zerstörerischen Einfluß, den Madeleine auf mich ausübte, endlich auszuschal­ten.«

»Haben Sie eine gekauft?«

»Ja. Sie liegt ungebraucht in der Schublade. Ich weiß sehr wohl, daß ich nach dem Gesetz berechtigt bin, mir zwei Wärmflaschen zu halten. Aber man kann mich doch nicht zwingen, beide zu verwenden?«

»Gewiß nicht.«

»Madeleine und ich sind fürs Leben verbunden. So ist es nun einmal, und dagegen kann man nichts tun.«

»Lassen Sie sich gratulieren. Es geschieht nur selten, daß ei­ne so tiefe menschliche Beziehung zustande kommt.«

»Warten Sie. Sie wissen noch nicht alles. Ich habe Ihnen den Anlaß meines Besuchs noch nicht erzählt. So schwer es mir fällt -ich muß zugeben, daß es einen ganz bestimmten Um­stand gibt, der unser glückliches Zusammenleben trübt. Sehen Sie - diese Wärmflaschen haben nur eine begrenzte Wirkungs­dauer, und selbst Madeleine bleibt nicht länger als vier oder fünf Stunden heiß. Und dann... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll...«

»Sie wird frigid?«

»Danke. Ich danke Ihnen, daß Sie mir das abgenommen ha­ben. Denn bei all meiner Liebe zu Madeleine muß ich geste­hen, daß es kaum etwas Unangenehmeres gibt, als mit einer erkalteten Wärmflasche in Berührung zu kommen. Und wenn das geschieht, wenn ich beispielsweise kurz vor dem Einschla­fen dieses kalte Gummizeug an meinen Füßen spüre, dann befördere ich Madeleine mit einem Fußtritt aus dem Bett hin­aus.«

»Nein!«

»Barbarisch, nicht wahr. Und am Morgen, wenn ich aufwa­che und das arme Ding auf dem Fußboden liegen sehe, schlaff und erschöpft...« Schultheiss begann zu weinen. »Ich schäme mich vor mir selbst. Ich hätte nie gedacht, daß ich so grausam sein kann. Solange sie heiß ist, halte ich sie in meinen Armen, herze und kose sie -und kaum wird sie kalt, behandle ich sie wie einen Fetzen, schleudere sie zu Boden, trete nach ihr. Was hilft es mir, daß ich am Morgen vor ihr niederknie und ihr schwöre, es nie wieder zu tun. Ich tu's ja doch...«

Verzweifelt barg Schultheiss das Gesicht in den Händen. Er war dem Zusammenbruch nah.

»Helfen Sie mir!« wimmerte er. »Erlösen Sie mich von die­ser Misere! Geben Sie mir einen Rat!«

Ich dachte lange und angestrengt nach.

»Schultheiss« sagte ich endlich. »Ich glaube, daß ich die Lö­sung gefunden habe. Ob's auch wirklich funktionieren wird, weiß ich nicht, aber man kann es jedenfalls versuchen.«

»Was?« fragte Schultheiss begierig. »Was?!«

»Wenn Sie merken, daß die Flasche kalt wird, dann stehen Sie auf und füllen Sie heißes Wasser nach!« Ein Leuchten ging über Schultheissens gramzerfurchtes Gesicht. Er stand auf, drückte mir wortlos die Hand und entfernte sich, torkelnd vor Dankbarkeit.  

Ein kapriziöses Persönchen

Klopfen wir auf Holz«, sagte ich beim Abschied zur besten Ehefrau von allen. »Jetzt fahren wir unseren lieben kleinen Wagen schon zwei Jahre, und er weiß noch immer nicht, wie eine Reparaturwerkstätte von innen aussieht!«

Ich winkte ihr zu und fuhr los.

Als ich kurz danach aufs Gas stieg, begann unser lieber klei­ner Wagen, seiner französischen Herkunft wegen »Mademoi­selle« geheißen, vehement zu husten und zu stottern, vollführ­te einen Riesensprung nach vorn, dann nach hinten, produzier­te ein wahres Sperrfeuer von Fehlzündungen und hatte gerade noch Kraft genug, um die Werkstatt von Mike dem Auswechs­ler zu erreichen.

Mike ist mein Lieblingsmechaniker, ein hervorragender Fachmann, ein angenehmer, gefälliger, fleißiger Zeitgenosse mit einem goldenen Herzen und einem einzigen, allerdings verhängnisvollen Laster: Er wechselt leidenschaftlich gern Bestandteile aus. Bei der geringsten Erwähnung eines Autobe­standteils, sei's auch in lobendem Sinn, bricht unwiderstehlich sein Tatendrang hervor, und in Sekundenschnelle ist der be­treffende Bestandteil durch einen neuen ersetzt. Der alte er­weist sich dann immer als schadhaft, zumindest für Mikes scharfe Augen. Ich meinerseits kann noch so angestrengt hin­schauen und sehe keinen Schaden.

»Wenn Sie ihn sehen könnten«, belehrte mich Mike ein we­nig von oben herab, »hätte der Wagen sich nicht mehr von der Stelle gerührt.«

Angeblich hat Mike schon manch ein Fahrzeug komplett ausgewechselt, Stück für Stück. Man darf seiner Gründlichkeit blindlings vertrauen.

Ich brachte ihm also meine vom Heuschnupfen befallene Mademoiselle, stieg aus und schilderte ihm, was geschehen war.

Mike setzte sich ans Steuer, startete, trat aufs Gas - und Ma­demoiselle hustete weder noch spuckte sie, gab keine Fehl­zündungen von sich und keinerlei störendes Motorengeräusch.

»Der Wagen ist vollkommen in Ordnung«, sagte Mike. »Ich weiß nicht, was Sie wollen.«

Um sicher zu gehen, öffnete er die Haube, kontrollierte den Vergaser und wechselte einen Verteilerarm aus.

Ich fuhr ab. Mademoiselle glitt majestätisch die Straße ent­lang.

An der nächsten Straßenecke erlitt sie einen neuen, heftigen Hustenanfall, dem eine Fehlzündungskanonade folgte.

Wütend kehrte ich zu Mike zurück. Er ließ ein anderes inzwi­schen angelangtes Opfer stehen, startete Mademoiselle und fragte: »Wollen Sie mich zum Narren halten?«

Ich schwor ihm, daß Mademoiselle, kaum daß wir ihn verlas­sen hatten, in ihren alten Husten verfallen war.

Mike schnitt eine Grimasse, wechselte zwei Zündkerzen aus (sie waren schadhaft) und sagte:

»Sie sollen bis ans Lebensende so gesund sein wie dieser Wagen.«

Ohne zu wissen, womit ich mir diesen Fluch verdient hatte, fuhr ich los. Diesmal dauerte es etwas länger, ehe Mademoi­selle ihren nächsten Anfall bekam. Ich fühlte, wie mir das Blut zu Kopf stieg, aber da half nichts. Ich ließ den Wagen stehen und begab mich zu Fuß in die Werkstatt.

»Mike«, sagte ich, »Sie müssen mit mir kommen.«

Mike verfärbte sich, und die Ausdrucksweise, derer er sich bediente, ließ an Ordinärheit nichts zu wünschen übrig. Er hätte den Wagen nun schon zweimal kontrolliert, sagte er, und ich verstünde vielleicht etwas vom Schreiben, aber in bezug auf Autos wäre ich ein Analphabet.

Schließlich gab er meinen flehentlichen Bitten nach und ging mit mir.

Mademoiselle erwartete uns am Straßenrand. Mike startete sie.

»Zum Teufel!« brüllte er. »Der Wagen läuft wie ein Uhr­ werk!«

»Ja, jetzt«, brachte ich zitternd hervor. »Aber fahren Sie doch einmal mit ihr.«

Wir fuhren eine halbe Stunde in einer zum Bersten ange­spannten Stimmung. Wohlgelaunt war nur Mademoiselle. Sie ging mit unbeschreiblicher Eleganz in die Kurven, steigerte beim Überholen mühelos ihr Tempo und gebärdete sich über­haupt musterhaft.

Wieder in der Garage angelangt, wandte sich Mike mit an­gewidertem Gesichtsausdruck an mich,

»Hysterie ist eine gefährliche Krankheit. Sie brauchen eine Behandlung, nicht der Wagen.«

»Mike, bitte glauben Sie mir!« Ich lag beinahe im Staub vor ihm. »Solange Sie da sind, macht der Wagen keine Schwierig­keiten. Aber wenn er weiß, daß er mit mir allein ist...«

»Blödsinn.«

»Tun Sie mir einen einzigen Gefallen, Mike«, flüsterte ich. »Sagen Sie laut und deutlich >Schalom, auf Wiedersehen<, schlagen Sie die Tür zu und tun Sie so, als ob Sie weggingen. Aber in Wirklichkeit bleiben Sie neben mir sitzen.«

»Sind Sie verrückt geworden?« Mike wandte sich zornig ab. Er weigerte sich sogar, irgendeinen Bestandteil auszuwech­seln.

Schweren Herzens machte ich mich auf den Heimweg. Eine Weile ging es ganz gut. Aber in der Arlosoroffstraße fing es wieder an. Und diesmal war es kein gewöhnlicher Husten, sondern ein richtiges Asthma.

Ich drehte um, Richtung Werkstatt. Zwischen den einzelnen Fehlzündungen probte ich den Text für Mike.

»Da bin ich wieder«, sagte ich. »Mademoiselle macht immer noch die alten Mucken. Hören Sie selbst, Mike.«

Und während ich so sprach - zuerst wollte ich's gar nicht glauben - aber es konnte kein Zweifel sein: Während ich noch sprach, verfiel Mademoiselle allmählich in eine normale Gangart.

»Hören Sie mich, Mike?« Ich steigerte meine Stimme.

»Was habe ich Ihnen gesagt? Jetzt glauben Sie mir hof­fentlich, Mike.«

Mademoiselles Tempo war klaglos und gleichmäßig. Das Summen ihres Motors klang wie Musik.

Und dabei ist es seither geblieben. Wenn sie mich mit Mike sprechen hört, benimmt sie sich wie ein wohlerzogenes Auto. Die kleine Anstrengung und das gelegentliche Kopfschütteln der Passanten, besonders wenn die Verkehrsampel auf Halt steht, muß ich eben auf mich nehmen.  

Ein authentisches Interview

Schalom, Herr Tola'at Shani. Entschuldigen Sie, mein Name ist Ben. Man hat mich von der Redaktion hergeschickt. Zu Ihnen. Das heißt: für ein Interview.«

»Nehmen Sie Platz, mein Junge. Ich stehe zur Verfügung.«

»Keine schlechte Bude, die Sie da haben. Höchste Klasse. Mein Ehrenwort. Unterkellert?«

»Soviel ich weiß, ja.«

»Und mit Vorgarten. Solche Hütten sind besonders teuer, nicht wahr?«

»Allerdings.«

»Ja, also wie gesagt. Ich soll Sie über den historischen Ro­man interviewen, den Sie geschrieben haben. Sie haben ihn doch geschrieben, wie?«

»Ich habe das Werk soeben fertiggestellt.«

»Großartig. Also Sie sind fertig damit. Wie heißt es?«

»Du bist aus Staub.«

»Warum duzt du mich plötzlich?«

»Es ist der Titel meines neuen Buches.« »Ach so. Wird be­stimmt ein Bombenerfolg. Wie alle Ihre Bücher. Sie schreiben ja lauter Bombenerfolge.«

»Ich tue mein Beste. Ob es mir glückt, haben die Leser zu beurteilen.«

»Goldene Worte. Und warum, Herr Tola'at Shani, haben Sie diesen Staub, also diesen Roman oder was es ist, ich meine, warum haben Sie das Buch geschrieben? Gerade jetzt?«

»Bitte drücken Sie sich etwas präziser aus, mein Junge.«

»Okay. Mir kann's recht sein. Macht keinen Unterschied für mich. Ich meine, was ich wissen will: Wovon handelt das Zeug?«

»Wenn ich Sie richtig verstehe, wollen Sie die Story meiner jüngsten Schöpfung kennenlernen.«

»Die Story, ganz richtig. Hab ich ja gesagt.«

»Vielleicht sollten Sie sich Notizen machen, lieber Freund.«

»Brauch ich nicht. Ich behält's im Kopf. Alles. Auch die Sto­ry. Was ist die Story?«

»Mein Roman läßt ein Panorama menschlicher Schwächen und Leidenschaften erstehen. Er spielt im Zweiten Weltkrieg. Sein Held ist ein Soldat der Jüdischen Brigade. Die junge, hübsche Tochter des Bürgermeisters einer kleinen süditalieni­schen Stadt verliebt sich in ihn...«

»Weil Sie >Soldat< sagen - da kommen doch bestimmt ein paar erstklassige Keilereien vor, nicht?«

»Wie bitte?«

»Keilereien. Ich meine Kämpfe.«

»Nun ja, ich beschreibe auch einige Kampfhandlungen, aber mehr nebenbei. In der Hauptsache geht es um den inneren Konflikt, den der grausame Krieg in der Seele unseres Solda­ten auslöst.«

»Was heißt das - unseres Soldaten? Wessen Soldat ist er?«

»Der Soldat des Romans.«

»Das sollten Sie deutlich sagen. Also was ist los mit ihm?«

»In der Brust dieses Soldaten tobt ein Kampf zwischen sei­nem glühenden Patriotismus und seinen Haßgefühlen gegen die Unmenschlichkeit des Krieges.«

»Wer gewinnt? Und was ist das für ein Bild?«

»Welches Bild?«

»Das an der Wand dort drüben.«

»Das ist kein Bild, junger Mann. Das ist mein Diplom.«

»Diplom. Sehr gut. Ein Diplom für was? Macht nichts. Also, Ihr Buch über Italien ist eine wahre Geschichte.«

»In gewissem Sinn. Die Szenerie ist authentisch, aber die Story als solche ist eine thematische Variation der >Antigone< von Sophokles.«

»Wovon?«

»Sophokles. Ein griechischer Tragödienschreiber.«

»Kenn ich. Da haben Sie ganz recht. Aber Sie sagten vorhin etwas gegen den Krieg.«

»Antigone war die Tochter von König Oedipus.«

»Natürlich. Oedipus. Das ist der mit der Psychoanalyse. Nicht schlecht. Also das ist Ihre Story, sagen Sie.«

»Die Story selbst hat notwendigerweise lokalen Charakter. Aber ihre Botschaft ist universell. Eine Art Bestandsaufnahme unseres Zeitalters. Sollten Sie nicht noch ein paar Notizen machen, lieber Freund?«

»Wozu? Ich merk mir alles. Machen Sie sich keine Sorgen. Was noch... ja, richtig: Sind Sie außer sich vor Freude?«

»Worüber?«

»Wenn einer etwas fertig geschrieben hat, muß er doch vor Freude außer sich sein. Sind Sie außer sich?«

»Hm. Vielleicht. Ich glaube schon.«

Das Interview, wie es erschien:

»ICH BIN AUSSER MIR VOR FREUDE!« SAGT DER AUTOR DES ROMANS »DER STAUBSAUGER« UNSEREM MITARBEITER IN EINEM EXKLUSIVINTERVIEW

Der bekannte Schriftsteller Tola'at Shani empfing mich in seinem Heim zu einem Exklusivinterview.

Anlaß war das Erscheinen seines neuen Romans, dem der Autor einen Bombenerfolg prophezeit.

Ich sitze dem Dichter in seinem geschmackvoll möblierten Studio gegenüber und betrachte sein scharfgeschnittenes Pro­fil, die hagere Gestalt, die schmalen, nervösen Finger. Durch das Fenster hat man einen guten Blick auf die umliegenden Häuser. Es ist später Nachmittag.

Tola'at Shani: »Wie gefällt Ihnen mein Haus?«

Ich: »Nicht schlecht.«

T.Sh.: (stolz) »Es hat einen eigenen Vorgarten, dreieinhalb Zimmer und fließendes Wasser. Solche Häuser sind sehr, sehr teuer.«

Ich: »Darf ich Sie nach der Story Ihres neuen Romans fra­gen?«

T.Sh.: »Aber gern. Bitte sehr. Also die Story. Da ist dieser Major der Jüdischen Brigade, denn die Geschichte spielt aus­wärts, an einem Sonntag, und es gibt eine Menge von Schieße­reien und sonstigen Zusammenstößen, kurz und gut, ein fürch­terliches Durcheinander, und diese junge Tochter in der italie­nischen Stadt, eine Figur, also klassisch, wie ein Filmstar, und die hat ein Verhältnis mit einem Jungen, einem Schriftsteller, der immer vor sich hinträumt, ein Tagträumer, ein Traumtän­zer...«

Ich: »Einer unserer Soldaten, nicht wahr?«

T.Sh.: »Richtig. Zu Hause geht er noch auf die Universität, der Soldat, und studiert alles mögliche. Aber jetzt, als Soldat, gerät er in einen Konflikt, also in einen Rivalitätskampf um dieses Mädchen. Sie heißt Shula...«

Ich: (unterbrechend) »Einen Augenblick, lieber Freund. Shu­la - das klingt wie eine griechische Tragödie.«

T. Sh.: »Stimmt. Sie haben den Nagel auf den Kopf getrof­fen. Und dieses Mädchen, wie heißt sie gleich, ist gegen den Krieg und ist verrückt nach... nach...«

Ich: »Oedipus?«

T. Sh.: »Genau. Ich habe das so konstruiert, um den Komplex direkt aus der Tragödie von Sypholux herauszuarbeiten. Viel­leicht hätte ich Ihnen sagen sollen, daß unser Soldat ein wenig zur anderen Fakultät tendiert. Sie verstehen mich. Aber er zeigt es nicht. Es ist übrigens eine wahre Geschichte.«

Ich: »Könnte man sagen, daß es sich um eine Bilanz des Atomzeitalters handelt?«

T. Sh.: (überrascht) »Sie glauben?« Ich: »Unbedingt.«

T. Sh.: »Na schön. Ich pflege nicht um den heißen Brei her­umzureden, wissen Sie. Dort drüben an der Wand hängt mein Diplom.«

Ich: »Großartig, Tola'at Shani.«

T. Sh.: »Diplome bekommt man nicht nur so, das wissen Sie ja sicherlich. Sonst noch etwas?«

Ich: »Noch eine letzte Frage: Sind Sie froh, daß Sie mit dem >Staubsauger< fertig geworden sind?«

T. Sh.: »Ich bin außer mir vor Freude.«  

Ein dreifaches Jubiläum

Unversehens rannte ich in Gideon Cheschwan hinein, einen Veteran unter Israels Autoren. Während wir zusammen wei­tergingen, kamen wir auf die gespannte politische Lage zu sprechen.

»Ich bin optimistisch«, sagte Cheschwan. »Vielleicht erleben wir noch, daß die Araber mit uns Frieden schließen.«

»Das hoffe ich auch«, erwiderte ich. »Aber solange sie von Diktatoren beherrscht werden, sehe ich keine großen Chan­cen.«

Cheschwan klopfte mir wohlwollend auf die Schulter: »Sie sind noch jung und haben Zeit. Was mich betrifft, so werde ich am 25. Oktober 55. Das ist übrigens ein dreifaches Jubiläum für mich. Genau vor 35 Jahren erschien an diesem Tag meine erste Sammlung von Kurzgeschichten, und vor 30 Jahren be­gann mein eigentlicher Aufstieg als Schriftsteller. Seither bin ich literarisch so fruchtbar wie kaum ein zweiter.«

»Wenn man nur sicher sein könnte, ob die Ägypter es ehrlich meinen!« warf ich ein.

Cheschwan ließ sich nicht beirren:

»In der Zeitspanne, die ungefähr im Herbst 1936 zu Ende ging, habe ich mich als meisterhafter Erzähler und formstarker Lyriker erwiesen. Aber die Ereignisse führten mich bald zu meiner wahren Berufung: Träger einer prophetischen Bot­schaft zu sein, die mein schlafendes Volk aufwecken würde. Dazu bin ich ausersehen und dabei bleibt's für den Rest meines Lebens, nicht nur bis zum 25. Oktober, dem Tag, an dem ich ein dreifaches Jubiläum begehe. Denn an diesem Tag wird es genau 35 Jahre her sein, seit meine erste Sammlung von Kurz­geschichten -«

»Um Himmels willen!« unterbrach ich mit einem besorgten Blick auf meine Armbanduhr. »Ich bin ja schon eine halbe Stunde verspätet!« Und ich verließ ihn eilenden Fußes.

Wochen später, als ich die Begegnung längst vergessen hatte, berief mich der Redakteur unserer Literaturseite zu sich und legte mir einen eingeschriebenen Brief des folgenden Inhalts vor:

Sehr geehrter Herr! In der Nummer vom 20. September Ihres geschätzten Blattes sah ich ein Inserat, in dem »ein herrliches Haus« angepriesen wurde. Vielleicht interessiert es Sie, daß diese Wendung schon in der Bibel mehrmals vorkommt (u. a. Jesaia 64,11: »Unser heiliges und herrliches Haus«). Bei die­ser Gelegenheit möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich am 25. Oktober SS Jahre alt werde. Zufällig ist dieser Tag zugleich das 35jährige Jubiläum des Erscheinens meiner ersten Kurzge­schichtensammlung und das 30jährige Jubiläum meiner frucht­baren literarischen Tätigkeit, so daß er für mich ein dreifaches Jubiläum bedeutet. »Und so«, um den bekannten Schriftsteller Ephraim Kishon zu zitieren, »hat der einstige Talmudstudent seinen Weg vom Haus des Rabbi zum Gipfel des Ruhms ge­nommen und wird sich am 25. Oktober als poeta laureatus des hebräischen Schrifttums präsentieren.« Ich darf noch hinzufü­gen, daß der oben erwähnte biblische Ausdruck sich bis heute in unserem täglichen Sprachgebrauch erhalten hat. Es grüßt Sie respektvoll

Ihr ergebener Gideon Cheschwan.

»Was ist das?« fragte mich mit vor Nervosität zitternder Stimme der Literaturredakteur, nachdem ich ihm den Brief zurückgegeben hatte. »Was bedeutet das?«

»Keine blasse Ahnung«, gab ich nicht minder nervös zurück. »Woher soll ich das wissen? Ich bin ja gar nicht hier. Ich exi­stiere überhaupt nicht. Bitte vergessen Sie mich.«

Grußlos rannte ich hinaus, fest entschlossen, mich bis auf weiteres nicht in der Redaktion zu zeigen.

Die Dinge nahmen ihren unvermeidlichen Lauf. Gideon Che­schwans 55. Geburtstag lag immer drückender in der Luft.

Man spürte bei jedem Atemzug, daß zu seinem dreifachen Jubiläum ein großer Empfang stattfinden würde. Je näher der Unglückstag herannahte, desto häufiger sah man Angehörige der Schreiberzunft schreckensbleich nach dem Süden des Lan­des fliehen. Andere versiegelten ihre Wohnungstüre und schlössen sich ein, wieder andere begaben sich in Spitalspfle­ge. Die von Cheschwan frequentierten Straßen lagen entvöl­kert, die Kaffeehäuser leerten sich schlagartig, sobald er auf­tauchte. Aber niemand machte sich ernsthafte Hoffnungen, dem Schicksal entgehen zu können.

»Vor ein paar Tagen«, so informierte mich einer meiner Freunde, der Dichter, L. Grinboter, »erschien Cheschwan plötzlich in meinem Haus in Sichron Jakov und bat mich um Tinte für seine Füllfeder. Angeblich war ihm zu Hause in Tel Aviv die Tinte ausgegangen. Während er seine Feder füllte, äußerte er wie von ungefähr, daß ihm die Tinte hoffentlich bis zum 25. Oktober reichen würde, seinem 55. Geburtstag, der zugleich ein dreifaches Jubiläum und ein Meilenstein in der Geschichte der israelischen Literatur darstelle. Und ich würde doch sicher nicht versäumen, davon gebührend Notiz zu neh­men.

Was soll ich tun? Und warum gerade ich? Du kennst ihn doch viel besser.«

Nach einigem Hin und Her beschlossen wir, das Los ent­scheiden zu lassen. Ich war dumm genug, »Adler« statt »Kopf« zu wählen, und verlor. Damit war ich verurteilt, einen Jubiläumsartikel über Cheschwan zu schreiben, was ein sorg­fältiges Quellenstudium erforderte. Ich lieh mir eines seiner Bücher aus, las es gewissenhaft bis zur Mitte der Seite 6 und konsultierte zur Sicherheit auch noch das »Who's Who in Isra­el«. Dann, in Erfüllung des Auftrags, der mir von Grinboter und ein paar anderen zugewiesen worden war, fand ich mich bei Gideon Cheschwan ein.

»Ich komme mit einer guten Nachricht, Herr Cheschwan. Ei­ne Gruppe Ihrer Freunde und Bewunderer möchte aus Anlaß Ihres 55. Geburtstags eine kleine, intime Jubiläumsfeier für Sie veranstalten.«

»Für mich?« fragte Cheschwan in fassungslosem Erstaunen. »Eine Feier für mich? Sie müssen verrückt geworden sein, mein Lieber. So etwas brauche ich nicht. Sparen Sie sich die Mühe.«

»Nein, nein«, widersprach ich. «Gideon Cheschwan hat An­spruch darauf, gefeiert zu werden. Bitte stimmen Sie zu! Bit­te!«

Cheschwan überlegte eine Weile, dann schüttelte er den Kopf.

»Es geht nicht. Die Zeiten sind zu ernst. Womit hätte ich eine solche Feier verdient? Ich habe getan, was ich tun mußte. Ge­wiß, ich habe es besser getan als die meisten anderen. Gewiß, die Jugend unseres Landes verehrt mich. Aber das ist mir Lohns genug. Ich bitte Sie, den Plan eines Festempfangs im Mann-Auditorium aufzugeben. Und ich bestehe darauf, daß Sie den Unterrichtsminister, den Parlamentspräsidenten und die führenden Persönlichkeiten unseres öffentlichen Lebens sofort davon verständigen. Am 25. Oktober um 21 Uhr findet im Mann-Auditorium keine Jubiläumsfeier statt, bitte sorgen Sie dafür...«

Es wurde eine wunderschöne Feier im Mann-Auditorium. Nach der Eröffnungsrede des Unterrichtsministers schilderte I. L. Grinboter in schwungvollen Worten den Weg des einstigen Talmudstudenten vom Haus des Rabbi zum Gipfel des Ruhms, wobei er besonders die im Herbst 1936 erfolgte Wandlung des Dichters hervorhob, dem damals seine eigentliche Berufung innegeworden war: als Prophet eines schlafenden Volkes zu wirken.

Gideon Cheschwan saß an der Spitze der Tafel. Tränen strömten über sein Gesicht. Es war der schönste Tag seines Lebens. Man hatte ihn nicht vergessen.  

Eine einfache Rechnung

Zalman Weintraub, Inhaber der führenden Spielwarenfabrik Jerusalems, hatte mich beauftragt, eine schwungvolle Dankre­de zur Beantwortung der Glückwunschadressen zu verfassen, die seine Angestellten und Bewunderer auf einer anläßlich seines fünfzigjährigen Geschäftsjubiläums stattfindenden Feier an ihn richten würden. Als Honorar für seine spontane Ant­wort bot mir Herr Weintraub die Summe von 460 Shekel -eine unverhoffte Bereicherung, über die ich im ersten Augen­blick hocherfreut war. Mit Hilfe einiger arithmetischer Grund­gesetzte entdeckte ich jedoch, daß zur Freude kein Anlaß be­stand: Ich müßte mit meinem Wagen zweimal nach Jerusalem fahren, und der Treibstoff allein würde mich mehr kosten, als mir nach Abzug der Einkommenssteuer von meinem Honorar übrigblieb.

»Berate dich mit einem Fachmann«, sagte die beste Ehefrau von allen. »Geh zu Spielberger.«

Spielberger ist der bedeutendste Steuerexperte, den wir ha­ben, ein Mann von ungewöhnlichem Scharfblick, der auch die winzigste Lücke in den Steuergesetzen erspäht. Das glückt ihm um so eher, als er diese Gesetze zur Zeit seiner Tätigkeit im Finanzministerium selbst formuliert hat.

Er hörte mir mit gerunzelten Brauen zu.

»Die Frage«, begann er sodann, »die Frage ist: Verdienen Sie mehr als 220 Shekel im Monat?«

»Leider ja.«

»Haben Sie die Absicht das Land zu verlassen? Für Emi­granten gibt es gewisse Ausnahmebestimmungen.«

»Ich bleibe.«

»Das ist eine schwierige Situation. Könnten Sie nicht mit dem Taxi nach Jerusalem fahren?«

»Nein. In diesen großen Wagen wird mir übel, weil sie so schaukeln.«

»Setzen Sie sich neben den Fahrer.«

»Das kann ich nicht riskieren. Im letzten Augenblick steigt eine schwangere Frau ein, der ich meinen Platz abtreten muß.«

»Kommen Sie morgen wieder«, sagte der Steuerfachmann. »Ich werde nachdenken.«

Damit war ich entlassen.

Am nächsten Tag empfing er mich mit der Mitteilung, daß es zwei Möglichkeiten gäbe.

»Die erste ist verhältnismäßig einfach. Ihre Frau erwirbt eine mit Verlust arbeitende Firma und fungiert als Ihr literarischer Agent.«

»Sehr gut. Es kann ja nicht schwer sein, eine solche Firma zu finden.«

»Gewiß nicht«, bestätigte Spielberger. »Aber Sie dürfen, das ist eine unerläßliche Bedingung, in keiner wie immer gearteten Form mit dieser Firma persönlich in Zusammenhang stehen, da Sie ja von ihr geschäftlich vertreten werden. Haben Sie Scheidungspläne?«

»Noch nicht.«

»Dann müssen wir uns nach etwas anderem umsehen. Die Firma Ihrer Frau wird das gesamte Honorar aus Jerusalem eintreiben und keine Steuer dafür zahlen, denn der Betrag dient dazu, das Debetsaldo der Firma zu verringern.«

»Eine glänzende Idee!«

»Warten Sie. Wenn das Geld aufs Firmenkonto verbucht wird, erhebt sich sie Frage, wie wir es wieder herausbe­kommen. Ihre Frau kann es nicht einfach als Gehalt abziehen, sonst müßte sie dafür Steuer zahlen.«

»Entsetzlich.«

»Es gibt einen Ausweg. Die Firma Ihrer Frau gründet eine Tochtergesellschaft im Namen Ihres Sohnes und schließt für Sie eine Lebensversicherung in Höhe des von Weintraub an Sie gezahlten Honorars ab. Wie Sie wissen, sind Lebensversi­cherungen steuerfrei.«

»Muß ich deshalb sterben?«

»Nicht unbedingt, obwohl es die ideale Lösung wäre. Es gibt eine bestimmte Art von Versicherungen, in Fachkreisen >der lebende Tote< genannt, die man nach drei Jahren kündigen kann, und dann bekommt man die Versicherungssumme in bar ausbezahlt.«

»Großartig!«

»Allerdings besteht die Gefahr, daß die Behörden diesen Versicherungsabschluß als Scheingeschäft ansehen. Deshalb sollten Sie als Nutznießer eine dritte Person namhaft machen, die weder zu Ihnen noch zu der Firma Ihrer Frau, noch zur Tochtergesellschaft Ihres Sohnes irgendeine Verbindung un­terhält. Haben Sie einen Freund, dem Sie vertrauen können?«

»Nein.«

»Dann bin ich bereit, als dritte Person aufzutreten. In einem zwischen uns beiden abzuschließenden Separatabkommen übernehme ich die Rolle einer Stiftung mit dem Zweck, die Versicherungssumme, die mir am Ende der dreijährigen Kün­digungsfrist ausbezahlt wird, Ihnen zur Verfügung zu stellen.«

»Sie sind ein Genie.«

»Nicht so eilig. Sie müssen die Summe voll versteuern.« »Was?!«

»Aber das läßt sich vermeiden, indem ich Sie auf der Basis einer Verleumdungsklage ausbezahle.«

»Ich verstehe nicht.«

»Es ist die einzige gesetzlich zulässige Möglichkeit zur Durchführung von Zahlungen zwischen zwei hier ansässigen Personen. Für Beträge, die Ihnen von einem ordentlichen Ge­richt als Wiedergutmachung einer wörtlichen oder tätlichen Ehrenbeleidigung zugesprochen werden, brauchen Sie keine Steuer zu zahlen.«

»Wieso nicht?«

»Solche Beträge gelten als Spesen.«

»Kennen Sie einen Präzedenzfall?«

»Aus meiner eigenen Praxis. Ich habe einem meiner Klienten auf diese Weise 1000 Shekel verschafft. Er brauchte nichts weiter zu tun, als sich von mir zwei Ohrfeigen geben zu las­sen. In Ihrem Fall wird bereits eine kleine Beschimpfung ge­nügen. Ich könnte Ihnen zum Beispiel höhnisch vorwerfen, daß Sie mit ungarischem Akzent sprechen.«

»Das ist keine Beschimpfung. Das ist die Wahrheit.«

»In drei Jahren haben Sie ihn vielleicht verloren.«

»Ich glaube nicht an Wunder.«

»Nun, wir werden schon etwas finden. Hauptsache, daß Sie mich auf Ehrenbeleidigung verklagen und daß die Ihnen zuge­sprochene Entschädigungssumme genau mit der Versiche­rungsprämie übereinstimmt, die von der Tochtergesellschaft Ihres Sohnes zu meinen Gunsten als Stiftung deponiert wird, und zwar in der gleichen Höhe, in der die Firma Ihrer Frau das von Weintraub gezahlte Honorar gegen ihr eigenes Verlust­konto verrechnet. Sind Sie mit dieser Prozedur einverstan­den?«

»Gerne. Aber Sie sagten etwas von einer zweiten Mög­lichkeit?«

»Die zweite Möglichkeit wäre, daß Sie keine Bestätigung ausstellen und der Steuer die 460 Shekel verschweigen.«

»Auf keinen Fall. Das kann zu Komplikationen führen.«  

Die Bürde des weißen Mannes

Wenn ich mir unser Steuersystem betrachte und all die übri­gen labyrinthischen Gesetze und Verordnungen, denen wir ausgesetzt sind, dann glaube ich immer, daß Franz Kafka sich unter uns sehr wohl gefühlt hätte. Seit unsere progressive Ein­kommenssteuer die 100%-Grenze überschritten hat, seit wir also unter bestimmten, leicht erhältlichen Voraussetzungen mehr Steuern zahlen müssen, als wir verdienen, hat der schwarze Geldmarkt eine noch nicht dagewesene Hochblüte erreicht. Ehrliches, weißes Geld ist kaum noch in Zirkulation, und wenn ein gesetzestreuer Bürger der Regierung tatsächlich alles zahlt, was sie von ihm verlangt, wird er von seiner Um­welt gemieden.

Des eingedenk sprach die beste Ehefrau von allen zu mir ei­nes Tage wie folgt: »Es ist Wahljahr. Geh und kauf uns ein Grundstück.«

Obwohl ich da keinen unmittelbaren Zusammenhang entdek­ken konnte, suchte ich gehorsam Herrn Nissim Zwanziger auf, den bestbekannten Grundstücksmakler.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Ich möchte etwas kaufen.«

»Was?«

»Grundstücke, Häuser, Wohnungen, was immer.«

»Gerne«, sagte Herr Zwanziger. »Wieviel Geld haben Sie?«

Ich gab ihm die gewünschte Auskunft.

»Und wieviel davon ist schwarz?« fragte Herr Zwanziger.

Nicht ohne Selbstgefälligkeit ließ ich ihn wissen, daß kein Groschen meines Geldes schwarz sei. Herr Zwanziger wurde deutlicher: »Ich wollte wissen, wie­viel Sie unter dem Tisch verdient haben.«

»Ich habe alles auf dem Tisch verdient.«

»Das meine ich nicht«, erläuterte Herr Zwanziger, immer noch höflich. »Ich meine jenen Teil Ihrer Einkünfte, für den Sie keine Bestätigungen ausgestellt haben und von dem die

Regierung nichts weiß.«

»Die Regierung weiß alles. Ich habe meine Einkommens­steuer voll bezahlt.«

Jetzt lachte Herr Zwanziger schallend auf:

»Großartig! Ihr berühmter Humor! Wie Sie mir da ganz ruhig ins Gesicht sagen, daß Sie alle Ihre Steuern bezahlt haben... also das macht Ihnen niemand nach. Das ist einmalig. Ich freu mich schon drauf, es im Kaffeehaus zu erzählen.«

Und sein Lachen steigerte sich so gewaltig, daß ich Angst hatte, er würde ersticken.

»Na, schön«, sagte er, als er wieder zu Atem kam. »Wir hat­ten unseren Spaß, wie haben gelacht, und jetzt kommen wir zum Geschäft. Wieviel von Ihrem Geld ist schwarz?«

»Es ist alles weiß.«

Meine Beharrlichkeit schien ihm ein wenig auf die Nerven zu gehen: »Grundstücksgeschäfte sind eine Sache des Vertrauens. Ich verspreche Ihnen absolute Diskretion. Wieviel schwarzes Geld haben Sie!«

»Keinen Groschen.«

Jetzt wurde Herr Zwanziger wütend: »Wir sind unter uns«, brüllte er. »Niemand hört zu. Sie können völlig ungeniert sprechen.«

Ich blieb ungeniert stumm. Vielleicht bin ich ein jämmer­licher Feigling, aber ich habe tatsächlich meine sämtlichen Steuern bezahlt. Was war zu tun?

»Ich bin bereit, meine Angaben in Gegenwart eines Lü­gendetektors zu wiederholen und zu beschwören«, flüsterte ich. »Ich habe kein schwarzes Geld.«

»Was wollen Sie dann eigentlich von mir?« fragte Herr Zwanziger.

Diese Frage begann auch mich zu beschäftigen.

»Ich dachte«, fuhr Herr Zwanziger fort, »daß Sie eine seriöse Kundschaft sind. Ich habe Millionengeschäfte mit respekta­blen Bürgern abgeschlossen, mit Architekten, Gynäkologen, Landwirten und Installateuren - aber keiner von ihnen ist mir jemals mit weißem Geld gekommen. Ich frage Sie zum letzten

Mal: Wieviel schwarzes Geld haben Sie?«

»Hm«, machte ich ausweichend. »Das spielt doch eigentlich keine Rolle.«

»Soll das ein Witz sein, oder was?« fauchte der ehrliche Makler. »Glauben Sie, daß es in diesem Land einen einzigen Menschen gibt, der für alle seine Einnahmen Bestätigungen ausstellt und alle seine Einnahmen versteuert? Hören Sie end­lich auf, mich zu langweilen. In jedem sauberen Geschäft wer­den zehn Prozent des Umsatzes deklariert und der Rest geht unter dem Tisch von Hand zu Hand. Woher käme sonst unsere Inflation? Von den Monatsgehältern der Angestellten?«

Ich gab klein bei: »Schön, dann sagen wir also den Eigentü­mern der Grundstücke, daß ich mit schwarzem Geld zahle.«

»Niemals! So etwas mache ich nicht!« Herr Zwanziger straff­te sich. »Wenn Sie mich nicht zum Narren halten und wenn Ihr Geld wirklich weiß ist, dann scheint der Betrag in Ihren Büchern oder in Ihrem Bankauszug auf und wird eine leichte Beute für die Steuerbehörde. Ich denke gar nicht daran, meine Kunden, die mir ihr Vertrauen geschenkt haben, in solche Affären zu verwickeln. Vielleicht finden Sie irgendeinen Win­kelagenten, der weißes Geld nimmt. Ich nicht, Herr. Ich nicht!«

Allmählich wurde mir meine verzweifelte Lage klar. Auf der einen Seite eine florierende Volkswirtschaft - auf der anderen Seite ich, ganz allein, mit lauter weißem Geld, für das ich leichtsinnigerweise Steuern gezahlt habe und das niemand anrühren will. Es war praktisch wertlos. Ich könnte es ebenso­gut verbrennen.

»Läßt sich denn gar nichts mit dem Geld anfangen?« flehte ich.

Herr Zwanziger sah mich mitleidsvoll an. Im Grund seines Wesens war er ein guter, weichherziger Mensch. Er wollte nur nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

»Ich hatte schon einmal einen ähnlichen Fall wie Sie«, erin­nerte er sich. »1968, glaube ich. Damals wollte irgendein ver­rückter Rechtsanwalt ein vierstöckiges Haus bar bezahlen und die volle Summe bestätigt bekommen. Ich habe ihn gefragt, wie wir unsere Bauarbeiter unter dem Tisch bezahlen sollen, wenn wir kein schwarzes Geld zur Verfügung haben. Und dann habe ich ihn hinausgeworfen.«

Ich saß mit gesenktem Kopf. Ich war um nichts besser als dieser Rechtsanwalt. Mit einem Idioten wie mir, der die ganze ökonomische Struktur unseres Landes ins Wanken bringen würde, konnte man wirklich keine Geschäfte machen. Zum Teufel mit meinem lilienweißen Geld.

Herr Zwanziger stand auf und zog mich zum offenen Fenster: »Hier übertönt der Straßenlärm unser Gespräch«, flüsterte er mir ins Ohr. »Also seien Sie unbesorgt und sagen Sie mir end­lich, wieviel schwarzes Geld Sie haben.«

Ich brach in Tränen aus und schwieg.

Herr Zwanziger seufzte tief. Dann schrieb er auf ein Blatt Papier: »Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß in meinem Büro keine Abhörgeräte eingebaut sind.«

Ich schrieb zurück: »Ich glaube Ihnen, aber ich bin weiß.«

Das war das Ende. Herr Zwanziger schloß das Fenster, ließ sich in seinen Stuhl fallen und schrie: »Hinaus!«

Ich schlich davon, ein Schatten meiner selbst, ein Ausge­stoßener, ein Abschaum der Gesellschaft.  

Alarm

Um eins in der Nacht wachte ich kürzlich auf, weil draußen ein verwundeter Löwe brüllte. Das Brüllen hielt an, immer in derselben furchterregenden Tonstärke. Es kam aus der Wä­scherei im Parterre unseres Hauses.

Ich weckte die beste Ehefrau von allen.

»Hörst du das?« schrie ich ihr ins Ohr. »Alarm«, murmelte sie, ohne die Augen zu öffnen. »Sie rauben die Wäscherei aus.«

Diese Erklärung leuchtete mir ein. Ich vergrub meinen Kopf in den Kissen und versuchte weiterzuschlafen, fand aber keine Ruhe bei dem Gedanken, daß sich in der Wäscherei mögli­cherweise auch unsere eigene Wäsche befände, und wer weiß, was ihr zustoßen würde.

»Weib«, rief ich aufs neue, »was sollen wir tun?«

»Im Badezimmer liegt das Ohropax. Hol auch eines für mich.«

Ich trat ans Fenster. Vor der Wäscherei stand ein weißer Kombiwagen mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Die Alarmanlage heulte wie verrückt. Ich schloß das Fenster und sah, daß auch andere Fenster im Häuserblock geschlossen wurden. Der Lärm war unerträglich.

Kaum hatten wir unsere Ohren verstopft, ging das Telefon: »Entschuldigen Sie«, sagte eine heiser gedämpfte Stimme. »Ich habe Sie soeben am Fenster gesehen. Es ist die Wäsche­rei, nicht wahr?«

»Ja. Ein Einbruch.«

»Schon wieder?«

In den vergangenen Monaten war nämlich schon viermal in der Wäscherei eingebrochen worden. Einmal hatten sie die Eisentüre mit großen Hämmern zertrümmert. Dieser primitive Vorgang nahm anderthalb Stunden in Anspruch und machte solchen Lärm, daß die Bewohner der umliegenden Häuser beinahe taub wurden. Dann räumten die Einbrecher den gan­zen Laden aus, bis zum letzten Paar schmutziger Socken.

Am nächsten Tag ließ der Besitzer der Wäscherei, der alte Herr Wertheimer, einen Spezial-Stahlrollbalken anbringen, den die nächsten Einbrecher mühsam durchsägen mußten. Das dauerte mehrere Stunden und war eine fürchterliche Qual für die Nerven aller, die es hörten. Man mußte sich fragen, wie die Einbrecher dieses entsetzliche Geräusch überhaupt ertragen konnten, aber sie ertrugen es. Daraufhin bestellte der alte Wertheimer ein elektronisches Alarmsystem modernster Machart, mit infraroten Fotozellen und einem hochempfindli­chen Fangnetz, das bei der leisesten Berührung die Alarm­glocke in Betrieb setzte.

»Warum stellen sie das verdammte Zeug nicht ab, wenn sie schon einmal drin sind?« fragte mein heiserer Anrufer. »Sie müßten ja nur die Drähte durchschneiden. Ich werde mich beim Bürgermeister beschweren. Ich bin Steuerzahler und brauche meinen Schlaf.«

»Gehen Sie in die Apotheke«, empfahl ich ihm, »und kaufen Sie sich diese Wachsdinger für die Ohren.«

»Hab ich schon. Sie helfen nicht!«

»Dann weiß ich keinen Rat. Wer spricht denn eigentlich?«

Mein Partner legte auf, ohne zu antworten. Entweder wollte er in die Angelegenheit nicht verwickelt werden, oder er woll­te mit einem Menschen, der ihm keinen Rat geben konnte, nichts zu tun haben.

Ich trat wieder ans Fenster. Vor der Wäscherei stand ein Mann auf den Schultern eines anderen und hantierte mit einem Meßband. Sie waren also noch nicht ins Innere der Wäscherei gelangt. Die Alarmglocke heulte.

»Wie war's mit einem Sandwich?« fragte ich, aber die beste Ehefrau von allen gab keine Antwort, denn sie schlief. Wie sie das fertigbrachte, weiß ich nicht. Ich konnte sie nur stumm beneiden.

Es klopfte an der Türe. Mein Nachbar Felix Seelig stand da, in einem rosa Pyjama und mit roten Augen. Ich bat ihn herein.

»Was glauben Sie, Seelig? Wird das die ganze Nacht so wei­tergehen?«

In Sachen Elektrizität ist Felix Seelig ein wirklicher Fach­mann. Er kann zum Beispiel durchgebrannte Sicherungen auswechseln. Die jetzt entstandene Situation erklärte er mir so, daß die Alarmanlage nach einigen Minuten aufhören werde, wenn sie auf eigenen Batterien liefe, aber wenn sie direkt an das städtische Versorgungsnetz angeschlossen sei, dann stünde es schlecht um unsere Nachtruhe.

»Vor ein paar Wochen, bei dem Einbruch in der großen Mö­belfabrik im Norden von Tel Aviv«, berichteten Felix, »gingen drei japanische Alarmsysteme 48 Stunden lang in voller Stärke und hörten erst auf, als die Drähte geschmolzen waren. Aber da hatten die Einbrecher schon längst das Lager ausgeraubt und auf gestohlenen Lastwagen weggeschafft.«

Die Wäschereisirene hörte nicht auf zu heulen.

Es gäbe, so erfuhr ich von Felix, einen neuen Plastikstoff, mit dem man die Fenster nicht nur gegen Zugluft, sondern auch gegen Lärm abdichten könne. Er würde mir ein Muster ver­schaffen, sagte er. Von seinem jüngeren Bruder, der die Toch­ter des Abteilungsleiters vom Supermarkt geheiratet hatte. Das junge Paar sei erst vor kurzem von einer Reise nach dem Fer­nen Osten zurückgekommen. Soll ein fabelhaftes Erlebnis gewesen sein, sagte Felix.

Draußen hatte sich noch ein zweiter Lärm zu dem des Alarm­systems hinzugesellt. Die Einbrecher versuchten sich mit Au­togen-Schweißgeräten Eingang zu verschaffen. Ein paar mü­ßige Nachtschwärmer standen herum und beobachteten das Geschehen, wobei sie ihre Finger in die Ohren steckten.

Ich fragte Felix, wieviel seiner Meinung nach die Versi­cherung in einem solchen Fall zahlen würde. 50 bis 60 Prozent des entstandenen Schadens meinte er. Netto.

Wie man hört, will der alte Wertheimer die Wäscherei ver­kaufen. Es ist zuviel für ihn.

An einem gegenüberliegenden Fenster sahen wir Frau Su­schitzky auftauchen. Sie schrie etwas hinunter, was wir des Lärmes wegen nicht hören konnten. Der Fahrer des Kombiwa­gens stieg aus und schrie etwas zurück. Seelig wollte verstan­den haben: »Was haben Sie gesagt?«

Man sah Frau Suschitzky noch einmal aufschreien und dann das Fenster schließen.

Plötzlich erfolgte eine donnernde Explosion. Flammengarben schössen in den Himmel über Tel Aviv. Dann war es ruhig. Tatsächlich: ruhig. Auch die Alarmanlage hatte dran glauben müssen. Höchste Zeit.

»Komm schlafen«, flüsterte die beste Ehefrau von allen. Ich zog die Decke über mein Gesicht. Draußen dämmerte der Morgen. Wir werden uns eine andere Wäscherei suchen.  

Befohlener Schutz

Vor ein paar Tagen gehe ich friedlich nach Hause, als ein Kerl in einem schwarzen Rollkragenpullover sich plötzlich an meine Seite gesellt.

»Ich bin ein Rowdy«, stellt er sich vor. »Ein Bandit. Ein Gangster. Ganz wie Sie wollen. Ist ja egal. Mein übliches Wo­chenhonorar, damit ich keine Schwierigkeiten mache, beträgt 99 Shekel 50.«

Da ich nicht weiß, wie man auf eine solche Eröffnung am be­sten reagiert, frage ich ihn zunächst einmal, ob er eine be­stimmten Bande angehört. Er bejaht, wir geraten ins Plaudern, sprechen über dies und jenes und erreichen schließlich die Straßenecke, in deren Nähe mein Wohnhaus liegt. Dort bleibt er stehen und schlägt mir so wuchtig ins Gesicht, daß ich in den Ziersträuchern des Vorgartens von Herr Gelbstein lande. Herr Gelbstein stürzt aus dem Haus und schimpft, wie haben Sie meine Rhododendren zugerichtet, unerhört, was soll das, und so weiter.

Während ich ihm noch erkläre, was es soll, schlägt mein Be­gleiter ein zweites Mal zu und kündigt mir an, daß er mir von nun an täglich an dieser Stelle eine oder vielleicht auch mehre­re Ohrfeigen verpassen würde, so lange, bis ich zahle. Er habe nichts gegen mich persönlich, betont er, aber er müsse von etwas leben. Aus seinen weiteren Ausführungen geht hervor, daß er eine unglückliche Kindheit hatte, seine Mutter war eine Trunkenboldin, und aus Gram darüber verprügelte sie seinen arbeitsscheuen Vater regelmäßig. Er selbst arbeitet jetzt in unserem Cottageviertel, und zwar an der Eintreibung von möglichst zahlreichen Wochengagen a NIS 99,50.

»Sie müssen sich nicht sofort entscheiden«, schließt er. »Be­sprechen Sie die Sache zuerst mit Ihrer Frau, verständigen Sie die Polizei, tun Sie alles, was man in solchen Fällen zu tun pflegt. Auf Wiedersehen morgen nachmittag. Hier an der Stra­ßenecke.«

Ich folge seinen Anweisungen und berate mich mit der besten Ehefrau von allen. Sie ist dagegen, daß ich zahle. Sie meint, an ein paar Ohrfeigen sei noch niemand gestorben.

Anschließend gehe ich zur nächsten Polizeistation und erzäh­le dem diensthabenden Sergeanten, was geschehen ist. Er scheint Bescheid zu wissen und teilt mir mit, daß ein Mann in der Unterwelt unter dem Spitznamen »Hirschi« bekannt ist, Abkürzung für Hirschfänger. Hirschi hat erst vorigen Monat von sich reden gemacht, als er während eines Konzertes in die Kulturhalle von Naharia eindrang und den Dirigenten von hinten über den Kopf schlug. Das Konzert wurde abgebro­chen, der Dirigent liegt im Krankenhaus, Hirschi ist mit einem Monat bedingt davongekommen. Da mir der Sergeant noch mit anderen Geschichten aufwartete, dauerte es drei Stunden, ehe wir unseren Bericht fertiggestellt haben. Dann erkundige ich mich, was ich tun soll.

»Feilschen«, empfiehlt der Sergeant. »Handeln Sie ihn herun­ter. Ich an ihrer Stelle würde höchstens 75 Shekel zahlen. Schalom und alles Gute, mein Herr.«

Offenbar sind Beschwerden solcher und ähnlicher Art in der letzten Zeit so häufig geworden, daß sich die Polizei auf eine konsultative Tätigkeit beschränkt. Als ich schon an der Türe bin, erteilt mir der Sergeant noch den sehr guten Ratschlag, von Hirschi eine Empfangsbestätigung zu verlangen und die Steuerbehörde zu verständigen.

Am nächsten Tag bekomme ich an der verabredeten Stelle die verabredeten Ohrfeigen, begleitet von Hirschis aufmun­ternden Worten: »Nur keine Hast. Überlegen Sie sich in aller Ruhe, ob Sie zahlen wollen, und sagen Sie's mir dann.«

Inzwischen hat sich unter meinen Nachbarn herumge­sprochen, daß ich auf dem besten Weg bin, mich zu verschul­den. Alle weichen mir aus. Nur Gelbstein steht, wenn ich mich nähere, an seiner Gartenhecke, um den Rhododendronstrauch zu schützen. Gelbstein ist ein ehemaliger Ringkämpfer und verfügt über große Körperkräfte.

»Keine Raufhändel vor meinem Haus!« brüllt er mir entge­gen.

Am Wochenende nehmen die Dinge eine günstige Wendung. Ein ungeschlachter Geselle in einem gestreiften Ruderleibchen erscheint während des Mittagessens in unserem Hause und möchte mit mir unter vier Augen sprechen.

»Ich verstehe Sie nicht«, beginnt er. »Wie kann man sich je­den Tag verprügeln lassen? Sie brauchen einen Beschützer. Für 99 Shekel 50 wöchentlich sorge ich dafür, daß Hirschi Sie in Ruhe läßt.«

Als sich im Verlauf unseres Gesprächs herausstellt, daß mein Gast zur selben Organisation gehört wie Hirschi, frage ich ihn, welchen Unterschied es dann noch ausmacht, ob ich mein Geld an ihn oder an Hirschi abführe? Es mache einen gewalti­gen Unterschied aus, belehrt er mich, denn Hirschi sei ein ganz gewöhnlicher Schläger, er hingegen biete mir offiziellen Schutz an.

»Denken Sie nach, welche Lösung für Sie die günstigere ist«, schließt er. »Es hat keine Eile. Morgen mittag komme ich wieder.«

Um mich von der Ehrlichkeit seiner Absichten zu über­zeugen, tritt er meinen Kleiderschrank ein, zertrümmert einen Stuhl, brüllt mir zu: »Ziehen Sie Ihre Schuhe aus! Beide!« und nimmt sie als Geiseln mit. An der Türe bleibt er nochmals stehen, reißt die Türklinke aus ihrer Verschalung und verab­schiedet sich mit den Worten: »Auf eine lange und glückliche Zusammenarbeit!«

Am Nachmittag suche ich wieder meinen Sergeanten auf. Es zeigt sich, daß er auch meinen neuen Beschützer kennt, sogar beim Spitznamen: »Cosi«, für »Cosi fan tutte«. Ein musikali­scher Mensch. Lieblingskomponist: Mozart. Im übrigen sei er durchaus zuverlässig, und ich täte gut daran, mit ihm zu einem Abschluß zu kommen.

Mir will das nicht sofort einleuchten. Ich erzähle dem Serge­anten von Cosis gewalttätigem Vorgehen in meinem Haus und wie er mir zugerufen hat: »Ziehen Sie Ihre Schuhe aus! Bei­de!«

Zu meiner Überraschung schickt der Sergeant sich an, seine Schuhe auszuziehen. Ich erkläre ihm, daß ich lediglich die Worte meines Beschützers zitiert habe. Daraufhin wird er wü­tend. Die Polizei, so sagt er, habe Wichtigeres zu tun, als sich mit meinen Zahlungsproblemen zu beschäftigen, und ich möge ihn nicht länger aufhalten.

Cosi funktioniert bereits, denn Hirschi kommt nicht zum Rendezvous an der Straßenecke. Ich meinerseits entziehe mich dem Rendezvous mit Cosi und gehe mit meiner Frau zum Mittagessen in ein Restaurant am anderen Ende der Stadt. Wir besprechen unsere Zukunft, besonders deren finanzielle Aspekte.

Beim Aufstehen stolpere ich über die Restaurantkatze, halte mich am Tischtuch fest und reiße das ganze Zeug mit ohrenbe­täubendem Krach zu Boden.

Der Besitzer des Restaurants saust herbei:

»Ich zahle«, flüstert er angstbebend. »Nennen Sie die Summe - ich zahle. Aber lassen Sie um Himmels willen mein Lokal in Frieden.«

Ich beeile mich, seinen Irrtum zu berichtigen. Als ihm der Sachverhalt klar wird, befördert er mich vermittels eines wuchtigen Tritts in den Hintern zur Türe hinaus. Ich lande in den Armen eines drahtigen Burschen in blauem Hemd, der mir mitteilt, daß er mich schon gesucht hat.

»Cosi erwartet Sie vor Ihrem Haus«, fügt er hinzu.

»Er ist sehr schlecht gelaunt, weil Sie sich von ihm nicht be­schützen lassen. Wenn Sie wünschen, schütze ich Sie gegen seinen Schutz, aber das kostet Sie 99 Shekel 50 die Woche.«

Auch mein neuer Beschützer, der sich gleich unter seinem Spitznahmen »Blauer Expreß« vorstellt, gehört natürlich zur Organisation. Er ist von kleinerem Wuchs als die beiden ande­ren. Auf meinen diesbezüglichen Hinweis bemerkt er, daß es auf Körpergröße nicht ankomme. Und er demonstriert mir seine Fähigkeiten, indem er die Scheinwerfer meines Wagens zerschmettert.

»In Ordnung«, sage ich und übergebe ihm einen meiner Schuhe. »Rufen Sie mich morgen vormittag an. Wir werden uns einigen.«

Auf dem Heimweg kommen wir an Gelbstein vorbei, der ge­rade seinen Garten spritzt. Ich trete dicht an ihn heran: »Hören Sie, Gelbstein. Sie sind ein kräftiger Mann. Ihre Bizeps liegen brach. Wie war's, wenn Sie mich gegen die Gangster schützen, die mich verfolgen?«

Gelbstein brummte etwas von keine Zeit haben und daß er kein Babysitter sei und überhaupt.

Ich gehe ins Haus, trete seinen Kleiderschrank ein und schleudere einen Stuhl durch die Fensterscheibe.

»Das ist nur eine Anzahlung« sage ich zum Abschied. »Wenn Sie sich weigern, meinen Schutz zu übernehmen, ha­ben Sie morgen überhaupt keine Fensterscheiben mehr. Über­legen Sie sich's und lassen Sie sich auf der Polizeistation um die Ecke beraten. Der Sergeant dort kennt sich aus.«

Gelbstein blieb nachdenklich zurück. Ich erstand in einem nahe gelegenen Warenhaus einen Hammer und einen roten Rollkragenpullover und verständigte den Sergeant von der neuen Situation. Wer sagt, daß in unserem Land keine Ord­nung herrscht?  

Anleitungen zum persönlichen Wohlstand

Es ist längst kein Geheimnis mehr, daß die Möglichkeiten, rasch und leicht Geld zu verdienen, immer geringer werden, da auf allen Gebieten scharfe Sicherheitsmaßnahmen in Kraft getreten sind. Als einzig rentabler Weg bleibt dem Bürger, der seine ökonomische Lage zu konsolidieren wünscht, die Bank­rotterklärung. Hier einige Ratschläge.

Vorbereitungen

Ein solider Bankrott läßt sich natürlich nicht im Hand­umdrehen bewerkstelligen. Er erfordert sorgfältige Vor­bereitung und höchste Glaubhaftigkeit. Der erste Schritt be­steht in der Gründung einer Firma mit einem eindrucksvollen, möglichst fremdländisch klingenden Namen. Es ist gleichgül­tig, ob die Firma sich mit Im- und Export, Zeitungsartikeln oder Textilwaren beschäftigt. Hauptsache, daß sie es mit be­schränkter Haftung tut, im folgenden »mbH« abgekürzt. »Haf­tung« bedeutet, daß jemand haftet, »beschränkt« weist darauf hin, daß man selber nicht dieser Jemand ist. Man selber hat lediglich die Aufgabe, die Firma dem vorbestimmten Bankrott entgegenzuführen. Das geschieht, indem man Verträge ab­schließt, Anzahlungen kassiert, Waren bestellt, Lieferungen verzögert, Kredite aufnimmt und dergleichen mehr. Für diese unermüdliche Tätigkeit bezieht man ein hohes Gehalt, setzt sich ein reichliches Spesenkonto aus und unternimmt Ge­schäftsreisen an die Riviera. Die beste Ehefrau von allen wird mit dem Posten eines Vizebankrottdirektors betraut und er­wirbt das Firmenauto gegen eine Anzahlung von 2,40 Shekel in langfristigen Raten.

Allerdings muß man mit dem Mißtrauen der Geschäftspartner rechnen. Bevor sie Kredite gewähren, wollen sie sich zuerst vergewissern, ob die mbH auch Geld auf der Bank hat.

Sie hat. Wieso hat sie? Ganz einfach. Man borgt der mbH aus seiner eigenen Tasche einen bestimmten Betrag und legt ihn auf die Bank, so daß ihn jeder sehen kann.

Und dann macht man Bankrott.

Der Bankrott ist unvermeidlich. Infolge leichtfertiger Fi­nanzgebarung gerät die mbH immer tiefer in die roten Ziffern, bis eines Tags ihre Gläubiger zusammentreffen, sich an einen langen Tisch setzen und mit den geplatzen Wechseln der Fir­ma Patiencen legen. Es folgen sechs schwierige Monate voll von Drohungen, wütenden Telefonanrufen, eingeschlagenen Fensterscheiben und letzten Warnungen nervöser Rechtsan­wälte.

Diese Frist muß man geduldig überstehen.

Der Wendepunkt

Kurz bevor der Wendepunkt eintritt, begibt man sich zur Bank, behebt das Darlehen, das man der mbH gewährt hat, und steckt es in die eigene Tasche zurück. Sodann bittet man die Gläubiger zu einer Generalversammlung ins Philharmoni­sche Auditorium und hält ihnen folgende Ansprache:

»Meine Freunde, ich bin bankrott. Ich habe hart gekämpft, ich habe alle erdenklichen Opfer gebracht, ich habe getan, was ich konnte - es war vergebens. Die mörderische Steuerwirt­schaft unserer erbärmlichen Regierung hat mich zugrunde gerichtet. In diesem Land ist es einfach unmöglich, sich eine Existenz aufzubauen. Meine Firma hat keinen Groschen an Vermögen. Sie hat nichts als Schulden. Das ist die traurige Wahrheit. Jetzt, da ich sie Ihnen eingestanden habe, fühle ich mich besser. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Die Gläubiger starren aus glasigen Augen vor sich hin. Sie wissen, daß sie nichts machen können. Das Geld, um das sie bangen, ist ja nicht im Besitz einer Person, sondern einer mbH, und die hat keines. Was soll man auch von drei Buchstaben anderes erwarten.

Im Auditorium herrscht die lähmende Stille hoffnungsloser Verzweiflung.

»Es besteht jedoch«, so läßt man sich in diese Stelle hinein vernehmen, »es besteht, meine Freunde, vielleicht die Chance eines Auswegs. Wenn Sie mich weiterarbeiten lassen, wenn Sie mir eine kleine Atempause gewähren, sagen wir von einem Monat oder von zwei Jahren, dann könnte sich, wer weiß, vielleicht eine Möglichkeit ergeben, daß ich die Schulden meiner Firma auf Heller und Pfennig zurückzahle.«

Im Gemurmel und Geraune, das daraufhin um sich greift, er­hebt sich einer der Hauptgläubiger, sagt: »Entschuldigen Sie uns, bitte« und sucht mit einigen anderen das Restaurant an der Ecke auf, wo über die weiteren Schritte beraten wird. Al­len ist klar, daß ihnen keine Wahl bleibt. Wenn sie die mbH den offiziellen Bankrott erklären lassen, sehen sie nie wieder etwas vom investierten Geld, nicht den kleinsten Bruchteil. Denn was immer die mbH an Aktivposten besitzt, wird von den amtlichen Stellen zur Kostendeckung der Bankrottproze­dur verschluckt, indessen der Bankrotteur, der sein Privatver­mögen rechtzeitig in Sicherheit gebracht hat, frei wie ein Vo­gel auf neue Abenteuer ausgeht. Überdies macht es sich nicht gut, in die Geschäftsbücher einzutragen: »Eine Investition in Höhe von... hat sich in Luft aufgelöst.« Und bei einer Bücher­kontrolle gibt niemand gern die Auskunft: »Nun ja, leider, diese Summe mußten wir abschreiben.« Kurzum - was gibt es hier zu verlieren? Solange die Schuld nicht abgeschrieben ist, besteht noch ein Hoffnungsschimmer.

Infolgedessen lautet die Entschließung der in die Halle zu­rückgekehrten Gläubiger:

»Also gut, machen Sie weiter.«

Da aber kriecht man mit purpurrotem Gesicht unter dem Tisch hervor und brüllt:

»Weitermachen? Möchten Sie mir vielleicht sagen: wie?! Sie verlangen von mir, daß ich ohne jedes Betriebskapital die Lei­tung einer ruinierten Firma übernehmen soll? Lächerlich. Ein­fach lächerlich.«

Eine sofort veranstaltete Geldsammlung erbringt 4000 Shekel in bar und 33 600 Shekel in Wechseln.

Die Zeit der Verwöhnung

Es ist das Schicksal des hebräischen Gläubigers, seinem Gold bis zum letzten Atemzug nachzujagen. Dem neuen Leiter der mbH werden also neue Kredite gewährt, mit der Auflage, daß er unter keinen Umständen Bankrott anmeldet und seinen Pflichten gegenüber der mbH nachkommt. Die Gläubiger be­handeln ihn wie ein rohes Ei und verwöhnen ihn in jeder Hin­sicht. Es ist kaum zu fassen, was man aus einem israelischen Gläubiger herausholen kann, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Verläßlichen Berichten zufolge soll Menasche Sulzbaum, der König der Bankrotteure, eine Versammlung seiner Gläubiger dazu gebracht haben, im Chor für ihn zu be­ten, ehe er sich gnädig zur Fortsetzung seiner Tätigkeit als Firmenmanager bereit erklärte. »Lieber Gott«, betete die Ver­sammlung, »bitte mach, daß Menasche Sulzbaum gesund bleibt. Amen.«

Ängstliche Gemüter lassen den jeweiligen Schuldner re­gelmäßig und auf ihre Kosten ärztlich untersuchen, achten darauf, daß er ein geregeltes Geschlechtsleben führt, versorgen ihn mit Taschengeld, Theaterabonnements und Massagen - nur damit er bei guter Laune und in guter Verfassung bleibt. In einigen Fällen hat der Hauptgläubiger, damit nichts schiefgeht, seine Tochter mit dem Bankrotteur verheiratet oder hat ihn als Universalerben eingesetzt.

Kein Zweifel, der Bankrott ist der sicherste Weg zum Erfolg, zur Beliebtheit, zur bequemsten Form von dolce vita. Natür­lich muß man die Gläubiger bei der Stange halten und beim geringsten Nachlassen ihrer Disziplin scharf einschreiten:

»Wenn ich's recht bedenke, brauche ich das alles nicht. Ich mache Bankrott und habe meine heilige Ruhe!«

Das bewirkt eine sofortige Steigerung der Obsorge und Ehr­erbietung, denn der Bankrotteur ist in der stärkeren Position.

Die Gefahr

Manchmal jedoch kann es geschehen, daß der Bankrotteur die Kontrolle über sein Lebenswerk verliert und unter dem Einfluß von Alkohol oder in einem Anfall von Geistesgestört­heit die Schulden seiner Firma abzudecken beginnt. Solange diese Zahlungen einen Betrag von 200 Shekel im Jahr nicht überschreiten, schadet das nichts; im Gegenteil, es erhöht die Spannung. Erst wenn die Sinnesverwirrung des Bankrotteurs so weit geht, daß er die ganze Schuldsumme bezahlt, ist er verloren. Der Zorn eines Gläubigers, dem sein Geld zurücker­stattet wird, kennt keine Grenzen. Er ist um seinen Lebensin­halt gebracht, und es soll schon vorgekommen sein, daß der redliche Zahler zum Dank verprügelt wurde. Im übrigen fällt er dem Schicksal jedes ehrlichen Menschen anheim: Er wird verhöhnt, betrogen und mißbraucht.

Es möge deshalb jeder halbwegs Vernünftige dafür sorgen, bis ans Ende seiner Tage unter einer möglichst hohen Schul­denlast zu stehen. Dann, und nur dann, ist ihm ein sorgenfreies Leben sicher.

Die große Frage

Nun mag mancher Leser zu der Frage versucht sein: Wenn das alles so leicht ist - warum machen dann nicht alle Men­schen Bankrott?

Die Antwort lautet: Sie machen. 

Erhöhter Einsatz

Wie in allen Ländern mit sprunghafter Wirtschaftsentwick­lung brechen auch in Israel Banken aller Größenordnungen zusammen. Manchmal kommt das Finanzministerium auf dem Weg über die Nationalbank einem in Schwierigkeiten gerate­nen Privatunternehmen zu Hilfe, teils um eine Kettenreaktion auf dem Geldmarkt hintanzuhalten und die wütende Öffent­lichkeit zu beruhigen, teils um andere Banken zum Zusam­menbruch zu ermutigen.

Stucks, unser pfiffiger Installateur, hat diesen Mechanismus durchschaut und entsprechende Konsequenzen daraus gezo­gen:

»Hallo. Kann ich Herrn Horowitz sprechen?«

»Am Apparat.«

»Ist das Herr Horowitz, der Gouverneur der Israelischen Na­tionalbank?«

»Ja.«

»Hier ist Stucks.«

»Wer?«

»Der Installateur Stucks. Herr Horowitz, ich bin in Schwie­rigkeiten.«

»Wie bitte?«

»Die Wirtschaftskrise bringt mich um, Herr Horowitz. Ich war immer ein ehrlicher Mann, fragen Sie die Leute, für die ich arbeite. Stucks ist ein Symbol der Zuverlässigkeit, Stucks ist ein Felsen. Aber seit diese Rezession begonnen hat, bin ich so nervös wegen der allgemeinen Lage, daß ich den Einsatz erhöht habe!«

»Welchen Einsatz?«

»Den von Wechsler. Wir spielen beinahe jeden Abend Poker, müssen Sie wissen. Gestern waren 400 Shekel in der Bank, ich hatte drei Könige und dachte mir: >Im Land herrschen Ar­beitslosigkeit und Inflation, also warum sollte ich nicht den vierten König kaufen?< Im selben Augenblick sagte Wechsler: >Diese 400 und noch 600!< Was bleibt mir übrig, als die An­zahlung von Steiner & Co. zu nehmen, 2000 Shekel für die Leitungsrohre, schließlich habe ich drei Könige in der Hand -«

»Warum erzählen Sie mir das alles, Herr Stucks?«

»Es ist eine Sache des öffentlichen Interesses, Herr Horowitz, Sie werden gleich sehen. Ich setze also die zweitausend She­kel, kaufe zwei Karten, der vierte König kommt nicht - und Wechsler hat drei As. Das ganze Geld ist weg. Ich sage Ih­nen, Herr Horowitz, die Regierung schafft eine Atmosphäre von solcher Unsicherheit, daß man nicht mehr klar denken kann.«

»Zweitausend Shekel sind kein horrender Betrag.«

»Ja, wenn es nur die zweitausend Shekel wären! Aber ich ziehe auch in anderen Partien die Zahlungen meiner Ge­schäftspartner heran. Bis jetzt sind es 12 000 Shekel.«

»Und was sagen die Geschäftspartner dazu?«

»Sie wissen noch nichts davon. Deshalb rufe ich Sie ja an, Herr Horowitz. Es ist noch nicht zu spät.«

»Was stellen Sie sich vor?«

»Zuerst einmal müssen wir warten, bis Ruhe eintritt. Wenn der Gouverneur der Bank von Israel keinen Skandal haben will, dann wird es keinen Skandal geben. Alles hängt von ei­ner ruhigen Entwicklung ab. Man kennt mich weit und breit als einen ehrlichen Menschen, Herr Horowitz. Sollte es sich herumsprechen, daß ich Geld veruntreut habe, werden alle Leute sagen: Um Himmels willen, wenn sogar Stucks so etwas tut, dann sind wir am Ende. Die öffentliche Moral steht auf dem Spiel, Herr Horowitz! Sie müssen sich Ihrer Verantwor­tung gewachsen zeigen.«

»Bin ich für Ihr Hasardieren verantwortlich?«

»Aber ich hatte drei Könige.«

»Tut mir leid, lieber Freund. Sie müssen sich selbst aus die­sem Schlamassel herausarbeiten.«

»Daran habe ich schon gedacht, Herr Horowitz. Es geht nicht. Mein Laden ist nur auf 6000 Shekel versichert. Das ist zu wenig. Aber wenn Sie meinen Geschäftspartnern sagen, daß Sie persönlich für alles haften, wäre das Problem gelöst. Andernfalls käme es zu einem fürchterlichen Skandal mit ge­richtlichen Klagen und Zeitungsartikeln und öffentlichem Ge­stank. Haben Sie Steiner schon einmal wütend gesehen? Sein Gesicht wird knallrot, die Adern auf seiner Stirn treten hervor -es ist ein furchtbarer Anblick.« »Das hätten Sie vorher bedenken sollen.« »Ich habe Sie nicht um Ratschläge gebeten, Horowitz, son­dern um Hilfe. Wenn Sie darauf bestehen, lasse ich meinen Laden auf Sie oder Ihre Frau überschreiben. Aber geben Sie mir 15 000 Shekel als Überbrückungshilfe!«

»Vorhin sprachen Sie doch von 12 000?«

»Am Sonntag spielen wir wieder.«

»Sie sind unverschämt!«

»Was bin ich? In einer Klemme bin ich, das ist alles. So et­was kann ja schließlich passieren. Und dann steht man als steuerzahlender Bürger da und die Regierung hilft einem nicht. Wollen Sie eine Panik unter der Bevölkerung hervorrufen? Überlegen Sie sich doch, mein lieber Herr Horowitz, was ge­schehen wird, wenn zehn oder zwölf erbitterte Auftraggeber über mich herfallen und ihr Geld zurückverlangen. Geschrei, Lärm, ein Auflauf, ein Überfallkommando, Polizei, Journa­listen, Rundfunk und Fernsehen - das hat uns in unserer angespannten politischen Lage gerade noch gefehlt. Und das wollen Sie, Herr Horowitz, provozieren!«

»Aber -«

»Soll ich vielleicht zum Islam übertreten?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann schicken Sie mir morgen das Geld. Mit dem ersten Panzerwagen, den Sie finden. Gleich in der Früh. Womöglich in kleinen Scheinen.« »Und wie wollen Sie es zurückzahlen?« »Zurückzahlen? Ich habe geglaubt, es ist eine Subvention.« »Es ist ein Darlehen, das Sie zurückzahlen müssen.« »Dann werde ich es in Gottes Namen am Montag zurückzah­len. Dann werde ich eben am Sonntag den Einsatz nicht erhö­hen. Oder nur, wenn ich vier Könige habe.« »Das ist keine Lösung, Herr Stucks.« »Also gut. Vier As.«  

Kein Prinzip ohne Grundsatz

Zu unseren volkswirtschaftlichen Betrachtungen gehört un­bedingt noch ein Wort über die »White-collar«-Diebe, die vornehmsten aller Bakschischnehmer, die lebendigen Beispie­le dafür, wie man im Leben Erfolg hat, ohne erwischt zu wer­den. Ich muß gestehen, daß auch ich dieser exklusiven Genos­senschaft sehr gerne angehören würde, aber leider scheint niemand gewillt zu sein, einen Humoristen zu bestechen.

Im folgenden treten zwei Edelprodukte der Gattung in Akti­on, einer Art Mini-Lockheed-Aktion:

»Hier, Herr Direktor. Nehmen Sie Platz.«

»Danke. Ober! Zweimal Tee mit Rum.«

»Und jetzt können wir ungestört sprechen.«

»Jawohl.«

»Schönes Wetter heute, nicht wahr?«

»Sehr schön. Nur der Regen stört ein wenig.«

»Das kann man wohl sagen.«

»Und was gibt es sonst Neues?«

»Nichts. Wir beginnen demnächst mit dem Bau des Ding­Dong-Zentrums, dessen Leitung in meinen Händen liegt.«

»Was für ein Zufall. Wissen Sie, daß ich die Ehre habe, der Baufirma vorzustehen, die sich um einen Vertrag bewirbt?«

»Wirklich?«

»Ich darf in aller Bescheidenheit sagen, lieber Direktor, daß wir das Ding-Dong-Zentrum für eine Angelegenheit des ge­samten Volkes halten. Es ist ein Projekt von nationaler Bedeu­tung.«

»Ganz meiner Meinung.«

»Wurde der Auftrag für den Bau schon vergeben?«

»Noch nicht. Warum die Frage, wenn ich fragen darf?«

»Mir ist soeben eingefallen, was mir ein Mitglied unseres Verwaltungsrats gestern erzählt hat. Einige Firmen, denen die moralische Seite Ihres Vorhabens offenbar nicht bewußt ist,

spielen angeblich mit der Idee einer Spende für den Wahlfonds jener Partei, der Sie, Herr Direktor, wenn ich nicht irre, als ein sehr prominentes Mitglied angehören.«

»Nicht nur ich, lieber Freund, auch meine Partei würde jeden derartigen Versuch energisch zurückweisen.«

»Daran habe ich keinen Augenblick gezweifelt. Trotzdem, gewissermaßen aus theoretischem Interesse, bekäme ich gerne einen Begriff von der Höhe des Betrags, den Ihre Partei ener­gisch zurückweisen würde.«

»Unglücklicherweise bin ich nicht in der Lage, Ihnen die ge­wünschte Auskunft zu erteilen. Die Parteizentrale hat auf ihrer letzten Exekutivsitzung keine konkreten Angaben darüber gemacht, auf welche Weise sich die Vergabe des Bauauftrags mit einer Spende von 350000 Shekel in Verbindung bringen ließe. Es erübrigt sich also, dieser hypothetischen Möglichkeit nachzugehen.«

»Sehr richtig. Um so richtiger, als meine Firma, selbst wenn sie unverantwortlicherweise bereit wäre, sich auf derart frag­würdige Machenschaften einzulassen, auf keinen Fall über einen Betrag von 200000 Shekel in drei Raten hinausgehen könnte.«

»Ich finde es wenig sinnvoll, wenn zwei vielbeschäftigte Männer ihre Zeit auf abstrakte Diskussionen verschwenden. Immerhin glaube ich mich zu entsinnen, daß meine Partei auf gewisse Anspielungen, in denen sogar höhere Summen als die von Ihnen genannte erwähnt wurden, mit größter Empörung reagiert hat.«

»Sie bestätigen meinen Verdacht, Herr Direktor. Es gibt tat­sächlich in unserem Land dubiose Geschäftsunternehmen, die sich um noch höhere Anspielungen bemühen. Aber eine solide Firma wie die unsere kann es sich nicht leisten, solche Empö­rung hervorzurufen.«

»Jeder von uns beiden, lieber Freund, muß über die Grenzen seiner Prinzipienlosigkeit Bescheid wissen.«

»Natürlich. Deshalb wäre es vielleicht von Nutzen, wenn Sie, verehrter Direktor, prinzipiell feststellen könnten, ob die Em­pörung Ihrer Partei groß genug ist, um 250000 Shekel zurück­zuweisen.«

»Ist das der höchste Betrag, der nicht in Frage kommt?« »Al­lerdings.«

»Ich fürchte, daß meine Partei nicht in der Lage sein wird, diesen Vorschlag energisch genug abzulehnen.«

»Lassen Sie mich hinzufügen, daß die eben genannte Summe die Zuwendung eines Betrags an einen von Ihnen namhaft zu machenden Privatfonds nicht ausschließt.«

»Meinen Sie mich?«

»Nein, um Himmels willen!«

»Dann ist es gut. Hören Sie, lieber Freund. Solange unser theoretisches Gespräch sich um Parteifragen gedreht hat, war ich, wenn auch zögernd, bemüht, Ihnen zu folgen. Jetzt aber, da Sie persönlich geworden sind, muß ich Ihnen ein klares, lautes Halt entgegenschleudern. Ich bin keiner von diesen charakterlosen Schwächlingen, die ihre Position dazu ausnüt­zen, eine zweistöckige Villa am Meer für sich herauszuschla­gen. Mit Privatstrand.«

»Wo?«

»Etwa in Herzliah, möglichst nicht allzu weit von der Auto­straße. Was mich betrifft, so würde ich den bloßen Versuch, mir so einen Vorschlag zu machen, als persönliche Beleidi­gung übelster Art empfinden.«

»Ich habe von Ihnen nichts anderes erwartet.«

»Dann tun wir wohl am besten, unser amüsantes Spielchen zu beenden. Vergessen wir die ganze Sache.«

»Einverstanden. Wann kommen wir wieder zusammen?«

»Übermorgen. Hier. Um die endgültigen Ablehnungen zu fixieren.«  

Der Aufstieg des Jakob Schreibermann

Nach der Anzahl seiner im Druck vorliegenden Werke zu ur­teilen, war Jakob Schreibermann ein arrivierter Autor, denn er hatte nicht weniger als dreizehn Bücher veröffentlicht. Leider wurden sie vom hebräischen Lesepublikum nicht zur Kenntnis genommen. Die Möglichkeit, daß der eine oder andere Son­derling eines oder das andere der dreizehn Bücher gelesen hatte, läßt sich zwar nicht gänzlich ausschließen, aber keines von ihnen ist jemals gekauft worden. Sie vergilben allesamt in den Lagerräumen der Verleger.

Jakob Schreibermann litt entsetzlich unter diesem offenbar unabänderlichen Schicksal. Er wanderte von Redaktion zu Redaktion, er wartete und ging wieder weg und kam zurück und wartete aufs neue und fiel auf die Knie und bettelte und flehte und kam nochmals zurück und weinte und wehklagte und kam so oft zurück, bis schließlich alle Zeitungen ein paar lobende Zeilen über sein jeweils jüngstes Werk gebracht hat­ten. Einmal wurde ihm von einem Literaturredakteur nahege­legt, die kurze Notiz der Einfachheit halber selbst zu schreiben - er, der Autor, wüßte ja über sein Buch besser Bescheid als ir­gendein Fremder. Jakob wollte den Mann im ersten Impuls ohrfeigen, besann sich jedoch eines besseren, ging nach Hause und schrieb die vereinbarte Eigenrezension. Natürlich schrieb er sie nicht unter seinem Namen, sondern unter einem Pseudo­nym: Simon S. Sluchowsky. Sie geriet so enthusiastisch, daß sogar Jakob von Begeisterung übermannt wurde und heiße Dankbarkeit für Sluchowsky empfand - aber das Buch blieb trotzdem liegen.

Ab und zu suchte Jakob die Buchhandlung an der Straßen­ecke auf:

»Wie geht mein Buch?« fragte er.

»Schlecht«, antwortete der Buchhändler. »Sehr schlecht.

Vielleicht zieht's zu den Feiertagen ein wenig an. Aber vorläu­ fig ist nichts los damit. Absolut nichts.«

»Wie ist das möglich?« beharrte Jakob. »Wo doch in allen Zeitungen so gute Besprechungen erschienen sind?«

Daraufhin zuckte der Buchhändler nur noch die Achseln. Ja­kob Schreibermann war der Verzweiflung nahe. Er erwog, das Verfassen von Büchern überhaupt aufzugeben und sich der Literaturkritik zuzuwenden. Dann entschloß er sich zu einem letzten produktiven Versuch, schrieb einen Roman über einen demobilisierten Soldaten, der die Kassa eines Kibbuz verun­treut hatte, und gab ihm den Titel »Der Moosmacher«, womit er sowohl den landwirtschaftlichen Hintergrund als auch den Charakter des Helden andeuten wollte. Die Kritik sprach von einem Meilenstein bzw. Höhepunkt bzw. Wahrzeichen der neueren israelischen Literatur, und das Buch wurde nicht ge­kauft.

Jakobs Nerven begannen zu versagen. Als er eines Tages im Autobus saß und von einem vollbärtigen Fahrgast aufgefordert wurde, seinen Sitzplatz an eine ältere Dame abzutreten, rea­gierte er äußerst unwirsch. Das fiele ihm gar nicht ein, sagt er, es hätte ja auch niemand seinen Roman »Der Moosmacher« gekauft, und warum sollte er sich den Menschen dafür noch gefällig zeigen. Der Vollbart - der, was Jakob nicht wußte, ein führender israelischer Literaturkritiker und obendrein mit der betreffenden Dame verheiratet war - erwiderte nichts, stieg aus, erwarb ein Exemplar des »Moosmachers« und schrieb eine vernichtende Kritik:

»...Es ist ein erbärmlicher Einfall«, hieß es dort unter ande­rem, »aus einem israelischen Soldaten, einem der heldenhaften Verteidiger unseres Vaterlands, einen Betrüger zu machen. Davon abgesehen, hat Herr Schreibermann keine Ahnung vom Aufbau eines Romans, wie ihm ja überhaupt die Kenntnis aller akzeptierten Regeln und Gepflogenheiten abgeht. Er gehört offenbar zu jener jungen Generation, die nicht einmal soviel Lebensart besitzt, im Autobus älteren Damen Platz zu machen. Und von solchen Leuten müssen wir uns etwas erzählen las­sen!«

Nach der Lektüre dieser Kritik wollte Jakob Schreibermann aus dem Fenster springen. Erst als er auf dem Fensterbrett stand, erkannte er die Zwecklosigkeit seines Vorhabens: Er wohnte ebenerdig. Also setzte er sich hin und schrieb einen 26 Seiten langen Entschuldigungsbrief an den bärtigen Kritiker, flehte ihn an, ihm noch eine letzte Chance zu geben, er würde von jetzt an immer im selben Bus mit ihm fahren und der ver­ehrten Gattin des verehrten Literaturpapstes pausenlos seinen Sitz anbieten, nur möge jener um Himmels willen davon ab­lassen, ihn öffentlich zu zerfleischen.

Auf dem Weg zum Postamt widerfuhr dem von Panik Erfaß­ten ein Wunder. Der Buchhändler an der Ecke teilte ihm mit, daß er bereits vier Exemplare des »Moosmachers« verkauft hätte, und das grenzte nach israelischen Begriffen an einen Bestseller.

Jakob wurde von einem wilden Freudentaumel erfaßt und zerriß den Brief.

Noch in derselben Woche fand er sich einem weiteren An­griff ausgesetzt. Ein anderer führender Kritiker, erbost dar­über, daß er den »Moosmacher« nicht als erster verrissen hat­te, schrieb eine noch bösere Kritik, bezeichnete den Roman als schnödes Machwerk und den Autor als Schandfleck der Nati­on, warnte vor den demoralisierenden Folgen solcher Bücher und gab abschließend der Hoffnung Ausdruck, daß sich für Jakob Schreibermann in Hinkunft kein Verleger finden würde. Diesmal dachte Jakob nicht mehr daran, aus dem Fenster zu springen. Hatte ihn doch der Buchhänder an der Ecke infor­miert, daß der Verkauf des »Moosmachers« um sechs weitere Exemplare angestiegen sei - ein in der Literaturgeschichte Israels einmaliges Ereignis, das eine Wende in der Haltung des lesenden Publikums zu signalisieren schien. Tatsächlich be­antwortete der Verleger, dem er zufällig auf der Straße begeg­nete, Jakobs Gruß mit einem freundlichen »Hallo, wie geht's?«

Der Trend hielt an.

Wenige Wochen später wurde Jakob Schreibermann, der ebenso bekannte wie umstrittene Autor, zu einem Meeting der Organisation »BEJ«, des »Bundes Enttäuschter Jugend«, als Hauptredner eingeladen und nahm die Gelegenheit wahr, sich gründlich mit seinen Kritikern auseinanderzusetzen. Er stehe hinter jedem Wort seines Romans, sagte er, und niemand, auch kein noch so einflußreicher Möchtegern-Fachmann, könne ihn davon abbringen, »daß ein demobilisierter Soldat unter be­stimmten Umständen durchaus fähig wäre, eine Kibbuzkassa zu veruntreuen.«

Diese kühnen Worte riefen in der Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung hervor, prominente Persönlichkeiten wandten sich in Leserbriefen und Protestversammlungen gegen den Roman, und Jakob bekam den ersten Vorschuß seines Lebens.

In einer stillen Stunde machte er sich daran, sein Werk nochmals zu lesen und stieß auf einige schlüpfrige Stellen, die er rot anzeichnete und mit der Randbemerkung »Pornogra­phie!!« versah. Dann schleuderte er das Exemplar durch ein offenes Fenster in die Wohnung des angesehenen Literaturkri­tikers Jehuda Misrachi.

Die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Im Kulturteil einer allgemein respektierten Wochenzeitschrift erschien aus Jehuda Misrachis Feder ein dreispaltiger Artikel, der wohl das Schärfste darstellte, was bisher gegen den »Moosmacher« geschrieben worden war: »Welch ein Abgrund sittlichen Tiefstandes tut sich hier vor uns auf! Da ist, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, von den >bebenden Brüsten einer jungen Mulattin< die Rede, die sich >wie zwei Hügel aus Schokolade unter ihrer durchsichtigen Bluse wölbten< und ähnliches mehr. Mit solchen Mitteln wird auf die niedrigsten Instinkte des Lesers spekuliert. Wer braucht diesen schmie­rigen Absud einer perversen Phantasie? Es ist ein Skandal, daß so etwas bei uns überhaupt gedruckt wird!« Tags darauf bilde­ten sich vor den Buchhandlungen Schlangen von Käufern, die »das Buch mit den Schokoladehügeln« verlangten. Die Aufla­ge war in wenigen Stunden vergriffen, auf dem schwarzen Markt wurden Überpreise für die wenigen noch vorhandenen Exemplare gezahlt, und als Schreibermann den Literaturpro­fessor in einem Interview als »alten impotenten Ziegenbock« bezeichnete, forderte dieser in einem offenen Brief an den Unterrichtsminister das Verbot des Romans, selbstverständlich erfolglos. Es erschien im Gegenteil eine zweite und kurz dar­auf eine dritte Auflage.

Jakob Schreibermanns Popularität wuchs ebenso wie sein Bankkonto. Er wurde zu einem begehrten Gast auf öffentli­chen und privaten Veranstaltungen, zu einem allseits umbuhl­ten Gesellschaftslöwen und zur Hauptfigur auf der Jahresver­sammlung des Schriftstellerverbandes, wo er sich durch höh­nische Zwischenrufe bemerkbar machte und in einer kurzen Wortmeldung behauptete, daß die israelische Literatur im ver­gangenen Geschäftsjahr außer dem »Moosmacher« nichts Nennenswertes hervorgebracht hätte. Ein Teil der Presse wandte sich heftig gegen diese Anmaßung, ein anderer Teil schlug sich auf die Seite des Autors und schien recht zu behal­ten: Schreibermann wurde mit dem begehrten Literaturpreis der Grinbotter-Stiftung ausgezeichnet.

Bald nach der feierlichen Preisverteilung brachte ein vielge­lesenes Boulevardblatt einen von Simons S. Sluchowsky ge­zeichneten Artikel, der in der rüdesten Weise über die Preis­richter und den Autor herfiel und von nicht wiederzugebenden Schmähungen nur so strotzte.

Mittlerweile liegt der »Moosmacher« in einer sechsten Auf­lage vor, und der Kampf der Meinungen wogt immer noch hin und her. Jakob Schreibermann wird, wenn man nicht bald aufhört, ihn zu beschimpfen, über kurz oder lang als der be­deutendste Schriftsteller seiner Generation gelten.  

Der Denunziant (sehr frei nach Franz Kafka)

Als der Großindustrielle K. eines Morgens erwachte, fand er sich in ein riesiges Insekt verwandelt.

»Was ist da passiert?« fragte er sich entsetzt. Dann rief er sich die Ereignisse des vorangegangenen Tages, die zweifellos an seiner peinlichen Lage schuld waren, ins Gedächtnis zu­rück.

Er erinnerte sich genau an die sachliche, unbeteiligte Stimme, mit der ihm sein Buchhalter am Vortag mitgeteilt hatte, daß sein, K.'s, Unternehmen - eine florierende Import-Export-Gesellschaft - das laufende Geschäftsjahr mit einem Gewinn von einer halben Million israelischer Pfund, in Ziffern NIS 500000,-, abgeschlossen hatte.

Das bedeutete nach den geltenden Steuergesetzen, daß die Firma bzw. Herr K., nach Bezahlung der Körperschaftssteuer, der Investitionsanleihe, der Krankenversicherung, der Pensi­onsversicherung und einer Reihe anderer Abgaben dem Staat eine Gesamtsumme von 106,3% des erwirtschafteten Profits schuldete, in Ziffern NIS 531500,-, ein ansehnlicher Betrag, über den K. nicht verfügte.

»Das darf nicht wahr sein«, stellte K. in Gedanken fest. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß die Steuer, die er zahlen sollte, die Höhe seiner Einnahmen überstieg.

Mittlerweile hatte er sich wieder in den loyalen furchtsamen Bürger zurückverwandelt, der er war. Er erhob sich von der Lagerstatt seines alptraumgeschüttelten Schlafs, kleidete sich an und verließ das Haus, um der Angelegenheit nachzugehen. Sein Weg führte ihn in die Kanzlei einer renommierten Steu­erberatungsstelle, die sich in den Geheimnissen des Steuerwe­sens um so besser auskannte, als sie von zwei ehemaligen Beamten des Finanzministeriums geleitet wurde. Die beiden Herren lauschten ihm mit gelangweilter Miene, denn sie be­kamen solche oder ähnliche Geschichten beinahe täglich zu hören.

Als er geendet hatte und sie um Rat fragte, rieten sie ihm, sein Steuerbekenntnis zu fälschen.

»Wenn Sie es halbwegs geschickt anstellen«, sagten sie, »wird Ihnen weder das Finanzamt dahinterkommen, noch ris­kieren Sie, daß Sie wegen der zehnprozentigen Belohnung, die das Finanzamt für Hinweise auf Steuerhinterziehungen aus­zahlt, von einem Spitzel denunziert werden.«

»Ich habe Angst«, sagte K. »Gibt es keinen anderen Weg?«

»Doch. Es gibt einen.«

»Nämlich?«

»Zahlen«, sagten die Steuerberater und geleiteten ihn zur Tü­re.

Der eine von ihnen, ein elegant gekleideter Mann in dunklem Anzug mit diskret gestreifter Krawatte, flog am Nachmittag nach Vaduz, der Hauptstadt des Fürstentums Liechtenstein, um eine größere Finanztransaktion abzuschließen.

Als K. nach Hause kam, fand er eine Vorladung zur Steuer­behörde. Er ging sogleich hin und wurde von einem unterge­ordneten Beamten empfangen, der seit jeher die Steuerangele­genheiten der Firma K. behandelte.

»Ich habe einige Fragen an Sie zu richten«, begann der Be­amte. »Wie ich sehe, schulden Sie uns erheblich mehr, als Sie in diesem Jahr verdient haben. Es würde mich interessieren, aus welchen fragwürdigen Quellen Sie die Differenz beglei­chen wollen?«

Er heftete einen durchdringenden Blick auf K. und wartete auf Antwort.

K. versuchte den gegen ihn gerichteten Verdacht durch die Angabe zu zerstreuen, daß er genügend Geld erspart hätte, um die zusätzliche Steuer zahlen zu können. Der Beamte runzelte die Brauen: Nach den ihm vorliegenden Geheiminformationen habe K. - wie übrigens auch andere gefinkelte Großverdiener - seine gesamten Ersparnisse in eine freiwillige Staatsanleihe investiert, die einen nicht unbeträchtlichen Zinssatz abwerfen würde, zahlbar am Ende des Jahrhunderts.

In tiefen Gedanken verließ K. das Steueramt. Seine Un­terlippe zitterte ein wenig, und er überlegte, ob er sich den entstandenen Komplikationen nicht durch Abreise entziehen sollte.

Dann fiel ihm ein Ausweg ein, ganz plötzlich, ein so nahelie­gender und simpler Ausweg, daß er sich wundern mußte, wie­so er ihm nicht schon früher eingefallen war.

Zu Hause angelangt, nahm K. das für seine Steuererklärung vorgesehene Formular zur Hand und erklärte, daß seine Firma im abgelaufenen Geschäftsjahr keinen Profit zu verzeichnen hatte, nicht einen einzigen Groschen. Hierauf kehrte er zum Finanzamt zurück und richtete an den Beamten, während er ihm das Formular übergab, die höfliche Frage:

»Bitte, darf ich Sie auf einen Fall von Steuerhinterziehung hinweisen, der zufällig zu meiner Kenntnis gelangt ist?«

»Selbstverständlich« antwortete er Beamte. »Das ist das mindeste, was ein ehrlicher Bürger tun kann.«

»Und bekomme ich dann auch die ausgesetzte Belohnung?«

»Selbstverständlich«, antwortete abermals der Beamte, des­sen Wortschatz nicht übermäßig groß war.

»Gut«, sagte K. »Hiermit informiere ich Sie, daß ich im Steuerbekenntnis meiner Firma einen Jahresgewinn von 500000 Shekel verheimlicht habe. Ich bitte um Auszahlung der üblichen Belohnung von zehn Prozent, das sind 50 000 Shekel, steuerfrei.«

Der Beamte tat, was Beamte immer tun, wenn sie mit einem originellen Einfall konfrontiert werden: Er glotzte. Nachdem er ungefähr eine Minute lang geglotzt hatte, verließ er den Raum und begab sich zu seinen Vorgesetzten, um ihren Rat einzuholen.

Höheren Orts machte man sich unverzüglich an das Studium der einschlägigen Verordnungen und Erlässe, konnte jedoch keine einzige Klausel entdecken, die es für ungesetzlich erklärt hätte, daß jemand sich selbst denunziert. Alle Versuche, K. von seiner Forderung abzubringen, blieben erfolglos, und als er drohte, notfalls bis zum Obersten Gerichtshof zu gehen, gab die Steuerbehörde nach. Man wollte den Fall unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit gelangen lassen; er könnte, so befürchtete man, Schule machen.

K. erhielt bald darauf einen Scheck des Finanzministeriums auf NIS 50000,-, liquidierte seine Firma und suchte in Beglei­tung einer ihm befreundeten Dame einen beliebten Badeort im Süden des Landes auf.  

Nachtwache, nicht von Rembrandt

Israel ist das einzige Land, in dem die von der Arbeit heim­kehrenden Männer nach Erledigung ihrer Haushaltspflichten wieder weggehen, weil sie - einschließlich Opa - im Rahmen der zivilen Landesverteidigung ihren Wachtdienst versehen müssen, auf freiwilliger Basis, bei Nacht, und was das Schlimmste ist: paarweise.

Am Anfang war ein Rundschreiben, gezeichnet von Dr. Wechsler und folgenden Inhalts:

»Alle Männer in unserem Häuserblock haben sich bereits freiwillig gemeldet. Was ist mit Ihnen?«

Dann kam das gleiche Zirkular noch einmal.

Dann kam die beste Ehefrau von allen:

»Was werden die Nachbarn sagen? Du mußt dich zum frei­willigen Zivilschutz melden.«

Ich rief Wechsler an.

»Hallo«, sagte ich. »Wegen dieser Sache mit dem -«

»Sie sind heute um drei Uhr dran«, antwortete Wechsler.

»Um drei Uhr nachts. Oder um drei Uhr früh. Ganz wie Sie wollen. Um drei.«

Meine Vereidigungszeremonie verlief äußerst feierlich. Als ich im Hauptquartier ankam - es war im Werkzeugschuppen unserer Volksschule untergebracht -, fand ich auf dem Tisch ein beinahe neues Notizbuch sowie zwei Flinten aus der Zeit der Französischen Revolution; daneben, zusammengekauert vor sich hin dösend, einen Zivilschützer, der soeben seine Wache beendet hatte. Er übergab mir das Kommando und murmelte mit schlaftrunkener Stimme:

»Immer um den Häuserblock herumgehen... und wenn du fer­tig bist, laß alles auf dem Tisch liegen... gute Nacht...«

Hierauf stieß er zwei undeutliche Flüche aus, den einen ge­gen Arafat, den anderen gegen unsere Regierung, und döste weiter.

Die Sache war die, daß unsere Dienstzeiten viel zu lange dauerten, nämlich vier volle Stunden. Und das taten sie des­halb, weil sich außer mir noch niemand freiwillig gemeldet hatte. Ich fragte nach Wechsler und erfuhr, daß er schlief. In seinem Bett. Er hätte das Intervall von 3 bis 7 übernehmen sollen, aber er schlief, und jetzt fiel es mir zu, gemeinsam mit Isachar. Damit händigte mir Kamerad Halbschlaf die Flinte ein. »Sie hat zwei Magazine«, grunzte er. »Der Ingenieur auf Nummer 8 weiß, wie man das Zeug bedient, der Lange mit der Glatze, laß mich schlafen.«

Kurz darauf erschien Isachar. Ich warf noch rasch einen Blick in das Logbuch. Die letzte Eintragung lautete: »Stellte um 01.35 einen Verdächtigen. Er behauptete, auf Nummer 14 zu wohnen. Wurde nachgeprüft. Wohnt auf Nummer 14. Das ist alles, glaube ich. Schluß.«

Wir begannen unsere Wache. Isachar hatte seine Franzö­sische Revolution geschultert, ich trug die meine in der Hand. Sie besaß einen kräftig ausladenden Kolben, und wer damit eins über den Kopf bekam, war nicht zu beneiden.

»Gehen wir ein wenig«, schlug Isachar vor. »Es regnet nicht.«

Wir fielen in Marschtritt, um militärischer zu wirken. Die Pa­tronen in meiner Tasche zogen meine Hosen hinab und ließen meine Moral steigen. Achtung, hier kommen wir, links-rechts, links-rechts, schlaft ruhig, Nachbarn, wir schützen euch.

Das einzige, was meine patriotische Hochstimmung ein we­nig trübte, war die Monotonie des Unternehmens. Die trostlose Eintönigkeit. Wie lange kann man denn als erwachsener Mensch um einen Häuserblock herummarschieren, herum und wieder herum, und wenn's vorbei ist, nochmals herum?

»Dauert's noch lange?« fragte ich nach einer Stunde meinen Waffengefährten. Er warf einen Blick auf die Uhr.

»Noch drei Stunden und vierundfünfzig Minuten.«

Wir waren also erst sechs Minuten auf Wache. Merkwürdig. Ich hatte den Eindruck, daß wir uns schon dem Ende näherten. So kann man sich täuschen.

Isachar teilte mir mit, daß er um sechs Uhr aufstehen müsse. Eine dringende Arbeit in Sichron. Er ist in der chemischen Isolierungsbranche tätig. Das heißt, er stopft Mauerlöcher, damit's nicht hineinregnet.

»Es gibt jetzt eine Menge neuer Präparate«, belehrte er mich. »Wir verwenden keinen Kitt mehr, sondern eine großartige neue Flüssigkeit. Polygum. Auf Polyesterbasis. Wirklich her­vorragend. Klebt nicht an der Kelle und trocknet in zwei Ta­gen. Wenn's nicht regnet.«

Ich hing an seinen Lippen und warf von Zeit zu Zeit eine fachmännische Frage dazwischen, zum Beispiel über die Wi­derstandskraft von Polybumsti oder wie das heißt. Man kann ja nicht stundenlang mit einem Menschen umhermarschieren, ohne ein Wort zu äußern.

»Es stimmt, die Belgier haben ein Isolationsmaterial auf den Markt gebracht, das keine Luftblasen macht«, gestand Isachar. »Aber das taugt meiner Meinung nach nur für undicht gewor­dene Grundmauern, die keiner direkten Feuchtigkeit ausge­setzt sind. Wenn's um große, luftige Räumlichkeiten geht, käme es für mich nicht in Frage. Nicht für mich!«

Es war ihm anzusehen, daß man ihm ein Vermögen bieten könnte - und er würde dieses belgische Zeug nicht anrühren. Er ist ein Fachmann, er muß auf seinen Ruf bedacht sein, er ist ein Fels in der Isolierbrandung. Glücklich der Mann, den Isa­char isoliert! Was mich betrifft, so wurde ich mit der Zeit ein wenig nervös. Ich interessiere mich sehr für alles Chemische, aber nicht die ganze Nacht hindurch. Verstohlen blickte ich nach meiner Uhr: 40 Minuten vergangen. Also noch 3 Stunden und 20 Minuten gründlicher Isolierung.

»Dubcek« - ich versuchte dem Gespräch eine scharfe Wen­dung zu geben - »Dubcek wollte protestieren, als die Russen damals in die Tschechoslowakei einmarschierten, du erinnerst dich...«

Mir schwebte ein Themawechsel zum Politisch-Historischen vor. Allmählich hoffte ich bis zu Stalin zu gelangen. Die Tschechoslowakei schien mir ein guter Ausgangspunkt zu sein.

Isachar ging bereitwillig darauf ein.

»Ganz in der Nähe von hier wohnt ein tschechisches Ehe­paar. Vorige Woche habe ich ihnen das Dach repariert. Mit einem Spezial-Silikonmantel auf Polyesterbasis.«

Verzweifelt hielt ich nach irgend etwas Ausschau, was für Zivilschutz geeignet gewesen wäre, aber die Gegend war nie­derschmetternd friedlich. Isachar fuhr fort, mir von seinen glorreichen Isolationsmanövern zu erzählen. Es gab im weiten Umkreis nichts, was er nicht zugestopft hätte, ausgenommen seinen Mund. Ich versuchte es nochmals mit dem Dubcek-Gambit, aber nach zwei Zugwechseln waren wir wieder auf der Polyesterbasis. Meine Uhr zeigte 4.15, und die Sonne wollte nicht aufgehen. Schon um mich wachzuhalten, stellte ich immer weitere Fragen, und Isachar erteilte mir immer wei­tere Auskünfte.

»Einmal«, so berichtete er um 5.20 Uhr, »hat mir Schechter eine Gallone Plastikzement verkauft. Auf halbem Weg nach Rischon schaue ich nach - und was muß ich sehen? Das Zeug ist hart wie Granit. So etwas kann mir mit amerikanischem Polyester nicht passieren. Aber wie willst du feststellen, ob die Flüssigkeit, die du kaufst, aus Amerika kommt? In einem neu­tralen Behälter? Wie willst du das feststellen?«

Ich wollte gar nichts feststellen, schon längst nicht mehr. Wenn zwei Eheleute eines Tages entdecken, daß sie nicht zu­einander passen, lassen sie sich scheiden. Auch alte Ge­schäftspartner gehen gelegentlich auseinander. Nur ein Zivil­schützer wie ich bleibt hoffnungslos einzementiert. Und es fehlten noch anderthalb Stunden.

»Halt!«

Ich stellte eine verdächtige Katze und verjagte sie aus unse­rem Rayon. Dann lehnte ich mich erschöpft an die Hausmau­er...

Ich muß stehend eingeschlafen sein. Isachar klopfte mir auf die Schulter, um mich zur Fortsetzung unserer Marschtätigkeit aufzufordern. Aber er schwieg. Offenbar hatte ich meine fälli­ ge Gegenfrage versäumt.

»Und was«, fragte ich, »wenn das Zeug nicht rechtzeitig trocknet?«

Es war einer der größten Fehler meines Lebens. Isachar kam mit der Beantwortung meiner Frage bis 6.15 Uhr aus. Ich bete­te zu Gott, er möge uns ein paar Terroristen über den Weg schicken, damit ich endlich etwas anderes zu tun bekäme, als dieses entsetzliche Isoliergewäsch über mich ergehen zu las­sen.

»Und was das beste ist«, fuhr Isachar erbarmungslos fort, »als Schechter mir das nächste Mal so einen Kanister andrehen wollte -«

An dieser Stelle geschah es. Nach den Berichten von Augen­zeugen, die auf die Straße gestürzt kamen, begann ich wild in die Luft zu schießen und brüllte jedem, der sich mir näherte, allerlei unverständliche Befehle zu, wie: »Polyester in Dek­kung!«, »Zement - Feuer!« und dergleichen mehr. Man konnte mich nur mit Mühe beruhigen.

Übrigens erfuhr ich, daß ich nicht das erste Zivilschutzopfer war. Schon vor mir hatte ein Zivilschützer, nach vierstündi­gem Wachdienst mit einem Installateur, durch Gewehrsalven größeren Sachschaden an den Fensterscheiben der umliegen­den Häuser verursacht.

Um sieben Uhr früh deponierten wir unsere Ausrüstung im Hauptquartier. Isachar entkam nach Hause und wollte, wie Wechsler mich ein paar Tage danach wissen ließ, nie wieder mit mir zusammen Wache schieben. Ich hätte ihn, so sagte er, mit meinen Fragen zu Tode gelangweilt.  

Wie man Terroristen terrorisiert

Die Sache sah nicht gut aus. Das entführte Flugzeug war vor wenigen Minuten gelandet, die Terroristen hatten ihre Forde­rungen gefunkt und abschließend bekanntgegeben, daß sie im Nichterfüllungsfall die zur Explosion vorbereiteten Spreng­stoffladungen zünden würden. Im Kontrollturm des Flugha­fens Lydda beriet der Krisenstab, was zu tun sei.

»Es gibt nur einen Ausweg - man muß die Bande ermüden. Man muß ihre Spannkraft zermürben, womöglich bis an die Grenzen eines Nervenzusammenbruchs.«

»Sehr schön. Aber wie?«

»Auch darauf gibt es nur eine Antwort: Schultheiss!«

Zehn Minuten später, im Wagen des Generalstabchefs und mit Blaulichteskorte, erschien Ezechiel Schultheiss, der Star unseres bürokratischen Establishments. Er kam direkt aus dem Spital, wo er mit den Führern der Bäckergewerkschaft über eine zweiprozentige Tariferhöhung verhandelte, und zwar ununterbrochen seit drei Tagen und drei Nächten. Im Lauf der Verhandlungen waren sämtliche Bäcker unter schweren Er­schöpfungssymptomen ins Spital eingeliefert worden, nur Schultheiss hatte nichts von seiner Frische eingebüßt. Jetzt wurde er vom Verteidigungsminister persönlich instruiert.

»Wenn wir die Flugpassagiere nicht anders freibekommen, tauschen wir sie gegen inhaftierte Terroristen aus. Sie, Schult­heiss, haben für Ihr Gespräch mit den Entführern freie Hand. Wenden Sie die üblichen Methoden an. Behandeln Sie die Kerle so, als ob es israelische Steuerzahler wären.«

»Okay«, sagte Schultheiss, bestellte einen Tee mit Zitrone und bat um die Telefonistin aus seinem Büro. Nachdem Ilana sich am Schaltbrett niedergelassen hatte, wurde die Funkverbindung mit dem Flugzeug aufgenommen.

Aus dem Cockpit erklang eine tiefe Männerstimme:

»Tod den Juden. Hier spricht die Organisation Schwarzer

September. Befolgen Sie meine Anordnungen.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Schultheiss. »Man versteht schlecht. Wer ist schwarz - die Organisation oder der Septem­ber?«

»Halten Sie den Mund und befolgen Sie -« »Verzeihung - aber wer sind Sie eigentlich?« »Was heißt das - wer ich bin?« »Woher soll ich wissen, daß Sie wirklich ein Terrorist sind?

Sie könnten ja auch ein Fluggast sein.« »Würde ich dann mit Ihnen sprechen?« »Vielleicht hält man Ihnen einen Revolver an die Schläfe.« »Na und?« »Das würde die Situation grundlegend ändern. Es ginge dann nicht um eine direkte Verhandlung, sondern um eine Vermitt­lung.« »Was für ein Unterschied wäre das, zum Teufel?!« »Ein gewaltiger, mein Herr. Im Falle einer Vermittlung müß­te ich eine andere Behörde einschalten. Ich habe die beste Absicht, mit Ihnen zu kooperieren, aber ich muß mich nach meinen Vorschriften richten. Wie ist Ihr Name, bitte?«

»Hauptmann Dschamel Rafat.« »Mit einem >K< in der Mitte?« Man hörte ein heiseres Röcheln. Dann meldete sich der Kapi­tän des Flugzeugs: »Er ist der Führer der Gruppe, Sie können mir glauben.« »Ich akzeptiere Sie als provisorischen Zeugen. Ihre Paßnummer?« »75103/97381.« »Wann und wo ausgestellt?« An dieser Stelle riß Hauptmann Rafat das Gespräch wieder an sich: »Wenn die Verhandlungen nicht in zwanzig Sekunden be­ginnen, jagen wir das Flugzeug in die Luft.« »Zwanzig Sekunden von wann an?« »Was meinen Sie?«

»Ich meine - wann beginnen die zwanzig Sekunden?«

»Sie beginnen jetzt, sofort, in diesem Augenblick.«

»Wie spät haben Sie?«

»11.29 Uhr, verdammt noch einmal.«

»Auf meiner Uhr ist es erst 11.22 Uhr - ich lasse nachsehen. In solchen Situationen kann jede Sekunde eine Rolle spielen. Bitte warten Sie.«

»Hallo!« brüllte Hauptmann Rafat, aber die Verbindung war bereits unterbrochen und blieb es für drei Minuten. Dann kam Hauptmann Rafat wieder zum Kontrollturm durch. Was er hörte, war die Stimme Ilanas:

»Wer hat Ihnen erzählt, daß ich mit Chaim ausgegangen bin? Dudik lügt. Sie kennen duch Dudik... Hauptmann Rafat? End­lich. Man sucht Sie schon. Bitte sprechen.«

Und Hauptmann Rafat sprach:

»Wir verlangen die sofortige Entlassung von 390 palä­stinensischen Freiheitskämpfern, die sich bei Ihnen in Haft befinden. Ich diktiere die Namen...«

»Bitte nicht über das Telefon «, sagte Schultheiss. »Au­ßerdem liegen 390 Enthaftungen weit über der zulässigen Quote. Wir haben gar keine Transportmittel für so viele Per­sonen. Ich dachte an sechs oder sieben, höchstens acht.«

»390.«

»Neun. Einer von ihnen stottert.«

»Ich handle nicht.«

»Also gut, zehn. Sechs bei Inkrafttreten unseres Abkommens, drei am 31. Oktober und -«

»Jetzt sofort und alle.«

»Alle zehn?«

»300.«

»Elf, ohne Empfangsbestätigung.«

»250. Das ist mein letztes Wort.«

»Zwölf. Es kostet mich selbst mehr.«

Die Verbindung zwischen Cockpit und Kontrollturm wurde aufs neue unterbrochen. Nach ihrer Wiederherstellung drangen rätselhafte Satzfetzen aus Hauptmann Rafats Kopfhörern:

»Galiläa-Import-Export... Schechter, Gurewitsch, Misrachi... alle weggegangen... niemand mehr hier...« Dann schaltete sich die erregte Stimme des Flugzeugkapitäns in das Gespräch ein: »Achtung, Kontrollturm. Die Entführer treffen Vorberei­tungen zur Zündung der Sprengkörper. Sie stellen Ihnen ein Ultimatum von dreißig Minuten. Und sie meinen es ernst. Achtung, Kontrollturm. Haben Sie verstanden? Ein Ulti­matum! Dreißig Minuten!«

»Verstanden«, sagte Schultheiss. »Aber ich brauche es schriftlich. Ich muß mich ja meinen Vorgesetzten gegenüber decken. Sagen Sie den Leuten, sie sollen auf Sabena-Briefpapier ungefähr folgendes schreiben: >Wir, die un­terzeichneten Terroristen, wohnhaft dort und dort, erklären hiermit, daß wir die auf dem Flughafen Lydda stehende Ma­schine der Sabena mittels chemischer Substanzen< und so weiter und so weiter. In dreifacher Ausfertigung. Hebräisch, arabisch und flämisch. Paßfotos wären erwünscht.«

Der Flugkapitän antwortete nicht. An seiner Stelle meldete sich Rafat und verlangte nach einem Rettungswagen des Roten Kreuzes.

»Das heißt bei uns Roter Davidstern«, belehrte ihn Schultheiss.

Rafat überhörte ihn.

»Der Wagen soll mit einer weißen Flagge an das Flugzeug heranfahren«, schloß er keuchend.

»Welche Größe?«

»Was - welche Größe?«

»Wie groß soll die Flagge sein?«

»Das ist mir scheißegal, Sie Trottel! Eine weiße Flagge!«

»Wir haben zwei Flaggen, eine zu 78 x 45 und eine zu 75 x 30, aber die ist in der Wäsche. Sollte Ihnen die andere zu groß sein, dann kann ich aus Haifa eine kleinere bestellen.«

Der Kehle des Terroristenführers entrang sich ein dumpfes Stöhnen: »Kommen sie ohne Flagge.«

»Ich oder der Rettungswagen? Bitte entscheiden Sie sich. Sonst weiß ich ja nicht, was ich ins Protokoll schreiben soll.

Hallo? Hallo?«

Auf der anderen Seite trat Funkstille ein. Dann gaben die Entführer bekannt, daß sie ihre Geiseln im Tausch gegen 25 inhaftierte Palästinenser freilassen würden, unter der Bedin­gung, daß sie nicht länger mit Schultheiss verhandeln müßten.

Schultheiss schlug eine gemischte Kommission vor, beste­hend aus einem akkreditierten Terroristen des Gazastreifens, einem parteilosen Justizbeamten und Dr. Bar-Bizua vom Ver­kehrsministerium.

Hauptmann Rafat fragte, ob man ihm einen Arzt schicken könnte. Seine Stimme klang hohl.

Auch sein Stellvertreter, der jetzt das Mikrophon übernahm, ließ deutliche Anzeichen von Nervenzerrüttung erkennen. Das Entführungskommando, erklärte er, sei bereit, in ein anderes Land abzufliegen, sobald die Maschine aufgetankt hätte.

»Ich verbinde mit unserem Treibstoffdepot«, sagte Ilana und ließ die Anwesenden den nun folgenden Dialog mithören.

ZIVA (die Telefonistin des Depots): »Bedaure, unser Ab­teilungsleiter ist weggegangen.«

RAFAT: »Wann kommt er zurück?«

ZIVA: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich sitzt er beim Essen. «

RAFAT: »Öffnen Sie das Depot, oder es geschieht ein Un­glück.«

ZIVA: »Die Schlüssel sind bei Modche.«

RAFAT: »Ich zähle bis drei. Dann lassen meine Leute das Flugzeug explodieren. Eins - zwei -«

SCHECHTER: »Hallo, hier Schechter, Galiläa-Import-Ex­port. Womit kann ich dienen?«

RAFAT (mit ersterbender Stimme): »Hier... Schwarz... ich meine... der Schwarze Oktober... Wir wollen weg von hier... weg... weg...«

Da übernahm Schultheiss noch einmal das Gespräch.

»Hauptmann Rafat? Es ist alles in Ordnung. Der Tankwagen wird sofort vorfahren.«

Er nickte dem Verteidigungsminister zu. Der Verteidigungs­minister nickte dem Leiter des Einsatzkommandos zu. Den Rest kennt man aus den Zeitungsberichten, die im Wirbel der Ereignisse eine Kleinigkeit übergangen haben; sie hätten noch folgendes hinzufügen müssen:

»Nach erfolgreicher Beendigung seiner Mission auf dem Flughafen begab sich Ezechiel Schultheiss in das Spital zu­rück, wo er seine Verhandlungen mit den Bäckern fortsetzte.«  

Lauter heldenhafte Retter

Eines Vormittags im Monat Mai besuchte das Ehepaar Gei­ger die Ausstellung moderner Skulpturen im Museum von Jerusalem. Frau Geigers Aufmerksamkeit fiel schon beim Ein­gang auf ein interessantes Objekt. Es war ein kleines, in eine schwarze Plastikhülle verpacktes Paket, mit einem Klebestrei­fen an der Wand befestigt und mit einer weißen, etwa 10m langen Schnur versehen, von deren Ende her sich ein Flämm­chen auf das Paket zubewegte.

Frau Geiger wandte sich an Herrn Geiger und sagte:

»Was wird diesen modernen Künstlern als nächstes einfal­len?« Ihr in Kunstfragen bewanderter Gatte antwortete: »Alles besser als ein kitschiger Sonnenuntergang.« Dann sah er im Ausstellungskatalog nach, suchte jedoch ver­gebens nach dem Namen des Objekts und beschloß, sich bei der Museumsleitung zu beschweren, weil sie 3 Pfund für ein paar wertlose Seiten einhob, in denen man nichts finden konn­te.

Da niemand zur Entgegennahme seiner Beschwerde in Sicht war, beauftragte Geiger seinen siebenjährigen Sohn Arie, je­manden zu holen. Der Knabe weigerte sich, diesem Befehl nachzukommen und wurde geohrfeigt.

»Jetzt holst du mir sofort einen Museumsdiener«, schrie ihn sein Vater an. Arie entfernte sich schluchzend und fragte unterwegs einen Besucher, wo die Museumsdiener zu finden wären. »Die trinken wahrscheinlich Tee unten im Kiosk«, lautete die Auskunft.

Immer noch unter Tränen machte sich Arie auf den ange­gebenen Weg. Im Kiosk angelangt, erkundigte er sich beimKellner zunächst nach dem Örtchen fürs Pipi. Dort sah ein Polizist das schluchzende Kind und führte es zu den Eltern in die Ausstellungsräume zurück. Bei dieser Gelegenheit durch­schnitt er die Zündschnur, deren Flämmchen jetzt bereits 20 cm vor dem Paket angelangt war.

Überflüssig zu sagen, daß die Geigers über Nacht zu Helden der Nation wurden, besonders der kleine Arie, der noch recht­zeitig Hilfe herbeigeholt hatte.

»Wir verdienen keinen Dank«, erklärte Herr Geiger auf einer am nächsten Tag abgehaltenen Pressekonferenz. »Wir haben unsere Pflicht getan, nichts weiter. Jeder andere Bürger würde an unserer Stelle ebenso gehandelt haben.«

Ein Gruppenbild, darstellend die Familie Geiger, den Polizi­sten und den Kellner, zierte die Titelseite sämtlicher Tageszei­tungen.

»Das Kind zitterte und konnte kaum sprechen«, berichtete der Kellner. »Es war mir klar, daß ich sofort handeln mußte.«

Inzwischen erhob sich die Frage nach dem Unbekannten, der Klein-Arie mit unfehlbarer Sicherheit zum rettenden Kiosk gewiesen hatte. Die Presse nahm sich der Sache an, und schon am nächsten Tag stellte sich der Erfolg ein: Ein Klavierstim­mer namens Schmuel Kaganski aus Rechovoth gab sich auf der Polizeistation als der Gesuchte zu erkennen:

»Ich war nicht ganz sicher, ob ich mit dem Kiosk das Richti­ge getroffen hätte. Aber ich sagte mir, daß unbedingt etwas geschehen muß, nicht wahr. Also schickte ich das Kind, ohne zu zögern...«

Aries Mutter stand noch unter dem Schock der dramatischen Ereignisse:

»Lieber Gott«, seufzte sie während des Festbanketts, das die Stadtverwaltung zu Ehren der Familie Geiger gab. »Wie gut, daß mein Bruder mich gerade an diesem Vormittag ins Muse­um geschickt hat!«

Frau Geigers Bruder, von Beruf Elektriker, gestand sei­nerseits, noch nie in einem Museum gewesen zu sein.

»Was mag mich veranlaßt haben, meine Schwester und mei­nen Schwager hinzuschicken?« äußerte er sich den Intervie­wern gegenüber. »Vielleicht war es mein Instinkt oder meine

Vaterlandsliebe. Vielleicht lag es auch nur daran, daß ich von einem mir befreundeten Sportjournalisten zwei Eintrittskarten geschenkt bekommen hatte...«

Der Sportjournalist Jankel Horowitz, Spender des schicksalhaften Geschenks, fand die Bekundungen öffentlicher Dankbarkeit völlig unangebracht:

»Der einzelne ist in einem solchen Fall nicht wichtig. Haupt­sache, daß ich das Museum gerettet habe.«

Seit Erscheinen des Fotos, das ihn zusammen mit seiner Mut­ter und dem Bürgermeister zeigte, erfreut sich Jankel Horowitz größter Popularität.

Seine Mutter erhielt vom Bürgermeister ein Ehrendiplom in Anerkennung der Tatsache, daß sie einem solchen Sohn das Leben geschenkt hatte. Vater Horowitz, dem man einen ge­wissen Anteil an dieser Schenkung zubilligen muß, segnete die Demonstranten vom Balkon seines Wohnhauses:

»Allein aus diesem Grund«, sagte er mit bewegter Stimme, »allein um der Geburt meines Sohnes willen hat es sich ge­lohnt, daß ich vor vierzig Jahren geheiratet habe.«

Das fehlende Glied in der Kette ist der Rabbiner, der damals die Trauung vornahm. Die Nachforschungen sind im Gange.  

Die Bombe für alle

Schulz hielt mich an der Ecke Arlosoroffstraße an:

»Nehmen Sie mich mit?« fragte er, »ich muß dringend zur Post...«

Ich ließ ihn einsteigen. Schulz war sehr aufgeregt. Ich fragte ihn, was los sei.

»Fragen Sie mich nicht! Mein Schwager hat mir aus Deutsch­land eine Atombombe geschickt.«

»Was?«

»Ja, entsetzlich, nicht war? Ich habe zwar in einer Zeitschrift gelesen, daß es in Deutschland ein Verfahren gibt, das es je­dermann möglich macht, Atomwaffen einfach und billig her­zustellen. Aber so etwas verschickt man doch nicht per Post!«

»Sehr merkwürdig, muß ich sagen.«

»Neuerdings sieht es so aus, daß sich tatsächlich der kleine Mann die Bombe leisten kann. Sehen Sie, was mein Schwager schreibt: >P. S.<, schreibt Friedrich da, >Ich habe auch eine kleine Überraschung für Dich. Per Luftpost geht heute eine Atombombe an Dich ab. Alles Gute!«

»Er übertreibt.«

»Friedrich war schon immer großzügig«, sagte Schulz, »aber was soll ich mit der Bombe anfangen?«

»Weiß ich auch nicht. Ich habe noch nie eine gehabt.«

»Josepha macht mich ganz verrückt. >Ich will keine Atom­bomben im Haus<, schrie sie mir nach, als ich das Haus ver­ließ, >ich habe genug Ärger mit dem Kleinen!< Weiß Gott, sie hat recht. Ich sehe es selbst nicht gern, wenn Danny mit einer Atombombe spielt. Da könnte ich für nichts garantieren. Er nimmt nämlich alles auseinander, was ihm in die Finger kommt. - Und außerdem: Wo soll ich die Bombe aufbewah­ren? Im Kühlschrank vielleicht?«

»Ist sie groß, Ihre Bombe?«

»Keine Ahnung. Ich bin schließlich kein Fachmann. Ich wer­ de die Gebrauchsanweisung lesen. Jedenfalls hoffe ich, daß er nicht das größte Modell gekauft hat. Unser Kühlschrank ist nämlich sehr klein. Aber Josepha will sowieso einen neuen. Eines können Sie mir glauben, wenn Friedrich nicht so emp­findlich wäre, würde ich ihm die Bombe sofort zurückschik­ken. Wer braucht schon eine Atombombe? Glauben Sie, ich darf sie ausprobieren?«

»Wenn Sie die richtigen Beziehungen haben...«

»Ich weiß nur, daß ich noch eine Menge Ärger kriegen wer­de. Sie wissen ja, wie unsere Nachbarn sind, die halten uns jetzt schon für eingebildet. Deshalb kann ich es Josepha nicht übelnehmen, wenn sie die Bombe loswerden will, >Verkauf sie doch<, sagte sie. Wären Sie vielleicht interessiert?«

»Nicht direkt.«

»Schon gut. Josepha meint, die Regierung würde sie uns gern abkaufen. Aber ich antwortete ihr: >Das wäre ein schönes Geschäft. Und soll ich meinem Schwager erzählen, wenn er uns besucht und fragt: Wo ist die Bombe, die ich euch ge­schickt habe? - Die habe ich verkauft, Friedrich.<?«

»Dann verkaufen Sie sie eben nicht.«

»So einfach ist das auch nicht. Es ist eine große Verant­wortung dabei und viel Schererei. Zunächst einmal die Teil­nahme an all diesen Abrüstungskonferenzen. Das ist doch absurd. Wer hat schon Zeit für solchen Unsinn?«

»Amerika, China, England, Frankreich«, begann ich in al­phabetischer Reihenfolge, »die Sowjetunion und Schulz.«

»Nein, ich fahre nicht hin.«

»Warum nicht?«

»Ich bin zu schüchtern. Und ich kann keine Reden halten. Davon abgesehen habe ich nur eine einzige Bombe. Was wer­den sie also von mir verlangen? Daß ich meine Bombe ver­nichten soll. Ich weiß doch, wie die sind. Aber ich mache nichts kaputt. Wer sagt mir, daß die Chinesen ihren Bomben­vorrat auch vernichten, stimmt's?«

»Stimmt.«

»Glauben Sie mir, diese deutsche Erfindung stellt die ganze

Welt auf den Kopf. Ein normaler Mensch kann die Kosten gar nicht aufbringen.«

»Was für Kosten?«

»Denken Sie nur an die Versicherung. Ich kann unmöglich das Risiko einer Explosion der Bombe in meinem Haus auf mich nehmen. Und wenn die Bombe kaputtgeht? Wer soll sie reparieren? Unser Klempner vielleicht?«

»Warum sollte sie kaputtgehen? Sie ist doch brandneu?«

»Ich nehme an, sie hat ein Jahr Garantie. Aber in der Regel gelten solche Garantien nicht bei Naturkatastrophen oder Krieg. Es ist einfach lächerlich - denn wann benutzt man schließlich eine Atombombe? Im Krieg!«

»Wollen Sie sie denn wirklich benutzen?«

»Was denn sonst?«

»Wie stellen Sie sich die Beförderung vor?«

»Per Post.«

Schulz bekam sich wieder in den Griff.

»In Wirklichkeit ist es mir egal«, sagte er. »Dann habe ich eben eine Bombe im Haus. Die Großmächte benutzen sie ja auch nicht. Ich werde sie aufheben - für alle Fälle.

Wenn Sie's genau wissen wollen, ist der Gedanke, eine Bom­be im Haus zu haben, ein schönes Gefühl.«

»Warum?«

»Ich weiß es selber nicht. Ich fühle mich wohl dabei. Es ver­schafft einem eine Menge Selbstbewußtsein. Vorausgesetzt, Danny findet sie nicht...«

Wir waren am Paketschalter angekommen. Schulz bezahlte 46 NIS Zoll und 26 NIS Luxussteuer.

»Vorsicht«, warnte er die Beamten, »da drin ist eine Bom­be.«

Das Paket war klein. Zwei Polizisten halfen uns beim Öffnen. Mit angehaltenem Atem holten wir eine in allen Farben schil­lernde Geschenkpackung hervor, auf der zu lesen stand:

»Lang lebe das Atom! Eine perfekte Nachbildung der Atom­bombe inklusive Blitz und Knall... Ein Spaß für Kinder und Erwachsene!«

»Friedrich ist verrückt«, schnaubte Schulz, »das ist für Dan­ny zum Geburtstag.« Dann fügte er mit träumerischem Blick hinzu:

»Und ich hatte mich schon so an den Gedanken gewöhnt. «  

Ein diplomatisches Rezept

Nehmen Sie Platz, Ziegler.«

»Danke, Exzellenz.«

»Wie lange arbeiten Sie schon bei uns im Außenministe­rium?«

»Vier Monate.«

»Sehr gut. Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß wir Sie für einen Posten außerhalb unserer Grenzen vorgesehen haben.«

»Mich...? Im Außendienst...? Wirklich...? Ich danke Ihnen, Exzellenz! Ich danke Ihnen!«

»Kein Anlaß, Ziegler. Es ist der gebührende Lohn für die vorzügliche Arbeit, die Sie geleistet haben. Gewiß, einige Ihrer Kollegen wären eigentlich vor Ihnen an der Reihe, aber auf der letzten Exekutivsitzung, die darüber zu entscheiden hatte, gab es keine Opposition gegen Sie. Sogar Birnbaum sagte: >Ich trete zugunsten Zieglers zurück.< Das waren seine Worte.«

»Herr Birnbaum... Zu meinen Gunsten...«

»Freiwillig und ohne Vorbehalt. Wir werden Sie also mit der Stellung eines Gesandten betrauen.«

»Ich soll... Gesandter... mir fehlen die Worte.«

»Schon gut, Ziegler. Sie kennen ja unser Prinzip: Freie Bahn dem Tüchtigen, auch wenn er jung ist. Morgen früh reisen Sie ab.«

»Gleich morgen? Das ist ja wunderbar! Ich versichere Ihnen, Exzellenz, daß ich mein Bestes tun werde, um unser Land würdig zu vertreten.«

»Davon bin ich überzeugt.«

»Und darf ich fragen, wohin ich gehen soll?«

»In den Kongo.«

»Kongo?«

»Kongo.«

»Morgen?«

»Ja. Warum?«

»Ich dachte, wir hätten dort schon einen Gesandten.«

»Es ist möglich, daß wir ihn noch haben. Unsere Funk­verbindung mit ihm hat bis gestern funktioniert. Seine letzte Nachricht lautete: Afrikanische Soldaten sind in das Gebäude eingedrungen und suchen nach fetten weißen Männern.< Das war um 2.45 Uhr nachts.«

»Und dann?«

»Dann brach die Verbindung ab... Ist etwas los, Ziegler?«

»Ich frage mich, Exzellenz, ob ich geeignet bin, eine so schwierige Mission zu übernehmen. In unserer Partei gibt es Leute mit ungleich größerer Erfahrung.«

»Nicht so bescheiden, Ziegler, die Beziehungen zwischen uns und den vom Kolonialjoch befreiten Völkern auszugestalten.«

»Das Vertrauen Eurer Exzellenz ehrt mich und erfüllt mich mit Stolz. Trotzdem bin ich der Meinung, daß Herr Birnbaum mir in jeder Hinsicht überlegen ist. Auch würde ich ihn nur ungern um die Entsendung auf einen so verantwortungsvollen Posten bringen.«

»Darüber haben wir bereits entschieden, Ziegler. Und wir haben uns diese Entscheidung sehr genau überlegt. Die freundschaftlichen Beziehungen zu den kongolesischen Stämmen liegen uns sehr am Herzen. Stellen Sie auch unbe­waffnet Ihren Mann?«

»Wer - ich? Wieso?«

»Wir lassen Sie morgen noch rasch einen Karatekurs absol­vieren, und übermorgen fliegen Sie ab.«

»Mit einer Linienmaschine?«

»Mit einem Jagdflugzeug. Sie landen dann mit Ihrem Fall­schirm irgendwo in der Nähe von Kinshasa. Von dort haben Sie nur noch wenige Meilen durch den Dschungel vor sich. Im Gebiet des Kutschi-Mutschi-Stammes.«

»Vielleicht sollten Sie doch noch einmal mit Birnbaum spre­chen, Exzellenz.«

»Lassen Sie mich in Ruhe mit diesem Feigling. Sie, Ziegler,

dessen bin ich sicher, laufen schnell wie ein Hase, sind ein hervorragender Schwimmer und können auf Bäume klettern. Sie sind unser Mann.«

»Mir fehlen die nötigen Sprachkenntnisse.«

»Brauchen Sie nicht. Was Sie brauchen, ist eine gewinnende Persönlichkeit und diplomatisches Geschick. Sollten Sie un­terwegs auf Stammeskrieger stoßen, dann heben Sie die Hand und rufen: >Israel!< Der Häuptling wird sofort grinsen, in die Hände klatschen und seinen Kriegern ein Zeichen geben, von ihren Keulen und vergifteten Pfeilen keinen Gebrauch zu ma­chen.«

»Und was, wenn er weder grinst noch in die Hände klatscht? Was mache ich dann?«

»Dann singen Sie die Hatikwah.«

»Ich habe keine Singstimme.«

»Schadet nichts. Jedenfalls müssen Sie Ihr Beglaubi­gungsschreiben überreichen, bevor Sie es mit weniger friedfer­tigen Eingeborenen zu tun bekommen. Bieten Sie ihnen Sti­pendien für das Technikon in Haifa an. Oder lassen Sie sich sonst etwas einfallen. Die Hauptsache sind Raffinement und Taktgefühl.«

»Birnbaum...«

»Birnbaum ist zu Ihren Gunsten zurückgetreten. Ich gra­tuliere Ihnen, Ziegler. Viel Glück. Und lassen Sie gelegentlich einmal von sich hören.«

»Exzellenz!«

»Ja?«

»Wird man mich nicht auffressen?«

»Ich bin kein Prophet. Aber ich vertraue darauf, daß Sie sich unter allen Umständen als Mann von Geschmack erweisen.«  

Traktat über das Land Trotzdemia...

Es gibt zwei Standpunkte, von denen aus man das Staatswe­sen Israel betrachten kann: aus der Nähe und aus der Ferne.

Aus der Nähe ist es ein Haufen Sand, auf dem sich allerlei Geschöpfe verschiedenster Herkunft tummeln, schwitzend und schimpfend, ständig am Rand eines Nervenzusammenbruchs, mit unordentlichen Lebensgewohnheiten und mühsam be­herrscht von einem bürokratischen Durcheinander, das sich als Regierung bezeichnet.

Aus der Ferne sieht man einen Glanzpunkt des 20. Jahr­hunderts, einen Staat, dessen Einwohnerschaft nicht einmal halb so groß ist wie die von London, New York oder Tokio, ein Volk, das trotzdem inmitten von Nichts eine musterhafte Demokratie aufgebaut hat, ein blühendes Land, das sich unter ständiger Kriegsdrohung und unendlichen Schwierigkeiten trotzdem immer weiter entwickelt, ein Land voll Schönheit und Geschichte, von tödlicher Lähmung bedroht und trotzdem voll Leben.

Schauen wir es uns trotzdem einmal aus der Nähe an.

Der typische Bewohner des Landes Trotzdemia ist dadurch charakterisiert, daß er um 15.30 Uhr in Haifa erwartet wird und zu spät kommt. Genau genommen kommt er nicht zu spät, sondern gar nicht. Man findet ihn, wenn überhaupt, hinter einer Türe mit der Aufschrift »Kein Eintritt«.

Wo immer er auftaucht, greift er sofort alles an, um festzu­stellen, ob es echt ist. Sieht er ein Sandwich, so beißt er hinein, sieht er einen Lichtschalter, so dreht er ihn an. Er steckt seine Nase in fremde Taschen, fremde Schubladen, fremde Schach­partien. Wenn nichts da ist, wo er sie hineinstecken kann, bohrt er in ihr.

Nicht minder typisch für ihn ist die Flasche zu seinen Füßen. Wenn irgendwo auf der Welt in einem Kino oder Konzertsaal das störende Geräusch einer davonrollenden Flasche hörbar wird, darf man sicher sein, daß dort ein Trotzdemianer sitzt.

Zu seinen weiteren Kennzeichen gehören die Schlüssel, die er bei sich trägt. Es sind mindestens 21, von denen er 12 nicht identifizieren kann. Wenn er nach Hause kommt und die Türe aufsperren will, muß er 8 Schlüssel ausprobieren, bevor er auf den richtigen stößt. Dieser quälenden Prozedur entgeht er da­durch, daß er alle 21 verliert. Überhaupt liebt er es, Dinge zu verlieren. Ein Beamter der trotzdeminanischen Regierung begab sich vor kurzem mit einer Anzahl wichtiger Geheimdo­kumente nach Istanbul. Angekommen, öffnete er seinen Di­plomatenkoffer und mußte feststellen, daß es der Schminkkof­fer seiner Gattin Selma geb. Friedmann war. Daraufhin be­hauptete er, mit dem Transport von Kosmetikartikeln beauf­tragt zu sein, über deren geheimen Zweck man ihn nicht unter­richtet hatte. Er wurde entlassen und betätigt sich seither als Versicherungsagent.

Ein hervorstechendes Merkmal des Trotzdemianers ist seine Abneigung gegen Gebrauchsanweisungen und Instruktionen jeglicher Art. Eine Kiste mit der Aufschrift »Oben« stellt er grundsätzlich so auf, daß das »Oben« nach unten zeigt. Pakete mit dem in roter Farbe angebrachten Vermerk »Achtung, zer­brechlich!« wirft er in die Luft, steckt die Finger in die Ohren und tritt zur Seite. Die Anweisung »Kalt und trocken aufbe­wahren« veranlaßt ihn, die betreffende Schachtel auf dem Boiler seines Badezimmers zu deponieren - was keine weite­ren Folgen hat, da der Boiler nicht heizt. Dies wiederum ver­anlaßt ihn, den Boiler zu übermalen. Er übermalt leidenschaft­lich gerne. Wenn etwas schmutzig ist, übermalt er es. Wenn es rostig ist, legt er noch eine zweite Farbschicht auf. Für Repara­turen, die elektrische Schweißarbeiten erfordern, verwendet er Klebstoff, die nötigen Schrauben ersetzt er durch Heftpflaster. Es hält.

Der Trotzdemianer ißt laut, spricht laut, geht laut und beklagt sich über den Lärm. Wenn sein Radio wie ein Teekessel pfeift, wartet er ein Jahr, bevor er den Mechaniker holt. Dieser emp­fiehlt ihm, den Apparat links ein wenig anzuheben. Er hebt ihn an, und da der Lärm tatsächlich aufhört, legt er eine Zündholz­schachtel unter die linke Seite. Wenn der Lärm wieder be­ginnt, wechselt er die Zündholzschachtel, oder er versetzt dem Kasten einen leichten Schlag mit der Hand. Auch mit dem Plattenspieler verfährt er ebenso, und ebenso erfolgreich (ein­schließlich Stereo). Bei größeren Maschinen arbeitet er mit Fußtritten. Seine Zentralheizung funktioniert überhaupt nur noch nach einen Tritt in den Thermostat. Jeden Morgen geht er in den Keller, um zu treten. Schließlich bricht er sich die große Zehe. Daraufhin ruft er den Installateur Stucks, der aber nicht kommen kann, weil er um 15.30 Uhr in Haifa zu tun hat. Dar­aufhin kauft der Trotzdemianer sechs kleine Petroleumöfen, von denen sich nur zwei in Betrieb setzen lassen. Heimisches Erzeugnis.

Heimische Erzeugnisse zeichnen sich überdies durch eine Vielfalt an Nebenprodukten aus. Im Brot sind Nüsse (oder Sägespäne). In der Milch: Abwaschwasser. Im Kuchen: Käfer. Im Koffer: doppelter Boden.

Die Trotzdemianer gelten als das Volk des Buches. Sie be­handeln ihre Bücher sehr behutsam und schneiden sie in den meisten Fällen gar nicht auf.

Wenn ein trotzdemianischer Wasserhahn nicht tropft, so liegt das daran, daß die Wasserzufuhr unterbrochen ist. Auch der elektrische Strom wird einmal am Tag abgestellt, denn die Turbinen des Elektrizitätswerks sind falsch installiert und müssen übermalt werden.

Der echte Trotzdemianer benützt zum Eindrehen von Schrauben seine Nagelfeile und zum Putzen seiner Nägel den Bleistift. Wichtige Telefonnummern notiert er auf einer ange­fangenen Zigarettenpackung, die er verliert. Bei Anfällen hochgradiger Nervosität wählt er eine Nummer des telefoni­schen Notrufs, weil ihn das Besetztzeichen beruhigt. Wenn kein Besetztzeichen ertönt, hat er eine falsche Nummer er­wischt und legt auf.

Der Trotzdemianer ist stolz und freiheitsliebend. Er reist viel, bestellt in vegetarischen Gasthäusern mit Vorliebe Beefsteak, kauft auf Raten und legt größten Wert auf Reinlichkeit und Hygiene. Zum Verpacken von Käse verwendet er kein beliebi­ges Zeitungspapier, sonder Illustrierte mit Mehrfarbendruck. Auch im Theater läßt er sich von den Grundsätzen des guten Benehmens leiten und wirft die Orangenschalen nicht auf die Bühne, sondern unter den Sitz. Die trotzdemianische Sprache ist reich an blumigen Wendungen und Hintergründigkeiten. »Seien Sie unbesorgt!« kündigt eine Katastrophe an, »Ver­trauen Sie mir!« einen verlorenen Rechtsfall. »Sofort!« bedeu­tet zwei Stunden, »Ein paar Tage« bedeutet ein Jahr, »Nach den Feiertagen« bedeutet nie.

Der Trotzdemianer gewinnt Kriege, wenn ihn der Sicher­heitsrat nicht daran hindert. Er lenkt seinen Panzerwagen ver­schlafen in eine falsche Richtung, nimmt den feindlichen Ge­neralstab gefangen und kehrt immer noch verschlafen als Sie­ger zurück. Außer für militärische Fragen interessiert er sich nur noch für Fußball und für die Bar Mizwah seines Sohnes Avigdor. Am liebsten würde er den ganzen Tag im Liegestuhl am Strand faulenzen, wenn der Liegestuhl nicht kaputt wäre. Er hat ihn schon wiederholt mit Klebestreifen repariert, aber die Beine halten nicht. Man wird sie übermalen müssen. Seien Sie unbesorgt.

Der Trotzdemianer ist ein netter Mensch. Er hat einen eige­nen Lebensstil entwickelt, an den man sich erst gewöhnen muß. Dann geht es ganz gut. Es ist vielleicht nicht der beste Lebensstil der Welt, aber für einen Humoristen ist er unge­mein ergiebig.  

Man ist so ah, wie man ist

Vor geraumer Zeit - genauer gesagt: Ungefähr zu jener Zeit, als ich das Buch abgeschlossen hatte - überkam mich der häß­liche Gedanke, daß ich vielleicht nicht mehr ganz so jung bin wie früher. Damit will ich nicht sagen, daß mich mein plötzli­cher Geburtstag in Panik versetzt hätte. In meinen Augen sind Geburtstage nichts Besonderes. Ich hatte schon welche, und sie haben mich nicht beeindruckt. Was ich verabscheue, ist die übertriebene, die sozusagen unrealistische Anzahl dieser Ge­burtstage, sind die Ziffern, mit denen sie bezeichnet werden. Was soll das heißen: Heute bin ich 50 Jahre alt? Ich war noch nie 50, ich war die ganze Zeit jünger. Da steckt irgendwo ein Fehler. Die Leute vom Matrikelamt sollten besser aufpassen. Nach meinem eigenen Dafürhalten, ich meine: Nach dem Ein­druck, den ich von mir selbst habe, bin ich noch nicht einmal über die Ziffer 30 hinaus. Es könnte sogar sein, daß ich imkommenden November erst 29 werde oder etwas Ähnliches. Was will man von mir?

Ein entscheidendes Argument zu meinen Gunsten ist die her­vorragende körperliche Verfassung, in der ich mich befinde. Ich gehe, sitze und stehe wie in meinen besten Jugendtagen, ich habe noch immer meine sämtlichen Augen und Ohren, meine Nase befindet sich auf dem gewohnten Platz. Offenbar handelt es sich bei dem behördlicherseits mir aufgezwungenen Alter um einen Registraturfehler.

Die Veränderungen, die sich im Laufe der Jahre bemerkbar gemacht haben, fallen kaum ins Gewicht. Schön, ich renne nicht mehr hinter Taxis einher, sondern rufe nach ihnen, und ich benütze lieber den Aufzug, als weiß Gott wie viele Stock­werke zu ersteigen. Auch läßt sich nicht leugnen, daß meine Hausapotheke immer größer und nach jeder Auslandsreise immer bunter wird. Das liegt an dem in unseren Breiten herr­schenden Klima. Ich kann mich noch erinnern, daß ich einmal quer über den Plattensee geschwommen bin, um ein besonders intelligentes Mädchen zu treffen. Gestern, als ich mit meinen Kindern ins Strandbad ging und von ihnen aufgefordert wurde, ins Wasser zu springen, hatte ich keine Lust dazu. Einfach keine Lust. Überhaupt keine... Ehrlich gesagt: Ich bin verzwei­felt. Das letzte Mal erlebte ich eine solche Verzweiflung, als ich 19 wurde und wußte: Jetzt werde ich alt. Mein peinlicher Zustand wird mir bei jeder Gelegenheit vor Augen geführt. Erst vor wenigen Wochen sah ich im Autobus eine jammervoll verwelkte Frauengestalt sitzen, die Einkaufstasche zwischen den knochigen Knien, das häßliche Gesicht voller Runzeln und Falten. Es war ein richtiger Schock für mich, als ich plötzlich entdecken mußte, daß ich dieser abstoßenden Erscheinung in meiner Jugend den Hof gemacht hatte. Armes Ding, dachte ich bei mir. Das ist alles, was von diesem einstmals so attraktiven Mädchen übriggeblieben ist. Ich hätte sie kaum erkannt... Und während ich von heißen Wogen des Mitleids überflutet wurde, erhob sich das einstmals so attraktive Mädchen und bot mir ihren Platz an.

Oder meine sechsjährige Tochter Renana. Wir sitzen zu Hau­se vor dem Bildschirm und sehen den Film »Ben Hur«, in dem es bekanntlich von römischen Soldaten und frühen Anhängern des Christentums nur so wimmelt. »Mammi«, läßt sich Rena­nas piepsende Stimme vernehmen, »war Papi damals schon dabei?«

Kein Zweifel: Ich wirke älter, als ich bin. Selbst wenn man die zwei Jahre abzieht, die ich mit dem Wählen besetzter Tele­fonnummern verbracht habe, bleibt noch genug übrig. Natür­lich hat das nichts Konkretes zu bedeuten, es ist eine Angele­genheit abstrakter Gedankengänge, man denkt und denkt, und plötzlich kann man sich an nichts mehr erinnern. Wenn ich nicht sofort alles aufschreibe, was mir durch den Kopf geht, fällt es in Sekundenschnelle der Vergessenheit anheim und ist für die Nachwelt verloren.

Besonders häufig vergesse ich Gesichter. Gute Freunde, liebe alte Bekannte, ja sogar Familienangehörige begegnen mir auf der Straße, und ich habe keine Ahnung, woher ich sie kenne. Selbstverständlich erwidere ich ihren Gruß mit freundlichem Lächeln und herzlichem Winken, aber das täuscht nur mich, nicht sie.

»Sommer 55«, klärt mich so einer mit beleidigter Miene auf. »Brindisi. Na?«

»Ach, ja!« jauchze ich. »Brindisi! Wie geht's denn immer, alter Junge?« Und ich entferne mich eilends, ohne seine Aus­kunft abzuwarten. Wer ist er? Und was ist Brindisi?

Nicht einmal meine Feinde behalte ich im Gedächtnis. Damit gerate ich in den Ruf der Toleranz. Das ist das Ende.

Es fällt mir auch immer schwerer, Namen zu behalten. Seit einiger Zeit spreche ich die jungen Damen, mit denen ich zu tun habe, ausnahmslos mit dem gleichen Namen an (»Puppe«), damit keine unangenehmen Verwechslungen entstehen.

Noch größere Schwierigkeiten bereitet mir der Konsum von Literatur. Seit bald einem Jahr lese ich Solschenizyns Erzäh­lungen »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« und komme über die ersten fünf Seiten nicht hinaus. Auf Seite 5 nämlich heißt es: »>Galubtschik<, sagt Waldimir Pruscht­schenko und wandte sich zu Parslejewitsch Tschuptschik um, der am Gartenzaun mit Pjotr Nikolajewitsch Kusnjezewisky plauderte.« An dieser Stelle bleibe ich unweigerlich stecken, die Namen verschwimmen vor meinen Augen, ich kann die handelnden Personen nicht mehr voneinander unterscheiden und fange das Buch wieder von vorne zu lesen an.

Andererseits gibt es auch Dinge, die mit ehernen Lettern in mein Gedächtnis geprägt sind. Zum Beispiel die Aufstellung der ungarischen Fußball-Nationalmannschaft aus dem Jahre 1930. Man kann mich mitten in der Nacht aufwecken, und ich leiere sie fehlerlos herunter, Kohut, Toldi, Dr. Sarosi und na­türlich Turay II, der damals den österreichischen Mittelstürmer Sindelar vollkommen kaltgestellt hat...

Aber sonst herrscht in meinem Gedächtnis dichter Nebel. Obwohl man mir das, wie ich schon angedeutet habe, nicht ansieht. Niemand würde mich für älter als 57 halten, oder höchstens 58 1/2. Vielleicht rührt das auch daher, daß ich Tennisschuhe trage.

Erst gestern begegnete ich den ungebetenen Trostversuchen einer jugendlichen Zeitgenossin mit den Worten:

»Mein liebes Fräulein, ich bin lieber 26 und sehe wie 62 aus als umgekehrt.«

Dagegen läßt sich schwer etwas sagen, und die junge Dame sah auch dementsprechend dümmlich drein. Die Leute schei­nen es darauf angelegt zu haben, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Beispiel kommt irgendein Idiot auf mich zu und erklärt mir, daß man so alt ist, wie man sich fühlt. Ein gefährlicher Blödsinn. Das Alter ergibt sich aus der Summe der Lebensjah­re. Da braucht man gar nichts zu fühlen. Man braucht nur den Reisepaß zu öffnen und das Geburtsdatum nachzuschauen. Und wenn man seinem Paßfoto zu ähneln beginnt, ist es Zeit, dem Leben ade zu sagen.

Allerdings kommen mit dem Alter auch die Segnungen der Weisheit und der heiteren Entsagung. Ich bin ein solcher Fall. Ich beneide niemanden mehr um irgend etwas, ich nicht. Das einzige, was mich noch erbittern kann, ist ein Mann in meinen Jahren, der jünger aussieht als ich. Ich denke da an einen ganz bestimmten Versicherungsagenten, der mir um mindestens zwei Monate voraus ist und trotzdem, im Gegensatz zu mei­nem silbrigen Schöpf, kein weißes Haar aufzuweisen hat.

»Wie kommt es«, fragte ich ihn, »daß Sie immer noch über Ihr jugendliches Schwarzhaar verfügen?«

»Eine Sache der Disziplin«, antwortete er mit hämischem Grinsen. »Wenn man einmal über 40 ist, muß man etwas un­ternehmen. Sehen Sie mich an. Ich stehe jeden Morgen um sechs Uhr auf, jawohl um sechs, nehme eine eiskalte Dusche, reibe meinen Körper mit einer harten Drahtbürste ab, mache am Strand einen Dauerlauf von mindestens drei Kilometern, jawohl täglich, gehe jeden zweiten Tag in die Sauna, nähre mich hauptsächlich von Früchten und Joghurt, spiele Tennis, reite, lese den >Playboy<, nehme teil am pulsierenden Leben, und außerdem...«

»Was?« fragte ich atemlos. »Außerdem lasse ich mir die Haare färben.«